M. ReischleL. MeyerTh. ZieglerE. AdickesC. Güttlervon Lasaulx | ||||
Glauben und Wissen [Vortrag]
Das war die Zeit, welche DAVID FRIEDRICH STRAUSS in der Einleitung seiner Glaubenslehre in seiner anschaulichen Weise geschildert hat.
Und immer bestimmter traten aus den Irrgängen der spekulativen Kritik die einfachen Umrisse einer materialistischen Weltansicht hervor. Auch das, was die HEGELsche Linke als objektive Vernunft in den Dingen bezeichnet hatte, erschien als eine leere Abstraktion aus dem gesetzmäßigen Verlauf alles Geschehens. Gesetzmäßig ist aber alles was geschieht ganz einfach darum, weil jede Wirkung ihre Ursache hat, und verwandte Ursachen verwandte Wirkungen hervorbringen. Von Vernunft, Ideen, Zwecken in der Welt, kann außerhalb des menschlichen Geistes nirgends die Rede sein. Der Mensch selbst ist es, der seine Gedanken und Zwecke in die Dinge hineinträgt. Und daß der Mensch sich überhaupt nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit Vorstellungen bildet, dies ist durch die Organisation seines Gehirns bedingt. Das menschliche Geistesleben ist nur die feinste Blüte der materiellen Natur; wie unser Gehirn die feinste und künstliche Gestaltung des Stoffes, so ist unser Denken die gerade dieser Verbindung der stofflichen Atome entsprechende Kraftenfaltung. Ansich aber ist die Gedankenproduktion im menschlichen Gehirn ein wesentlich gleichartiger Vorgang, wie der, welcher als Licht- Wärmeentfaltung an jeder Elektrisiermaschine beobachtet werden kann. Auf diesem Standpunkt erscheint jede religiöse Welt- und Lebensansicht als Köhlerglaube gegenüber der Wissenschaft. Noch mehr. Der Gegensatz von Glauben und Wissen ist hier nicht mehr ein Streit zwischen Christentum und Philosophie, sondern zwischen phantastischen Hirngespinsten und exakter auf den Nachweis der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens gerichteter Forschung. Auch die Philosophie ist samt der Theologie ins Reich der Träume verbannt: nachdem sie ihre Pflicht durch eine Auflösung der theologischen Weltbetrachtung erfüllt hat, ist auch ihr jetzt ihre Stelle angewiesen unter den nunmehr überstandenen Entwicklungskrankheiten des Menschengeschlechts. Nur die Naturwissenschaft soll sich heute noch rühmen dürfen wirkliche Wissenschaft zu sein. Hat sie auch die psychologischen Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins noch nicht vollständig durch eine physiologische Analyse des Gehirns und der dem Gehirn eigenen Krafterzeugung erklärt, so zweifelt sie keinen Augenblick, daß ihr künftig auch dies gelingen wird. Wenn das Gesetz der Verwandlung der Kräfte ebenso durchsichtig für die exakte Wissenschaft sein wird, wie heute schon für die Chemie das Gesetz der Verwandlung der Stoffe, so wird das letzte Problem der Menschheit gelöst sein. Wie nach STRAUSS derjenige, welcher die religiösen Regungen vollständig aus dem inneren Wesen des Menschengeistes erklärt, die Geschichte der Religion in der Menschheit beschließen wird, so wird derjenige, welcher das Gesetz unserer Gedankenbildung aus der Tätigkeit unseres Gehirnes in seiner Wechselwirkung mit dem gesamten Nervensystem unseres Leibes und seiner Berührung mit der Außenwelt vollständig ableitet, die Geschichte aller menschlichen Ideal als bloßer Oszillationen unseres Gehirnes beschließen. Das ist in der Kürze die Summe der materialistischen Lehre. Sie meint mit aller idealen Weltansicht auf das Gründlichste aufräumen zu können, indem sie die physischen Ursachen aufsucht, welche diese ganze Vorstellungswelt in unserem Gehirn erzeugt haben. Nur eins ist dabei nicht in Anschlag gebracht: die Macht, welche die Ideen, und die religiösen Ideen zumal, von jeher auf die menschlichen Gemüter geübt haben. Die inneren Antriebe und Nötigungen des religiösen Lebens schafft man dadurch noch nicht aus der Welt, daß man sie für Halluzinationen eines kranken Gehirns erklärt. Heute, wo alle jene spekulativen Jllusionen geschwunden sind, mit denen man einst die Kluft zwischen der übersinnlichen Welt und der Welt der Erscheinungen überflog, ist es eine in weiten Kreisen verbreitete Meinung, daß nur die Rückkehr zu den alten kirchlichen Autoritäten, die unbedingte Unterwerfung unter eine vermeintlich unfehlbar göttliche Lehre, dem materialistischen Unglauben zu steuern vermöge. Der Materialismus, so sagt man uns, ist nur die Kehrseite jenes himmelstürmenden spekulativen Idealismus, welcher alle Realitäten des Glaubens zu abstrakten Begriffen verflüchtigte. Der Materialismus ist die wahre Konsequenz aller Philosophie, welche das autonome Denken zum Ausgangspunkt nimmt. Ein Versuch nach dem anderen, zwischen Glauben und Wissen einen Vertrag zu schließen, wird als unhaltbar, widerspruchsvoll, als eine feige Halbheit, von einem alles begreifen wollenden Wissen vernichtet; die moderne Wissenschaft ist wie ein anderer Saturn, der seine eigenen Kinder verschlingt. Um diesem Ungestüm zu entfliehen, predigt man die Umkehr der Wissenschaft, die Gefangennahme der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens, die unbedingte, rücksichtslose Wiederaufrichtung der heiligen Satzung, die konsequente Ausscheidung aller, in den Kirchenglauben eingedrungenen modernen Bildungselemente. Es gilt, so hat sich noch neulich hier in Berlin einer der rücksichtslosesten Vertreter des kirchlichen Autoritätsglaubens geäußert: "daß treu und fest weiter geübt wird das große Bußwerk, die Reinigung der deutschen Theologie von der modernen philosophischen Berauschung und Vermischung". Schärfer und konsequenter als je treten in unserer Zeit die Gegensätze auseinander. Der geistlosen Lehre von der alleinigen Wirklichkeit des sinnenfälligen Daseins tritt eine nicht minder geistlose Lehre von der alleinseligmachenden Wahrheit eines heiligen Buchstabens gegenüber, dem rohen Empirismus der Lupe und des Lötrohrs der nicht minder rohe Empirismus der dogmatischen Formel. Je plumper, massiver, handgreiflicher die kirchliche Rechtgläubigkeit wieder hergerichtet wird, desto festeren Halt scheint sie gegenüber den auflösenden Bestrebungen der Zeit zu gewähren. Und doch besteht zwischen diesen äußersten Gegensätzen eine innere Wahlverwandtschaft. Beide sind eins im Unglauben an die Macht des Geistes in der Geschichte, im geistlosen Glauben an äußere Handgreiflichkeiten, in einem niedrigen banausischen Sinn, dem nur das Sinnenfällige Wirklichkeit hat. Der Wunderglaube unserer modernen Starkgläubigkeit ist nur eine andere Art von Materialismus: er glaubt nicht an den allmächtigen Gott, wenn nicht die Naturordnung unter Gottes Zauberhänden in Stücke bricht, er glaubt nicht an die Wunder des Geisteslebens, wenn er sie sich nicht als äußere, sinnenfällige Vorgänge ausmalen kann, er glaubt auch nicht an die Gegenwart Gottes im Menschen, wenn er diese Gegenwart sich nicht wieder auf sinnliche Weise vorstellen darf als das Herabsteigen eines göttlichen Wesens vom Himmel auf die Erde, welches, solange es unter den Menschen wandelt, die Menschheit anzieht wie ein Kleid. Vor Zeiten war dieser Wunderglaube naiv. Er war die erste Weise, in welcher sich die Gewißheit einer übersinnlichen Welt der mit sinnlichen Bildern erfüllten Vorstellung darstellte. Die geistige Welt erschien gewissermaßen als eine zweite Welt hinter der Sinnenwelt, die von allen Seiten her in dieselbe hineinragt, in sie hineinwirkt und ohne alle Vermittlung durch natürliche Ursachen, also auf magische Weise, sich in ihr betätigt. Geistige Vorgänge wurden unter dem Bild eines räumlichen, sinnenfälligen Geschehens, ewige Verhältnisse und Ordnungen des Geisteslebens als eine überirdisch-irdische Geschichte veranschaulicht, die sich zwischen Himmel und Erde abspielt. So spann die fromme Phantasie die Geschichte des Geistes zu einem förmlichen Drama aus, der erste Akt spielt im Himmel, der zweite, dritte und vierte Akt auf der Erde, und nur gelegentlich auch in über- oder unterirdischen Regionen, im fünften und letzten wird dann die Scheidewand zwischen Himmel und Erde niedergerissen. Alle Hebel und Triebfedern für das, was auf der Erde geschieht, liegen nicht in der Verkettung von Ursachen und Wirkungen in Natur und Geschichte, sondern im Walten himmlischer Geister und übermenschlicher Mächte; der irdische Geschichtsverlauf wird zum Marionettentheater, die handelnden Personen und wirksamen Faktoren der Geschichte zu Puppen, die an unsichtbaren Drähten von außen her gelenkt werden. Solange diese Weltanschaung ganz allgemein das Bewußtsein beherrschte, ging auch die wissenschaftliche Forschung von denselben Voraussetzungen aus. Von einem ernsteren Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen konnte damals noch keine Rede sein. Was die Neuplatoniker gegenüber dem Christentum als philosophische Weltanschauung geltend machten, war ebensogut wie das kirchliche Dogma eine neue Mythologie. Die Gnostiker des kirchlichen Altertums mit ihren grotesken Phantasien über Weltentstehung, Weltentwicklung und Weltvollendung, mochten sich dem Kirchenglauben gegenüber noch so laut rühmen, die Wissenden zu sein, sie standen doch auf demselben Vorstellungsboden mit diesem. Umgekehrt, die alten Kirchenlehrer, welche den Glauben zum Wissen zu erheben verhießen, waren in der Schule PLATOs nicht minder bewandert wie im Alten Testament und in den Schriften der Apostel. Die Scholastiker des Mittelalters, deren höchster Ruhm war, das kirchliche Dogma theologisch zu begründen, umspannten mit ihrer ausgebreiteten Gelehrsamkeit zugleich das ganze Wissensgebiet ihrer Zeit. Noch die orthodoxen Theologen des 16. un 17. Jahrhunderts waren mit der damaligen Philosophie aufs Engste befreundet, und an logischer Virtuosität uns heutigen durchschnittlich überlegen. Erst die moderne Welt hat die Konflikte gebracht. Während seit KOPERNIKUS die ganze Welt- und Naturbetrachtung eine andere wurde, blieb die Theologie bei ihrer, der antiken Anschauung völlig angemessenen, supranaturalistischen Vorstellungsweise stehen. Während man allmählich auf jedem anderen Wissensgebiet den geordneten Zusammenahng von Ursachen und Wirkungen zur selbstverständlichen Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Forschung nahm, forderte die Theologie für ihr Gebiet eine Ausnahme von der Regel. Während alle Geisteswissenschaften wetteiferten, die Erscheinungen des geistigen Lebens aus dem Wesen des menschlichen Geistes und seiner gesetzmäßigen Tätigkeit zu verstehen, blieb die Theologie bei dem Anspruch stehen, die christliche Religon als eine exotische Blume zu behandeln, die von außen her in den Garten des Menschen verpflanzt worden ist. Die Folge dieses Anspruchs ist jene doppelte Buchführung geworden, welche die gegenwärtig herrschende Theologie charakterisiert. Während man dne Lauf der Begebenheiten auf allen anderen Gebieten der Geschichte mit scharfem Weltverstand im Zusammenhang seiner natürlichen Ursachen und Wirkungen betrachtet, soll allein die Entstehungsgeschichte der christlichen Religion noch immer unter den Gesichtspunkt der antiken Weltanschauung gestellt werden. Die rein geschichtliche Auffassung, die man für die außerchristlichen Religionen völlig berechtigt findet, soll allein dem Christentum gegenüber im Unrecht sein. Die Grundsätze der geschichtlichen Forschung und Kritik, welche man allen anderen literarischen Erzeugnissen gegenüber selbst in Anwendung bringt, sie sollen den biblischen Urkunden gegenüber verstummen. Die psychologische Analyse, welcher man alle anderen Erscheinungen des Geisteslebens unterwirft, sie soll plötzlich ein Frevel sein, wenn von der Vorstellungswelt der Propheten und Apostel die Rede ist. Hier soll vielmehr das sonst überall aus dem modernen Bewußtsein entschwundene Wunder, das unvermittelte Eingreifen außerweltlicher Ursachen in den Weltlauf, nach wie vor seine Stätte finden. Hier sollen Tatsachen und Vorgänge möglich sein, denen man selbst, sobald sie auf anderen Gebieten berichtet werden, den Glauben versagt. Hier sollen Autoritäten statt Gründe entscheiden, Autoritäten von unbedingter Unfehlbarkeit, an welche sich keine Kritik ohne eine schwere Versündigung heranwagen darf. Aufgrund dieser Voraussetzung spinnt sich jene Theologie, die heute bei der jungen Generation am höchsten in der Gunst steht, immer tiefer ein in eine durchaus phantastische Welt, von welcher keine Brücke zu den Ideen, welche draußen im wirklichen Leben die Geister bewegen, hinüberführt. Und doch kann man mit dem besten Willen den modernen Menschen nicht ausziehen. Unter der Hand werden immer neue Ausgleiche zwischen dem kirchlichen Autoritätsglauben und der modernen Bildung versucht. Die einen geben die Kirchenlehre der wissenschaftlichen Prüfung preis, wenn man nur die Bibellehre nicht antasten will. Die anderen unterscheiden zwischen wesentlichen und unwesentlichen Lehren und geben diese frei, während sie umso strenger an jene binden. Wieder andere gestatten selbst der Bibel gegenüber eine geschichtliche Kritik, nur soll sie vor gewissen übernatürlichen Tatsachen ehrerbietig Halt machen. Und abermals andere halten zwar solche Konzessionen an den modernen Unglauben für Sünde, wissen aber keinen anderen Rat, als der modernen Kritik durch eine Schriftbetrachtung aus dem Weg zu gehen, die allen gesunden Auslegungsgrundsätzen spottend, nichts als des Auslegers eigene Träume und Phantasien zutage fördert. Wie eifrig man sich auch müht, die Rostflecken moderner Ideen vom priesterlichen Gewand hinwegzuwischen, immer neue Flecken kommen bald an dieser bald an jener Stelle zum Vorschein. Vom Geist heutiger Wissenschaft wird jeder, der kein geistloser Nachbeter sein will, berührt, auch wenn er seine Brust mit dreifachem Erz umpanzert. Aber woher jene auf den ersten Blick so befremdliche Erscheinung, daß sich gerade nur die Theologie von der Entwicklung der modernen Kultur isoliert? Woher die gerade hier so hartnäckig auftretende Weigerung, Ergebnisse der Geschichtsforschung anzuerkennen, sobald sie die menschliche Entstehung der heiligen Schriften, den Einfluß von Zeitvorstellungen auf die Gedankenwelt der biblischen Schriftsteller, die geschichtliche Bildung und Umbildung des kirchlichen Lehrbegriffs im gesetzlichen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen erklären will? Dieser Widerstand ist selbst eine geschichtliche Tatsache, welche gewürdigt sein will. Vorschnelles Aburteilen hilft hier zu nichts. Wenn man sich schmeichelt, die wunderbare Zähigkeit religiöser Vorstellungen dadurch erklärt zu haben, daß man auf die Macht des Vorurteils, oder auf den Egoismus der Menschen verweist, so hat man nur die Oberfläche der Erscheinungen gestreift. Wäre der kirchliche Autoritätsglaube in seinem innersten Kern ein Phantasiegebilde ähnlicher Art, wie der Glaube an klopfende Geister und tanzende Tische, er wäre längst an einem Lächeln der gebildeten Menschheit gestorben. Und wären es gar nur die niedersten Regungen der Seele, denen er seine Entstehung verdankt, er würde nicht so häufig im Bund stehen mit den höchsten Idealen, deren ein Menschenherz fähig ist. Der letzte Grund für die Beharrlichkeit der supranaturalistischen Vorstellung ist tiefer zu suchen. Jene Auffassung des Weltverlaufs als eines an unsichtbaren Fäden von außen her geleiteten Dramss ist nur der populäre, sinnlich anschauliche Ausdruck dafür, daß in der Religion ein Band geknüpft ist zwischen der übersinnlichen und der sinnlichen Welt. Im religiösen Glauben ergreift der Mensch die lediglich wirksame Gegenwart eines Unendlichen und Ewigen, das über die räumliche und zeitliche Verknüpfung endlicher Ursachen und Wirkungen hinausliegt. Er ist der Realität dieses Unendlichen und Ewigen als eines Faktors seines eigenen Selbstbewußtseins gewiß. Er sucht durch eine innere Nötigung seines Geistes getrieben, die wirksame Gegenwart dieses Unendlichen und Ewigen auch in der ihn umgebenden Welt. Er führt die Welt der Erscheinungen nach ihrem Dasein, ihrem Verlauf, ihrem Ziel und Zweck auf jenes Unendliche und Ewige als auf ihren letzten überweltlichen Grund zurück. Diesen Grund nennt er Gott und muß ihn als geistig setzen, weil er ihn nur als lebendig wirksame Kraft, als schöpferische, ordnende, zwecksetzende Intelligenz, sich veranschaulichen kann. Und ganz vornehmlich sind es die Phänomene des religiösen Lebens selbst, die Aussagen des frommen Bewußtseins, die Zustände des frommen Gemütslebens, die bald niederdrückenden bald erhebenden Tatsachen der religiösen Erfahrung, in denen der Glaube der gegenwärtigen Wirksamkeit Gottes bewußt wird. Sie sind das Gebiet, wo der unendliche und endliche Geist sich unmittelbar im menschlichen Geistesleben berühren, wo das menschliche Selbstbewußtsein unmittelbar auf das Bewußtsein um den gegenwärtigen Gott, und das Gottesbewußtsein unmittelbar auf das Selbstbewußtsein des Frommen bezogen ist. Alles was die Frömmigkeit lebendig erregt, erregt zugleich das Bewußtsein um die göttliche Gegenwart, um ein Handeln Gottes auf uns. Und je stetiger das Gottesbewußtsein alle Lebensmomente begleitet, desto schneller eilt der Glaube über alle Mittelursachen hinweg um des letzten, göttlichen Grundes, in welchem unser und aller Welt Leben beschlossen liegt, immer aufs Neue in der inneren Anschauung und in einem unmittelbaren Gefühl gewiß zu werden. Mit dem allen ist noch gar nichts weiter gesagt, was nicht dem religiösen Glauben überhaupt wesentlich wäre. Diese Vorstellungen sind die notwendige psychologische Form, in welcher er überall, sobald er sich regt, uns zu Bewußtsein kommt. Ihre psychologische Grundlage ist die allem religiösen Glauben wesentliche Doppelbewegung, die Erhebung über die Welt zu ihrem unendlichen Grund, und das Innewerden des unendlichen Grundes in seiner lebendig wirksamen Gegenwart in der Welt. Man mag diese Doppelbewegung nun für Wahrheit oder für Täuschung halten, auf jeden Fall hat man hiermit die Grundphänomene allen religiösen Lebens und damit zugleich das innere Wesen des Glaubens in allen seinen Formen beschrieben. Indem sich nun aber der Mensch das über die Welt der Erscheinungen hinausliegende Göttliche doch wieder nach Analogie dieses räumlichen und zeitlichen Daseins veranschaulicht, kommt er zu der Vorstellung eines außerweltlichen Einzelwesens, das von außen her den Weltlauf leitet. Indem er sich andererseits die wirksame Gegenwart Gottes in der Welt veranschaulichen will, kommt er zu der Vorstellung eines wunderbaren Eingreifens Gottes von außen her, einer wunderbaren Einwirkung Gottes auf die Natur und den Menschengeist nach Art einer besonderen einzelnen Ursache. So ist der Supranaturalismus die naive Form für den religiösen Glauben überhaupt. Die moderne Wissenschaft, welche innerhalb des Bereiches der erscheinenden Welt überall einen strengen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen fordert, sieht sich genötigt, dieser supranaturalistischen Anschauung entgegenzutreten. Der naive Glaube fühlt sich durch diese Kritik in seinem innersten Lebenspunkt bedroht; die Bestreitung der Vorstellungsform, in welcher er der Erhabenheit Gottes über die Welt, und wieder der lebendigen Gegenwart Gottes gewiß ist, dünkt ihm unmittelbar zugleich eine Vernichtung des Gottesbewußtseins, eine Leugnung dessen zu sein, was ihm eine unumstößliche Tatsache innerer Erfahrung ist. So setzt er sich krampfhaft gegen alle Angriffe zur Wehr. Auch sonst pflegt es oft zu geschehen, daß die bestimmte, anschauliche Form, in welcher eine Tatsache des Geisteslebens uns zu Bewußtsein gekommen ist, mit diesem ihrem Inhalt unmittelbar zu einem untrennbaren Ganzen verschmilzt. Wir fürchten dann, mit der Form, in welcher allein uns der Inhalt gewiß ist, auch diesen Inhalt selbst zu verlieren. So ist es in der Tat das religiöse Interesse selbst, welches sich auch heute so häufig in die supranaturalistische Vorstellungsform hineinlegt. Wenn von einem außerweltlichen Gott, von übernatürlichen Belehrungen, von übernatürlichen Wirkungen dieses Gottes, ja von einem unmittelbar persönlichen Eintreten dieses Gottes in die Menschengeschichte nicht mehr die Rede sein soll, so fürchtet man, das religiöse Verhältnis selbst zu einer leeren Fata Morgana verflüchtigt zu sehen. Dieses Grauen vor der leeren Negation, dieses Erschrecken vor der Leugnung einer höheren, über die Sinnenwelt hinausliegenden Realität, das ist es, was als letztes Motiv auch den sinnlichsten und rohesten Anschauungen von Gott und göttlichen Dingen zugrunde liegt. Man richtet sich lieber eine noch so phantastische Vorstellung von der Offenbarung Gottes her, man sucht nach handgreiflichen Beweisen für das göttliche Dasein, nach einer übernatürlichen Lehre, die er unmittelbar selbst, ohne jede psychologische Vermittlung seinen Auserwählten gegeben hat, nach übernatürlichen Wirkungen, die er selbst über die Naturordnung hinaus, ja im Widerspruch mit ihr, in Natur und Geschichte hervorgebracht hat. So wird der religiöse Glaube zum Wunderglauben, zu einem theoretischen Fürwahrhalten übernatürlicher Geschichten und übervernünftiger Wahrheiten, zum Glauben an eine unfehlbare, unumstößlich feste göttliche Autorität, als deren gottverordnete Hüterin sich die Kirche darstellt. Die Zeiten sind unwiederbringlich vorüber, in welchen man hoffen durfte, diese kirchliche Vorstellungswelt wissenschaftlich neu zu begründen und dadurch den Konflikt zwischen Glauben und Wissen beschwören zu können. Die neue Metaphysik der HEGELschen Schule hat dies ebensowenig vermocht wie die alte. Die Philosophie hat es aufgegeben, ein leeres Begriffsspiel zu treiben und sich an einer neuen Scholastik abzumühen, die doch nur den eitlen Schein eines Wissens erzeugt. Statt auf dem Wolkenwagen abstrakter Kategorien die erfahrungsmäßige Welt zu überfliegen, hat man den mühsameren, aber dankbareren Weg eingeschlagen, die tatsächlichen Vorgänge des Geisteslebens in ihrem gesetzmäßigen Verlauf zu verfolgen. Das wunderliche Gebräu aus HEGELschen Formeln und phantastischen Einfällen, mit denen eine sogenannte kirchliche Spekulation die Mysterien der alten Dogmatik als höchste Vernunft zu erweisen versuchte, hat in der außertheologischen Wissenschaft immer nur ein verwundertes Kopfschütteln erregt, und kommt nachgerade auch in den kirchlich treuesten Kreisen um allen Kredit. Nicht besser wird es dem rabbinischen Scharfsinn ergehen, mit welchem eine zur Zeit noch blühende Theologenschule die abenteuerlichsten Phantasien über himmlische Vorgänge, über Katastrophen in der Geisterwelt und über die künftige Vollendung aller Dinge aus der Bibel herausliest, und ihre Träumereien als Ergebnisse strengster Wissenschaft anpreist. Eine Theologie, die sich nicht fest und entschlossen auf den Boden wirklichen Erfahrung stellt, und die Phänomene der Religion aus dem Wesen des menschlichen Geisteslebens selbst zu verstehen sucht, arbeitet doch nur fürs Feuer. Die Jllusionen reißen nicht ab, solange man meint, durch dogmatische oder spekulative Konstruktionen die Grenzen überspringen zu können, welche nun einmal unserer Erkenntnis gezogen sind. Der Wissenschaft können alle religiösen Vorstellungen ohne Ausnahme, vom rohesten Aberglauben wilder Naturvölker bis hinauf zu den künstlichen Systemen der modernen Dogmatik, nur als ein Gegenstand historischer und psychologischer Forschung gelten. Sie verzichtet darauf, irgendein theologisches System als unfehlbare Wahrheit zu erweisen. Sie untersucht aber alle auf die Bedingungen ihrer Entstehung. Sie sucht das allgemeine Gesetz des geistigen Lebens in ihnen auf, welches in den mannigfaltigsten Modifikationen wiederkehrt. Sie ermittelt das geistige Grundverhältnis, welchem die religiösen Aussagen ihren Ursprung verdanken, und sucht die Entwicklungsstufen des religiösen Bewußtseins im Zusammenhang mit der geistigen Gesamtentwicklung der Menschheit zu begreifen. Sie erforscht weiter die Gesetze des Religiösen Erkennens im Zusammenhang mit den Gesetzen für alles Erkennen überhaupt. Sie führt die religiösen Vorstellungen auf innere Anschauungen und Gefühle zurück, auf Aussagen des frommen Selbstbewußtseins in seiner unmittelbaren Einheit mit dem Gottesbewußtsein. Sie beschreibt den Verlauf innerer Erfahrungen und Tatsachen des Geisteslebens, welche sich in der Wechselbeziehung unseres Gottesbewußtseins mit unserem Selbstbewußtsein und mit unserem Bewußtsein um die äußere Welt vollziehen. Eine tiefere Untersuchung der Gesetze allen religiösen Erkennens zeigt, daß religiöse Aussagen niemals unmittelbar das Wesen Gottes und der übersinnlichen Welt als solcher betreffen. Sie sind Aussagen von der Wechselbeziehung, in welcher der menschliche Geist sich zum göttlichen Geist weiß. Sie sagen nur aus, was Gott für uns, nicht was er ansich ist. Sie beschreiben, wie sich Gott für den Glauben im menschlichen Geistesleben offenbart, wie er in ihm sich als wirksam erweist, in welchem Verhältnis er zu ihm steht. Alle unsere religiösen Aussagen sind ihrer Natur nach nicht mehr, als Beschreibungen eines bestimmten Moments unseres Gottesbewußtseins in seinem Verhältnis zu unserem Bewußtsein um uns selbst und um unsere Welt. Sie sind einerseits innere Anschauungen von der Wirksamkeit Gottes in uns und in der Welt, die wir nach dem Vorbild des sonstigen, unserer Erfahrung zugänglichen Geschehens in bestimmte Vorstellungen kleiden: sie sind andererseits Beschreibungen frommer Gemütszustände, die als Tatsachen unseres Selbstbewußtseins in der Wechselbeziehung der verschiedenen Faktoren unseres Glaubenslebens entstehen. Beide aber, die inneren Anschauungen und die religiösen Gefühle sind in jedem ursprünglichen religiösen Akt unzertrennlich verbunden, wenn die spätere Reflexion sie auch nur in ihrem Auseinanderfliehen ergreift. Auch bei der Wahrnehmung eines sinnlichen Gegenstandes ist der Akt der Wahrnehmung und das wahrgenommene Bild unmittelbar eins für uns. Um das Bild eines Gegenstandes in meiner Seele zu erzeugen, wirkt der Wahrgenommene Gegenstand und der wahrnehmende Sinn in einem unzertrennlichen Moment zusammen: und beide in ihrer Wechselbeziehung erzeugen in uns ein Wahrnehmungsbild und einen Empfindungseindruck in der Seele zugleich. Daß ich Farben sehe und Töne höre, hängt nicht bloß ab von den Lichtstrahlen die meine Augen, von den Schallwellen, welche mein Ohr berühren, sondern zugleich von der Organisation meines Auges und Ohres. Ganz ebenso ist es auch in der Religion. Nur habe ich es hier nicht mit einem Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, sondern inmitten meiner Wechselwirkung mit der äußeren Welt zugleicht mit einem über alles endliche Dasein hinausliegenden, aber in demselben sich betätigenden Faktor zu tun, dessen Natur und Substanz mir ewig verborgen bleibt, dessen Wirkung in mir ich aber mit derselben unmittelbaren Gewißheit erfahre, mit welcher ich der Einwirkung eines äußeren sinnfälligen Dings bewußt werde. Das Bild welches ich mir unwillkürlich vom Gegenstand der inneren Anschauung entwerfe, trägt die ganze Bestimmtheit meines Gemütslebens an sich, die ganze individuelle Wärme und Lebendigkeit des besonderen Moments, in welchem der religiöse Akt in meiner Seele geboren wurde. Als Ausdruck dessen was ich selbst im religiösen Akt erfahre, ist dieses Bild vollkommen angemessen und wahr. Wenn ich aber die tatsächliche Bestimmtheit meines Selbstbewußtseins im religiösen Akt hinwegnehme, und das religiöse Anschauungsbild für sich allein zu betrachten versuche, so behalte ich nichts übrig, als einen unangemessenen Ausdruck für einen übersinnlichen Gegenstand meiner frommen Erfahrung. Das Übersinnliche tritt aber niemals rein für sich in meine Erfahrung ein; ich kann es von meinem Selbstbewußtsein nicht loslösen und vor mich hinstellen als einen äußeren Gegenstand, ohne es durch Bilder zu vergröber, welche der äußeren Sinneswahrnehmung entlehnt sind. Und wenn ich nachträglich diese sinnlichen Vorstellungen vergeistigen will, so verflüchtige ich sie zu abstrakten Begriffen, die doch im Grunde nichts anderes sind, als abgeblaßte und verallgemeinerte Anschauungsbilder. Die naive Vorstellung nimmt jene Bilder für vollkommen angemessene Darstellungen aus der übersinnlichen Welt. Sie erfreut sich an dem schimmernden Schein einer zweiten Welt außer und hinter der Welt unserer Erfahrung, und meint einen Einblick in ein überirdisches Geisterreicht zu gewinnen, ohne zu ahnen, daß ie doch nur das erfahrungsmäßige Weltbild phantastisch verdoppelt hat. Danach kommt die dogmatische Theologie, bringt die abstrakte Formel hinzu, bearbeitet die bunte Bilderwelt, mit ihren abgezogenen Begriffen und meint nun die tiefsten Geheimnisse des Himmels und der Erden ergründet zu haben. Im Widerspruch gegen die Jllusionen beruth die wissenschaftliche Stärke von FEUERBACHs Kritik, deren letzter Hintergrund kein anderer ist, als die materialistische Lehre. Man kann dagegen nichts einwenden, wenn FEUERBACH auch die Entstehung unserer religiösen Vorstellungen auf ihre natürlichen Ursachen zurückführen will, wenn er ihren Ursprung im Wesen des Menschen, in der Phantasie, in den praktischen Bedürfnissen des Gemütes nachzuweisen versucht. Sein verhäntnisvoller Irrtum aber ist der, aß er die Realität des Unendlichen und Ewigen widerlegt zu haben sich einbildet, wenn er den psychologischen Weg aufzeigt, auf welchem die Menschen zu den religiösen Vorstellungen gekommen sind. Ein Beispiel aus einem anderen Wissensgebiet wird sofort den Gedankensprung klar machen. Wieviel ein Mathematiker in seiner Wissenschaft leisten kann, hängt ab von der Organisation seines Gehirns, von der Entwicklung seines Denkvermögens und von seinem geschichtlichen Bildungsgang. Hingegen die objektive Wahrheit der von ihm erwiesenen mathematischen Sätze hängt nicht von den Umständen und Bedingungen ab, unter denen sich sein Denken entwickelt hat. Dieselben bleiben wahr, mögen sie sich viele oder wenige sie mit ihrem Denken angeeignet haben. Wenn der Menschengeist diese oder jene mathematischen Sätze auch erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe seines Denkens als eigene, selbstgewonnene Erkentnis erzeugen kann, so sind sie darum doch noch keineswegs ein subjektiv menschliches Gebilde. Nicht anders ist es mit den religiösen Ideen. Ihre wirkliche Erzeugung im Menschengemüt, die bestimmte vorstellungsmäßige Form, in welche sich der religiöse Gedanke kleidet, die Verknüpfung der religiösen Vorstellungen untereinander und mit dem jeweiligen Weltbild, welches das menschliche Bewußtsein erfüllt: das alles unterliegt bestimmten Gesetzen, mit deren Ermittlung sich die Psychologie und die Religionsgeschichte beschäftigen. Aber daraus, daß die religiöse Gedankenerzeugung durch psychologische und geschichtliche Gesetze und immerhin auch durch die natürliche Organisation des Menschen bedingt ist, folgt doch noch lange nicht, daß der Gehalt der religiösen Ideen selbst nur eine subjektiv menschliche Einbildung ist, ohne alle objektive Wahrheit und Realität. Im Gegenteil macht man das menschliche Geistesleben zur widerwärtigsten Karikatur, wenn man behauptet, die aus den innersten Tiefen des menschlichen Geistes geborenen Nötigungen und Antriebe der Religion seien nichts weiter als Ausgeburten eines kranken Gehirns. Allerdings kann man dem, welcher die Realität des im religiösen Bewußtsein ausgedrückten Verhältnisses bestreitet, dieselbe nicht andemonstrieren durch einen logisch zwingenden Beweis. Wer in den religiösen Ideen nichts als subjektiv menschliche Vorstellungen sieht, die mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses entstanden sind, subjektiv menschliche Vorstellungen ohne irgendeinen objektiv göttlicen Grund und Gehalt, mit dem ist nicht weiter zu streiten. Daß in der Beziehung unseres Gottesbewußtseins auf unser Selbstbewußtsein sich wirklich ein tatsächliches Verhältnis darstellt, in welchem der göttliche Geist zum menschlichen steht, ein tatsächliches, im mensclichen Seelenleben sich vollziehendes Wechselverhältnis eines göttlichen und eines menschlichen Faktors, das ist wirklich keine wissenschaftliche, sondern nur eine Glaubensgewißheit. Jeder Glaubensakt ist in seinem innersten Wesen ein Hinausgehen über die gegenwärtige Erfahrung. Aber dennoch ist die Glaubensgewißheit keine geringere als die Gewißheit der Wissenschaft. Denn jene Erhebung über das unmittelbar in der Erfahrung gegebene beruth auf einer inneren Nötigung unseres Gemüts, welche der Mensch ganz ebenso unmittelbar in sich erfährt und erlebt, wie die zwingende Notwendigkeit der Denkgesetze und die gebieterische Stimme seines Gewissens. Diese innere Nötigung zur religiösen Erhebung äußert sich als der Trieb, im endlichen vergänglichen Dasein die wirksame Gegenwart eines Unendlichen und Ewigen anzuschauen. Hier ist die lebende, psychologische Wurzel allen Gottesglaubens. Dieser Glaube trägt seine Legitimation in sich selbst; er ist einfach durch sein Vorhandensein im Gemüt der im Menschengeist selbst geführte Tatbeweis des göttlichen Geistes. Und jeder, der sich im Glauben zu Gott erhebt, ist seines Gottes nicht weniger gewiß als seines eigenen Lebens. Er weiß es aus unmittelbarer innerer Erfahrung, daß in der gläubigen Erhebung zu Gott, im persönlichen Verhältnis seins Gemütes zu ihm, in der vertrauensvollen Hingabe an ihn, im demütigen Verzicht auf allen eigenen Willen diesem Gott gegenüber, sich ihm der Quell eines höheren Lebens erschließt. Hier tut sich eine unendlich reiche Welt von inneren Erfahrungen auf und diese Erfahrungen im persönlichen Verkehr der Seele mit ihrem Gott sind die wahren Höhepunkte unseres geistigen Lebens. Sie allein geben einem Menschenleben Adel und Wert, einem von der Angst des Irdischen bekümmerten und beschwerten Gemüts den rechten Trost im Leben und Sterben. Es gibt ein sogenanntes Wissen, welches diesen Glauben verlacht. Eine oberflächliche Halbbildung ist jederzeit schnell bereit, sich mit vornehmer Geringschätzung über alles hinwegzusetzen, was dem eigenen, oft sehr beschränkten Gesichtskreis fern liegt. Wessen Ohren unempfänglich sind für den Zauber der Töne, der wird es freilich niemals begreifen, welch reichen Genuß eine Symphonie BEETHOVENs dem Kunstfreund gewähren kann. Ganz ebenso wird freilich auch der, in dessen Gemüt alle höheren Regungen, welche hinausweisen über die den Sinnen erscheinende Welt, von klein auf erstickt sind, auch für die Welt religiöser Anschauungen und Gefühle nur ein mitleidiges Lächeln übrig haben. Einer wahren Wissenschaft dagegen wird es nicht beikommen, über die höchsten Tatsachen des Geisteslebens abzuurteilen, als wären sie nichts als Gebilde einer kranken Phantasie. Die Wissenschaft wird darum nicht auf die Aufgabe verzichten wollen, auch diese Tatsachen sorgfältig zu beobachten, zu sammeln und soweit es Not tut, zu sichten, sie wieder auf Gesetze zurückzuführen, in ihrem Ursprung und in ihrem Verlauf Ordnung und Regel zu erkennen. Aber sie wird sich bescheiden, die Grenze zu bezeichnen, wo alles begreifende Denken ein Ende hat, und sich üten, durch leere Begriffe den blendenden Schein eines Wissens zu erzeugen. Diese Grenze ist dort, wo alle Erfahrung ein Ende hat. Sie führt bis zu dem geheimnisvollen Punkt im Menschengemüt, wo göttliches und menschliches einander berühren. Jenseits dieses Punktes hört alle Wissenschaft auf. Hier hat die fromme Ahnung ihr Recht. Ihr Organ ist nicht der Verstand, sondern die gläubige, von Gefühlsantrieben beflügelte Phantasie. Ihre Erzeugnisse macht das Denken reinigend und bildend begleiten, ohne daß es doch je die geheimnivollen Tiefen erhellen kann, aus denen die Anschauungsbilder des Übersinnlichen emporsteigen. Wir wissen nur vom Wirken Gottes in uns und in der uns umgebenden Welt; was darüber hinausliegt, bleibt unserer Erkenntnis verschlossen. Daß diese Wirkungen wirklich göttliche Wirkungen sind, ist immer nur dem Glauben, der sie erfährt und mittels des Glaubens auch der Forscher persönlich gewiß. Aber die Sache der Wissenschaft ist es, die psychologischen Vorgänge des religiösen Lebens in ihrem Zusammenhang aufzufassen und aus den innersten Tiefen des menschlichen Geistes zu erklären. In diesem Zusammenhang nirgends einen Sprung, nirgends eine Lücke zu lassen, ist das unermüdlich angestrebte Ziel ihrer Forschung. Hier kann die Wissenschaft sich zu keinen Konzessionen an den kirchlichen oder dogmatischen Glauben verstehen. Sie kann nicht stillehalten, wo die kirchliche Autorität ihr Halt gebietet, sie kann nicht äußerlich halbieren wollen zwischen gewissen Dingen, über die ihr die Forschung verstattet sein soll, und solchen, die man ihren prüfenden Blicken verhüllt. Es gibt hier schlechterdings keine andere Grenzlinie als die, welche der jedesmalige wissenschaftliche Bildungsstand des Zeitalters zieht. Was durch die Tätigkeit unserer Phantasie und unseres Verstandes entstanden ist - und das sind alle dogmatischen Sätze der Kirche ohne Ausnahme - das unterliegt auch notwendig der Verstandeskritik. Hier hilft kein noch so feierlich proklamierter Friedensschluß zwischen Glauben und Wissen. Die geschichtliche Form, in welcher der religiöse Glaube zum Ausdruck kommt, ist als ein geschichtliches Produkt auch dem Schicksal alles geschichtlich Gewordenen unterworfen. Solange sie ein entsprechender Ausdruck der jedesmaligen Weltansicht ist, bedarf sie keiner Rechtfertigung vor einer Kritik, die überhaupt noch nicht existiert. Wenn aber das wissenschaftliche Denken einer Zeit mit den alten Vorstellungsformen zerfallen ist, so waltet der kritische Verstand notwendigerweise seines Amtes und läßt sich weder durch Schmeichelreden einschläfern, noch durch Machtsprüche erschüttern. Auch unsere Zeit ist eine solche kritische Zeit. Das Bewußtsein ist mit den alten Vorstellungsformen zerfallen, und die neue, dem Geist unserer Zeit entsprechende Gestalt, in welcher sich Glauben und Wissen für unser modernes Bewußtsein versöhnen, ist noch im Werden begriffen. In dieser Übergangszeit bemächtigt sich ein krampfhaftes Ringen und Suchen der Geister. Die Kritik der kirchlichen Vorstellungsform wird vom Gläubigen notwendig zuerst als ein Angriff auf den innersten Kern und Gehalt seiner frommen Erfahrung empfunden. Er sträubt sich dagegen wie gegen einen ihm angesonnenen Selbstmord; und dennoch hat auch er schon zuviel vom Baum der Erkenntnis genossen und die Rückkehr zu einem Paradies kindlich unschuldigen Glaubens ist ihm verwehrt. Eine solche Zeit erzeugt unklare Mischungen von Altem und Neuem, wunderliche Mißbildungen, krankhafte Phantasien. Erst wenn die Gärungsepoche überwunden ist, können sich die Wolken und Nebelgebilde zerstreuen. Dann findet der Fromme mit verwundertem Staunen, daß ihm nichts genommen worden ist, was ihn erhebt, beruhigt und stärkt, daß die neugewonnene Vorstellungswelt den alten Glauben nur reiner, treuer und besser ausgedrückt als die früheren Formeln, daß die alten Heiligtümer, vom Rost und Staub der Vergangenheit befreit, im neuen Glanz strahlend, die liebende Gemeinde zur Anbetung einladen. Der Materialismus, der für das Christentum, ja für alle religiöse Weltanschauung überhaupt, schon den Grabstein bereit hat, ist selbst nur eine geistige Krankheitserscheinung der Übergangszeit. Er wird verschwinden, wie die beängstigenden Nachtgespenster entfliehen, wenn die helle Sonne gekommen ist. Seit dem Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts haben die edelsten Männer unseres Volkes unermüdlich an der neuen Geistesschöpfung gearbeitet, einer Schöpfung, die herausgeboren aus dem alten und doch ewig jungen Geist des Christentums, eine Palingenese [Wiedergeburt - wp] des christlichen Glaubens zu werden verheißt. Unter denen, die am Neubau des heiligen Domes gearbeitet haben, steht SCHLEIERMACHER in den vordersten Reihen. Sein Geist ist es, der, wenn auch tausendmal totgesagt doch immer aufs Neue in denen lebendig wird, denen es das höchste Ziel ihres Strebens ist, ihr Scherflein beizutragen zum größten und edelsten Werk unserer Zeit, der Versöhnung des Christentums und der modernen Kultur. Das Probehaltigste und Beste von dem, was wir mit unseren bescheidenen Kräften von Bausteinen herbeischaffen können, ist seiner Werkstätte entlehnt, in der noch manche mächtige Quader zur Einfügung in das Gebäude bereit steht. Die Bauplätze der HEGELschen Philosophie sind längst von den Bauleuten verlassen; in SCHLEIERMACHERs Werkstätte arbeitet und hämmert noch immer ein jugendlich rüstiges Geschlecht, das auch in trüber Zeit den freudigen Arbeitsmut nicht verloren hat. Und auch die flüchtigen Gedanken, die ich heute ihnen vorzuführen die Ehre hatte, sie sind nach ihrem größten und besten Teil nicht mein, sondern SCHLEIERMACHERs Eigentum. |