ra-2C. GüttlerR. OttoE. BoutrouxSimmelW. GenzR. A. Lipsius    
 
CARL GÜTTLER
Wissenschaft und Religion

"Läßt man jedoch das intuitive  Fühlen  des Unendlichen, Absoluten, läßt man Herz und Gemüt unter Ausscheidung aller Wissenschaft und allen sittlichen Handelns als  einzigen  Quell der Religion gelten, schließt man alle und jede Metaphysik wie Ethik aus, so liegt die Gefahr, in das Extrem eines ungesunden Mystizismus und übertriebenen Stimmungssubjektivismus zu geraten, ungemein nahe; es ergeben sich Schwärmerei, Aberglauben, der Schrecken des Religionskrieges und jener furchtbare Fanatismus, dessen Straße durch Blut und Elend gekennzeichnet ist. So gewiß also das religiöse Bewußtsein im Gefühl wurzelt und das Herz mitsprechen muß, um echte Religiosität zu erzeugen, so sicher bedarf diese fromme Hingabe an ein Unendliches, auch der begrifflichen Klärung, an welche sich die Grundsätze sittlich-religiöser Lebensführung anreihen, mit anderen Worten, an der Entstehung der Religion ist das  ganze  menschliche  Geistesleben  in allen seinen Äußerungen beteiligt."

Unter den mannigfachen Kulturformen, welche den Menschen auszeichnen, stehen die ideellen Werte der  Wissenschaft  und der  Religion  an erster Stelle. Beide haben die Interpretation des Seienden zum Gegenstand und beide wollen ein einheitliches Weltbild schaffen, welches, je nachdem der wissenschaftliche oder der religiöse Geistesfaktor vorwiegt, in den buntesten Farbenkontrasten schillert. Man kann zusammenfassend von einer  wissenschaftlich-naturalistischen  und einer  religiös-mystischen  Exegese des Gegebenen sprechen und fragen, welche dieser beiden Deutungen der Wahrheit am nächsten komme, ob ein kontradiktorischer Gegensatz in der Weise vorliege, daß aus der Gültigkeit der einen Auffassung sich die Ungültigkeit der anderen unmittelbar ergebe, oder ob der Gegensatz als ein nur scheinbarer sich in einer höheren Einheit psychologischer Art auflöse. Wir wollen uns zunächst über den Begriff der Wissenschaft verständigen, alsdann jenen der Religion erwägen und schließlich versuchen, mit Hilfe der festen Werte eine in sich geschlossene, widerspruchslose Weltanschauung individueller Art zu gewinnen.


I.

Was ist Wissenschaft?  Nominalistisch: die sprachliche Zusammenfassung allen Wissens überhaupt, - in dieser Bedeutung bildet "die Wissenschaft" ein Objekt allegorischer Hypostase [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], - realistisch: die Verknüpfung einer Summe prinzipiell zusammengehöriger Erkenntnisse in der Form lehrbarer Systeme oder Disziplinen, deren es inhaltlich unzählige gibt, Was ist  Wissen und wie wird es  geschaffen?  Objektiv genommen heißt "Wissen", der  Besitz  fester und sicherer Erkenntnisse, subjetiv, die  Disposition  und Fähigkeit, bestimmte, objektiv gültige Urteile fällen zu können. Urteilen und Erkennen setzen jeweilig ein  Subjekt  voraus, welches seiner Aufgabe unter Anwendung gegebener  Normen,  der sogenannten Denkgesetze, nachkommt; somit sind  Psychologie, Logik  und  Erkenntnislehre  in jedem Urteil implizit enthalten, d. h. es gibt keine Wissenschaft, welche nicht in irgendeiner, wenn auch zuweilen sehr entfernter Weise mit Philosophie zusammenhinge. Das Gleiche gilt umgekehrt. Jedes philosophische System ist, unbeschadet seiner historisch-kritischen Bewertung als Einzelheit, auch Wissenschaft, "Phänomenologie des Gesamtgeistes", der sich hierbei in zeitlichen Etappen allmählich klarer und klarer selbst erfaßt. Darf man das Erkennen als Produkt geistiger Verarbeitung eines Gegebenen oder als Resultat von Erfahrung und Denken definieren, so zeigt sich die  materielle Wahrheit,  um die es der Wissenschaft zu tun ist, als ein  Verhältnisbegriff,  als Übereinstimmung zwischen Denken und Sein, nicht in der Weise, als ob sich das Seiende im Denken unverändert abspiegle, sondern als Konformität des Urteils mit der gegebenen Wirklichkeit aufgrund äußerer und innerer Erfahrung. Bei der Frage, was Erfahrung sei, wie sie aus subjektiv-objektiven Komponenten zustande kome und in welchen Grenzen sie sich bewege, sehen wir uns auf die beiden Hauptformen wissenschaftlicher Erkenntnis, auf  Induktion  und  Deduktion  verwiesen. Hierbei erhält das Wort "Wissenschaft" die Bedeutung einer  Methoden-  oder  Wissenschaftslehre,  sie will zeigen, wie man "Wissen" lernt und vermehrt, sie beschäftigt sich demgemäß mit den materiellen Prinzipien und den Theorien der Erkenntnis, zum Zweck, die erzielten Resultate zu sichten und kritisch zu einem System zu verarbeiten. Eine mit Hilfe von Induktion und Deduktion errungene Einsicht, Sicherheit und Gewißheit der Resultate, endlich deren Gruppierung, sei es um feste  Axiome,  sei es um provisorische Annahmen oder  Hypothesen,  sind die drei formalen Kriterien aller Wissenschaft.

Zum weiten Gebiet wissenschaftlicher Hypothesen, wohl zu unterscheiden von willkürlichen Vermutungen und leeren Fiktionen, gehört die  Metaphysik Sie bringt als allgemeine Lehre  vom Seienden als Philosophie der  Natur  und der Kultur in die von der Erfahrung aufgespeicherten Tatsachen Ordnung und Zusammenhang, sie gliedert und krönt in der Form eines Gedankensystems das materielle Gebäude, sie ruft  Ethik  und  Ästhetik Wollen und künstlerisches Empfinden herbei, dasselbe wohnlich zu machen.

Der Mensch und die Evolution seiner Gedankenwelt weist biologisch wie historisch auf zeitlich frühere Zustände zurück. Woher kommt er? Wohin geht er? Was ist er? Das  mysterium magnum,  das Urrätsel, welches die "Wissenschaft aller Wissenschaften, die Philosophie" (PAULSEN, FLINT) zu lösen trachtet, endet mit der Grundfrage: "Warum ist überhaupt etwas, warum nicht nichts?" Während man früher bald auf sensualistischem, bald auf rein intellektuellem Weg deduktiv die Antwort suchte, und nicht selten die Lösung schon vor der Fragestellung zur Hand war, werden heute die Leistungen der Einzelwissenschaften als induktive Grundlagen vorausgesetzt, der Philosophie als Metaphysik fällt die Aufgabe zu, "die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu einer widerspruchslosen  Weltanschauung  zu verbinden" (WUNDT). Mag man noch so lebhaft und mit Recht die Metaphysik als  Wissenschaft  vom Transzendenten, oder als Wissen von den "letzten Gründen und Ursachen des Seins", in Abrede stellen, als metaphysischer  Einheitstrieb,  als "unhintertreibliche Jllusion" (KANT), als "uabweisbare Aufgabe des Denkens" (LIEBMANN) (1) besteht sie in alter Kraft fort. Wo wir hinschauen, bei Materialisten und Idealisten, bei Empiristen und Rationalisten, Positivisten und Skeptikern, überall tritt uns der Drang, das Gebiet des rein Sinnlichen zu überschreiten und so eine Gedankeneinheit zu schaffen, in den allerverschiedensten Formen entgegen. SCHOPENHAUER, HARTMANN, FECHNER, LOTZE, WUNDT, EUCKEN, HÄCKEL, AVENARIUS, NIETZSCHE u. a., alle wollen auf ihre eigene Art ein Weltbild empfehlen, das ihnen als wissenschaftlich beglaubigt gilt. Dabei stellt sich die überraschende Wahrnehmung heraus, daß gerade die radikalsten der genannten Männer, ohne es zu beabsichtigen, in blinden Autoritätsglauben und phantastische Dogmatik zurückfallen. Man darf ganz allgemein behaupten, alles rationelle Beweisen und erfahrungsgemäße Begründen münde zuletzt in einen  noetischen Glauben  ein, gleichwie es aus dem Glauben oder dem Vertrauen zu uns selbst hervorgegangen ist. In welchem Gewand dieser noetische [erkenntnistheoretische - wp] Glaube auftritt, macht keinen Unterschied aus, entscheiden ist, daß kein einziges aller geschichtlichen Systeme, auch jenes von SPINOZA nicht, die gesamte Weltwirklichkeit der Vernunft restlos erschlossen hat. Stets bleibt ein irrationaler Faktor, sozusagen ein geistig leerer Raum zurück, - bei SPINOZA, der  "amor Dei intellectualis", -  welchen Metaphysik und Mystik in ihrer Art auszufüllen trachten.

Man könnte einwenden, daß die moderne  Naturwissenschaft  mit ihren allgemeinsten Forschungsresultaten z. B. durch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und der Entropie [des Wärmezustands - wp] oder durch die Entdeckung von der Identität der Materie im Weltraum oder durch konsequente Anwendung des Evolutionsprinzips im anorganischen wie im organischen Kosmos (Nebulartheorie, Abstammungslehre) eine  Weltanschauung  gegeben habe. Es bedarf jedoch kaum eines genaueren Eingehens auf Details, um sich zu überzeugen, daß bei diesem  sinnlichen  Weltgemälde, zu dessen detaillierter Ausführung die Phantasie oft genug mitwirkte, die  inneren  Ursachen aller Entwicklung, der materiellen wie der geistigen, unerklärt bleiben. Nicht bloß, daß die Resultate uns gerade dort im Stich lassen, wo wir sie um der Einheitlichkeit willen durchaus nicht missen können, nämlich bei der Bildung der Urzelle und der Entstehung des Urmenschen, der sich doch vom Affenmenschen durch das  "cogito ergo sum"  wesentlich unterschieden haben muß, sondern, was die Hauptsache ist, die Naturwissenschaft gibt über den das materielle beherrschenden  Zweck  aus sich selbst keine Auskunft. Mag man immerhin das verpönte Wort "Zweck" durch  "Zielstrebigkeit"  ersetzen, so liegt bereits in den Ausdrücken,  "Ziel"  wie  "Streben",  das Zugeständnis einer zielsetzenden Substanz. Ob diese Substanz als eine  zweckfreie  im Sinne des abstrakten oder naturphilosophischen Monismus (SPINOZA, HÄCKEL) anzusehen sei, oder ob sie als wollender  Gedanke,  die Entwicklung in ihren wichtigsten Phasen bestimme und leite, ob und mit welchem Recht sich dem dynamisch-teleologischen Monismus älterer wie neuerer Zeit (JONIER, STOIKER, GIORDANO BRUNO, TOLAND, J. G. FICHTE, SCHELLING, HEGEL, HERDER, GOETHE, SCHOPENHAUER, HARTMANN, FECHNER, PAULSEN u. a.) ein teleologischer  Dualismus  (Sokratik, Mittelalter, DESCARTES, LOCKE, , KANT, HERBART, LOTZE, G. THIELE, KÜLPE, Neuscholastiker usw.) entgegenstellen lasse, alles dies bildet kein Problem exakter Naturwissenschaft, das Endresultat hängt vielmehr ganz und gar vom Erkenntniswert des Ziels und des Zwecks ab. Die Anhänger und Kritiker DARWINs (OWEN, LYELL, MIWART, ASA GRAY, NAUDIN, GAUDRY, SAPORTA, BIANCONI, WIGAND, KÖLLIKER, BÄR, NÄGELI, ASKENASY, G. WOLFF, COSSMANN, DRIESCH, PAULY u. a.), später auch dieser selbst, haben sehr wohl erkannt, daß die Selektionstheorie ohne Hinzunahme einer  aktiv-wirkenden Strebekraft nicht das leiste, was sie verspreche, und unter verschiedenen Namen derartige Prinzipien zu Hilfe genommen. Damit wurde der von DARWIN ursprünglich  passiv  gedachte Vorgang der Variabilität im Sinne der älteren LAMARCKschen Lehre in eine Theorie der Anpassung und Vererbung aus  inneren  Ursachen verwandelt, die mechanische Selektion als ein zwar beachtenswerter, aber nicht ausschließlicher Transmutationsfaktor in den Dienst der allgemeinen Evolution und Deszendenz gestellt und so die Zweckkategorie wieder eingeführt.

Will man sämtliche bisher aufgetauchten Weltanschauungen einem gemeinsamen Gesichtspunkt unterordnen, so läßt sich die Kernfrage auch wie folgt fassen: "Ist das Ziel des Menschen auf Erden ein  physisches  oder ein  ethisches?"  Stellt die Ethik als ein Kriterium des sittlich-freien Menschen nur ein Anhängsel seiner physischen Entwicklung, ein ungewolltes, mechanisches Resultat dar, - etwa in der Form eines triebmäßigen  Hedonismus  und  Utilitarismus - oder steht sie als immaterielles  Pflichtbewußtsein  und  Gewissen  aller materiellen Entwicklung voran? Gibt es aber "ein moralisches Gesetz in mir, welches das Gemüt ebenso mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt, wie der bestirnte Himmel über mir" (KANT), so gebührt gegenüber der blinden Kraft, einem idealistischen Systeme des ursprünglichen  Gedankens  der Vorzug, und es wäre zwischen Dualismus und Monismus, zwischen Geist und Materie, Gott und Welt, als den vermutlich letzten Gegensätzen zu wählen. (2)

Der Zweckgedanke bildet  einen  Gesichtspunkt, nach welchem sich die historischen Systeme der Philosophie gliedern und kritisch bewerten lassen, er ist aber, wenn auch wichtig und auf dem Gebiet des Vernunftwissens entscheiden, keineswegs der  einzige,  der als Kriterium dienen kann. Neben dem sinnlichen Erfahrungswissen eröffnet sich das  religiöse  Leben, es frägt sich, was wir damit meinen und welches Weltbild sich hierbei ergibt.


II.

Wie am Begriff der Wissenschaft, so läßt sich auch an jenem der Religion, die objektive Seite vom subjektiven Bewußtseinserlebnis scheiden. Objektiv wird man unter Religion ein historisches Gebilde verstehen, dessen Inhalt aus der geistigen Gemeinschaft, nicht bloß eines Stammes oder Volkes, sondern der Menschheit selbst hervorgeht. In der Form der  Religionsphilosophie  sucht die Wissenschaft über Ursprung, Wesen und Wert der Religion in ihrem Verhältnis zu den übrigen Kulturformen Aufklärung zu geben; sie ght von der äußeren Erscheinungsweise der Religion als Tatsache aus und wendet sich dann dem Bewußtseinswert als solchem zu. Von besonderer Wichtigkeit wird sie als  kritische  Wissenschaft, insofern sie die religiösen Begriffe mit den Forderungen des Denkens prüfend zusammenstellt und das philosophische Ideal der Sittlichkeit sowie das letzte Ideal aller Erkenntnis damit in Verbindung bringt;  Religionsgeschichte  und  vergleichende  Religionswissenschaft  treten  ihr dabei hilfreich zur Seite. Als Resultat dieser Untersuchungen darf man konstatieren, daß es Völker und Stämme, die gar keine Religion haben, auch nicht in der verworrenen Ahnung übergeordneter Kräfte (Fetischismus, Animismus), weder gibt noch gegeben hat, und daß Berichte von absolut religionslosen Naturstämmen auf Mißverständnisse oder Irrtümern der Berichterstatter beruhen (MAX MÜLLER, PESCHEL, HÖRNES) (3). Gilt dies schon von den ethnologischen Bestandteilen der Religion, so noch in höherem Grad von der psychischen  Veranlagung  hierzu, aufgrund deren man den Menschen auch als  "animal religiosum"  angesprochen hat.

Daß unkultivierte und hochkultivierte Individuen existieren, bei denen diese Disposition niemals zur Ausbildung kommt, oder welche dieselbe grundsätzlich verleugnen, bildet keinen Gegenbeweis. Gottlosigkeit und Religionslosigkeit sind nicht ein und dasselbe. Wer sich des Atheismus rühmt, ist zwar Gegner irgendeines historischen Gottesbegriffes (Theismus [Gott greift in die Welt ein - wp], Deismus [Gott greift nicht in die Welt ein - wp], Pantheismus [Gott ist überall - wp], Panentheismus [das Universum als Teil Gottes - wp]), aber deswegen nicht religionslos. Quell der Religion ist und bleibt das  Gefühl der Abhängigkeit  von einer höheren oder höchsten Macht, die  Richtung  des Gemütes auf das Unendliche, das Sich-Eins-Setzen oder das Aufgehen mit und im Unendlichen (SCHLEIERMACHER), kurz etwas mit dem endlichen Wesen des menschlichen Geistes Gegebenes. Die vorgeblichen Atheisten sind also zwar  Antitheisten,  aber das allgemeine Abhängigkeitsgefühl von der Natur oder von irgendeiner intramundanen [innerweltlichen - wp] Intelligenz kann hiermit nicht beseitigt werden. Auf diesem Standpunkt ist die Erörterung belanglos, welches die primitiven Formen der Religion gewesen sein mögen, ebenso darf man über die Frage hinweggehen, durch welche Hilfsmittel die Ausgestaltung des religiösen Grundgefühls zu einer "Kirchengemeinschaft" oder einer "Konfession" sich vollzogen habe. Furcht und Hoffnung, Euhemerismus [Entstehung von Gottesvorstellungen - wp] (Mythos, Sage), geistig-organische Entwicklung, Symbolik, Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses, Geschichte und Überlieferung usw., alle diese Faktoren können - von Gewaltmaßregeln abgesehen, an der äußeren Entwicklung der Religionsformen beteiligt gewesen sein.

Man frägt weiter, ob es nicht auch auf die begriffliche Form dieses im Gefühl geahnten Unendlichen und auf die praktische Betätigung im Dienst dieser Idee (Kultus, Opfer, Gebet, Priestertum) ankomme? Daß die Religion  nicht  als ein  wissenschaftliches  Erkennen aufgefaßt werden dürfe und überhaupt nicht in der Form des  logischen Begriffes  zur Erscheinungen komme, lehren Geschichte wie tägliche Erfahrung. In jedem höheren religiösen System, es mag sich nennen, wie es wolle, gibt es zwei Elemente, welche sich der rationallen Ergründung entziehen: die Bestandteile des  Mysteriums  und der  Gnade.  Das Mysterium ist das seinem Wesen nach durch menschliches Wissen niemals völlig Erfaßbare, das Undurchdringliche, Übervernünftige, obwohl eine mystische Erkenntnisweise denkbar bleibt, die sich in unmittelbarer Intuition oder in gefühlsmäßigem Erleben auch der Mysterien zu bemächtigen und sie durch anhaltende Versenkung in die Tiefen des Seins zu begreifen sucht. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der  Gnade;  nach theologischer Deutung wurde sie als ein übernatürliches, unverdientes Geschenk der vernünftigen Kreatur von Gott verliehen, um deren Beziehung zum übernatürlichen Endziel, d. i. zur ewigen Herrlichkeit, zu erleichtern. Alle Versuche, die in das Gewand des Mysteriums gehüllten Sätze, die "Geheimnisse des Himmels" (MATTHÄUS 13, 11), zu denen die religiösen Dogmen gehören, der Vernunft zugänglich zu machen, vom  Gnostizismus  angefangen bis auf SCHELLING und die Gegenwart, sind als gescheitert anzusehen; vom kirchlichen Standpunkt erklären sie sich ihrem Dasein nach durch Annahme eines der Natur  überlegenen  Offenbarungsquells (Inspiration, kanonische Schriften, Tradition). Wohl kann sie diese übernatürliche Offenbarung des menschlichen Profanwissens als Stütze bedienen, niemals aber ist sie durch menschliches Erkennen zu erschöpfen. Wissenschaft und religiöses Gefühl sind demnach zweierlei und müssen es sein, wenn der Religionsinhalt im Subjet als lebendige Überzeugung Widerhall finden, das praktische Leben in opferfreudiger Resignation durchsetzen und bis zum Martyrium begeisterns soll.

Läßt uns das Erkennen im Stich, so darf die Religion vielleicht im weiten Feld einer karitativen Handlungsweise, im  Wollen  gesucht werden. Danach wäre Religion mit Sittlichkeit identisch, und es würde der ethisch-religiöse Zweck höchster Vollendung mit dem schon durch die antike Philosophie geforderten Endziel höchster Glückseligkeit zusammenfallen. Wir könnten heute noch mit dem Aufklärungszeitalter sagen: Religion ist Grundbestandteil der  Humanität,  ist Rechtschaffenheit, Pflichttreue, gegenseitige Liebe der gleichartigen Menschenfamilie, die Unterschiede in Lehrsätzen und daraus entspringenden Handlungen dagegen sind vorübergehende Formen eines allgemein zugänglichen Wahrheitsinhaltes, der bleibender Natur ist, während die Form nachträglich verschwindet. Allein dieser  Praktizismus  erklärt die  allgemeine  Erscheinung der Religion ebensowenig. Der Mensch kann religiös handeln, ohne nach heute geltenden Anschauungen sittlich zu handeln (antiker Kultus, Menschenopfer, Kannibalismus). Das allgemeine, formale Element sittlicher Verbindlichkeit ist  apriorischer,  jede Spezialmoral aber empirischer Natur und schon deswegen außerstande, ein universelles Religionssystem oder die religiöse Veranlagung selbst zu erklären.

Läßt man jedoch das intuitive  Fühlen  des Unendlichen, Absoluten, läßt man Herz und Gemüt unter Ausscheidung aller Wissenschaft und allen sittlichen Handelns als  einzigen  Quell der Religion gelten, schließt man alle und jede Metaphysik wie Ethik aus, so liegt die Gefahr, in das Extrem eines ungesunden Mystizismus und übertriebenen Stimmungssubjektivismus zu geraten, ungemein nahe; es ergeben sich Schwärmerei, Aberglauben, der Schrecken des Religionskrieges und jener furchtbare Fanatismus, dessen Straße durch Blut und Elend gekennzeichnet ist. So gewiß also das religiöse Bewußtsein im Gefühl wurzelt und das Herz mitsprechen muß, um echte Religiosität zu erzeugen, so sicher bedarf diese fromme Hingabe an ein Unendliches, auch der begrifflichen Klärung, an welche sich die Grundsätze sittlich-religiöser Lebensführung anreihen, mit anderen Worten, an der Entstehung der Religion ist das  ganze  menschliche  Geistesleben  in allen seinen Äußerungen beteiligt.

Unter den mannigfachen Formen, in denen das religiöse Bewußtsein der Menschheit aufgetreten ist, hat sich jene des  Monotheismus  als die edelste und erfolgreichste erwiesen. An den Monotheismus knüpft die Scheidung zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Offenbarung an, und unter den drei monotheistischen Offenbarungsreligionen ist es das  Christentum,  welches als das zurzeit höchste Entwicklungsprodukt religiöser Gesinnung, von HEGEL sogar als  absolute  Religion, hingestellt wird. Innerhalb des Christentums tritt uns der Begriff einer "vom heiligen Geist geleiteten sichtbaren Kirche" entgegen, deren Dogmengeschichte die Unterscheidung zwischen "orthodx" und "heterodox" gezeitigt hat. An der Spitze des orthodoxen Dogmensystems steht die Lehre von der Existenz eines unendlichen, geistigen, extramundanen Wesens, eines persönlichen Gottes, welcher die geistige und stoffliche Welt durch sein Wort:  ex nihilo, i. e. ex nulla materia praeexistente  [Schöpfung aus dem Nichts, d. h. Materie vor jeder Zeit - wp] ins Dasein rief, der die ethisch gefallene Menschheit durch den freiwilligen Opfertod des Gottmenschen JESUS CHRISTUS vom ewigen Verderben erlöste, sie in den Sakramenten heiligt und ihrem vorhergesehenen sittlich-freien Verdienst gemäß aus dem zeitlichen  status viatoris  [Pilgerdasein - wp] eine ewigen Endzustand der Gnade oder der Verwerfung zuführt (Prädestination, Reprobation [gottgefällige Seligkeit, gottgefällige Verdammnis - wp]). Inwieweit diese Grunddogmen des Christentums mit dem wissenschaftlichen Bewußtsein der Gegenwart harmonieren oder ihm widersprechen, inwieweit sich für die Möglichkeit, Wirklichkeit, Erkennbarkeit einer übernatürlichen Offenbarung "Beweise" führen lassen, untersucht die christliche  Apologetik;  mit welcher Überzeugungskraft im einzelnen muß dahingestellt bleiben. Hier kann es sich nur um die Erörterung allgemeiner Gesichtspunkte handeln, welche gestatten, die beiden so verschiedenen Weltbilder, das exakt-wissenschaftliche und das gemütlich-religiöse in einem gemeinsamen Rahmen zu umspannen.


III.

Wissenschaft und Religion können sich, so paradox es klingt, am besten verständigen, wenn man sie möglichst scharf voneinander trennt. Würde sich Wissenschaft ausschließlich auf dem Erkennen und Religion ebenso ausschließlich auf dem Gefühlsleben aufbauen, so wäre jedweder Konflikt zhwischen ihnen ausgeschlossen; wir hätten, allegorisch gesprochen, zwei Wanderer vor uns, die auf gänzlich verschiedenen Pfaden zwei verschiedenen Zielen zueilen. Dieser Auffassung widerspricht jedoch schon die Einheit des menschlichen Geistes. Wir können die normale Persönlichkeit nicht in zwei einander fremdartige Teile zerspalten und etwa in der Lehre von der "doppelten Wahrheit" das gesuchte Auskunftsmittel erblicken, vielmehr sind wir genötigt, unsere religiösen Bewußtseinserlebnisse, mögen sie sich in dogmenloser Metaphysik oder in positiver  Offenbarungsreligion  kundgeben, mit den höchsten Zielen wissenschaftlicher Erkenntnis in Beziehung zu bringen.

Der zuerst in England (1620) klar ausgesprochene Grundsatz: "Trennung von Religion und Wissenschaft", hat sich im Lauf der Jahrhunderte als so zuverlässig und brauchbar erwiesen, daß heute keine Macht der Erde mehr imstande wäre, diese geistige Evolution rückgängig zu machen. So wenig es eine sogenannte "glaubensfeindliche Wissenschaft" geben kann, weil jedwede derartige Tendenz dem rein wissenschaftlichen Streben fernliegt, so wenig darf von einer konfessionellen Beeinflussung oder Bevormundung die Rede sein. Das moderne Schlagwort "katholische Wissenschaft" läuft auf einen logischen Widerspruch hinaus. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, daß an der Förderung menschlichen Wissens Katholiken ebenso eifrig und wahrheitsgetreu beteiligt waren wie die Bekenner anderer Kulte oder wie die antike Welt, deswegen ist aber das Wissen selbst, - die dogmatische Theologie ausgenommen, - nicht konfessionell, und noch weniger zeigt man sich heute geneigt, wissenschaftliche Resultate in ihrer Gültigkeit von religiösen Dogmen abhängig zu machen. Insofern die Wissenschaft mit dem Erkenntnistrieb und der Kulturentwicklung des  gesamten Menschengeschlechts  zusammenfällt, kennt sie weder kirchliche noch staatliche noch soziale Schranken, ihr Haupt- und Grundkriterium bildet die  absolute Freiheit.  Wer jedoch vom Wahrheitsgehalt seines religiösen Glaubens so stark durchdrungen ist, daß er diesen festen Anker im Meer des Irrtums durchaus nicht lockern möchte, wer ihn an Sicherheit und Gewißheit aller Wissenschaft voranstellt, -  credo ut intelligam, -  dem eröffnen sich zum einheitlichen Seelenfrieden zwei Wege.

Der erste Weg führt mit dem Nachweis der  Leistungsunfähigkeit  menschlicher Vernunft indirekt zur Anerkennung eines übernatürlichen, autoritativen Erkenntnisprinzipes. Verdächtigen wir nach Kräften alle dogmatischen Systeme der Philosophie, zeigen wir mit den Tropen der antiken Skeptiker die Ohnmacht und Schwäche alles menschlichen Erkennens, so wird uns der Kirchenglaube mit ums offeneren Armen empfangen. Derartige, der philosophischen Dogmatik abgeneigte Männer hat es in allen drei monotheistischen Offenbarungsreligionen gegeben (ALGAZEL, JEHUDA, HA-LEVI (Kusari) (4), MONTAIGNE, AGRIPPA von NETTESHEIM, CHARRON, PASCAL, GLANVILLE, BAYLE, HUET) und gibt es noch heute. Vermag uns diese religiöse Skepsis innerlich zu befriedigen? Nein, denn wenn die menschliche Vernunft in der Lage ist, dogmatisch-philosophische Systeme von Grund auf niederzureißen, dann kann sie im Aufbauen derselben umso weniger  dauernd  irren, als auch die falschen Systeme stets Goldkörner der Wahrheit mit sich führen, und zudem die Annäherung an die Wahrheit nicht in einer einzelnen Schule, sondern in der Entwicklung des  Ganzen  zu suchen ist.

Man wird darum den  zweiten  Weg bevorzugen und die Frage stellen, welches die Punkte seien, in denen sich Wissenschaft und Religion sich kontradiktorisch verhalten sollen, insbesondere wird man nachforschen, ob die vorgeblichen Resultate der Wissenschaft in Wahrheit unumstößliche Tatsachen, ob sie nicht bloß  Hypothesen  seien, welche zugunsten irgendeines metaphysischen Systems, sei es Materialismus, sei es Idealismus, die Tatsachen nur interpretieren.

Zwei Gesichtspunkte  seien aus diesem stark bearbeiteten Gebiet hervorgehoben. Ein dem religiösen Dogma wie der Philosophie gemeinschaftliches Obekt der Erkenntnis ist die Idee des Absoluten, des positiv Unendlichen, die  Gottesidee.  Man kann sie monistisch, man kann sie dualistisch fassen und kommt stets auf die Frage zurück,  woher  diese Idee stamme? Verdankt sie logischen Syllogismen ihr Dasein? Oder ist sie Produkt einer wunderbaren Erleuchtung? Keines von beiden ausschließlich. Nimmermehr würde den sogenannten Gottesbeweisen ein noetischer Wert zugesprochen worden sein, wenn die Idee des positiv Unendlichen nicht  ontologisch  im Geist des Menschen veranlagt" wäre. Aber auch dort, wo die Mystik mittels asketischer Kontemplation und Ekstase Gott unmittelbar zu schauen behauptet und die endliche Persönlichkeit im unendlichen Wesen aufgehen läßt, wird der Keim zur Gottesidee bereits vorausgesetzt. Diesen Keim als Vorstellung (Symbol, Bild, Gleichnis) und logischen Begriff auszugestalten, sind Religion und Philosophie von jeher bemüht gewesen, sie unterscheiden sich hierin nur formell. An der Gottesidee haftet die Erkennbarkeit einer natürlichen und übernatürlichen Offenbarung, welchen die Theologie  inhaltlich  begründet und erläutert; an die Stelle des  "ens realissimum"  [das Allerwirklichste - wp] der Philosophie setzt sie Gott als den liebenden Vater aller Menschen, der in seiner Allgüte und Allbarmherzigkeit des eingeborenen Sohnes nicht schonte, um die endliche Kreatur des verlorenen Paradieses wieder teilhaft zu machen.

Einen zweiten Differenzpunkt bildet das den drei monotheistischen Religionsformen gemeinsame Dogma der  Weltschöpfung  aus nichts. Was uns hier unter dem Namen "Naturwissenschaft" geboten wird, die Lehre von einer Ewigkeit von Kraft und Stoff oder die Einzigkeit der ewigen Substanz, oder das Absolute in seiner ewigen Entfaltung und Entzweiung usw., ist metaphysische  Deutung  des Gegebenen, ist  Hypothese,  aber keine empirische Wissenschaft. Der zeitliche Anfang des sinnlichen Weltganzen entzieht sich  exakter  Naturforschung, der Gedanke eines "absoluten Anfangs", wie man ihn aus dem Entropiegesetz zu folgern wähnte, erweist sich als begrifflich unvollziehbar. Wir stehen hier an einer Grenze sinnlicher Erkenntnis, welche dem  religiösen  Dogma sehr wohl Raum läßt. Faßt man den Begriff einer "Schöpfung" als populäre, sprachliche Substitution für die Setzung des phylogenetischen  Entwicklungswertes  auf und führt dessen Stadien dynamisch auf einen höchsten Geist zurück, so besteht zwischen dem sinnlichen Weltbild des Naturforschers und der dogmatisch-religiösen Interpretation kein Widerspruch. (5)

Gleichwohl geben derartige apologetische Akkomodationen nicht den Ausschlagt. Man wird nach einem philosophischen System rufen, welches, unberührt von der wandelbaren Exegese des einzelnen, Wissen und Glauben  prinzipiell  als Einheit fortbestehen läßt. Daß dieses System heute nicht mehr im scholastischen Realismus des Mittelalters und in der Oberherrschaft des kirchlichen Dogmas gesucht und gefunden werden kann, bedarf keiner Erörterung. (6) Anstelle des  Aquinaten  ist KANT getreten, dessen transzendentaler Idealismus auf die gesamte Philosophie der Neuzeit befruchtend zurückgewirkt hat. Wie THOMAS von AQUIN, so ist auch der echte KANT des achtzehnten Jahrhunderts in vielen Einzelheiten veraltet und überwunden, seine Lehre hingegen, von der  phänomenalen  Erkenntnis der sinnlichen Welt, der ein "Ansich", sei es als sittliche Freiheit, sei es als immanenter Naturzweck, als das wahrhaft Seiende zugrunde liegen  kann,  die Scheidung dieses Seienden in:  mundus sensibilis  und  mundus intelligibilis,  die Aufnahme der drei metaphysischen Postulate: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in das Gebiet des noetischen Glaubens, die  sittliche  Autonomie, - diese Grundzüge haben sich erhalten, und hier finden wir, wenn auch nicht die einzige, so doch  eine  Lösung unseres Problems. Wissen schafft nur die  Erfahrung  auf dem Gebiet anschauender Sinnlichkeit, Erfahrung aber gipfelt in einer konstanten, synthetischen, aktiven Funktion unseres Bewußtseins, in der transzendentalen  Einheit der Apperzeption im "Ich denke", ohne welches "Ich" die Welt als Erkenntnisobjekt für uns nicht vorhanden wäre; in dieser Funktion ruhen die Wissenskriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit. Weil jedoch alles Vernunftwissen in zeit-räumlichen Grenzen eingeschlossen bleibt, so ist daneben auch die Erkenntnisweise des  Vernunftglaubens  berechtigt, der als solcher in der  praktischen  Vernunft nicht bloß seine Wurzel hat, sondern über die erkennende Vernunft den  Primat  führt, der aber, wenn auch ebenso fest und sicher als das Wisen, nicht allgemein und notwendig, sondern psychologisch  individuell  ist. Diesem Glauben fällt das Gebiet der Transzendenz, aber ebenso das mit den methodischen Mitteln der Wissenschaft nicht zu ergründende Sein als Inhalt zu. Derselbe Vernunftglaube zeigt uns den Menschen, seinem  ethischen  Ziel gemäß, als ein übersinnlich-freies Wesen, er hindert uns aber nicht, die sittlichen Pflichten als Gebote Gottes d. h. heteronom zu bewerten und mit der Anerkennung einer "Moraltheologie" in das Gebiet des  religiösen  Glaubens, - intelligo ut credam [ich verstehe, auf daß ich glaube - wp], - überzutreten. In dieser Weise wird das Wissen durch den Glauben ergänzt und können wahres Wissen und echter Glaube zusammen bestehen.

Aber noch  zwei Einwände  schwerwiegender Art harren der Erledigung: ist nicht auch der Alt- oder der Neokritizismus nur ein  einzelnes  Glied in der Geisterkette der Philosophie, welches heute hochgeschätzt wird, um vielleicht morgen an Wert zu verlieren? Und wer sitzt überhaupt über die wechselseitigen Vorzüge zwischen theologischem Dualismus und Monismus endgültig zu Gericht? Sehen wir nicht den antiken Dualismus bereits bei den Nachfolgern des Stagiriten [Aristoteles - wp] verblassen und verschwinden? Beanspruchen nicht neuerdings neben KANT auch die Gedankenfolgen eines FICHTE, SCHELLING, HEGEL, FRIES, der Romantiker eine neue Bewertung?

Man wird diesen Schwierigkeiten mit der Rückfrage begegnen dürfen, ob denn Dualismus und Monismus, oder, wie man früher unter Voranstellung der Gottesidee sagte, ob Theismus oder Pantheismus wirklich letzte, schroffe Gegensätze seien, ob sie nicht eine mittlere Einheit zulassen, in der sich beide zusammenfinden? In der Tat ist dies der Fall. nach der  All-in-Gott-Lehre  (Panentheismus) ist Gott der Welt immanent und ihr zugleich transzendent, Gott umfaßt die Totalität aller Dinge, er liegt ihrer Substanz zugrunde, ohne mit ihnen als Summe identisch zu sein oder in ihrem Wesen aufzugehen. Name und Begründung dieses Systems sind modern (CHRISTIAN KRAUSE, gest. 1832), die Doktrin selbst aber ist alt. Schon bei ARISTOTELES kann man zweifeln, ob seine Gottes- und Seelenlehre dualistisch oder monistisch zu interpretieren sei. Mehr oder minder typische Vertreter des Panentheismus sind: DIONYSIUS der Aeropagite, SCOTUS ERIUGENA, MEISTER ECKHART, NIKOLAUS von KUES, CAMPANELLA, MALEBRANCHE, vielleicht auch der große LEIBNIZ (Monad. 47), während für die Neuzeit der jüngere FICHTE, CARRIERE, LOTZE, FECHNER, OTTO PFLEIDERER, WUNDT, EUCKEN genannt werden können. Es frägt sich also noch, ob dieses System dem orthodoxen Kirchenglauben entspreche? nach dem vom Doktor ANGELICUS ausführlich entwickelten kirchlichen Dogma von der  göttlichen  Welterhaltung ist dieselbe keineswegs eine bloß negative, indirekte, ein Nichtzerstören oder ein Schutz gegen vernichtende Einflüsse, sondern eine  positive,  direkte Tätigkeit,  gewissermaßen  eine zweite Schöpfung. In gleichem Sinne sprechen sich der seraphische Doktor und FRANZ SUAREZ aus. "Die Welterhaltung", schreibt JOSEPH SCHEEBEN, "wird als ein  wirksames Tragen  und  aktives Durchdringen  der ganzen Substanz der Dinge gedacht, welches zugleich eine stete  unmittelbare Einwirkung  der macht Gottes wie eine  unmittelbare Gegenwart  seiner Substanz in den Dingen einschließt". (7) In engster Verbindung mit diesem Dogma steht die Lehre vom  "concursus Dei naturalis et universalis"  [Gottes genereller und natürlicher Einfluß - wp ],nach welcher alle geschaffenen Wesen in der Betätigung ihrer Kräfte, in allen ihren Bewegungen und Wirkungen von Gott abhängig sind, ohne daß deren Selbständigkeit und Eigentümlichkeit dadurch aufgehoben würde.

Unstrittig hat die kirchliche Anschauung mit dem philosophischen Panentheismus mancherlei gemein, wenn sie sich auch mit ihm nicht völlig deckt. Ebensowenig widerspricht sie der naturwissenschaftlich-sinnlichen Deutung, welche die Welterhaltung auf den kosmologisch-biologischen Stoffwechsel und die allgemeinen Gesetze von der Unzerstörbarkeit der Materie und der Erhaltung der Kraft basiert.

Damit wäre auch für jene, denen der Neukantianismus nicht zusagt, die Möglichkeit einer Harmonie zwischen Philosophie und konfessionellen Glauben angedeutet. Aber auch der anstelle der Wissenschaft tretende religiöse Glaube erschöpft nicht die gesamte  Fülle des Seins,  sondern er verweist das endlich vernünftige Wesen mit der Hoffnung eines Fortlebens der Persönlichkeit nach dem Tod, auf die unmittelbare Teilnahme am Urquell allen Wissens, wo das zeitlich-diskursive Erkennen sich im direkten Schauen göttlicher Glorie auflöst.

LITERATUR Carl Güttler, Wissenschaft und Religion in Max Frischeisen-Köhler [Hg], Weltanschauung, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) OTTO LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen 1901, Bd. 2, Seite 92
    2) Vgl. auch die Abhandlung WILHELM DILTHEYs "Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus" und die dort unterschiedenen "Typen", Archiv für Geschichte der Philosophie, 1900, Bd. XII, 3. Heft.
    3) MORITZ HÖRNES, Die Urgeschichte des Menschen nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, 1892, Seite 84: "Es existiert kein Grund zu der Annahme, daß irgendwann und irgendwo Naturmenschen ohne  religiöse  Regungen gelebt haben. Völker ohne Religionen gibt es nicht."
    4) Das Buch  Kusari  übersetzt und kommentiert, von Dr. DAVID CASSEL, Leipzig, 2. Auflage, 1869. Arabisch geschrieben, 1167 ins Hebräische übersetzt.
    5) Vgl. F. X. KIEFL, Charles Darwin und die Theologie. Festrede, Würzburg 1909.
    6) Die Wertschätzung des Thomismus an katholisch-kirchlich Lehranstalten ist nicht rein wissenschaftlicher Natur und kommt deshalb hier nicht in Betracht.
    7) Handbuch der katholischen Dogmatik, 1878, Bd. II, Seite 13 und die daselbst angeführte Literatur. Ebenso CHRISTIAN PESCH, Freiburger Kirchenlexikon, 2. Auflage, Artikel "Thomas von Aquin: "Der heilige Thomas hebt überall hervor, daß der transzendente Gott alles geschöpfliche Sein und Werden innerlich trägt und beherrscht. Diese Immanenz des Absoluten ist ein echt christlicher Gedanke, der besonders die Lehre von der Gnade durchzieht."