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KARL LUDWIG MICHELET
Idealismus und Realismus
[Vortrag gehalten in der Philosophischen
Gesellschaft zu Berlin am 27. März 1875]

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"Die Spekulation will das Allgemeine und seine Besonderung rein aus dem Denken durch irgendein Kunststück gewinnen; die induktive Methode erklärt dies für unmöglich, für Spiegelfechterei; sie entnimmt vielmehr den inhalt der Dinge und des Geschehens, mittels des sinnlich und innerlichen Wahrnehmens aus dem Einzelnen und benutzt das trennende und verbindende Denken nur zur Reinigung dieses Inhaltes und um daraus diejenigen Begriffsstücke auszusondern, welche sich mittels der Beobachtung als mit anderen Begriffsstücken durch Gesetze verbunden ergeben. Diese Begriffe gelten ihr dann als die realen Allgemeinheiten, im Unterschied von den bloßen Spielbegriffen, welche das Denken nach Belieben bilden kann, wenn es ihm dabei nicht drauf ankommt, die kausale oder gleichzeitige Verbindung der Begriffe innerhalb des Seins festzustellen."

"Man mag noch so viele Gehirne messen, wägen, analysieren, sich über den Verlauf von Nervenfasern im Gehirn noch so gründlich informieren, die Art, wie gewisse Affektionen der Nervenstränge gewisse Empfindungen und Bewegungen veranlassen, noch so genau erforschen: damit bleibt man doch immer in der Erscheinung selber stehen und erfährt über das Erscheinen überhaupt und über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gar nichts. Keine physiologische, aber auch keine psychologische Erfahrung, so weit von letzterer überhaupt gesprochen werden kann, reicht an die Probleme der Erkenntnistheorie heran."

Über den Inhalt dieses Vortrages wurde von Seiten vieler Mitglieder teils zustimmende, teils opponierende Bemerkungen gemacht. Es sind jedoch nur von drei Mitgliedern ihre Bemerkungen im Manuskript eingeliefert worden; so daß nur diese hier folgen. An sie schließt sich dann eine Schlußreplik von Professor MICHELET.

Dr. FREDERICHS sagte: Wenn die neuesten philosophischen Forschungen vielfach wieder an KANT anknüpfen, so ist das kein willkürliches Zurückgreifen auf seinen Standpunkt, sondern es ist in der wohlbegründeten Überzeugung geschehen, daß die nachkantische Philosophie, insbesondere die Identitätsphilosophie, im Prinzip nicht eine höhere und durch HEGEL abgeschlossene Entwicklung gewesen ist, sondern daß sie einseitige Systeme hervorgebracht hat, welch den höher stehenden Standpunkt der kritischen Philosophie aufgegeben haben und in den alten Dogmatismus zurückgefallen sind. Der Herr Vortragende nennt die von KANT ganz beiläufig in der "Kritik der reinen Vernunft" aufgestellte Vermutung, daß das Substrat der äußeren Erscheinungen mit dem Realen des inneren Sinns oder des denkenden Ichs nicht so ungleichartig sein möchte, eine prophetische Hypothese, aus welcher FICHTE, SCHELLING und HEGEL ihr System abgeleitet hätten; es sei eine Perle KANTs, womit die heutigen Kantianer schlecht genug umgehen. Allein ganz abgesehen davon, daß KANT diese Gleichartigkeit zwischen dem Ansich beider Substanzen, der materiellen wie der denkenden, sicherlich nicht im Sinne der Identitätsphilosophie, als die Identität von Denken und Sein faßte, so hätte gerade die ganze Art und Weise, wie KANT jene Hypothese aufgestellt hat, seine Nachfolger warnen sollen, nicht die Schranken unseres Erkennens, welche der Kritizismus wohlbegründet errichtet hat, wegzureißen und damit wieder in den alten Dogmatismus zurückzufallen.

Nun ist es allerdings nicht zu leugnen, daß ein innerer Zusammenhang in der Spekulation von FICHTE, durch SCHELLING, bis auf HEGEL vorhanden ist, und daß sich dieser aus dem Bewußtsein der Zeit sehr wohl erklären läßt. Im Gegensatz zu einer intelligiblen, transzendenten Welt, welche KANT als das Urbild der Erscheinungswelt faßt, entstand sehr bald jene Strömung der Geister, alles Transzendente zu negieren und das ganze Jenseits in das Diesseits hereinzunehmen. Nachdem FICHTE das kantische Ansich in dem eben angenommenen Sinn aufgehoben hatte, blieb ihm nur das absolute Ich; aber er ließ den unendlichen ethischen Prozeß des Ichs bestehen. Aber, weil damit in praktischer Beziehung das Absolute noch außerhalb des Ichs geblieben ist, so mußte auch dieses fallen, damit man das Absolute wahrhaft im Ich haben konnte. Damit sprach SCHELLING die Identität des Denkens und Seins aus, und indem nun das Universum mit der Erde und der Menschheit identifiziert wurde, war dasselbe gefaßt als ein Organismus in vorwiegend ästhetischer Beziehung, in welchem der Geist durch ein besonderes Organ, die intellektuelle Anschauung, das Unendliche, Ewige im Endlichen inne wird. Aber mit diesem Erkenntnisprinzip der intellektuellen Anschauung ließ sich kein wissenschaftliches System aufstellen, und daß es ein absolutes Wissen geben muß, wenn überhaupt von Philosophie die Rede sein sollte, das war für die hervorragenden, philosophierenden Geister jener Zeit eine ausgemachte Sache.

Indem daher HEGEL die Welt - die Erde mit der Menschheit - als Vernunftorganismus faßte, als Evolution des ewig sich besondernden und zu sich kommenden Weltgeistes, so übertrug er die immanente Bewegung des sich aus einem Keim entwickelnden natürlichen Organismus auf das Geistesleben, das sich eben so aus dem abstrakten Urgrund zum konkreten Für-sich-Sein, zum konkreten Begriff oder zur konkreten Idee ewig entwickelt. Man kann in dieser Weise allerdings und noch in vielen anderen Beziehungen, wie gesagt, einen inneren Zusammenhang der nachkantischen Spekulation nachweisen, ohne damit zuzugestehen, daß die Philosophie HEGELs eine vollständige Entwicklung und Vervollkommnung der kantischen Philosophie ist, und daß diese etwas Unfertiges, weil sie angeblich ein Dualismus ist, der nicht zur Vermittlung und zur Versöhnung der Gegensätze gekommen ist, während in der Philosophie HEGELs endlich das Wissen der Idee als des Absoluten zum Ausdruck gekommen ist. Im Gegenteil kommt man immer mehr zu der Erkenntnis, daß die nachkantische Philosophie eine einseitige Richtung eingeschlagen hat, die dann schließlich auch der Kritik der eigenen Schulen erlegen ist. Es gibt jetzt nur wenige, welche meinen, daß in der Philosophie HEGELs ein größerer Aufschluß über die Rätsel des Lebens und der Welt enthalten ist, als in der kantischen Philosophie.

Der Herr Vortragende ist aber ganz anderer Meinung; er hält HEGEL für den unwiderleglichen Weltphilosophen, und ist der Ansicht, daß gerade in HEGELs Philosophie Idealismus und Realismus innig durchdrungen sind, da sich beide Richtungen weniger durch den Ausgangspunkt, insofern der Idealismus vom Allgemeinen, der Realismus vom Besonderen ausgeht, als durch die Methode unterschieden, indem sich jener der Dialektik, dieser der Induktion bedient. Aber der Vortragende scheint mir selbst einen Beweis zu liefern von der Unverträglichkeit der empirischen Wissenschaft mit der Philosophie HEGELs. Denn er glaubt DARWIN durch den Machtspruch widerlegen zu können, daß die konstanten Formen, die Gattungen, ewig sind, und daß damit eine bewußte Schöpfung in der Zeit besser zurückgewiesen ist, als durch die Lehre DARWINs von der Entstehung der Arten und die Lehre VIRCHOWs vom Ursprung aller Arten aus einer Urzelle. Allein abgesehen davon, daß beide Männer gewiß nicht von einem philosophischen Gesichtspunkt in ihren Forschungen ausgegangen sind, etwa, wie der Vortragende meint, um der Schöpfungstheorie zu entgehen, so läßt sich durch eine solche unbewiesene und unbeweisbare Annahme, wie die Ewigkeit oder Zeitlosigkeit der konstanten Formen oder Gattungen, wahrlich die Empirie nicht bestimmen, danach ihre Forschungen einzurichten, da jene Annahme nicht einmal die absolute Notwendigkeit des Denkens für sich hat. Der Hegelianismus ist gerade durch die empirischen Wissenschaften, insbesondere durch die Astronomie und Geologie widerlegt. Eine Philosophie, welche durch dogmatische Machtsprüche die empirische Forschung meistern will, ist am wenigsten geeignet, zwischen Idealismus und Realismus zu vermitteln.

Faßt man beide Richtungen als Gegensatz zwischen Philosophie und Empirie, dann sind die Gegensätze in der Wirklichkeit schärfer als der Vortragende sie auffaßt, indem er sie bloß nach dem Ausgangspunkt des Allgemeinen und Besonderen und nach der Methode unterscheidet. Der empirische Realist leugnet die Vernunft als reines Vermögen der Ideen nach immanenten Gesetzen, in dem bescheidenen Sinn, wie KANT die reine Vernunft gefaßt hat; er tut das nach meiner Ansicht mit Unrecht. Mit Recht dagegen wird die Vernunft als ein philosophisches Vermögen mit eigener künstlicher Dialektik, so daß, was diese Vernunft notwendig nach der dialektischen Bewegung denkt, mit dem Seienden identisch ist, von der empirischen Wissenschaft nicht anerkannt. Eine Vermittlung zwischen Philosophie und Empirie ist nach meiner Meinung nur möglich, wenn jene aufgrund der empirischen Wissenschaft und des geschichtlichen Lebens ein Weltbild aufstellt, sich aber immer bewußt bleibt, daß das Ganze nur aus der Idee begründet ist und daher immer eine Hypothese bleibt.


Herr von KIRCHMANN äußerte sich über den gehörten Vortrag folgendermaßen:

Die philosophische Gesellschaft ist sicherlich dem Redner zu großem Dank verpflichtet, daß er,, als einer der treuesten Schüler und Anhänger HEGELs und als einer der genauesten Kenner seiner Philosophie in seinem heutigen Vortrag zusammengefaßt und in einer verständlichen Fassung dargelegt hat. Damit ist den Anhängern entgegenstehender Systeme die seltene Gelegenheit geboten, von Angesicht zu Angesicht und auf der Stelle die schwachen Seiten von HEGELs Lehre hervorzuheben und damit auch die auffallende Erscheinung zu erklären, daß tatsächlich die neuere Zeit sich von dieser Lehre mehr und mehr abgewendet hat.

Ich lasse die geschichtliche Einleitung des Vortrages beiseite, obgleich ich auch hier viel einzuwenden hätte. Beispielsweise haben die Realisten des Mittelalters wohl nicht behauptet, das Allgemeine oder die Universalia seie das allein Reale, sondern sie haben wohl nur gesagt, daß, so wie die Einzeldinge real sind, es auch die Begriffe derselben sind, weil die Begriffe sich nur aus einer Abtrennung einzelner Stücke von den Einzelnen herausbilden, also ihnen immer noch ein Stück von den realen Einzelnen unterliegt, da ja das Reale des Einzelnen durch das bloße Ablösen einzelner Stücke, seine Realität in Bezug auf das im Begriff Zurückgehaltene nicht verlieren kann. Ebenso ist es wohl höchst bedenklich, das 3Cogito ergo sum des DESCARTES als eine Ausspruch der Identität von Sein und Denken zu nehmen; er sagt doch nur: "Ich denke, also bin ich." Der ganze Verlauf seiner Abhandlung ergibt, daß er damit nur hat sagen wollen: Weil ich meiner Tätigkeit des Denkens mir am sichersten von Allem bewußt bin, deshalb habe ich auch die Gewißheit meines Seins, denn in jeder Tätigkeit ist das Sein enthalten. Damit wollte DESCARTES aus seinem allgemeinen Zweifel an Allem erlösen; er fand in diesem einen Punkt die gesuchte Gewißheit, aber es lag ihm fern das Wissen als solches mit dem Sein zu identifizieren.

Soll also diese geschichtliche Einleitung schon als eine Bestätigung des später Gegebenen gelten, so kann ich dem nicht beitreten. Es ist am Ende nicht schwer, aus jedem System einzelne Aussprüche herauszufinden, welche die eigene Ansicht scheinbar bestätigen, zumal wenn dabei von der Verschiedenheit der Begriffe, welche in den verschiedenen Systemen oft mit demselben Wort bezeichnet werden, abgesehen wird.

Ich wende mich daher gleich zu der Hauptsache und muß hier vor Allem eine Verwechslung von Begriffen rügen, die sich durch den ganzen Vortrag hindurchzieht und durch deren Aufdeckung allein der größte Teil des Vortrags hinfällig werden dürfte. In diesem Vortrag wurden fortwährend die Gegensätze von Allgemeinem und Besonderem, von Idealem und Realem, von Denken und Sein als gleichbedeutend behandelt; ebenso wird der Empirismus mit dem Realismus zusammengeworfen und überhaupt werden die wichtigsten Begriffe die zur Erörterung kommen, ihrem Inhalt nach so wenig untersucht und genau definiert, daß jede Widerlegung deshalb mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Es ist dies ein Mangel, der allerdings nicht bloß den Schüler, sondern auch den Meister trifft; HEGEL ist allein durch diese schillernde Behandlung der Begriffe, durch diese Häufung angeblicher Synonyma, die es doch nicht sind, imstande gewesen, seinem Grundprinzip der dialektischen Entwicklung den Schein der Wahrheit zu verleihen.

Der philosophische Realismus begnügt sich nicht, mit HEGEL Sein und Denken für identisch und zugleich auch für verschieden zu erklären und dann jeden von diesen sich widersprechenden Sätzen gerade da zu benutzen, wo es ihm paßt, sondern er erkennt mit HEGEL zwar eine Identität der seienden Dinge und ihrer gedachten Begriffe an, aber er beschränkt diese Identität auf den Inhalt beider. Jede wahre Vorstellung ist ihm nur wahr, weil ihr Inhalt mit dem Inhalt ihres seienden Gegenstandes derselbe ist; oder, wie man gewöhnlich sagt, damit übereinstimmt. Ebenso behauptet der Realismus nicht zugleich auch den Unterschied von Sein und Denken, sondern er beschränkt diesen Unterschied auf die Form; im gedachten Begriff ist derselbe Inhalt in der Form des Wissens befaßt, der in einem Gegenstand in der Form des Seins befaßt ist. Damit ist zugleich der unfaßbare Widerspruch, welcher dem Ausspruch HEGELs anhaftet und ihn sowohl unverständlich, wie unbrauchbar macht, beseitigt.

Denken oder Wissen und Sein sind daher ihrer Form nach die höchsten Gegensätze, während beim wahren Wissen sein Inhalt mit dem des Gegenstandes ineinander fällt und identisch ist. Damit liegt das Allgemeine und Besondere außerhalb dieses Gegensatzes. Das Allgemeine ist nämlich sowohl im Sein wie im Denken, und auch das Besondere ist sowohl im Denken wie im Sein. Der gedachte Begriff enthält dasselbe Allgemeine wie der seiende Gegenstand, der unter diesen Begriff fällt, und der seiende Gegenstand enthält dieselbe Besonderung oder Vereinzelung, wie das Wissen dieses einzelnen Gegenstandes. In diesem seienden Menschen ist das Allgemeine (sein Wesen) wie das Besondere (seine Individualität) seiend enthalten und in diesem gedachten oder gewußten Menschen ist sein Allgemeines und zwar als Begriff des Menschen, wie sein Besonderes, die Individualität, als gedacht enthalten. Somit ist also das Allgemeine und das Besondere nur eine Unterart sowohl des Seienden, wie des Gedachten, aber keineswegs derselbe Gegensatz, wie der von Sein und Wissen. Ideal und Real kann man vielleicht mit Gedachtem und Seiendem als identisch behandeln; aber diese Worte sind zu vieldeutig, als daß sie in einer philosophischen Untersuchung benutzt werden können, bevor ihr Sinn nicht genau festgestellt worden ist.

Der Realismus ist also weit entfernt, das Sein der Begriffe oder des Allgemeinen zu leugnen; aber er beschränkt dieses Sein auf deren Inhalt; hier gibt er mit HEGEL die Identität zu; aber er bestreitet sie für die Form in der dieser Inhalt im Denken und Sein befaßt ist; diese Form ist bei beiden verschieden und fällt niemals in eine Identität zusammen.

Da nun auch HEGEL neben der Identität zugleich einen Unterschied von Denken und Sein anerkennt, so tritt also die Hauptfrage für die erkenntnistheoretische Philosophie doch die heraus:
    Wie ist für den Menschen die Übereinstimmung seiner Begriffe mit den seienden Gegenständen zu erreichen?
Es ist die alte Frage: Wie oder auf welchem Weg gewinnt man die Wahrheit?Auch der Vortrag erkennt an, daß es dafür zwei Methoden gibt; die induktive, die vom Einzelnen ausgehend sich allmählich zu dem in denselben enthaltenen Allgemeinen oder Begrifflichen erhebt, und die deduktive, oder wie HEGEL sie lieber nennt, die spekulative Methode, welche von den höchsten Begriffen beginnt und von zum Besonderen herabsteigt.

Es fragt sich nun, welche dieser Methoden führt zur Wahrheit? Wenn man auch die Wahrheit innerhalb der Philosophie nur auf die Begriffe beschränkt, so ist doch damit diese Frage noch nicht entschieden, da nach dem Vortrag auch die induktive Methode zu Begriffen führ und der begriffliche Inhalt auch im Einzelnen enthalten ist, mit welchem die Induktion beginnt.

HEGEL hat sich über diese wichtige Frage nirgends bestimmt ausgesprochen; er zeigt nur, daß der Empirismus nicht ohne Begriffe operieren kann, so sehr er dies auch von sich abweist, und HEGEL wirft ihm nur das Unkritische dieses seines Verfahrens vor. Der Lehre HEGELs unterliegt jedoch deutlich der Gedanke, daß die wahren Begriffe und ihre Verbindung und Entstehung bis tief in die niederen Arten hinab nur durch die spekulative Methode gefunden werden können. Darauf beruth sein Grundprinzip der Dialektik. Nach diesem schlägt jeder einfachere Begriff in sein Gegenteil um und erst durch die spekulative Vereinigung dieser Gegensätze zu einem neuen und nunmehr reicheren Begriff ergibt sich der Fortschritt und die Entwicklung des philosophischen Systems bis zu seinem letzten Ende, was gleich den Enden eines Kreises sich wieder mit seinem Anfang zusammenschließt. Die Einsprüche der Erfahrung, oder der induktiven, von der Beobachtung ausgehenden Methode läßt HEGEL gegen die spekulativen Resultate seines dialektischen Verfahrens nicht gelten; an verschiedenen Stellen erklärt er diese Differenz für Etwas, was die Wahrheit seiner spekulativen Resultate nicht im Mindesten erschüttern kann.

So weit geht der heutige Vortrag nun nicht und ich möchte darin bereits eine leise Einwirkung realistischer Prinzipien erkennen. Der Vortrag erklärt "beide Methoden für notwendig um die "Wahrheit zu erkennen". -
    "Die Philosophie dürfe nicht mit sich selbst anfangen, als ob sie idealistisch die ganze Welt bloß aus dem Gedanken herausreduzieren wollte."

    "Durch die Erkenntnis des Einzelnen werde das Auge für das Allgemeine geschärft."

    "Man werde nie die Prinzipien erkennen, wenn man nicht einen großen Schatz empirischer Kenntnisse gesammelt hat."

    "Je mehr dies geschehen ist, um so sicherer werde man sich durch die Dialektik zur Erkenntnis der Prinzipien wenden können; die Empirie schaffe die Steine herbei, die Philosophie erbaue daraus den Tempel."

    "Hat der Philosoph", so heißt es weiter, "den Schatz gesammelt, so betritt er den Weg nach oben, nachdem er den Weg nach unten genugsam betreten hat. Hier fängt er mit dem Allerallgemeinsten an, etwa mit dem Gedanken des Seins, um zu immer konkreteren Einzelheiten herabzusteigen. Durch dieses stete Scheiden und Einen der Gedanken vertiefen sie sich immer mehr und werden zwar nich zu konkreten Dingen, aber zu konkreteren Gedanken der Dinge. Ist Philosophie so bis zu den Gesetzen Galileis und Keplers gelangt, so beweist sie aus der innersten Natur der Materie oder der betreffenden Bewegungen, daß sich die Dinge, diesen Gesetzen gemäß, so verhalten müssen. Ist dies durch den Gedanken bewiesen, dann steht eine solche Wahrheit als eine ewige fest."
Diese irrtumslose Dialektik wohnt jedoch dem Vortrag nach, wie auch nach HEGEL, nur der allgemeinen Vernunft inne, welche das Wissen der Welt ist; in ihr ist bereits diese dialektische Besonderheit der Gattungen und Arten des Seienden zeitlos von Ewigkeit her geschehen, eine Ansicht, die bekanntlich auch der Philosophie des Unbewußten HARTMANNs zugrunde liegt. Dagegen kann der einzelne Mensch nach dem gehörten Vortrag ebensowohl in der Beobachtung wie im dialektischen Verfahren irren, "deshalb", heißt es,
    "müssen beide Richtungen sich gegenseitig kontrollieren. Diese wechselseitige Bewährung besteht darin, daß stets die Erfahrung darüber wachen muß, daß keine dialektische Aufstellung der Erfahrung widerspricht, so wie die Dialektik darauf zu sehen hat, daß die Erfahrung nicht durch einseitige Beobachtung gewagte Analogien, luftige Hypothesen etwas für Tatsachen ausgibt, was keine Tatsachen sind."
Ich habe diesen Teil des Vortrags nach meinen, hoffentlich getreuen Notizen, möglichst wörtlich wiederholt, weil er den Kern dieses Real-Idealismus enthält, welcher darin als die allein wahre Philosophie hingestellt wird, und weil diese Äußerungen zugleich genügen, um die Schwächen dieser Absicht bloß zu legen.

Es wird also darin anerkannt, daß beide Methoden zum Irrtum führen können, deshalb sollen beide sich "kontrollieren". Was heißt das? Liegt darin nicht das Zugeständnis, daß auch die induktive Methode richtig gehandhabt ebenfalls zur Wahrheit führt, und zwar auch im Gebiet der höheren Begriffe, wo vorwiegend die spekulative Methode ihre Tätigkeit entfaltet? Wäre dies nicht der Fall, wie knnt die induktive Methode eine Kontrolle über die spekulative führen? Der Vortrag sagt näher: "Die Erfahrung soll wachen, daß keine dialektische Aufstellung der Erfahrung widerspricht." Allein jene dialektische Entwicklung des Inhalts der Philosophie liegt ja ganz außerhalb des Bereichs der Erfahrung und zwar so sehr, daß die Erfahrung und das natürliche Denken diese Dialektik nicht einmal versteht und begreift. Hierin kann also die induktive Methode die spekulative nicht kontrollieren. Es bleibt ihr also bloß die Kontrolle durch die Resultate. Allein, wenn die auf den beiden Wegen gefundenen Resultate nicht übereinstimmen, wer soll da Recht behalten? Führt jeder der beiden Methoden zur Wahrheit, so hat jede so viel Recht als die andere und keine ist befugt, ein Nachgeben von der andern zu verlangen. Noch sonderbarer ist die Kontrolle, welche die spekulative Methode über die induktive ausüben soll; sie soll "achten, daß letztere nicht etwas als Tatsachen ausgibt, was "keine sind"; allein solche Tatsachen können doch nur einzelne sein und bis zur Einzelheit reicht ja die dialektishe Methode nicht; hier hat doch sicherlich die beobachtende Methode mehr als jene zu sagen. Es heißt weiter: "sie solle wachen, daß die Beobachtung nicht einseitig gemacht wird, daß nicht gewagte Analogien und luftige Hypothesen aufgestellt werden"; allein Niemand ist in dieser Hinsicht bekanntlich strenger gegen sich selbst, als die induktive Methode selbst, wie die moderne Naturwissenschaft deutlich genug ergibt. Die Regeln für die Induktion und die verschiedenen Mittel ihre Resultate auf das Strengste zu kontrollieren, sind von ihr selbst bereits so vollständig aufgestellt und werden so streng geübt, daß die spekulative Methode ihr hier gar keine besondere Hilfe mehr gewähren und noch weniger eine Kontrolle üben kann.

So ergibt sich, daß diese gegenseitige Kontrolle eine Täuschung und mit dem Wesen beider Methoden unvereinbar ist; daß, wenn beide Methoden auf ihren eigenen Wegen zu Resultaten gelangen, die sich widersprechen, der Real-Idealismus des Vortrags ratlos dasteht und den Widerspruch zu lösen nicht imstande ist. Ähnliches gilt für jeden anderen Versuch, welcher für die Erkenntnis der Wahrheit in irgendeinem Gebiet mehrere gleichberechtigte Prinzipien zuläßt, die zu widersprechenden Resultaten führen können oder müssen. Soll dem vorgebeugt werden, so muß für solche widersprechende Resultate einem oder dem andern Prinzip der Vorrang eingeräumt sein, infolgedessen man berechtigt ist, die Resultate des untergeordneten Prinzips zurückzuweisen, oder es müssen die Gebiete, in welchen jedes dieser Prinzipien die Alleinherrschaft führen soll, sachlich abgegrenzt sein; ein Hilfsmittel, was man zwar früher zwischen Religion und Philosophie versucht hat, was aber innerhalb der Philosophie selbst noch Niemand hat benutzen mögen.

Der Vortrag hat jedoch diese Gleichstellung verschiedener Prinzipien, worin nach ihm die Identifizierung von Realismus und Idealismus innerhalb der Philosophie bestehen soll, keineswegs streng festgehalten. Vielmehr tritt die Präponderanz [Vorherrschaft - wp] der spekulativen Methode im Sinne HEGELs an wichtigen Stellen wieder hervor. Dahin gehört dasm was über den Unterschied des "Gemeinsamen" vom "Allgemeinen" im II. Abschnitt gesagt worden ist.

Es wurde da ausgeführt, daß die Induktion nur zu einem "Gemeinsamen" für viele Individuen, aber nicht zu einem "Allgemeinen" führt. Die Bedenken, welche der Vortrag gegen die auf Induktion aus vielen Einzelnen abgeleiteten Begriffe und Gesetze darlegt, sind unzweifelhaft begründet und schon LOCKE hat sie anerkannt und in noch ausgedehnterem Maße geltend gemacht. Die induktive Methode erreicht streng genommen, da, wo nicht alle Einzelnen untersucht werden können, nur eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit; es bleibt möglich, daß ihre Begriffe und Gesetze durch neue Entdeckungen sich wesentlich modifizieren müssen. Man kann daher nichts einwenden, wenn der Vortrag solche Allgemeinheiten nur als "relative" gelten lassen will.

Diesem "relativ Allgemeinen" wird nun im II. Teil des Vortrags ein "absolut Allgemeines" entgegengestellt, was nicht vom Einzelnen abhängt und alles Wesentliche der Einzelnen befaßt, ohne sie durchgegangen zu haben. Dieses "Absolut-Allgemeine" ist auch nicht ein bloß gedachtes, sondern ein seiendes, es sind "objektive Gedanken" und solche Gedanken sind unwandelbar und keiner Täuschung unterworfen, wenn sich dieser objektive Gedanke in uns spiegelt.

Aber stimmen diese Ausführungen wohl mit den im III. Teil oben besprochenen Grundsätzen, wonach beide Methoden sich kontrollieren und sich wechselseitig zu "bewähren haben"? Offenbar wird hier der spekulativen Methode der Vorrang eingeräumt und daraus erklärt sich dann auch, daß hier die Ansicht DARWINs von der Veränderlichkeit der Arten, obgleich sie von den sorgfältigsten Beobachtungen unterstützt ist, aus rein spekulativen Gründen mit souveräner Verachtung als ein Irrtum abgewiesen wird. Wir sehen also wie hier der Vortrag keine Bedenken hat, seine "dialektische Aufstellung" trotzdem "daß viele Erfahrungen ihr widersprechen" dennoch für wahr zu erklären, während im III. Teil die Kontrolle der induktiven Methode gerade dies verhindern soll.

Umgekehrt begreift man wieder nicht, weshalb, wenn die spekulative Methode ihrer Wahrheit so sicher ist, "die Philosophie nicht mit sich selbst anfangen soll"; weshalb "ein großer Schatz empirischer Kenntnisse nötig ist, wenn die spekulative Methode die sichere Erkenntnis der Prinzipien erreichen soll". Wenn die spekulative Methode "mit dem Allerallgemeinsten wie mit dem reinen Sein" beginnen kann und doch durch ihr dialektisches Verfahren zu den immer konkreteren Besonderungen herabzusteigen vermag, so daß sie auf ihrem Weg selbst zu den Gesetzen von GALILEI und KEPLER gelangt und wenn sie für deren Wahrheit viel schärfere und sicherere Beweise gewährt, als die induktive Methode vermag, weshalb soll da die Philosophie nicht mit sich selbst anfangen und nicht einfach bei der spekulativen Methode bleiben, die ihr ja Alles viel sicherer und besser gewährt, als das induktive Verfahren.

Wenn der Vortrag diese Widersprüche nicht bemerkt, sondern beides gemütlich nebeneinander stellt, so kann dies nur daraus erklärt werden, daß HEGELs Prinzip der "dialektischen Entwicklung und spekulativen Verbindung der Begriffe" eine Unmöglichkeit verlangt, die den Grundgesetzen des menschlichen Denkens widersteht. Es kann deshalb nur der Schein einer Gewinnung des Inhaltes durch diese Methode geboten werden, der zwar den gläubigen Schüler zu täuschen vermag, aber näher betrachtet, sich als ein Taschenspielerkunststück entpuppt.

Die alte deduktive Methode beruhte auf einem Syllogismus und schon ARISTOTELES hatte erkannt, daß man mittels des Syllogismus zu keinem anderen Inhalt kommt, als dem der schon in den Vordersätzen enthalten ist. Diese Vordersätze müssen also zuvor schon erlangt sein; allein mittels des Syllogismus kann dies nur aus anderweitigen Vordersätzen geschehen, die wieder gegeben sein müssen. Damit erhellt sich, daß der Syllogismus sich nur in der Identität oder Wiederholung des bereits bekannten Inhaltes bewegt, den er in der Konklusion [Schlußfolgerung - wp] nur in einer anderen Form wiederholt. Es ist also klar, daß mittels des Syllogismus der Inhalt keiner Wissenschaft gewonnen werden kann, und sowohl die Prinzipien (der Obersatz), wie deren Besonderung (der Untersatz) müssen bereits auf andere Weise erlangt sein. Dies fühlten die bedeutenderen Köpfe seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften und man geriet deshalb auf die mannigfaltigsten Hypothesen, um dieser Schwierigkeit zu entgehen und doch die deduktive Methode zu retten. Man erfand die angeborenen Ideen, die prästabilierte Harmonie, die Unterscheidung einer intelligiblen und phänomenalen Welt, die intellektuelle Anschauung usw. HEGEL erkannte bei seinem Scharfsinn das Ungenügende, auf diese Weise aus dem reinen Denken selbst einen Inhalt und eine Besonderung desselben abzuleiten und damit die deduktive Methode zu rechtfertigen. So geriet er auf das Prinzip der dialektischen Entwicklung, um diesen Inhalt zu beschaffen. Er hat bekanntlich mit eiserner Beharrlichkeit versucht, dieses Prinzip in allen Teilen der Philosophie bis tief in das Detail hinab zur Ausführung zu bringen; allein da er dabei den Grundsatz der Unmöglichkeit des sich Widersprechenden verleugnete, wurde seine Darstellung dunkel, gewaltsam und unverständlich. Anstatt jedoch, daß ihr dies geschadet hätte, erzwang sie sich gerade dadurch einen Respekt, der es lange nicht wagte, ihr genauer auf die Finger zu sehen. Erst nachdem Jahrzehnte verflossen waren, erst nachdem das Gemachte und Willkürliche dieser Ableitung eines neuen Inhalts aus einem alten immer deutlicher empfunden wurde und nicht bloß SCHELLING, sondern auch die berühmtesten Anhänger HEGELs sich genötigt sahen, für die Gewinnung des Inhaltes auf andere Wege zu verweisen, erkannte man, daß mit dieser dialektischen Methode nur ein Taschenspielerkunststück, wenn auch bona fide [in gutem Glauben - wp] geübt wird, während auch bei ihr in Wahrheit der Inhalt und die Besonderung desselben aus der Erfahrung und den besonderen, auf einer Beobachtung ruhenden Wissenschaften entnommen wird. Erst nachdem sie diesen Inhalt und diese Begriffe so gewonnen und dieselben nach der Ähnlichkeit und ihrem Umfang geordnet hat, kann sie den Schein bieten, als sei sie imstande, diesen Inhalt und dessen Besonderung aus einem obersten Begriff rein mittels des Denkens abzuleiten. Dabei war dann auch unvermeidlich, daß man, trotz der Hilfe, welche man bei der Erfahrung gesucht hat, den Begriffen die größte Gewalt antun, den Worten die verschiedensten Bedeutungen beilegen und umgekehrt die Wort für durchaus verschiedene Begriffe synonym behandeln mußte, um das Künstliche und Gewaltsame dieser Methode zu verhüllen. Trotzdem kam man in der Erkenntnis der die natürliche und sittliche Welt beherrschenden Gesetze nicht einen Schritt weiter, als es bereits auf dem induktiven Weg geschehen war, im Gegenteil diese Methode kam immer post festum [im Nachhinein - wp], hinkte der induktiven Methode nur nach und gab sich, wo sie einmal dieser vorgreifen wollte, die bedenklichsten Blößen.

Daraus erklärt sich dann zur Genüge, daß die besonderen Wissenschaften, nachdem die Versuche, sich durch diese neue Methode den mühsameren Weg der Beobachtung und Induktion zu ersparen, trotzdem, daß die besten Köpfe sie unternahmen, verunglückt waren, samt und sonders dieser dialektisch-spekulativen Methode den Rücken kehrten und zur induktiven Methode zurückgriffen.

Diese Ergebnisse haben nicht verfehlen können, selbst auf die Anhänger HEGELs und seiner Methode Eindruck zu machen. In dem mehr oder weniger deutlichen Gefühl der Unzulänglichkeit der dialektischen Methode hat man in der neueren Zeit einen Real-Idealismus oder Ideal-Realismus zu schaffen versucht, der die Mängel dieser Methode ergänzen soll, ohne doch ihre Bedeutung zu beschädigen.

Auch Herr Professor MICHELET scheint von einem solchen Gefühl erfüllt und dadurch zu den Gedanken seines heutigen Vortrags geführt worden zu sein, wonach die induktive Methode zu Hilfe genommen werden soll, "die Philosophie nicht mit sich selbst anfangen soll", "beide Methoden einander kontrollieren und eine die andere bewähren" soll; alles Forderungen, deren widerspruchsvolle Natur ich glaube dargelegt zu haben und deren Aufstellung und Verteidigung bei einem so scharfen Denker sich nur daraus erklärt, daß die altegewohnte Verehrung für seinen Lehrer in dem Bestreben, dessen Prinzip zu retten, ihn eine Hilfe da suchen läßt, wo im Gegenteil dieses Prinzip nur noch tiefer erschüttert werden muß.

Die induktive Methode ist weit entfernt, ihre schwachen Seiten zu verleugnen, aber der Vortrag such diese an falschen Stellen.

Es ist ja richtig, daß die Resultate der induktiven Methode vielfältig nur eine relative Allgemeinheit gewähren können, daß neue Entdeckungen zur Modifikation ihrer bisherigen Begriffe und Gesetze nötigen können usw. Die Naturwissenschaften erkennen selbst dies an; allein, dem kann doch nicht dadurch abgeholfen werden, daß man postuliert,
    "es müsse durchaus auch eine absolut allgemeine und wahre Wissenschaft bestehen und deshalb muß dieses absolut Allgemeine auf einem anderen Weg gesucht werden und dieser Weg ist die spekulative Methode."
In dieser Begründung sind alle drei Sätze reine petitiones principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre. - wp], wofür nichts geltend gemacht werden kann, als der Wunsch, es möchte eine solche sichere und umfassende Wissenschaft geben Dieser Wunsch entspringt aus dem Lustgefühl, welches bei einzelnen sicheren wissenschaftlichen Operationen und erlangten Resultaten empfunden wird. Allein so wie dem Menschen das Fliegen versagt ist, so wünschenswert es ihm auch für die Erkenntnis der Dinge sein möchte, so muß er sich auch bescheiden keine Mittel zu besitzen, durch welche er die Erkenntnis der Dinge sicherer und allgemeinerer erreichen könnte, als sie die induktive Methode zu bieten imstande ist.

Es ist ein Irrtum, wenn man meint, die Philosophie müsse ihre eigenen und besonderen Mittel für die Gewinnung der Wahrheit besitzen, die in den übrigen Wissenschaften nicht benutzt werden und dem gewöhnlichen Verstand verborgen sind. Es verletzt allerdings die Eitelkeit des Philosophen, derselben Instrumente mit jedem Bauer und Bettler für das Erkennen des Höchsten sich bedienen zu sollen; allein der Wert der Philosophie liegt nicht in besonderen Geheimmitteln, sondern in der strengen, schärferen und folgerichtigeren Benutzung derselben Mittel, welche allem Erkennen überhaupt zugrunde liegen und im täglichen Leben und in den besonderen Wissenschaften ebenso wie in der Philosophie benutzt werden.

Wenn aber der Vortrag sich zur Rechtfertigung seines Ideal-Realismus noch darauf beruft, daß auch die induktive Methode unvermeidlich in den Idealismus überschlägt, und dies am Beispiel mit der VIRCHOWschen Zelle zu illustrieren sucht, so liegt auch hier eine Verwechslung der Begriffe zugrunde. Der Vortrag sagt, weil VIRCHOW die Zelle für das Allgemeine aller Organismen erklärt, erkennt er selbst damit das Allgemeine und Ideale als real an und somit auch die Identität von beiden. Allein, wie ich schon oben bemerkt habe, hat der Realismus nie die Realität des Allgemeinen bestritten; die induktive Methode beruth ja in ihrer Sicherheit darauf, daß sie das Allgemeine oder die Begriffe aus den einzelnen beobachteten Objekten durch trennendes Denken auslöst oder herausschält, und sie ist deshalb weit entfernt ihre Begriffe für ein bloßes Spiel des Denkens zu halten, vielmehr gewährt gerade ihr Verfahren ihr die Sicherheit, daß ihren Begriffen auch ein Seiendes in den einzelnen Begriffen entspricht. Der Unterschied beider Methoden liegt nicht, wie der Vortrag meint, in einer verschiedenen Auffassung des Allgemeinen oder Begrifflichen, sondern in der Verschiedenheit der Wege, auf denen es gefunden werden soll. Die Spekulation will das Allgemeine und seine Besonderung rein aus dem Denken durch irgendein Kunststück gewinnen; die induktive Methode erklärt dies für unmöglich, für Spiegelfechterei; sie entnimmt vielmehr den inhalt der Dinge und des Geschehens, mittels des sinnlich und innerlichen Wahrnehmens aus dem Einzelnen und benutzt das trennende und verbindende Denken nur zur Reinigung dieses Inhaltes und um daraus diejenigen Begriffsstücke auszusondern, welche sich mittels der Beobachtung als mit anderen Begriffsstücken durch Gesetze verbunden ergeben. Diese Begriffe gelten ihr dann als die realen Allgemeinheiten, im Unterschied von den bloßen Spielbegriffen, welche das Denken nach Belieben bilden kann, wenn es ihm dabei nicht drauf ankommt, die kausale oder gleichzeitige Verbindung der Begriffe innerhalb des Seins festzustellen.

Damit fällt also auch dieser Angriff auf den Realismus und das Verlangen, daß er sich in einen Ideal-Realismus umwandelt; er kann sich nie mit dem Idealismus verbinden, ohne sein Wesen aufzugeben und jedes System, welches die Prinzipien beider vereinigen will, wird in ähnliche Widersprüche und Verwirrungen der Begriffe geraten, wie ich sie für meinen Teil glaube in dem gehörten Vortrag dargelegt zu haben.


Darauf erhielt Herr Professor LASSON das Wort. Derselbe führte Folgendes aus:

Dem Dank, welchen Herr von KIRCHMANN für den reichhaltigen Vortrag des Herrn Professor MICHELET Ausdruck gegeben hat, kann ich mich umso eher anschließen, als ich mich mit dem verehrten Vortragenden prinzipiell in vieler Beziehung in Übereinstimmung befinde. Zunächst aber will ich mich gegen die Äußerung desselben verwahren, als ob in unserer Mitte die Berufung auf HEGEL nicht angebracht ist, weil derselbe "verpönt" ist und "veraltet" erscheint. Ich glaube durch eine solche Verwahrung der Gesinnung aller Anwesenden zu entsprechen.

Abgesehen von allem anderen steht unsere philosophische Gesellschaft zum Andenken HEGELs gewissermaßen in einem Verhältnis der Pietät. Unmittelbare Schüler HEGELs haben diese Gesellschaft gegründet und lange Zeit hindurch haben die Doktrinen dieses Philosophen in der Mitte unserer Gesellschaft eine fast ausschließliche Vertretung gefunden. Noch jetzt zählen wir einige der Männer, welche an HEGELs System mit treuer Ausdauer festhalten, mit besonderem Stolz unter unsere Mitglieder.

Aber auch was HEGELs Lehre im Ganzen und im Einzelnen anbetrifft, so möchte sich kaum jemand, welcher Richtung er auch sonst angehört, unter uns finden, der nicht von HEGEL die tiefsten Anregungen eines eigenen Denkens empfangen hätte. Wenn unter uns in dieser Hinsicht ein Vorurteil herrscht, so möchte es eher dieses sein, daß ein von HEGEL ausgesprochener Satz die Wahrscheinlichkeit für sich hat, aus der Tiefe geschöpft zu sein und in das Wesen der Sache hineinzuleiten.

Freilich vermag wohl kaum einer unter uns die Sätze HEGELs ohne Weiteres zu unterschreiben. Die geschichtliche Bewegung des philosophischen Gedankens hat auch in diesem letzten halben Jahrhundert keinen Stillstand gemacht. Kein einzelnes Problem, das HEGEL in seiner Weise gelöst zu haben glauben durfte, ist von dieser geschichtlichen Bewegung her unberührt geblieben. Selbst zu den obersten Prinzipien wird derjenige, der dem Standpunkt HEGELs am nächsten steht, wenn er nur sonst die wissenschaftlichen Entwicklungen dieser letzten Jahrzehnte empfänglichen Geistes mit durchlebt hat, eine andere und freiere Stellung einnehmen, als es etwa zu HEGELs Lebzeiten oder unmittelbar nach seinem Tod möglich war. Aber auch diejenigen unter uns, welche sich zu der Geistesrichtung, aus welcher das System HEGELs erwachsen ist, prinzipiell gegensätzlich verhalten, sind äußerst fern davon, zu verkennen, wie Großes und Bedeutsames HEGEL für die Fortbildung der philosophischen Erkenntnis für alle Zeiten geleistet hat. Unwissenschaftlichen Wortführern der Tagesmeinung, die sich an den ungeschulten Verstand des sogenannten Gebildeten wenden, mag es vorbehalten bleiben, die Lehre HEGELs als eine absonderliche Art von Geistesverirrung und damit als völlig abgetan zu betrachten. Jeder Einsichtsvolle muß zugeben, daß von HEGELs Lehren so viel unwiderstehlich in die allgemeine Denkweise der Besten der ganzen Nation eingegangen ist, daß selbst diejenigen, die sich am weitesten von HEGEL entfernt zu halten bemüht sind, unbewußt unter dem Eindruck des unvergleichlichen Denkers stehen, am allermeisten da, wo von jeder Art geschichtlicher Entwicklung und von den Erscheinungen des geistigen Lebens die Rede ist. Wir aber in unserem Kreis haben HEGELs Andenken bisher immer hochgehalten und werden es auch weiter tun.

Umso weniger soll sich der Vortragende beklagen dürfen, daß eine Ableitung der Identität des Realen und des Idealen, wie er sie auf den Prinzipien HEGELs fußend vor uns entwickelt hat, bei uns des entgegenkommenden Verständnisses entbehrt. Die Einwendungen, die gegen seine Darstellung erhoben werden, sind nicht dafür anzusehen, daß sie aus einem Vorurteil gegen HEGELs Standpunkt überhaupt entsprungen sind, sondern aus freier Erwägung desjenigen, was in dem vom Herrn Redner Vorgebrachten zutreffend oder verfehlt erscheint.

In diesem Sinn möchte auch ich mir einige Einwendungen erlauben. Dabei aber will ich nicht unterlassen, mich gegen die Ausführungen auszusprechen, die wir soeben von Herrn FREDERICHS vernommen haben. Ich bekenne offen, daß der versuchte Rückgang auf KANT, der bei einigen ein beliebtes Stichwort geworden ist, mir geradezu als ein krankhafter Zug der Zeit erscheint. Ansich ist ein solcher Rückgang immer nur cum grano salis [mit einem Augenzwinkern - wp] zu verstehen. Die geistige Stimmung, aus welcher die kantische Art zu philosophieren hervorgegangen ist, läßt sich nach hundert Jahren nicht wieder hervorbringen. Jene Gedankenreihen, die sich in innerlich notwendiger Entwicklung bei KANTs Nachfolgern aus der kantischen Philosophie selbst ergeben haben, als einen Rückfall in den von KANT überwundenen Dogmatismus anzusehen, ist doch wohl ein arges Verkennen der Sachlage. Wer wollte es tadeln, daß sich dem großen Denker, der das gewaltigste Problem der neueren Philosophie zuerst mit voller Klarheit aufgestellt hat, immer von Neuem ein eindringliches geschichtliches Studium zuwendet? Wer den Entwicklungsgang der neueren Wissenschaft in seinem Wesen verstehen will, wird immer von KANT ausgehen müssen. Etwas ganz anderes ist es, sich nun in KANT sozusagen festzubeissen und die gegen das Spätere gehalten immerhin dürftig zu nennenden Resultate des kantischen Denkens als das letzte Wort des Rätsels festzuhalten. Es ist völlig einseitig, in der kantischen Lehre immer nur den Kritizismus zu sehen. Freilich nimmt KANT von einer versuchten Kritik des Erkenntnisvermögens seinen Ausgang; aber wobei er anlangt, das ist ein sehr entschiedener Dogmatismus des Vernunftglaubens, bei dem die behauptete Unerkennbarkeit des Transzendenten schließlich zu einer bloßen, mit einer Art von Eigensinn festgehaltenen Redensart wird.

Der mühsame Scharfsinn, den er überall aufwendet, um zu verhüten, daß man seine Aussage über dasjenige, was der Gedanke vermöge seiner inneren Notwendigkeit vom Zusammenhang der Dinge anzunehmen gezwungen ist, nicht mit einer Aussage über das ansich seiende Wesen der Dinge verwechselt, hat doch im Grunde keinen weiteren Erfolg, als die Künstlichkeit und Gezwungenheit dieser ganzen innerlich unmöglichen Betrachtungsweise nur umso klarer aufzudecken. Ein Denken, welches die rechtmäßigen Grenzen seines Erkennens zu erfassen vermögen soll, muß eben auch das Objekt selber zu erfassen vermögen. Wird ihm das letztere bestritten, so ist gar kein Grund abzusehen, warum es nur in diesem einen Punkt, in der Absteckung seiner Grenzen, das Wahre soll treffen können. Bleibt dem Verstand das Ansich unerkennbar, so bleibt ihm auch das unerkennbar, daß es unerkennbar ist. Diese Art von Dualismus zwischen Subjekt und Objekt führt, wenn man in ihm verharrt, zum völligen Skeptizismus, bei welchem keinerlei Gewähr der Wahrheit der Erkenntnis übrigbleibt. Sofern er aber doch überhaupt etwas erkannt zu haben behauptet, zwingt er zu einer tieferen Auffassung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt, wobei dann eben jener Dualismus hinfällig wird.

Und diejenigen Ansätze dazu, aus denen dann die Späteren weiter entwickelt haben, finden sich bei KANT nicht in vereinzelten Aussagen, sondern sie bilden das Wesentliche seiner philosophischen Weltanschauung, die einen völlig erklärten Dogmatismus enthält. Ganz unhistorisch erscheint es uns, zu tun, als habe KANT nur die transzendentale Ästhetik und Analytik geschrieben, oder als liege hier sein wesentliches Verdienst. Nicht daß er einen subjektiven Idealismus, sondern daß er einen ethischen Idealismus gelehrt hat, hat ihn zum fortzeugenden Vater der größten Gedankenbewegung gemacht.

Ich gebe also dem Herrn Vortragenden durchaus Recht, wenn er die von SCHELLING mehr in Form eines glücklichen Aphorismus, von HEGEL in systematischer Durchbildung aufgestellte Lehre von der Identität des Realen und des Idealen als eine notwendig sich ergebende Konsequenz der kantischen Doktrin bezeichnet. Ich stiimme ihm ferner zu, wenn er behauptet, daß dieses Resultat einer in der ernstesten Forschung gereiften Energie des Denkens nimmer preisgegeben werden darf, um wieder zu niederen Betrachtungsweisen zurückzukehren, deren innere Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit längst in das vollste Licht gestellt worden ist. Im Einzelnen dagegen scheint mir an seinen Auseinandersetzungen dies oder das nicht ganz zutreffend.

Den versuchten geschichtlichen Nachweis, daß eigentlich auf dem Grund aller Weltanschauungen der Philosophen und selbst der Propheten seit den ältesten Zeiten die Identitätslehre zu finden ist, wird der Herr Vortragende selber kaum ganz ernsthaft nehmen wollen. So die Verschiedenheiten auszugleichen, das geht doch nur, wenn man die Bedeutung der Worte sehr unbestimmt und sehr verschwommen faßt. Daß eine gewisse Unbestimmtheit des Sprachgebrauchs auch in einigen anderen Ausführungen hervortritt, hat Herr von KIRCHMANN wohl mit Recht bemerkt. Ich möchte das eine hervorheben, daß die Begriffe Idealismus und Realismus selber, in der Art, wie sie im Vortrag gebraucht werden, etwas Schillerndes und Ungenaues haben. Es scheint uns nicht streng genug die erkenntnistheoretische Frage: wie kommt das denkende Subjekt zu einem Objekt und wie geht das Objekt in das Denken ein? von der metaphysischen Frage nach dem wahrhaft Seienden, dem Grund allen Seins und seinem Verhältnis zum Erscheinenden unterschieden zu werden, und die Frage der wissenschaftlichen Methode scheint uns zu jenen beiden in eine allzu unmittelbare Beziehung gerückt zu sein.

Um das metaphysische Problem zu lösen, ist es kaum geraten, von einem Gegensatz des Allgemeinen und des Einzelnen auszugehen. Diese Kategorien sind einfach zu arm und zu inhaltslos, um an ihnen zu messen, was das wahrhaft Seiende ist. Nicht ohne Weiteres kann man das Allgemeine mit dem Geist, das Einzelne mit der Natur identifizieren; am allerwenigsten läßt sich auf der psychologischen Entstehung des allgemeinen Begriffs als des in vielen Einzelwahrnehmungen Gemeinsamen der Satz begründen, daß die sogenannten exakten Wissenschaften ein bloßes blindes Herumtappen im Finstern sind. Die exakten Wissenschaften haben ihre Begründung in etwas ganz anderem, als in jenen relativen Allgemeinheiten, welche auf empirischem Weg entstehen. Zuzugeben ist gewiß, daß es keine Erkenntnis und keine Wissenschaft geben kann als vom Allgemeinen, daß also, soll überhaupt gedacht werden, ein seiendes Allgemeines, ein objektiver Gedanke vorausgesetzt werden muß, falls nur erst der erkenntnistheoretische Zweifel gelöst ist, ob es überhaupt ein Objektives außerhalb des Denkens selber gibt. Aber erstens ist dieser Zweifel, sein Recht oder Unrecht, im Vortrag kaum berührt worden; andererseits ist es, auch wenn man jenen Satz zugibt, keine notwendige Konsequenz, daß dann auch diese objektiven Gattungen der Dinge mit einer Art von Ewigkeit behaftet und in einem absoluten Sinn konstant sein müßten. Nichts hindert, diesen Gattungen eine innere Entwicklung zuzuschreiben, so daß aus Gattungen Gattungen werden, aus Unvollkommenerem das Vollkommenere sich bildet, die Modifikation des Urbildes in stetem Fortschritt immer tiefer ins Wesentliche eingreift. Wer in der Metaphysik dem Idealismus anhängt und dem Geist die gestaltende Macht über alles und über den Geist selber zuschreibt, der wird dann auch daran festhalten müssen, daß auch diese Entwicklung vin Gattung zu Gattung eine vorgedachte und die Welt der Urbilder selber eine innerlich bewegte und dem idealen Ziel zustrebende ist.

Daß der Streit zwischen Idealismus und Realismus, - denn das scheint der Herr Vortragende im Auge gehabt zu haben, als er von einem Streit zwischen Philosophie oder Spekulation und Empirismus gesprochen hat, - sich im Grund auf eine Meinungsverschiedenheit über die Methode reduziert, scheint mir in keiner Weise zutreffend. Der metaphysische Realismus zumindest, wie ich ihn verstehe, dem das dingliche Sein, das Substrat der äußeren räumlich-zeitlichen Bewegung, als die wahre Substanz in allem Spiel der Erscheinungen gilt, der die Erscheinungen selber nur aus den durch vernunftlose Kräfte bestimmten Bewegungen und Veränderungen an jener Substanz ableitet und den Geist wie alles was dem Gebiet des Geistes angehört, nur als ein zufälliges Ergebnis dieses Spiels der Kräfte neben anderen Ergebnissen betrachtet: dieser Realismus ist weder das Resultat einer gewissen beim Forschen angewandten Methode, noch hat er die Anwendung einer solchen bestimmten Methode der Forschung zur notwendigen Folge. Warum sollte man nicht auf spekulativem Weg zu einem solchen Realismus kommen können? Warum sollte der Realist nicht zwecks der Durchführung seiner Lehre das Einzelne der Erfahrung überspringen und aus den Begriffen des menschlichen Verstandes selber ohne Rücksicht auf die empirisch gegebenen Tatsachen die Wahrheit seines Prinzips zu erweisen versuchen? Andererseits liegen ja Beispiele genug vor Augen, wie der verwegenste Idealismus es unternehmen mag, auf sogenanntem induktiven Weg von Tatsache zu Tatsache weiter schreitend schließlich bei rein geistigen Potenzen als dem gestaltenden Grund alles Seienden und Erscheinenden anzulangen. Es ist gar kein Grund, eine bestimmte Methode einer bestimmten metaphysischen Grundanschauung als ihr eigentümlich zugehörig zuzuweisen oder den Gegensatz der Weltanschauungen auf einen Gegensatz der Methoden zu reduzieren.

Kaum anders ist es, wenn wir Idealismus und Realismus in einem erkenntnistheoretischen Sinn nehmen. Kein irgendwie verständiger Mann wird doch auf die barocke Vorstellung geraten, die Frage, ob es ein Objekt außerhalb des Denkens gibt, ob das, was wir über dasselbe durch eine denkende Bearbeitung unserer Wahrnehmung, unseres unmittelbaren Urteils, unserer Erfahrung ausmachen, dem Ding ansich zukommt oder nur die Art bezeichnet, wie es uns notwendig erscheint. Diese Frage läßt sich irgendwie durch Erfahrung, auf induktivem Weg, durch die Erwägung von Tatsachen und nicht von Begriffen lösen. Man mag noch so viele Gehirne messen, wägen, analysieren, sich über den Verlauf von Nervenfasern im Gehirn noch so gründlich informieren, die Art, wie gewisse Affektionen der Nervenstränge gewisse Empfindungen und Bewegungen veranlassen, noch so genau erforschen: damit bleibt man doch immer in der Erscheinung selber stehen und erfährt über das Erscheinen überhaupt und über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gar nichts. Keine physiologische, aber auch keine psychologische Erfahrung, so weit von letzterer überhaupt gesprochen werden kann, reicht an die Probleme der Erkenntnistheorie heran. Für diese gibt es nur eine Methode, die spekulative, und Idealismus und Realismus, wie sie sich auch wenden mögen, wollen sie ihr Recht erweisen, so müssen sie von den Tatsachen der Erfahrung absehen und aus den Begriffen der Vernunft demonstrieren. Wer nicht spekulieren will, der muß sich auch auf diesem Gebiet jedes Urteils enthalten oder das zu Beweisende als etwas Selbstverständliches hinstellen, womit dann freilich gar nichts getan ist.

Der Gegensatz zwischen den Methoden der Wissenschaft ist überhaupt so groß nicht, wie er dem befangenen Blick erscheint. Zwischen den Weltanschauungen gibt es durchgreifende, unversöhnbare Gegensätze, und sehr oft macht man im Streit die Erfahrung, daß jedes Mittel der Verständigung auch mit dem gescheitesten Gegner versagt. Alle Unterschiede der Methode sind dagegen nur relativ. Es gibt weder eine induktive Wissenschaft, noch eine deduktive Wissenschaft; weder auf dem Weg der bloßen Empirie, noch auf dem der bloßen Dialektik läßt sich irgendetwas erreichen, was so aussieht wie Wissenschaft. Es ist augenscheinlich falsch, daß sich aus Einzelwahrnehmungen eine Generalisierung aufbauen läßt, ohne daß der Denkende das Allgemeine, auf das er hinaus will, schon in sich hätte. Keine Tatsache läßt sich konstatieren, ohne daß das Vorgefundene in ein schon bereit gehaltenes Allgemeines eingeordnet würde. Man könnte ebenso gut eine Wissenschaft nach der dritten oder zweiten Schlußfigur, als eine Wissenschaft nach der Induktion benennen. Der Logiker, der die Prozesse des Denkens untersucht, hat ganz recht, wenn der die Dinge, die im wirklichen Denken untrennbar in eins verflochten sind, scheidet, wie derjenige, der von der Verdauung handelt, die Funktion des Speichels von der des Magensaftes sondert. Aber in Wirklichkeit gibt es kein Denken, das bloß induktiv und nicht zugleich deduktiv wäre, freilich auch kein Denken, das sich der Anerkennung und Erfahrung des Einzelnen völlig entschlagen und sich im leeren Äther der bloßen Begriffe herumtummeln dürfte.

Wo Wissenschaft angestrebt wird, da gilt es immer in einem Reich der Einzelheiten die Einheit des beherrschenden Begriffes durchzuführen. Die Einzelheiten sind immer gegeben, aus der Erfahrung entnommen, aber sie sind nicht gegeben ohne den denkenden Geist und ohne die Kategorien, die anzuwenden er vermöge des Grades von Klarheit über sich, den er erreicht hat, in den Stand gesetzt ist. Millionen haben dieselbe Erscheinung wahrgenommen, ehe der Eine oder die Generation kommt, für welche das Wahrgenommene zu einer Erfahrungserkenntnis wird, zu einer Tatsache, die mit dem schon früher Erkannten eine bestimmte Verbindung eingeht. Dazu, daß dies möglich wird, hat die ganze Reihe der früher vollzogenen Deduktionen ebensosehr geholfen, wie die anhand von Tatsachen früher gemachten Induktionen. Zur Bildung von Begriffen, hilft der Prozeß der geistigen Entwicklung in seiner Gesamtheit, und kein einzelnes Moment dieses Prozesses kann dabei ein ausschließliches Verdienst für sich in Anspruch nehmen.

Die Deduktion kann ihr Werk nicht beginnen, ohne eine Welt von gesicherten Tatsachen vor sich zu haben. Dagegen ist es völlig falsch, daß aus reiner Deduktion irgendeine Tatsache gefunden werden könnte. Die Induktion mag Begriffe, - nicht "Ideen", - in den Erscheinungen nach weisen, - nicht "ableiten". Die Deduktion kann sicherlich nicht zur Aufgabe haben, "das Objekt aus der Idee abzuleiten". Auch ich halte die Deduktion ihrem Wesen nach für Dialektik, d. h. für eine begriffliche Erörterung des gegenseitigen Verhältnisses der Begriffe. Aber entschieden bestreite ich, daß durch eine solche Dialektik Tatsachen erfunden werden können oder gar sollen, oder daß durch eine dialektische Ableitung aus Begriffen die empirisch gefundenen Gesetze eine höhere Dignität und gesicherte Geltung erlangen. Diese Ansicht des Herrn Vortragenden gehört zu denjenigen Resten althegelianischer Art und Weise, welche die fortschreitende Wissenschaft ein für allemal abgeworfen zu haben scheint.

Die Sprödigkeit des Einzelnen gegen den Begriff ist doch größer, als der Herr Vortragende meint. Der Dialektiker, der aus dem Begriff des Affen zu deduzieren unternähme, in welche Familien und Ordnungen die Affenheit auf Erden tatsächlich zerfallen müßte, würde sich offenbar nur lächerlich machen. Kaum anders aber ist es, wenn der Dialektiker aus dem Begriff der Bewegung KEPLERs Gesetze soll ableiten können, und wenn dadurch der bloß relative und zufällige Charakter der a posteriori gewonnenen Gesetze zum Rang absolut gültiger Wahrheiten soll erhoben werden können. Noch nie hat ein Dialektiker ein empirisch gültiges Gesetz gewonnen; das haben bisher immer noch die Empiriker selber besorgt, und wir werden für diesen Zweck auch wohl für alle Zukunft auf sie angewiesen bleiben. Kaum also möchte es ein gesundes Denken genannt werden können, welches durch eine dialektische Erörterung der Begriffe für empirische Tatsachen eine Dignität und Sicherheit erhofft, die ihnen vorher nicht zugekommen wäre.

Könnte aber der denkende Geist bei der Konstatierung von Tatsachen sich überhaupt zufrieden geben, so möchte es immerhin bei der bloßen Empirie sein Bewenden haben, und der dialektischen Deduktion bedürfte es dann überhaupt nicht. Es gibt aber tatsächlich außer und über der empirischen Kenntnis eine spekulierende Form der wissenschaftlichen Untersuchung, die einem tiefen Bedürfnis des menschlichen Geistes entspricht. Und welches ist dieses Bedürfnis? Der Geist will, wenn seinem Wissensdrang genügt werden soll, mehr als bloße Tatsachen und mehr als das, was zum Begriff der Tatsachen gehört; er will eine allseitige und schließlich eine mehr als bloß ursächliche Verknüpfung zwischen den Tatsachen. Die Tatsachen selber sind als solche vernunftlos, und die ursächliche Verknüpfung reicht nicht aus, ihnen die Form der freien Vernünftigkeit zu erteilen. Was der Geist in aller Vielheit der Erscheinungen sucht, ist wahr begriffliche Einheit, die Form innerer Vernünftigkeit. Diese in den Tatsachen zu erkennen und damit die bloße Äußerlichkeit und Tatsächlichkeit abzustreifen, dazu bedarf es der Dialektik, und jedes empirische Verfahren wird durch sich selber notwendig zur Dialektik hingedrängt, wenn es sich nicht auf ein bloß handwerksmäßiges Tun beschränken will. Nicht bloß, weil es Gebiete der Erkenntnis gibt, die der Empirie überhaupt unzugänglich sind, nicht bloß weil alles freie Werden und ursachlose sich Entwickeln dem empirischen Verfahren verschlossen bleibt, sondern auch weil jedes bloß Empirische sich als eine vernünftige notwendige Bestimmung innerhalb des Ganzen der Erscheinung ausweisen soll: darum kommt zur empirischen eine philosophische Erkenntnis hinzu, nicht durch die Willkür der Menschen, sondern durch die Natur der Sache. Unmerklich geht die eine Form der Untersuchung in die andere über, und strenge Grenzlinien lassen sich nicht ziehen, so daß diesseits noch alles Empirie und jenseits aller Deduktion wäre. Es gibt in allen Wissenschaften nur eine Wissenschaft und nur eine Art wissenschaftlich zu denken und zu forschen, und diese ist dem Empiriker mit dem Philosophen gemeinsam. Gedankenlos im Einzelnen der sinnlichen Erscheinung herummanövrieren ist ebensowenig Wissenschaft, wie in anschauungsloser Abstraktion Begriffe auf Begriffe türmen.

Die Philosophie, deren besondere Aufgabe die letzte und höchste Zusammenordnung aller erfahrungsmäßigen Tatsachen zu einem innerlich einheitlichen Gedankensystem bildet, ist damit die Blüte aller Wissenschaft, und weil ihr Tun Sinne und Gedanken schärft, weil sie neue Probleme stellt und zu neuen Wegen der Forschung anleitet, so mag sie mit Recht die Königin der Wissenschaften heißen. Aber das ist festzuhalten: Den Stoff der Tatsachen hat die Philosophie schlechthin zu empfangen. Sie kann Tatsachen weder mit ihren Mitteln finden und erzeugen, noch ihnen irgendeine höhere Sicherheit und Gewißheit verleihen. Die Tatsachen einzureihen in die vernünftige Ordnung des Weltalls, sie damit im Tiefsten zu begreifen, eine einheitliche Weltanschauung aus ihnen zu gewinnen, das ist die Aufgabe der Philosophie und das vermag sie mit den Mitteln ihrer Dialektik zu leisten.

Darum finde ich die höchste Gestalt der Philosophie da, wo der Versuch gemacht worden ist, alle Tatsachen der äußeren und inneren Erscheinung als innerlich notwendige Momente in einem Prozeß der absoluten Vernunft zu begreifen, die sich realisiert und deren Tat die Welt ist. Ich bestreite dem metaphysischen Realismus sein relatives Recht nicht, wenn er in seiner Welterklärung glaubt, den letzten Grund als vernunftlos statuieren zu dürfen. Aber ich bin überzeugt, daß jeder Realismus, wenn er nur seine Konsequenzen streng zieht und auf seine Voraussetzungen ernsthaft eingehen will, sich als ein latenter Idealismus erweisen würde. Dem Idealismus aber ist das die höchste Aufgabe, die Welt in ihrer Zweckbewegung darzustellen. Die Vernunft, indem sie sich realisiert, setzt Zwecke und einen Prozeß fortschreitender Erfüllung dieser Zwecke. Darum ist der Philosophie in ihrer höchsten Form das gesamte Weltall ein Reich von Zwecken, und das Nachdenken dieser objektiven und realen Zweckbewegung ist die Dialektik. Ein absolut vernünftiger Wille setzt alle Realität und alle Bestimmtheit des Vielen; der Dialektiker zeigt in allem ebensowohl das Hervorgehen aus dem Einen wie den Rückgang in das Eine nach und entfaltet vor unseres Geistes Augen das Ganze dieser Welt als ein zweckmäßig bewegtes, schönes und wohlgeordnetes, überall belebtes und vollkommenes Ganzes.

Ich glaube, so erst wird der Friede zwischen den Empirikern und den Philosophen völlig gesichert. Wollen jene von uns gar nichts wissen, betrachten sie das Streben nach einer einheitlichen Weltanschauung als eitel Träumerei, weisen sie den Gedanken einer vernünftigen Weltordnung mit Entschiedenheit ab: so stören sie uns doch wenigstens nicht, und wir sagen ihnen, daß ein solcher Dogmatismus einseitig, vorurteilsvoll, aus einem mangelhaften Denken der betreffenden Begriffe entsprungen ist. Was sie uns dagegen bieten können, ist eine Fülle exakt bearbeiteten empirischen Materials. Das nehmen wir aus ihrer Hand mit größter Dankbarkeit freudig entgegen. Über diese Dinge streiten wir nicht mit ihnen, denn diese verstehen sie allein und wir sind ihre Schüler und Hörer. Dagegen dürfen wir uns bemühen, in begrifflicher Bearbeitung des jetzt vorhandenen Materials zu zeigen, welche Schlüsse über das Wesen der Dinge sich aus den bekannten und gesicherten Tatsachen ziehen lasen und welche nicht, welche Ungewißheiten und Dunkelheiten noch nicht aufgehellt sind, wonach zu forschen ist und in welchem Sinn. So mag dann auch unser Tun dem Empiriker zustatten kommen, und wenn er freisinnig und weitsichtig genug und nicht im Vorurteil des Handwerks eingerostet ist, so wird er nicht nur unser Recht auf unserem Gebiet anerkennen, sondern auch für die Anregungen dankbar sein, welche die Philosophie ihm auf seinem Gebiet gewährt.


Hierauf erhielt Professor MICHELET das Wort zur Schulßreplik, welcher sich dahin äußerte:

Auf den hundert Jahre alten Standpunkt KANTs, den Herr FREDERICHS vertritt, einzugehen, kann ich mich umso weniger bemüßigt finden, als derselbe Teils ein vollständig abgetaner ist, Teils der Gegner selber zweimal einzuräumen nicht unterlassen kann, daß KANTs Nachfolgern der innere Zusammenhang ihrer Spekulationen in der Entwicklung des Zeitbewußtseins nicht fehlt. Der unbewiesenen Behauptung, "daß die Astronomie und die Geologie die neueste deutsche Philosophie widerlegt haben sollen", stelle ich die anderwärts von mir erwiesene Behauptung entgegen, daß diese Philosophie jene Wissenschaften vielmehr rektifiziert hat. Die Lieblingsvorstellung des Herrn FREDERICHS von der Pluralität der Welten überlasse ich billig dem Spiel seiner Phantasie; denn in der Erfahrung ist sie nicht gegeben. Die Ewigkeit der Gattungen hat nicht nur die absolute Notwendigkeit des Denkens für sich, da nichts Allgemeines entstehen kann; sondern auch die Erfahrung bestätigt sie, indem die Modifikationen der Gattungen in der Zeit nur unwesentliche sind. Wer sich mit Hypothesen, als einem Letzten, zufrieden gestellt erklärt, und noch heutigen Tags von den "Schranken des menschlichen Erkennens" spricht, der macht damit wohl nur eine psychologische Beobachtung an sich selbst; und es ist dann allerdings ganz in Ordnung, daß ein solcher mit der aufgefundenen Perle KANTs so wenig etwas anzufangen weiß, wie das Huhn in der Fabel. Einen so durchgebildeten Dialektiker, wie HEGEL, des einseitigen Dogmatisierens zu beschuldigen, ist wahrlich unerhört. Der Kritizismus hat nicht nur den Verstandesdogmatismus, sondern auch die Vernunftspekulation zu seinem Gegensatz. Herr FREDERICHS scheint aber nur das Dilemma: Dogmatismus oder Kritizismus, zu kennen. Das Dritte, sie Vermittelnde und ihre Einseitigkeiten Aufhebende, welches von dem bloß dogmatischen Verstand, durch die bloß kursierende negative Vernunft hindurch, sich zur positiven Vernunfterkenntnis der Spekulation erhebt, - dieses Dritte, womit doch allein Philosophie gesetzt ist, scheint ihm völlig unbekannt geblieben zu sein. Denn das Wort: nachkantische Spekulationen, scheint ihm nur einen niedrigeren, ganz verächtlichen Sinn zu haben.

Herrn von KIRCHMANN habe ich Folgendes zu erwidern: Sind die Universalien nur abgetrennte "Stücke" der einzelnen Dinge, dann sind freilich Letztere "wohl" realer. Der allgemeine Mensch, als Ganzes, ist aber bei den Realisten des Mittelalters das Reale in PETRUS und PAULUS. - CARTESIUS findet sein Sein nicht in einem Spazierengehen, Essen usw., wie GASSENDI ihm untergeschoben hatte: ambulo, ergo sum. Denn alle diese leiblichen Funktionen kommen auch im Traum vor, und man hält sich dann fälschlich für Wirklichkeiten. Wenn ich aber, wachend oder träumend, denke, daß ich spazieren gehe, so soll dieses Denken eine Wirklichkeit sein. Ja, auch das ihm Entgegengeworfene: Ludifor, ergo sum, erschüttert CARTESIUS nicht, weil selbst in den Täuschungen des Bewußtsein das Denken erhalten bleibt. Mein Denken also konstituiert allein mein wahres Sein. Mit anderen Worten: Mein Körper existiert vielleicht nicht, aber die Tätigkeit des Geistes ist sicherlich. Daß CARTESIUS sich hinterdrein dieses Satzes bedient hat, um aus seinem anfänglichen Zweifel heraus, durch die Wahrhaftigkeit Gottes, auch zum Sein der Außenwelt zu gelangen, ist richtig, hebt aber den Satz: "Denken gleich Sein" nicht auf. Wissen, das Herr von KIRCHMANN öfters sehr unkritisch mit Denken gleichbedeutend gebraucht, ist das Bewußtsein um die Identität beider Glieder.

Wenn Herr von KIRCHMANN mir vorwirft, daß ich die Korrelata: Allgemeines und Besonderes, Ideales und Reales, Denken und Sein, nicht voneinander unterschieden habe, so gibt er ebensowenig an, worin sie nicht gleichbedeutend sind, und ob es hier auf ihren Unterschied überhaupt ankommt. Man kann ebensowohl sagen, daß das Allgemeine und Besondere "Unterarten des Gedachten und des Seienden" sind, als das Umgekehrte; auch hierin sind sie also noch gleichbedeutend. Und bei Idealem und Realem, Gedachtem und Seiendem, wird die Identität als ein "Vielleicht" zugegeben. Wir statuieren, wie der Gegner, zwischen dem seienden Ding und dem gedachten Begriff eine Identität des Inhalts und einen Unterschied der Form. "Der unfaßbare, unverständliche und unbrauchbare Widerspruch, welcher HEGELs Ausdruck anhaften soll, ist daher hinfällit oder träfe auch den Kritiker.

Überhaupt akzeptieren wir diese Annäherung des Gegners an unseren Standpunkt dankbarst. Es ist neu, daß ein Realist der modernen Welt das Allgemeine nicht nur im Denken, sondern ebenfalls im Sein findet. Diese Wahrheit zu erhärten, war eigentlich der einzige Zweck meines Vortrags, dessen Erfolg Herr von KIRCHMANN durch seine Zustimmung sichert. Nur begreife ich nicht, wie er dann noch beim Realismus (denn den Empirismus lehnt er ab) verharren kann, da das Allgemeine in den Dingen doch ihre Idee ist. Ja, er versteigt sich bis zur Ausdrucksweise der Realisten des Mittelalters. "In diesem seienden Menschen ist das Allgemeine seiend enthalten." Wir erfahren sogar zu unserem Erstaunen, "daß der Realismus nie die Realität des Allgemeinen bestritten hat." Also die Gattungen sind Herrn von KIRCHMANN nicht, wie bei LOCKE, ein "bloßes Spiel des Denkens", sondern seiende Begriffe in den einzelnen Dingen. Er hat sich damit ausdrücklich zum Ideal-Realismus bekannt; und das nennt er seinen "philosophischen Realismus", den er streng vom Empirismus geschieden wissen will. Dennoch hält er am Schluß den Ideal-Realismus für unmöglich, und rühmt sich, dessen Widersprüche "am gehörten Vortrag aufgedeckt und dargelegt zu haben." Auf welcher Seite hiernach "das gemütliche Verwechseln und Schillern der Begriffe, die Verwirrungen, die Mißverständnisse und dgl. mehr liegen, und "gerügt werden müssen, überlasse ich getrost kompententen Richtern zur Entscheidung.

Doch Herr von KIRCHMANN kommt auch auf "die Hauptfrage", auf die Methode. Es ist einfach ungeschichtlich, und würde eine Absurdität involvieren, wenn HEGEL "die Einsprüche der Erfahrung gegen die spekulativen Resultate seines dialektischen Verfahrens nicht gelten" lassen würde. Als er nämlich in seiner Inauguraldissertation "De orbitis planetarum", der damaligen Erfahrung folgend, die Notwendigkeit einer leeren Stelle in der Reihe der Planeten dialektisch nachgewiesen hatte, und bald darauf die vier ersten kleinen Planeten an jener Lücke aufgefunden wurden, beeilte er sich, bei schicklicher Gelegenheit seine dialektische Deduktion zu rektifizieren. Nicht also mein Vortrag erst läßt "eine leise Einwirkung realistischer Prinzipien erkennen"; sondern HEGEL selbst hat sie sehr früh schon in vollem Maße anerkannt. Und sein "treuester Schüler und Anhänger" hat seinen Meister nicht verleugnet, eben weil er "einer der genauesten Kenner seiner Philosophie" ist. Auch hat nicht "die altgewohnte Verehrung für HEGEL, um dessen Prinzip zu retten", mir den Vortrag eingegeben, sondern lediglich die Wahrheit der Sache selbst; amicus Socrates, amicior veritas [Sokrates ist mir lieb, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit. - wp].

IN meinem Zugeständnis" der gegenseitigen Kontrolle beider Methoden soll dann dieses weitere Zugeständnis enthalten sein, "daß auch die induktive Methode, richtig gehandhabt, zur Wahrheit führt". Das kann sie jedoch für sich allein nie, weil sie immer nur bis zu relativen Allgemeinheiten gelangt. Daß die Kontrolle sich bloß auf die "Resultate" erstrecken kann, gebe ich zu. Und "wenn die auf beiden Wegen gefundenen Resultate nicht übereinstimmen", - nun dann behält eben keiner Recht. Sondern dann allein ist die Wahrheit entdeckt, wenn beide Resultate übereinstimmen. Das müssen sie aber, sobald nur beide Methoden richtig gehandhabt werden. Denn die Wahrheit ist eine und nur diese Übereinstimmung ist die Wahrheit! Fehlt die Übereinstimmung, so wartet die Dialektik, bis dieselbe da ist. Will sie nicht warten, so prüft sie noch einmal sorgfältiger ihren Gang, oder der Philosoph geht selber ans Experimentieren. Seine Kontrolle über die Empirie bezieht sich nicht nur auf die einzelnen Sinneswahrnehmungen, denn diese sind beiden Standpunkten gemein, und ein Streit darüber muß sich leicht schlichten lassen. Die Kontrolle betriff hauptsächlich die relativen Allgemeinheiten, welche die Induktion eben als ihre Resultate aufstellt, und die mit den von der Dialektik gewonnenen absoluten Allgemeinheiten sich in Übereinstimmung befinden müssen.

Daß die "induktive Methode bekanntlich sehr streng gegen sich selber ist, um nicht vage Analogien und luftige Hypothesen aufzustellen", - dafür vermisse ich den Beweis. Im Gegenteil. Bekanntlich klopft die induktive Methode dem Optiker nicht auf "die Finger", wenn er die Schwingungen der Darmseiten auf die Emanation des Lichts überträgt; auch hat sie die "Billionen" Farbenwellen weder je kontrolliert, noch empirisch nachgewiesen. Die Philosophie muß zur Hilfe herbeieilen, solche aus der Luft gegriffenen Analogien und Hypothesen zu kontrollieren. Echt komischer Humor ist es aber, daß Herr von KIRCHMANN hinterdrein geradezu selber der Dialektik diese Kontrolle zugesteht, die er ihr in einem Atem verspricht. Er sagt: "Die induktive Methode benutzt das trennende und verbindende Denken" (das war, meinem Vortrag gemäß, wörtlich die plationische Definition der Dialektik) dazu, den aus der Wahrnehmung geschöpften Inhalt zu reinigen.

Dabei wird gegen die Dialektik mit den beliebten Epithesis: "Spiegelfechterei, Taschenspielerkunststück, wenn gleich bona fide" und anderen Liebenswürdigkeiten herumgeworfen. Soll ich die edlen Gestalten eines ZENO, HERAKLIT, PLATO, ARISTOTELES, PLOTIN, PROKLUS, NICOLAUS CUSANUS, GIORDANO BRUNO, KANT FICHTE, HEGEL aus der Geisterwelt zitieren, Herrn von KIRCHMANN zu überzeugen, "daß die dialektische Entwicklung und spekulative Verbindung der Begriffe" keine Unmöglichkeit verlangt, die den Grundgesetzen des menschlichen Denkens widersteht?" Denn Jahrtausende lang haben "die schärfsten Denker" diese Dialektik geübt. Wenn man ihr aber etwas unterlegt und unaufhörlich zum Vorwurf macht, woran sie gar nicht denkt, dann kann man ihr freilich all jene schönen Namen anhängen. Die Dialektik verleugnet nämlich gar nicht, wie ihre Gegner hundertmal einander nachgesprochen haben, den Satz des Widerspruchs. Sie hebt zwar konträre Gegensätz, wie Etwas und Anderes, Wesen und Erscheinung, Begriff und Objekt zur Identität auf: aber nicht kontradiktorisch Entgegengesetzte, wie Pferd und Nichtpferd. Erst wenn HEGEL "den Grundsatz der Unmöglichkeit des sich Widersprechenden verleugnet" hätte, würde "seine Darstellung dunkel, gewaltsam und unverständlich" nicht bloß für den Kritiker, sondern auch ansich sein.

Daß die "deduktive Methode immer post festum gekommen ist", ist wieder durchaus unhistorisch. FICHTE und HEGEL haben am Anfang des Jahrhunderts durch ihre politischen Theorien die Einheit Deutschlands unter einem nationalen Kaisertum endlich auf der Neige des Jahrhunderts praktisch herbeigezogen. Und SCHELLING stellte um dieselbe Zeit in seiner Naturphilosophie den Begriff des Organismus auf, den die Physiologen freilich noch nicht allgemein, besonders aber doch JOHANNES MÜLLER und SCHULTZ-SCHULTZENSTEIN adoptiert haben.

Herr von KIRCHMANN wirft meinem Vortrag vor, daß in ihm "die Präponderanz der spekulativen Methode hervortritt". Und dann muß er doch selber an zwei Stellen zugestehen, daß die induktive Methode "schwache Seiten" hat, daß sie es nur zu "relativen Allgemeinheiten" bringt, daß "neue Entdeckungen ihre Begriffe und Gesetze modifizieren müssen", daß sie es sogar nur bis zu "Wahrscheinlichkeiten", wie auch HARTMANN zugibt, bringen kann. Diese Bekenntnisse, jene vorzunehmende "Reinigung" durch das Denken, "der philosophische Realismus"; - all das zeigt nichts Anderes, als die unwiderstehliche Gewalt der Wahrheit, welche den Gegner packt, wenn er es auch mit den Lippen einzuräumen sich sträubt. Es wird "gemütlich" zur alten Lehre ein neues Wort, und zwar ein sehr schwerwiegendes, nämlich "philosophisch" hinzugefügt, - um durch eine in rem versio sich das Angenommene anzueignen. Das ist die grausame Dialektik, die auch ohne mein Zutun eine solche Polemik zermalmt.

Wir hegen nicht den leeren "Wunsch nach einer sicheren und umfassenden Wissenschaft"; er ist erfüllt, sollte auch erst, "nachdem Jahrzehnte verflossen" sind, der philosophische Realismus seine dämmernde Ahnung in ein apodiktisches [logisches zwingend, demonstrierbares - wp] Wissen zu verwandeln imstande sein. Dem Stolz des Philosophen, nicht "derselben Instrumente mit jedem Bauer und Bettler für das Erkennen des Höchsten sich bedienen" zu sollen, wird unser Mitglied also wohl Rechnung tragen müssen. "Der gewöhnliche Menschenverstand", an welchen mit Bescheidenheit appelliert wird, kann nie höher steigen, als der common sense der schottischen Philosophen. Darum ist unsere Vernunftdialektik aber kein "verborgenes Geheimmittel" außer für die, denen die Wahrheit überhaupt ein offenes Geheimnis bleibt. Sinnliche Flügel zum empirischen "Fliegen" sind uns Menschenkindern allerdings "versagt".

Wer aber dem dialektischen Flügelschlag des Gedankens sich hinzugeben vermag, der wird geraden Weges zur geistigen Sonn der Wahrheit emporfliegen, ohne daß er zu fürchten bräuchte, mit den wächsernen Fittichen des alltäglichen Menschenverstandes im ikarischen Meer einer Bauern- und Bettelphilosophie zu ertrinken.

Mit meinem Denkgenossen, Herrn LASSON, werde ich mich umso kürzer auseinander setzen können, als er einerseits dem Riesenheros, dem jetzt Pygmäen über die Schultern sehen und den Rücken kehren wollen, die gebührende Ehre gibt: andererseits gegen meine Widersacher mir zur Seite fechten wird. Weiß ich mich auch mit Herrn LASSON darin in Übereinstimmung, eine gewisse Modifikationi, ja selbst Vervollkommnung der Gattungen zu gestatten, so widerstrebt es meiner Dialektik doch, "die Welt der Urbilder, selbst in innerlicher Bewegung zu einem idealen Ziel sich entwickelnd", in einem absoluten Geist, auf den der Redner noch einmal später zu sprechen kam, als "vorgedacht" anzunehmen, weil dies denselben der zeitlichen Veränderung, wenn auch nur im Denken, Preis geben würde.

Es ist richtig, daß nicht mit Notwendigkeit die methodische Form den metaphysischen Inhalt bestimmt. Da aber doch in einem System Form und Inhalt harmonieren müssen, so liegt gemeinhin die empirische Methode auf Seiten des Materialismus, die Dialektik auf Seiten der Geistesphilosophie. Indessen statuiere ich Ausnahmen dieses Kanons, wie z. B. BERKELEY. Was Herr LASSON über die Untrennbarkeit von Deduktion und Induktion sagt, hat ganz meinen Beifall. Aber weder HEGEL noch irgendwem ist es je eingefallen zu behaupten: "daß durch Dialektik Tatsachen erfunden werden können." Wenn dann Herr LASSON den Satz: "daß durch dialektische Ableitung aus Begriffen die empirisch gefundenen Gesetze eine höhere Dignität und gesicherte Geltung erlangen", ein für alle Mal als einen Rest alt HEGELscher Art abwerfen will; so leugnet er überhaupt die Sicherheit der Erkenntnis, oder er ist empirischer als die Empiriker, da er ja aus Herrn von KIRCHMANNs Mund selbst gehört hat, daß die induktive Methode uns nur Wahrscheinlichkeiten bietet. Etwas Anderes ist es, "ein Gesetz gewinnen", etwas Anderes, es "zum Rang absolut gülter Wahrheiten zu erheben". suum cuique [Jedem das Seine. - wp] Sind die KEPLERschen Gesetze dazu erhoben, so frage ich meinen Freund, wem dieses Verdienst gebührt.

Im Verfolg seiner Rede hat er selbst der Philosophie dieses Verdienst zugeschrieben, und damit den alten Satz HEGELs selber bestätigt. Denn nach ihm soll die Leistung der spekulativen Untersuchung darin bestehen, "der Vielheit der Erscheinungen eine wahre begriffliche Einheit, die Form der inneren Vernünftigkeit zu verleihen". Ganz richtig! Gehört dazu aber nicht dies, "aus dem Begriff der Bewegung ihre Gesetze abzuleiten?" da sich diese Gesetze auf diese Weise "als eine vernünftige, notwendige Bestimmung innerhalb des Ganzen ausweisen?" Und "verleiht die Philosophie ihnen dadurch nicht eine höhere Sicherheit und Gewißheit?"

Am Schluß will auch Herr LASSON eine Versöhnung zwischen dem Empirismus und der Philosophie anbahnen, und zum Ende wendet er sich an die besondere und höchste Aufgabe der Philosophie, die darin bestehen soll, "die letzte und höchste Zusammenfassung der Welt in eine Zweckbewegung darzustellen". Wenn Herr LASSON aber dieses "Reich von Zwecken" nicht als eine innerliche, immanente Teleologie, sondern als eine äußerliche Zweckmäßigkeit faßt, so daß "ein absolut vernünftiger Wille alle Realität und alle Bestimmtheit des Vielen setzt", - dann fürchte ich sehr, daß dadurch keineswegs "der Friede zwischen Empirikern und Philosophen", wie Herr LASSON "glaubt, völlig gesichert wird". Die Feindschaft wird damit vielmehr in hellen Flammen auflodern. Denn mit dem Theismus eines außerweltlichen Verstandes, der, wie GOETHE sagt, äußerlich die Welt nach Zwecken an seinem Finger laufen lassen würde, wird der Empirismus sich nie befreuden. Daß derselbe aber der inneren Teleologie, die ohne Vorbedacht von Innen heraus die Welt gestaltet, nicht abgeneigt ist, und sich damit der spekulativen Philosophie zuneigt, wenn er auch ihre Dialektik haßt, - das haben wir an der Philosophie des Unbewußten gesehen.
LITERATUR - Karl Ludwig Michelet, Idealismus und Realismus, Vortrag, Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, 1875