p-4p-4E. Schradervon KriesElsenhansA. HorwiczFrischeisen-Köhler    
 
CARL STUMPF
Sinnesurteile im Allgemeinen

"Dem Erwachsenen bietet sich keine Sinnesempfindung, die nicht in einem gewissen Maß  beurteilt,  in irgendeiner Beziehung  aufgefaßt  würde. Allerdings ist das Netz von Beziehungen, in welches eine Empfindung im einzelnen Fall verflochten scheint, nicht immer und überall gleich dicht. Ein Ton wird nicht immer als  c, d  etc. aufgefaßt, aber wohl steht als ein hoher, tiefer oder mittlerer; und wenn selbst dies nicht der Fall sein sollte, wird er zumindest vom vorhergenden Ton oder von der Stille unterschieden."

"Hobbes, der kann, hat mit seinem Satz: Immer dasselbe empfinden und nichts empfinden ist ein und dasselbe, als Urheber der Relativitätslehre angesehen werden. Jede Empfindung wird notwendig auf andere bezogen, es gibt schlechthin keine reinen Empfindungen.  Wilhelm Wundt  formulierte sein allgemeines Gesetz der Beziehung dahin, daß unsere Empfindung kein absolutes, sondern nur ein relatives Maß der äußeren Eindrücke gibt.  Aubert  drückt sich so aus: Ein gleichmäßiger Ton, ein gleichmäßiger Druck wird gewiß immer empfunden, aber die Empfindung gelangt nur kurze Zeit in unser Bewußtsein. Wir empfinden also immer nur Lichtdifferenzen, ebenso wie wir nur Temperaturdifferenzen empfinden."

"Bezeichnet man mit dem Namen  Bewußtsein  nur die Eigenschaft psychischer Zustände, neben ihrem direkten Inhalt (Farben, Tönen) auch sich selbst zum Inhalt zu haben, also sich auf sich selbst zu richten (Reflexion im weitesten Sinne): so ist nicht einzusehen, warum durchaus nur den Urteilen und nicht auch den bloßen Empfindungen diese Eigentümlichkeit zukommen soll. Faktisch erfassen wir, indem wir hören, nicht bloß den Ton sondern auch das Hören selbst. Das Bewußtsein in diesem Sinn hält mit der Lebhaftigkeit aller psychischen Prozesse und mit der Menge der gleichzeitigen gleichen Schritt, es wächst mit dem geistigen Wachstum überhaupt, ist aber elementar auch schon in den Elementen gegeben. Ein gewisser Grad von Bewußtsein in  diesem  Sinn würde also auch einem bloß empfindenden und vorstellenden Wesen, welches gar keiner Vergleichung und Beziehung des Empfundenen fähig wäre, zukommen."


§ 1. Empfindung und Urteil.
Relativitätslehre.

1. Wenn wir eine Empfindung als den Ton  a  oder als Terz von  f  bezeichnen, so drücken wir damit ein Sinnesurteil aus, d. h. ein auf sinnliche Erscheinungen bezügliches und durch sie hervorgerufenes Urteil. Sinnliche Erscheinungen können statt in der Empfindung auch in der bloßen Vorstellung (Phantasie, Gedächtnis) gegeben sein und dann ebenfalls beurteilt werden - auch ein bloß vorgestellter Ton wird unter Umständen als  a,  als Terz eines anderen erkannt - und auch dies nennen wir ein Sinnesurteil, haben jedoch im Folgenden, wo nicht ausdrücklich etwas anderes bemerkt ist, nur die Beurteilung von Empfindungen im Auge. Was von dieser gesagt wird, läßt sich unschwer auf die Beurteilung bloß vorgestellter Sinneserscheinungen anwenden, wenn die Unterschiede des bloßen Vorstellens vom Empfinden mitberücksichtigt werden.

Die meisten Urteile schließen nicht  eine,  sondern mehrere Vorstellungen (unter Vorstellung ohne Beisatz sind die Empfindungen mitverstanden) ein, welche wir im sprachlichen Ausdruck des Urteils als Subjekt und Prädikat auseinanderhalten. Doch wäre es verfehlt, das Urteil in einem solchen Fall als eine bloße Vereinigung oder als das Vorhandensein eines gewissen Verhältnisses zwischen den Vorstellungen anzusehen. Die  Behauptung  einer Mehrheit oder Relation und das bloße Vorhandensein derselben ist zweierlei. Was in den Vorstellungen liegt, ist damit noch nicht in die Erkenntnis aufgenommen, sowenig erkannt als verkannt. Wenn zwei Empfindungen zusammen in der Seele sind, so ist damit nicht gegeben, daß sie auch nur als Mehrheit erkannt oder daß der Eindruck analysiert wird. Mögen sie ferner in Verhältnissen aller Art zueinander stehen, gleich oder verschieden, ähnlich oder unähnlich sein, so ist damit noch nicht gegeben, daß diese Verhältnisse und Beziehungen auch bemerkt oder erkannt werden. Wird ein höherer und tieferer Ton zugleich empfunden, so kann noch geraume Zeit verfließen, ehe sie als zwei auseinandergehalten und ehe der eine als der tiefere erkannt wird (wenn der Unterschied gering ist) oder ehe er (wenn der Unterschied größer ist) z. B. als Quinte des anderen beurteilt wird. Selbst dann wird vielleicht das Verhältnis nur zweifelnd angegeben, während es doch nicht in zweifelhafter Weise in der augenblicklichen Empfindung existieren kann. Keine Verbindung und kein Verhältnis zweier Empfindungen oder Vorstellungen ist also an und für sich schon eine Beurteilung derselben. Diese kommt, das Verhältnis affimierend oder negierend, als eine neue und heterogene Funktion hinzu. (1)

Wie das Wesen der Empfindung zuletzt nicht besser als durch Beispiele und eine genaue Charakteristik im Einzelnen verdeutlicht werden kann, so dürfte das Gleiche auch von der Urteilsfunktio gelten. Beides aber bringt die weitere Darstellung in Fülle. Nur damit das Wort  Urteil  nicht in einem engeren Sinn genommen wird, als es hier gemeint ist, fügen wir sogleich Folgendes hinzu.

Beurteilung, wie wir sie verstehen, entspringt nicht immer aus der Überlegung, wird auch nicht immer in der Sprache, nicht einmal im innerlichen Sprechen, fixiert. Sie knüpft sich unter Umständen sofort und unmittelbar an die Sinnesempfindung, von ihr als einem psychischen Reiz direkt hervorgerufen, und ebenso wie diese selbst nicht zu einer sprachlichen Verlautbarung führend. Und dies ist in der psychischen Entwicklung sogar das Frühere. Ob zwei Töne gleiche oder verschiedene Höhe besitzen, mögen wir jetzt überlegen, zumal wenn wir danach gefragt sind, zweifelnd und uns dann entscheidend. Aber gewiß werden von Anfang an und noch vor Beginn des Sprechens Unterschiede, Ähnlichkeiten usw., wenn auch gröberer Art, als solche bemerkt, aufgefaßt, ohne daß ein Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung oder auch nur ein "ob - oder", eine von außen oder innen angeregte Frage vorausging. Der Zweifel selsbt ist erst möglich, wenn irgendeine spontane Auffassung da war, auf welche er sich bezieht.

Für eine solche rudimentäre oder besser elementare Beurteilung erscheint wohl der eben gebrachte Ausdruck  Auffassung  sprachgemäßer (ersetzt nebenbei auch vollkommen die barbarische "Apperzeption"), aber sachgemäßer ist der Ausdruck  Beurteilung  auch hier insofern, als das Wesen der Funktion dasselbe wie späterin und nur die Bedingungen des Eintritts hier weniger verwickelt sind. Sehen wir uns ja in der Wissenschaft allenthalben, um das dem gewöhnlichen Denken entgehende Gleichartige zu bezeichnen, zu solchen Verallgemeinerungen bestehender Ausdrücke gezwungen.

Außer diesen Urteilen, deren vollständige empirische Bedingungen in den augenblicklichen Empfindungen oder zumindest dem augenblicklichen Seelenzustand liegen, gibt es noch andere reflexionslose Urteile: die  gewohnheitsmäßigen.  Eine einmal entstandene Auffassung stellt sich unter ähnlichen Umständen ohne weiteres wieder ein. Mehr oder weniger spielt die Gewohnheit, wie wir dieses allgemeine Verhalten nennen, auch bei Überlegungen unvermerkt mit. Aber auch für sich allein bildet sie die Quelle eines großen Teils unserer Sinnesurteile.

In eigentümlicher Weise beeinflußt sie die sogenannten  Benennungsurteil.  Diese beruhen ursprünglich offenbar auf Vergleichungen: das gegenwärtige Objekt wird mit früheren bereits benannten verglichen und, je nachdem es mit diesem oder jenem die größte Ähnlichkeit hat, der bezügliche Name auf dasselbe übertragen. Auch später  können  sie in dieser Weise, sogar unter Mitwirkung reiflicher Überlegung gebildet werden. Aber tausendfach wird rein gewohnheitsmäßig durch eine gesehene, gehörte Erscheinung auch der entsprechende Name und mit demselben zugleich das Urteil  "x  ist rot, ist der Ton  a"  (die Auffassung des Eindrucks als eines roten etc., auch wenn sie nicht in der sprachlichen Aussage formuliert wird) im Bewußtsein reproduziert; wobei also das früher wahrgenommene Objekt gar nicht ins Bewußtsein kommt, geschweige denn mit dem gegenwärtigen verglichen wird. (2)

Betrachten wir schließlich die aus  Überlegung  (und zwar aktueller, nicht nur in der eben beschriebenen Weise nachwirkender Überlegung) entstehenden Urteile, so kann auch hier noch  Überlegung  in einem engeren und weiteren Sinn des Wortes vorhanden sein. Wenn man beispielsweise bei gewissen psychophysischen Versuchen die Überlegung zu verbieten und einen sofortigen Ausspruch zu verlangen pflet, so dürfen wir solche Urteile gleichwohl in einem weiteren Sinn überlegte nennen; sofern sie nämlich bei gespannter Aufmerksamkeit und, was das Wesentlichste ist, als Antworten auf eine vorgelegte Frage abgegeben werden. Der Sinn der Forderung in einem solchen Fall ist nur der, daß man das  erste  Urteil abgibt, welches unter diesen Umständen im Bewußtsein auftritt, soweit man dies bei dem oft sehr schnellen Wechsel der Auffassungen in sich selbst kontrollieren kann. Dabei ist aber ein solches erstes Urteil immer noch zu unterscheiden von einem ganz reflexionslos, gleichsam instinktiv auftretenden, es ist hinsichtlich der Bedingungen seiner Zuverlässigkeit günstiger gestellt.

Es kann allerdings bezweifelt werden, ob eine scharfe Grenze existiert zwischen den Bedingungen der Entstehung solcher ersten Urteile und der rein reflexionslosen. Diese Frage liegt aber nicht auf unserem Weg. Es kam uns hier nicht so sehr darauf an, die genaueste Abgrenzung der verschiedenen Entstehungsweisen eines Urteils zu finden, als vielmehr durch eine Aufzählung der letzteren die Weite des Sinnes, welchen wir mit dem Wort "Urteil" verbinden, deutlich zu machen; und dazu dürfte das Vorstehende hinreichen.

2. Dem Erwachsenen bietet sich keine Sinnesempfindung, die nicht in einem gewissen Maß beurteilt, in irgendeiner Beziehung aufgefaßt würde. Allerdings ist das Netz von Beziehungen, in welches eine Empfindung im einzelnen Fall verflochten scheint, nicht immer und überall gleich dicht. Ein Ton wird nicht immer als  c, d  etc. aufgefaßt, aber wohl steht als ein hoher, tiefer oder mittlerer; und wenn selbst dies nicht der Fall sein sollte, wird er zumindest vom vorhergenden Ton oder von der Stille unterschieden. Nicht bloß so weit die Sprache reicht, die umso vollkommener ist, je mehr sie Unterschiede ausdrückt, sondern viel weiter erstreckt sich die innerliche Bearbeitung der Empfindung. Diese Allgemeinheit und Notwendigkeit der Urteilsfunktionen im psychischen Leben des Erwachsenen ist es nun wohl hauptsächlich, welche in neuerer Zeit die  Lehre von der Relativität der Empfindungen,  oder wie FECHNER sie nennt (3), die Differenzansicht der Empfindungen veranlaßt hat. Freilich nur scheinbar  eine  Lehre, in Wahrheit eine große Zahl von Behauptungen, welche zumeist, mit den nötigen Kautelen [Vorbehalten - wp] versehen, richtig sind, aber durch zu allgemeine oder unbestimmte Formulierung und vollends durch eine Vermischung miteinander unverständlich werden.

Man sagt uns, es sei die Beziehung der Empfindungen aufeinander etwas zum wesen derselben Gehöriges, so daß man z. B.  schwarz  nur im Gegensatz zu  weiß  oder zumindest im Unterschied von einem weniger tiefen oder tieferen Schwarz emprinden könnte; ebenso einen Ton, ein Geräusch nur im Wechsel desselben mit andern oder mit Stille, nicht minder auch einen Geruch, einen Geschmack, eine Berührung nur sozusagen  in statu nascendi  [im Zustand der Geburt - wp], während bei gleichmäßig andauerndem Reiz jede Empfindung verschwindet.

Das scheint alles auf den ersten Blick in herrlicher Übereinstimmung unter sich und mit den Tatsachen. Genauer zugesehen ist aber keines von beiden der Fall. Fünf gegenseitig unabhängige Behauptungen sind zusammengeworfen, und keine derselben kann als uneingeschränkt richtig anerkannt werden. So verbinden dann auch mit dem Ausdruck "Relativität der Empfindungen" oder einer synonymen Bezeichnung verschiedene Schriftsteller, zuweilen sogar ein und derselbe einen verschiedenen Sinn. Unser Zweck kann hier nicht sein, mit den Einzelnen hierüber zu rechten (4); wir wollen es uns aber nicht verdrießen lassen, den verschiedenen möglichen Auffassungen kritisch nachzugehen. Die hier zuerst folgende Behauptung schließt sich am engsten an die soeben erwähnte Tatsache des Seelenlebens an, sucht dieselbe aber als ein strenges Grundgesetz hinzustellen, was unsere Absicht nicht ist. Auch die zweite bezieht sich noch auf das Verhältnis von Empfindung und Urteil, die dritte hingegen auf die Empfindung als solche, die vierte und fünfte schließlich gar auf das Verhältnis von Empfindung und äußerem Reiz.

a) "Jede Empfindung wird notwendig auf andere bezogen, es gibt schlechthin keine reinen Empfindungen."
In Bezug auf den Erwachsenen ist dies wohl uneingeschränkt richtig; aber in den Anfängen des psychischen Lebens kann doch offenbar nicht an jede Empfindung bereits ein beziehendes Urteil geknüpft sein. Zumindest die erste Empfindung kann mit keiner anderen verglichen, von keiner unterschieden werden. Irgendeine muß aber die erste sein. Seien es zwei gleichzeitige, so ist doch nicht anzunehmen, daß sie sofort unterschieden werden, das Kind im Mutterleib wird nicht einer Analyse der gleichzeitigen organischen Empfindungen, des "Gemeingefühls", fähig sein, die selbst der Zergliederungskunst des Forschers Schwierigkeiten macht. Die Ausflucht HÖFFDINGs (5), um die Relativitätslehre zu retten, daß wir nicht wissen, welche Empfindung und wann sie zuerst eintritt, kann evident nichts helfen. Vorhanden ist sie so sicher, wie das psychische Leben des Individuums einen Anfang hat. Und mit dem  einen  Ausnahmefall ist das Gesetz als solches vernichtet. (6) Die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Beziehens auftretender Empfindungen aufeinander und auf frühere ist also nur als eine erworbene, als eine "zweite Natur", wie jede starke Gewohnheit, anzusehen, und es liegt in der Natur des Empfindens keineswegs an und für sich eine solche Notwendigkeit eingeschlossen.

Auch  die  Folgerung würde sich nicht rechtfertigen lassen, daß wir durch den Mangel "reiner", d. h. nicht irgendwie bezogener Empfindungen in uns Erwachsenen außerstande sind, über den Inhalt der Empfindungen, wie sie ansich sind, etwas zu ermitteln. Dies wäre nur dann zu fürchten, wenn durch die hinzukommende Beurteilung etwas am Inhalt der Empfindungen geändert würde; was aber offenbar niemals der Fall ist. Die Beurteilung übt keine rückwirkende Kraft auf den beurteilten Inhalt. Man kann dies geradezu als ein Grundgesetz allen Beziehens und Vergleichens bezeichnen (siehe § 6). Wohl kann eine Empfindung falsch beurteilt werden, wir können für  a  halten was  c  ist. Aber die Empfindung ist dabei dieselbe, als wenn wir bei gleicher Beschaffenheit des Ohres und des Reizes  c  zu hören glauben; die Höhe des empfundenen Tones ist beidemale einfach durch die Zahl der auf das Ohr eindringenden Luftwellen bestimmt.

Zuweilen scheint uns ein Geräusch, sobald wir dessen Ursprung erkennen, einen ganz veränderten Charakter anzunehmen. Genauer betrachtet wird aber nicht die Geräuschempfindung selbst eine andere, sondern nur allerlei Vorstellungen, welche infolge der falschen Meinung über ihren Ursprung damit zu einem unanalysierten Ganzen verknüpft waren.

Auch den sukzessiven Farbenkontrast kann man nicht etwa als Beweis für den Einfluß des Urteils auf die Empfindung heranziehen. Beim Zustandekommen desselben sind Funktionen des Vergleichens in Wahrheit gar nicht beteiligt. Wenn das objektive Weiß anders gesehen wird nach Schwarz und anders nach Grün, das erstemal weißlich, das zweitemal rötlich, so kann ein objektiv falsches Urteil die  Folge  sein, aber nicht die Ursache; wobei letztere vielmehr lediglich in organischen Veränderungen der Netzhaut zu suchen ist (e). Das Urteil aber über die Beschaffenheit der Empfindung als solcher, abgesehen von ihrer Korrespondenz mit bestimmten Reizen, beispielsweise die Vergleichung einer gegenwärtigen Farbempfindung mit einer früheren, ihre Unterscheidung, Benennung: dieses Urteil kann zwar, muß aber nicht durch die unmittelbar vorausgehende Empfindung beeinflußt werden und keinesfalls selbst einen Einfluß auf die gegenwärtige.

Somit erwächst der Erforschung der Sinnesempfindungen aus dem Umstand, daß alle der Reflexion des Psychologen sich darbietenden Empfindungen bereits "apperzipiert" sind, an und für sich nicht der geringste Schaden; der Inhalt der Empfindungen ist dabei ebenso rein in unserem Bewußtsein, wie bei den "reinen", d. h. nicht miteinander verglichenen Empfindungen. Wohl bringt die gewohnheitsmäßige Beurteilung der Sinnesempfindungen einen Übelstand für die Ermittlung ihres Inhaltes mit sich; er liegt aber nicht in der Beurteilung überhaupt, sondern in den  falschen  Urteilen, von denen sich zu emanzipieren oft schwierig, zuweilen unmöglich ist (§ 2). Aber natürlich sind nicht alle Urteile notwendig falsch.

b) "Empfindungen mögen in der Seele existieren, ohne voneinander unterschieden zu werden; aber erst durch die Unterscheidung und Beziehung aufeinander kommen sie uns zu Bewußtsein."
Ob man diese, von ULRICI (7) zuerst mit besonderem Nachdruck vertretene Lehre unterschreiben kann, hängt ganz und gar an der Definition des Ausdrucks "Bewußtsein"; über dessen Vieldeutigkeit die neueren Psychologen einiger sind als über seine treffendste Verwendung. Wenn man von Bewußtsein nur eben da sprechen will, wo ein Urteilen stattfindet, so ist die Lehre freilich selbstverständlich. Es ist auch kein Zweifel, daß das Urteilen, insbesondere das beziehende, eine höhere Stufe des Seelenlebens begründet, als sie mit bloße Empfindungen, Empfindungsgruppen, Erinnerungsbildern, Assoziationen etc. gegeben wäre. Versteht man aber unter Bewußtsein psychische Zustände überhaupt, so gehört natürlich auch die Empfindung dazu. Bezeichnet man schließlich mit diesem Namen nur die Eigenschaft psychischer Zustände, neben ihrem direkten Inhalt (Farben, Tönen) auch sich selbst zum Inhalt zu haben, also sich auf sich selbst zu richten (Reflexion im weitesten Sinne): so ist nicht einzusehen, warum durchaus nur den Urteilen und nicht auch den bloßen Empfindungen diese Eigentümlichkeit zukommen soll. Faktisch erfassen wir, indem wir hören, nicht bloß den Ton sondern auch das Hören selbst (8). Das Bewußtsein in diesem Sinn hält mit der Lebhaftigkeit aller psychischen Prozesse und mit der Menge der gleichzeitigen gleichen Schritt, es wächst mit dem geistigen Wachstum überhaupt, ist aber elementar auch schon in den Elementen gegeben. Ein gewisser Grad von Bewußtsein in  diesem  Sinn würde also auch einem bloß empfindenden und vorstellenden Wesen, welches gar keiner Vergleichung und Beziehung des Empfundenen fähig wäre, zukommen.

Wenn man will, kann man von diesem Standpunkt ein bloßes Empfindungs- und ein Urteilsbewußtsein unterscheiden (9); man muß dann auch ein Gefühls- und ein Willensbewußtsein hinzufügen, weil mit dem,  was  einer will, ihm zugleich gegenwärtig ist,  daß  er will.

c) "Die Empfindung selbst ist etwas Relatives; wir empfinden nicht absolute Inhalte, sondern nur Beziehungen, Unterschiede, Veränderungen."
In dieser häufigen Formel kann man nur eben eine Formel sehen; wörtlich genommen ist sie absurd. Beziehungen finden doch immer zwischen etwas statt. So kann es Beziehungen zwischen Empfindungen geben, aber schließlich müssen doch irgendwelche absoluten Inhalte vorhanden sein, welche wir aufeinander beziehen. Und dieser absolute Inhalt der Empfindung wird nicht etwa durch die Beziehungen erst gegeben oder erzeugt, er ist das Ursprüngliche, die Beziehungen das Abgeleitete. Und nun gar unsere Erkenntnis dieser Beziehungen! -
    "Man kann nicht sagen: rot wird als das, was es ist, als  rot,  erst dann vorgestellt, wenn es von blau oder süß, und nur dadurch, daß es von beiden unterschieden wird;  blau  andererseits als blau nur durch jenen Gegensatz zu rot. Weder ein veranlassender Grund zum Versuch dieser bestimmten Unterscheidung, noch eine Möglichkeit ihres Gelingens wäre denkbar, wenn nicht das, was jedes der beiden entgegenzusetzenden Glieder für sich ist, vorher dem Bewußtsein klar wäre. ... Niemals entspringt aus der Unterscheidung der Inhalt des Unterschiedenen." (10)
Nur schließen freilich die sprachlichen Benennungen "Rot, Blau" für unsere Empfindungsinhalte Relationen ein oder setzen sie zumindes voraus, indem sie eben zur Unterscheidung der einzelnen, dem Bewußtsein bereits von früher her bekannten Empfindungen voneinander eingeführt sind. Von den Empfindungen selbst aber ist keine ihrem Wesen nach auf andere angewiesen, es liegt in der Röte kein Hinweis auf die Bläue, im einen Ton kein Hinweis auf einen anderen, jeer kann seiner Natur nach für sich empfunden werden.

Nicht einmal in der Dissonanz liegt, wenn sie als reiner Empfindungsinhalt betrachtet wird, ein Hinweis auf die Konsonanz, im Semptim-Akkord ein solcher auf den Dreiklang. Das sogenannte Auflösungsbestreben eines dissonanten Akkordes ist nur für den vorhanden, der bereits konsonante Akkorde im Anschluß an jenen früher gehört und im Gedächtnis behalten hat; was im 2. Teil näher ausgeführt wird, sich aber schon daraus entnehmen läßt, daß unmusikalische, doch scharf hörende Personen von einer solchen Auflösungstendenz bei aller Aufmerksamkeit nichts bemerken. Ganz anders verhält es sich mit wirklichen Korrelativ-Vorstellungen, wie Ursache und Wirkung, Mündel und Vormund, nah und fern, rechts und links, größer und kleiner, deren eines Glied in der Tat nicht und von niemandem ohne das andere gedacht werden kann.

Empfindungsverhältnisse  haben wir beispielsweise in den Intervallen, zumindest hat man sie vor der Relativitätslehre als solche Verhältnisse angesehen. Künftig wird ein Intervall ein Verhältnis zwischen zwei Verhältnisse - und von Tönen selbst wird wohl gar nicht mehr die Rede sein. Bisher hielt man  C - D  und  c - d  für dasselbe Intervall, aber die Tonpaare selbst für verschieden. Wie dieser Unterschied künftig definiert werden soll, wissen die Götter.

Die Intensitäten sind wohl der Hauptanlaß des Mißverständnisses. Es kann vorkommen, daß einer sich in seinem Urteil über einen vorliegenden Stärkegrad nur durch die Differenz oder das Verhältnis desselben zum vorangehenden Eindruck bestimmen läßt. Natürlich wäre es aber auch hier absurd, zu sagen, daß er nur dieses Verhältnis  empfindet.  Es ist einfach eine Urteilstäuschung, die einem beschränkten Denkvermögen, insbesondere einem allzu kurzen Gedächtnis zu gute geschrieben werden muß (wie ja der Bornierte das Gegenwärtige stets nach seinem Gegensatz zum Jüngsvergangenen beurteilt), nicht einem allgemeinen Gesetz des Urteils, geschweige einem solchen der Empfindung. Dem besonnen Urteilenden erscheint ein  piano  nach einem  pianissimo  keineswegs als gleiche Tonstärke wie ein  fortissimo  nach einem  fort,  obschon der Stärkezuwachs der nämliche sein kann.  Wenn  es ihm aber so erschiene, so würde dies noch nicht beweisen, daß er in beiden Fällen die gleiche Empfindung hat, sondern zunächst nur, daß sein Urteil über absolute Intensitäten durch die Differenzen (bzw. Verhältnisse) der Empfindungen bestimmt wird.

d) "Die Empfindung ist nicht eine Funktion des Reizes, sondern der Reizänderung."
So ausgesprochen handelt also das Gesetz nicht vom Wesen oder Inhalt der Empfindung, sondern von ihren äußeren Bedingungen. Diese sollen korrekter als früher definiert werden. Konsequent müßte, wenn unter "Reiz" überhaupt auch weiterhin die äußere Ursache einer Empfindung verstanden sein soll, eben das, was bisher als Reizänderung bezeichnet wurde, künftig selbst als Reiz bezeichnet werden.

Nun besteht freilich jeder Reiz in einem Prozeß und insofern in einer Veränderung. Auch begreift sich, daß sich, damit ein Ton in der Empfindung  entsteht,  irgendetwas im vorangehenden Bestand der Reize verändern muß. Aber daß, damit die entstandene Empfindung  fortbesteht,  der entsprechende Prozeß selbst wieder eine Veränderung, beispielsweise die Wellenbewegung eine Änderung der Wellenlänge oder Amplitude erleiden muß, versteht sich weder von selbst noch ist es tatsächlich allgemein richtig. Die Höhe eines gehörten Tones bleibt dieselbe, solange die Wellenlänge des Reizes dieselbe bleibt, und umgekehrt. Abgesehen natürlich von abnormen Zuständen des Organes, sowie von minimalen Schwankungen, denen sowohl die Empfindungsqualität als auch die Wellenlänge  unabhängig  voneinander unterliegen (absolut Beharrliches gibt es eben nicht, auch nicht in kleinster Zeitspanne).

Der Satz kann also jedenfalls nicht so allgemein hingestellt werden. Er kommt wesentlich nur für die  Stärke  der Empfindungen in Betracht. Und hier ist soviel von Alters her bekannt, daß der Nerv bei gleichmäßiger Reizung ermüdet, daß also Reizverstärkung notwendig ist, wenn die Empfindung ihrer Stärke nach unverändert bleiben soll (11). Andererseits ist aber festgestellt, daß die Ermüdung nicht vom ersten Moment an beginnt, sondern zunächst umgekehrt ein Wachstum der Empfindungsstärke stattfindet. (12) So läßt sich also im Allgemeinen nur sagen, daß die jeweilige Stärke der Empfindung in einer sehr zusammengesetzten Weise abhängig ist vom äußeren Reiz und den Veränderungen der nervösen Substanz, welche selbst wieder teilweise mit jenem funktionell zusammenhängen, nämlich je nach der Stärke und der Dauer des Reizes verschieden, auch bald positiv bald negativ sind. (13) Aber man wird zugeben, daß dieses tatsächliche Verhalten nur sehr unverständlich als Abhängigkeit der Empfindung von einer Reizänderung bezeichnet würde.

Was die Ermüdung selbst betrifft, so ist nicht zu vergessen, daß die einzelnen Sinne sich darin graduell doch außerordentlich unterscheiden. Während Geruch, Geschmack und die Hauptempfindungen bekanntlich bei gleichmäßiger Einwirkung eines Reizes verhältnismäßig rasch abnehmen, könen wir einen Ton eine halbe Stunde lang hören, ohne daß er uns schwächer scheint als zu Anfang. Im ganzen musikalischen Gebrauch, in fast allen Fällen des Lebens ist die Abschwächung nahezu gleich Null. Ihr wirkliches Vorkommen ist zwar neuerdings durch Versuche nachgewiesen; doch bleicht es immer noch denkbar ja wahrscheinlich, daß sehr schwache Reize, wie sie eigentlich fortwährend im Ohr vorhanden sind, den Nerv gar nicht ermüden. Jedenfalls ist die Untersuchung dieser Unterschiede zunächst wichtiger und kann uns einer Erkenntnis des Grundes der Ermüdung näher bringen, während die Formulierung eines allgemeinen Gesetzes der Ermüdung nur den Schein einer Erkenntnis und dadurch ein Hindernis der wirklichen abgibt.

Von einer Schwächung der Empfindung sehr wohl zu unterscheiden ist schließlich das bloße Überhören, die unwillkürliche Abwendung der Aufmerksamkeit von einem gleichmäßigen Ton oder Geräusch, welches wir, wenn die Aufmerksamkeit wieder darauf hingelenkt wird, sogleich mit der früheren Stärke vernehmen, während von einer wirklichen Ermüdung das Organ nur langsam zur normalen Empfindlichkeit zurückkehrt. (14) DELBOEUF und andere werfen beides unbedenklich zusammen. Faktisch hat dieser (übrigens auch nicht erst entdeckte sondern schon von den Pythagoräern zur Erklärung der Nichtwahrnehmung der Sphärenharmonie betonte) Zug des Seelenlebens mit den Gesetzen der Empfindung als solcher nichts zu tun.

Alles zusammengenommen ist also kein Grund vorhanden, die alte Auffasung und Ausdrucksweise, wonach Empfindung durch den Eintritt eines Reizes  entsteht  und durch den Fortbestand desselben  besteht,  aufzugeben. Das Einzige, was derselben als Ergänzung, obschon auch nicht als gänzlich neue Lehre, hinzugefügt werden muß, ist dies: daß während der gleichmäßigen Dauer eines Reizes infolge der mehr oder weniger leicht veränderlichen Reizbarkeit des Nerven in den meisten Fällen Intensitätsveränderungen der Empfindung, teils in positivem teils negativem Sinn und in beiden Beziehungen graduell äußerst verschieden, stattfinden.

e) "Die Empfindung ist nach Qualität und Stärke nicht bloß abhängig vom Reiz, welcher eine Stelle des Organs trifft, sondern auch von der eben vorausgegangenen Reizung derselben Stelle und von der gleichzeitigen Reizung anderer Stellen desselben Organs." (15)
Man bemerkt leicht, daß dieser Satz vorzugsweise vom Gesichtssinn abstrahiert ist (16), von den Erscheinungen des sukzessiven und simultanen Kontrastes; und es ist wohl richtig, daß diese Erscheinungen nicht bloß unter besonderen Umständen, sondern beim Gesichtssin allgemein auftreten, nur je nach den Umständen in verschiedenem Grad. Das Gleiche mag bei einigen anderen Sinnen stattfinden. Aber beim Tonsinn zeigt sich ein Empfindungskontrast nur hinsichtlich der Intensität, nicht der Qualität der Empfindungen, und selbst in ersterer Beziehung liegt nur Einzelnes vor. Nach tiefer Stille wird derselbe Tonreiz stärker empfunden als nach einem vorangegangenen Lärm. Hauptsächlich scheint ein solcher Einfluß stattzufinden, wenn der nämliche Ton vorausging, also dieselbe Faser schon vorher gereizt war; einigermaßen aber auch, wenn der vorausgehende Reiz ein anderer, z. B. ein tieferer Ton, gewesen war. Und hieraus wäre zu schließen, daß auch bei gleichzeitiger Reizung einer anderen Faser ein solcher Einfluß stattfindet, daß also zwei gleichzeitige Töne sich gegenseitig in der Intensität Abbruch tun, wofür auch sonst manches spricht.

Aber es zeigt sich keinerlei Einfluß, weder eines vorangehenden noch gleichzeitigen Tones, auf die  Qualität  eines gegenwärtigen. Wenn dem Ton  c  einmal die tiefere, einmal die höhere Dominante vorausging, so wird er doch beidemale in gleicher Höhe empfunden; und dasselbe gilt, wenn abwechselnd einer der beiden Töne gleichzeitig mit ihm erklingt. Wenn man auch hier von Kontrast reden will, so kann damit lediglich eine Urteilstäuschung, nicht eine Modifikation der wirklichen Empfindung gemeint sein (17). Bloße Urteilstäuschungen kommen allerdings bei mangelnder Übung vor, aber man emanzipiert sich nicht allzu schwer davon und erkennt den Empfindungsinhalt, den Ton  c,  als den nämlichen. Wäre die Empfindung in Wahrheit verschieden je nach der vorausgehenden, so würde sie bei fortschreitender Übung auch immer besser als verschieden erkannt werden. -

Soviel also über dieses "Gesetz der Relativität", mit welchem an Dehnbarkeit kaum irgendein bürgerliches Gesetz wetteifern könnte. Ungefähr überall, wo in irgendeiner Weise Empfindungen und Veränderungen im Spiel sind, hat man von dieser "Relativität" gesprochen. Ob es nun eine Reizänderung ist, durch welche Empfindungen hervorgerufen oder nur in ihrer Stärke erhalten wird, oder ob es eine Empfindungsänderung ist, durch welche die Aufmerksamkeit hervorgerufen oder erhalten wird, ob durch eine solche Empfindungsänderung die unterscheidende und vergleichende Urteilstätigkeit angeregt wird usw. - das konnte einstweilen auf sich beruhen, hatte man doch ein Gesetz! Mögen die vorangehenden Erwägungen uns zur Entschuldigung dienen, wenn wir von der Wohltat des Gesetzes im Folgenden keinen Gebrauch machen. Die einzelnen diskutierten Tatsachen behalten dabei ihre Bedeutung und sind hinsichtlich des Tongebietes später näher ins Auge zu fassen. Inbesondere bleibt die  eine  unangefochten, welche noch am wenigsten (obgleich immer noch sehr) unpassend als Relativität der Empfindungen zu bezeichnen wäre: daß das Vorhandensein einer Empfindung im Bewußtsein fast ausnahmslos mit gewissen Urteilen über ihr Verhältnis zu anderen Vorstellungen verbunden ist. Und nicht minder bleibt unleugbar, daß diese Urteile, Auffassungen, Apperzeptionen den Inhalt der Empfindung, wenn nicht verändern, so doch mit einem anderen nicht empfundenen verwechseln können. Auf diesen Umstand, seine Gründe und Folgen, kommen näher sogleich zu sprechen.

LITERATUR: Carl Stumpf, Tonpsychologie, Bd. 1, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    1) Es kann aber auch statt eines Verhältnisses eine Vorstellung selbst affimiert [bejaht - wp] werden, wie im Existentialurteil und in der Wahrnehmung absoluter Sinnesinhalte. FRANZ BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, 1874, Kap. 7, führt diese Lehre mit überzeugender Klarheit gegenüber den herkömmlichen Ansichten vom Urteil durch.
    2) Wenn SIGWART, (Logik I, 1873, Seite 57f) das Benennungsurteil schlechthin als ein Einssetzen der gegenwärtigen Vorstellung und einer früher mit dem Wort verbundenen definiert, so hat er dabei wohl nur das in der Logik vorkommende Urteil im Auge, welches eben kein Gewohnheitsurteil ist.
    3) GUSTAV THEODOR FECHNER, In Sachen der Psychophysik (1877), Seite 113f, wo sich auch beachtenswerte kritische Bemerkungen darüber finden.
    4) HOBBES, der als Urheber der Relativitätslehre angesehen werden kann, hat mit seinem Satz: sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt [Immer dasselbe spüren und nichts spüren ist ein und dasselbe. - wp] (Elementa philosophica, pars IV, cap. 25, § 5) hauptsächlich nachher sub  d  angeführte Tatsachen im Auge. Ebenso ALEXANDER BAIN, der in allen seinen psychologischen Schriften (zuletzt 1874 in "Geist und Körper", Internationale wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 3, Seite 53) das Gesetz der Relativität in den Vordergrund stellt; doch spielen bei ihm auch andere Gedanken herein. WUNDT formulierte sein "allgemeines Gesetz der Beziehung" in der ersten Auflage der "Physiologischen Psychologie", 1874, Seite 421 dahin, "daß unsere Empfindung kein absolutes, sondern nur ein relatives Maß der äußeren Eindrücke gibt". In der zweiten Auflage, 1880, Bd. 1, Seite 351 drückt er es dahin aus, "daß wir in unserem Bewußtsein kein absolutes, sondern nur ein relatives Maß für die Intensität der in ihm vorhandenen Zustände besitzen, daß wir also je einen Zustand an einem andern messen, mit dem wir ihn zunächst zu vergleichen veranlaßt sind." Es sei dies das WEBERsche psychophysische Gesetz in einer psychologischen Bedeutung. Als einen speziellen Fall desselben betrachtet WUNDT die Kontrasterscheinungen, welche lehrten, "daß alle Lichteindrücke in Beziehung zueinander empfunden werden" (erste Auflage, Seite 419, zweite Auflage, Seite 458). Ich kann das alles nicht ganz unter sich in Einklang bringen. In dem Schriftchen von G. H. SCHNEIDER, Die Unterscheidung; Analyse, Entstehung und Entwicklung derselben bei den Tieren und beim Menschen usw. (1877) findet man im Gegensatz zum Thema nur das größte Durcheinander. Wenn AUBERT (Grundzüge der physiologischen Optik, 1876, Seite 483) sich ausdrückt: "Ein gleichmäßiger Ton, ein gleichmäßiger Druck ... wird gewiß immer empfunden, aber die Empfindung gelangt nur kurze Zeit in unser Bewußtsein. Wir empfinden also immer nur Lichtdifferenzen, ebenso wie wir nur Temperaturdifferenzen empfinden" - so kann ich nicht umhin, im Folgesatz statt einer Folgerung vielmehr das kontradiktorische Gegenteil des ersten Satzes zu erblicken. Auch PREYER sagt (Elemente der reinen Empfindungslehre, 1877, Seite 19) mehr kurz als eindeutig: "Empfunden wird nur die Veränderung". ALOIS RIEHL (Der philosophische Kritizismus, Bd. II, 1879, Seite 39f) drückt die Lehre so aus: "Was wir bewußt empfinden, ist die Differenz, das Verhältnis je zweier Erregungen, welche erst durch ihr Zusammenwirken als Produkt die Empfindung ergeben. Wir haben immer nur Empfindungen durch Empfindungen, bewußte Empfindungen durch eine unbewußte Erregung" (wie hängt das aber zusammen?) "gleichwie wir als Ergebnis von Urteilsakten Vorstellungen durch Vorstellungen haben." RIEHL leitet hieraus die Koinzidenz der Empfindungs- und Urteilstätigkeit ab, sowie die Lokalisation der Empfindungen, ihre Objektivierung, ihre Prädikation von einem Subjekt, den Begriff des Seins und der absoluten Position. Auch das WEBERsche Gesetz wird subsumiert wie folgt: "Der Satz, daß die Empfidung das Bewußtwerden des Unterschiedes zweier Erregungen ist, gilt, wie E. H. WEBER zeigte, auch von der Empfindung des Unterschiedes, um welchen zwei Empfindungen differieren." Man setze die im ersten Teil dieses Satzes gegebene Definition der Empfindung jedesmal im zweiten Teil ein und versuche dann das Ganze zu verstehen. - Was schließlich HERBERT SPENCER unter Relativität der Empfindung versteht (Die Prinzipien der Psychologie, übersetzt von B. VETTER, Bd. 1, 1882, Seite 202f; der Übersetzer sagt, um die Konfusion zu vermehren, statt Empfindungen beharrlich Gefühle) ist die überhaupt nicht in die Psychologie gehörige, darum hier weiter nicht zu berücksichtende metaphysische Lehre von der Unähnlichkeit unserer Empfindungen mit den Dingen-ansich.
    5) SCHAARSCHMIDTs "Philosophische Monatshefte", 1880, Seite 425: "Ein absolut Erstes können wir nicht erreichen."
    6) Genauer zugesehen würde sich vielleicht ergeben, daß der Anfänge sogar unzählige sind, daß die Reihe der Sinnesempfindungen nicht vom Beginn bis zum Ende des Lebens ununterbrochen fortläuft, sondern durch Zustände völliger Empfindungslosigkeit unterbrochen ist; doch ist es nicht ganz leicht zu entscheiden, ob der Schlaf, der hier zunächst in Betracht käme, auch nur in  einem  Moment als ein solcher ganz empfindungsloser Zustand zu fassen ist. Wenn dies zu bejahen wäre, so würde man die Relativitätslehre nicht etwa durch den Hinweis retten, daß die auf die Bewußtlosigkeit folgende erste Empfindung soft andere reproduziert, mit denen sie dann verglichen wird: denn andere reproduzieren kann sie doch nur, nachdem sie selbst bereits da ist und sie könnte nach der Relativitätslehre gar nicht da sein ohne schon vom ersten Moment ihres Daseins an auf andere bezogen zu werden.
    7) HERMANN ULRICI, Leib und Seele, 1866
    8) vgl. BRENTANO, Psychologie, Seite 131f
    9) So BENEKE, der das erstere als "Bewußtheit" bezeichnet. (Lehrbuch der Psychologie, § 87- Vgl. ÜBERHORST, Entstehung der Gesichtswahrnehmung, 1876, Seite 14.
    10) HERMANN LOTZE, Logik, 1874, Seite 26
    11) Man könnte versucht sein, mit HORWICZ (Psychologische Analysen I, 1872, Seite 360) die Abstumpfung nur auf das Gefühl der Lust und Unlust zu beziehen, welches an die Empfindungen geknüpft ist. Diese Annahme scheint mir jedoch insofern nicht richtig, als die Gefühle eben  mit  den Empfindungen abnehmen. Bei Geruch und Geschmack ist die Abschwächung des Lust- oder Unlustgefühls darum so auffallend, weil die Gefühle bei diesen Sinnen von vornherein eine verhältnismäßig große Intensität besitzen.
    12) Seit ADOLF FICK 1863 darauf aufmerksam machte, ist dieses "Anklingen" der Empfindung mehrfach untersucht worden. EXNER zeigte, daß bei stärkeren Reizen die Empfindungen schneller ihr Maximum erreichen als bei schwächeren. Bei einer bestimmten Reizstärke waren für das Auge O,2 Sekunden erforderlich. Die Empfindung wächst zuerst rascher, dann langsamer (Berichte der Wiener Akademie 1858). KUNKEL fand für verschiedene Farben eine verschiedene Wachstumsdauer, die kürzeste für rot, dann blau, grün. Auch nach KUNKEL wächst die stärkere Empfindung schneller als die schwächere (Pflügers Archiv 1874, Bd. IX, Seite 197f. Eine spätere Arbeit führte KUNKEL geradezu zu dem Satz, daß während dieser Anfangszeit die Empfindung dem Produkt aus der Stärke und Dauer des Reizes proportional ist (Pflügers Archiv, XV, Seite 27f). Für Töne ermittelte EXNER, daß die Empfindung des  c  während ungefähr 48, die des  C  während ungefähr 44 Schwingungen merklich zunahm (Pflügers Archiv, 1876, XIII, Seite 234). Da die Schwingungen des  C  doppelt so lange dauern als die des  c,  so ist die Dauer des Empfindungswachstums hiernach bei tieferen Tönen größer. Nach URBANTSCHITSCH dauert bei schwachen Schallreizen die Zunahme 1-2 Sekunden, doch gibt es auch beträchtliche individuelle Unterschiede (Pflügers Archiv, 1881, XXV, Seite 323f). Eine bedeutende Verstärkung scheint mir beim indirekten Sehen eines hellen Lichteindrucks einzutreten, wie auch die nachfolgende Ermüdung seitlicher Netzhautteile schneller und in größerem Maß Platz greift.
    13) Bekanntlich nimmt die Netzhautempfindlichkeit im dunklen Raum zu; nach AUBERTs Messungen zuerst rasch dann langsamer, in 10 Minuten um etwa das 25-fache, in 2 Stunden um etwa das 35-fache (Physiologie der Netzhaut, 1864, Seite 25f; Grundzüge der physiologischen Optik, 1876, Seite 483f). Derartige Veränderungen der Empfindlichkeit im positiven Sinn finden aber sicherlich auch während der Einwirkung eines Reizes statt und wirken der Ermüdung entgegen, die Beobachtungen über das Auftauchen und Verschwinden der Empfindung bei schwachen Licht- und Schallreizen bieten tatsächliche Belege. Den im Grunde nichtssagenden aber eben darum augenblicklich so brauchbaren Namen  Adaptation,  welchen AUBERT für Veränderungen der Netzhautempfindlichkeit bei gleichmäßiger Einwirkung (bzw. Ausschluß) äußerer Reize einführte, hat HERING sowohl für Farben- als auch für Temperaturempfindungen angenommen, "weil er nichts präjudiziert und nicht sogleich den Versuch einer einseitigen Erklärung enthält." Es kann eine Veränderung der Empfindlichkeit in positiver aber auch in negativer Richtung stattfinden, ja in beiden zugleich (Zur Lehre vom Lichtsinn, Bericht der Wiener Akademie, 1872, Separatdruck, Seite 133; Grundzüge einer Theorie des Temperatursinns, Berichte der Wiener Akademie, 1877, Separatdruck, Seite 19. - - - Was soll uns also ein "Gesetz der Ermüdung", wie es z. B. DELBOEUF als erstes seiner drei allgemeinen Empfindungsgesetze aufstellt? Die Tatsachen sind nicht so einfach wie dieses Gesetz sie haben will. Deduzieren aber lassen sich die Nerven noch weniger. Es ist nicht ohne Interesse, daß in LOTZEs "Allgemeiner Physiologie des körperlichen Lebens", Seite 406, gerade die  Zunahme  der Empfindung bei dauerndem Reiz als das apriori verständerlichere Verhalten dargestellt wird (vgl. auch "Medizinische Psychologie", Seite 223). FICK bemerkt neuerdings mit Recht, daß apriori ebensowohl das eine wie das andere denkbar und daß ansich auch die Konstanz der Empfindung nicht ganz undenkbar wäre, wenn nämlich einmal die Ernährung mit der Zerstörung des Nerven durch den Reiz gleichen Schritt hielte (HERMANNs  Handbuch  III, 1. Seite 222).
    14) Näheres über die hier berührten Erscheinungen bezüglich Tonstärke und Aufmerksamkeit in § 15.
    15) Es könnte scheinen, als sei dieser Satz zumindest insoweit als er die Abhängigkeit vom vorangehenden Reiz behauptet, bereits in  d)  ausgesprochen. Indessen kann  d)  falsch und gleichwohl  e)  richtig sein. Wenn es falsch ist, daß eine Empfindung nur bei fortwährend verändertem Reiz unverändert bestehen kann, so läßt sich doch immer noch denken, daß der vorangehende Reiz Dank der Trägheit des Organs einen, wenn auch zeitlich begrenzten, Einfluß auf die folgende Empfindung übt. Auch könnte umgekehrt  e)  falsch sein und doch  d)  richtig. Nur insofern hängen beide Sätze zusammen, als, wenn  e)  richtig, auch  d)  zum Teil richtig ist; indem dann die Stärke und Qualität einer Empfindung bedingt ist durch das Zusammenwirken des gegenwärtigen Reizes mit den Nachwirkungen des vorangehenden und, da die letzteren notwendig mit der Zeit schwächer werden, auch die Empfindung während eines gleichmäßig andauernden Reizes schwächer und zugleich qualitativ alteriert werden muß. Aber nach dem Aufhören jener Nachwirkungen fällt auch diese Alteration weg. Und so würde sich  d)  doch nicht aus  e)  ableiten lassen.
    16) In Bezug auf diesen sagt z. B. WUNDT: "Wir empfinden einen Reiz zunächst nach seinem Verhältnis zu anderen Reizen, die gleichzeitig einwirken, dann aber auch nach seinem Verhältnis zu anderen Reizen, die früher eingewirkt haben" (I, 458); subsumiert aber den Satz unter das allgemeine WEBERsche Gesetz und damit unter das "allgemeine Gesetz der Beziehung" (vgl. oben).
    17) Anders scheint PREYER zu denken (Elemente der reinen Empfindungslehre, Seite 57): "Grün wird durch Rot gehoben und zugleich das Rot durch das Grün vertieft. Ein hoher Ton wird durch einen tiefen gehoben und dabei letzterer zugleich entschiedener als tief empfunden, wie man leicht bei der Verwendung gleichstarker Töne bemerkt." Was heißt: "entschiedener als tief empfunden"? tiefer empfunden? dann würde die Analogie mit dem Farbenkontrast zutreffen; aber jenes ist ja tatsächlich unrichtig. Richtig ist höchsten, daß Töne zuweilen als tiefer taxiert (falsch benannt) werden, wenn kurz vorher oder gleichzeitig ein höherer angesehen wurde. Vgl. § 23. Aber wie sollte die Musik bestehen, wenn durch die Hinzufügung eines höheren Tones der zuerst angegebene wirklich herunter ginge!