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WILHELM JERUSALEM
Der kritische Idealismus
und die reine Logik

[Schlußbetrachtung]
[4/4]

"Die reine Logik muß es ablehnen, nach der Herkunft der logischen Gesetze zu forschen, sondern muß sich mit der dogmatischen Dekretierung dieser Sätze zufrieden geben."

"Es darf z. B. nicht als Metaphysik bezeichnet werden, wenn man die unabhängige, extramentale Existenz der Außenwelt behauptet. Diese Behauptung bleibt durchaus innerhalb der Grenzen der allgemeinen und bewährten Erfahrung. Sie ist ein Resultat der Erkenntniskritik und keineswegs eine metaphysische Annahme."

1. Aufgrund einer biologischen und psychologischen Erkenntnistheorie und mit Hilfe einer am tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb orientierten Logik sind wir in der Lage, das menschliche Erkennen als Lebensvorgang zu verstehen und in den Ursprung und in die Entwicklung desselben Einsicht zu gewinnen. Zur Vollendung der Arbeit, welche Erkenntnistheorie und Logik in diesem Sinn zu leisten haben, fehlt noch viel, ja wir sind eigentlich erst am Anfang dieser Arbeit angelangt. Aber schon die Fragestellung, schon die Absteckung des Ziels leistet für die Wissenschaft vom menschlichen Erkennen mehr, als die Immanenzphilosophie und die reine Logik bisher vermocht haben. Die Immanenzphilosophie breitet über das psychische und über das physische Geschehen den Schleier des "Bewußtseins", einen Schleier, der einerseits so durchsichtig sein soll, daß die Unterschiede des von ihm Bedeckten ebenso deutlich hervortreten, als wenn der Schleier gar nicht da wäre, andererseits so undurchdringlich, daß er uns das Wesen der hinter ihm verborgenen Vorgänge vollständig verhüllt und sogar ihre Existenz in Frage stellt. Die reine Logik wiederum sieht im Denken ein Erzeugen und glaubt durch a priori gefundene Gesetze dem Weltlauf die Regel vorschreiben zu können. Die Immanenzphilosophie ist teils harmlos und überflüssig, teils unverständlich und widerspruchsvoll, die reine Logik hingegen selbstherrlich und selbstschöpferisch ohne innere Kraft und anspruchsvoll ohne innere Berechtigung. Beide Auffassungsweisen aber leiden an dem gemeinsamen Fehler, daß sie Probleme verdecken. Die Immanenzphilosophie verbietet die Frage nach der Entwicklung des Bewußtseins und gestattet nicht, zu untersuchen, welche Stellung das Bewußtsein im kosmischen Geschehen einnimmt. Die reine Logik muß es ablehnen, nach der Provenienz [Herkunft - wp] der logischen Gesetze zu forschen, sondern muß sich mit der dogmatischen Dekretierung dieser Sätze zufrieden geben.

2. In der Bekämpfung des kritischen Idealismus stehe ich auf demselben Standpunkt, den ALOIS RIEHL mit soviel Kraft und Geist verteidigt hat. Von seinem großen Werk über den Kritizismus steht, wie jüngst angekündigt wurde, eine neue Auflage bevor, und diese erfreuliche Tatsache läßt mich hoffen, daß endlich der gesunde Menschenverstand doch auch in der Philosophie zu seinem Recht kommen wird.

"Das Sein der Außenwelt ist die Voraussetzung ihres Wahrgenommenwerden." Dieser Satz, mit dem RIEHL seine Widerlegung des Idealismus abschließt (Philosophischer Kritizismus II, 2, 176), wird sich hoffentlich Anerkennung erzwingen. Wenn ich mich aber frage, warum RIEHLs schon so lange veröffentlichte Argumentation das Aufkommen der Immanenzphilosophie und der reinen Logik nicht zu verhindern imstande war, so dürfte der Grund - abgesehen davon, daß Argumente in der modernen Philosophie überhaupt wenig wirken - darin zu suchen sein, daß RIEHL zu wenig behauptet. Er beschränkt sich darauf, die Existenz der Außenwelt zu verteidigen, während er die Relativität der Erkenntnis, soweit die Beschaffenheit in Betracht kommt, ohne weiteres zugibt. Unsere Urteile aber, die auf allgemeiner und bewährter Erfahrung beruhen, sagen mehr aus als die bloße Existenz der Dinge, sie konstatieren auch Beschaffenheiten. Diesen konstatierten Beschaffenheiten müssen auch reale, wirkliche Beschaffenheiten entsprechen, nämlich so, daß wir aus Veränderungen des Urteils auch auf Veränderungen in den beurteilten Vorgängen schließen dürfen. Kurz, die Dinge sind zwar nicht nur so, wie wir sie beurteilen, aber sie sind auch so.

Meine Argumentation unterscheidet sich also von der RIEHLs hauptsächlich dadurch, daß ich auf die objektivierende Funktion des Urteilsaktes das Hauptgewicht lege. Auch das biologische Moment betone ich stärker, wiewohl dasselbe auch bei RIEHL keineswegs vernachlässigt ist. RIEHL gibt auch zu, daß unseren Erkenntnissen ein gewisses Maß an Anthropomorphismus anhaftet (a. a. O. II, 2, 319), allein er läßt das a priori in weit größerem Umfang gelten als ich. Eine Auseinandersetzung mit RIEHLs Erkenntnistheorie liegt jedoch außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung, die es vor allem mit Gegnern des kritischen Realismus zu tun hat. Vielleicht gibt mir übrigens die Neuauflage von RIEHLs Werk Gelegenheit, zu seiner Auffassung Stellung zu nehmen.

3. Die Immanenzphilosophie und die reine Logik verfehlen es, so sagte ich oben, darin, daß sie Probleme verdecken. Demgegenüber darf die psychologische Betrachtung des Erkenntnisprozesses darauf hinweisen, daß sie zu immer neuen und immer weitergehenden Problemen führt. Kaum haben wir den Erkenntnistrieb durch einen Hinweis auf seinen biologischen Ursprung verständlicher gemacht, so erhebt sich die Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung des rein theoretischen Erkennens. Durch die Einführung des Begriffs der Funktionsbedürfnisse ist auch in diese Entwicklung ein wenig Klarheit gebracht. Allein sofort bemerken wir wieder, daß hier das Zusammenarbeiten der Menschen, der soziale Faktor eine große Rolle spielt, und es erheben sich neue Fragen, es entstehen neue Probele, deren Lösung eindringliche, umfassenden Untersuchungen erfordern, aber auch eine bedeutsame Aufklärung verspricht. Ein Forschungsprinzip aber, welches Probleme löst und Probleme schafft, ist sicherlich einem solchen vorzuziehen, das Probleme verdeckt. Deshalb scheint es mir eine wissenschaftliche Pflicht zu sein, das menschliche Erkennen auf psychologischem Weg weiter zu untersuchen.

Eines aber dürfen wir Psychologisten dabei nicht vergessen. Zu den letzten Gründen des Seins und Geschehens können wir auf unserem Weg niemals vordringen. Wir setzen bei unseren Untersuchungen den Menschen mit seiner zentralisierten Organisation als ein gesellig lebendes Wesen voraus, das mit seiner Umgebung, deren unabhängige Existenz für uns ebenfalls keinem Zweifel unterliegt, in fortwährender Wechselbeziehung steht. Diese Wechselbeziehungen sind für uns sowohl die Bedingung als auch der Inhalt der Erfahrung.

Indem wir es unternehmen, den objektiven Faktor der Erfahrung vom subjektiven zu sondern und zugleich die gegenseitige Durchdringung beider nach psychologischen, nach biologischen und soziologischen Gesichtspunkten im Einzelnen aufzuklären, bleiben wir auf dem Standpunkt der allgemeinen und bewährten Erfahrung. Diesen Standpunkt möchte ich als methodologischen Dualismus bezeichnen. Dieser ist noch keineswegs ein metaphysischer Dualismus. Über die letzten Gründe und über die letzten Bestandteile gebe ich damit noch kein Urteil ab.

4. Diesen methodologischen Dualismus suchen in neuester Zeit AVENARIUS und MACH durch eine methodologischen (nicht metaphysischen) Monismus zu ersetzen. Ich habe diese von MACH in besonders tiefgründiger Weise ausgebildete Methode als "Monismus des Geschehens" bezeichnet (Einleitung in die Philosophie, zweite Auflage, Seite 126f). MACH eliminiert aus der Betrachtung der physischen Vorgänge den Substanzbegriff und betrachtet nur das Ereignisartige an ihnen, wie dies WUNDT für die psychischen Vorgänge als die einzig entsprechende Betrachtungsweise verlangt hat. Das Universum wird dadurch allerdings nur aus methodologischen Motiven, gleichsam substratlos gemacht. Dieses Geschehen läßt sich dann in Elementarvorgänge zerlegen, zwischen denen funktionale Abhängigkeitsbeziehungen bestehen. Diese festzustellen, ökonomisch zu ordnen und womöglich auf mathematische Formeln zu bringen, wäre dann die Aufgabe der Wissenschaft. Dieser hohe Standpunkt mag vielleicht das Ziel bezeichnen, dem eine streng empirische Forschung zustrebt. Die so ausgestaltete Wissenschaft wäre dann das, was HERBERT SPENCER als die Aufgabe der Philosophie bezeichnet, nämlich eine vollkommen vereinheitlichte Erkenntnis. Ich sage vielleicht, denn vorläufig stehen der Durchführung dieser strengen Vereinheitlichung des Wissens noch große Schwierigkeiten im Weg.

Eine funktionale Abhängigkeit konnte bis jetzt nur bei Größenbegriffen mit Erfolg als Denkmittel angewendet werden. Um nun diesen Begriff an die Stelle des bisher verwendeten Kausalitätsbegriffs treten zu lassen, müßte er dahin erweitert werden, daß man ihn auch für qualitative Änderungen brauchen kann. Eine solche Erweiterung scheint mir nun keineswegs unmöglich, allein sie ist jedenfalls mit großen Schwierigkeiten verbunden und ist derzeit noch nicht durchgeführt. Eine weitere Schwierigkeit, auf die eine so strenge Vereinheitlichung stößt, ist die, daß das für das physische Geschehen so bedeutsame und fruchtbringende Prinzip der Erhaltung der Energie seinen ganzen Sinn verliert, wenn man dasselbe auf das psychische Geschehen anwendet. Das psychische Geschehen zeigt vielmehr, wenn man die historische und namentlich die soziale Entwicklung der Menschheit unbefangen betrachtet, eine entschiedene Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit. Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat sicher die geistige Arbeitsfähigkeit der ganzen Menschheit in einem kaum abschätzbaren Maß erhöht. WUNDT hat dies deutlich ausgesprochen, indem er für das psychische Geschehen das Prinzip wachsender geistiger Energie (Ethik II, 72) oder das Prinzip der "schöpferischen Resultanten" (Physiologische Psychologie III, 778f) aufstellt. Dazu kommt noch, daß wir für die Produkte des menschlichen Zusammenwirkens, für die Sprache, die Religion, die Sitte, das Recht, ein physiologisches Korrelat, das uns ebenfalls eine Gesamtleistung darstellen könnte, kaum zu denken, geschweige denn irgendwie nachzuweisen vermögen (vgl. meine "Einleitung in die Philosophie"; zweite Auflage, Seite 209) (1).

Es wird demnach vorläufig und voraussichtlich auf lange Zeit hinaus nichts anderes übrig bleiben, als die Gebiete des Physischen und des Psychischen gesondert zu betrachten und so an dem durch die bisherige allgemeine und bewährte Erfahrung hervorgebrachten methodologischen Dualismus festzuhalten. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Beziehungen zwischen den zwei im menschlichen Organismus gemeinsam auftretenden Arten des Geschehens immer genauer erforscht werden. Im Gegenteil, je weiter man darin kommt, desto mehr nähern wir uns dem MACHschen Ideal.

5. Aber solange wir auf diesem methodologischen Standpunkt stehen bleiben, mag dieser Standpunkt nun dualistisch oder monistisch sein, solange erreichen wir den von unserer zentralisierten Organisation verlangten Abschluß in unserem Denken niemals. Über das Verhältnis des Psychischen zum Physischen und umgekehrt bleiben wir ebenso im Dunkeln wie über den letzten Grund der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens. Diese Unfertigkeit der auf methodologischem Weg zu gewinnenden Weltanschauung hat niemand klarer eingesehen, niemand deutlicher ausgesprochen als MACH selbst.
    "Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewußtsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforscher besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen." (Mechanik, fünfte Auflage, Seite 505).
Es ist aber nicht jedermanns Sache, diese höchste Philosophie des Naturforschers sich zu eigen zu machen. Nicht jeder bringt die Resignation auf, die dazu gehört. Es liegt vielmehr in unserer zentralisierten Organisation ein Bedürfnis nach Einheit und nach Abschluß. Dieses Bedürfnis wird für die Teilvorgänge des Universums durch die Form des Urteils befriedigt. Hier ist Einheit in die Mannigfaltigkeit gebracht, hier ist das immer weiter um sich greifende Assoziationsspiel für einen Moment gehemmt und abgeschnitten. Was wir im Urteil an Teilvorgängen vollziehen, das wollen wir auch am Weltganzen versuchen, wenn unser intellektuelles Funktionsbedürfnis hinreichend entwickelt ist. Darum bedarf die psychologische Erkenntnistheorie einer metaphysischen Ergänzung.

Diese Ergänzung aber muß, das sollte uns KANT lehren, scharf und streng von dem geschieden werden, was wir aufgrund allgemeiner und bewährter Erfahrung behaupten dürfen. Wir müssen genau wissen, daß wir die Erfahrung überschreiten, und müssen uns klar darüber werden, von welchem Punkt an dieses Überschreiten beginnt. Es darf z. B. nicht als Metaphysik bezeichnet werden, wenn man die unabhängige, extramentale Existenz der Außenwelt behauptet. Diese Behauptung bleibt durchaus innerhalb der Grenzen der allgemeinen und bewährten Erfahrung. Sie ist, wie die vorangegangenen kritischen Erörterungen zu zeigen unternahmen, ein Resultat der Erkenntniskritik und keineswegs eine metaphysische Annahme.

Die Metaphysik beginnt erst dort, wo wir den der Erfahrung unzugänglichen letzten Grund des Seins und Geschehens zu bestimmen unternehmen. Diese Bestimmung darf aber nur dann als wissenschaftliche Untersuchung gelten, wenn die Denkarbeit, die dabei geleistet wird, aufgrund der allgemeinen und bewährten Erfahrung unternommen und nach den Methoden ausgeführt wird, die ihre Leistungsfähigkeit in den positiven Wissenschaften bereits bekundet haben. In diesem Sinne hat auch KANT das Überschreiten der Erfahrung gestattet.

6. Das Bedürfnis aber nach einer metaphysischen Ergänzung der Erfahrung ist durch die Entwicklung des theoretischen Denkens geschaffen worden. Unsere zentralisierte Organisation verlangt nach Einheit und nach Abschluß. Nicht die ethischen Forderungen und nicht das religiöse Gefühl sind, wie dies in neuerer Zeit so oft behauptet wurde, die zureichenden Gründe für metaphysische Aufstellungen. Die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins läßt sich aus psychologischen und aus soziologischen Tatsachen verstehen, und die vergleichende Religionsgeschichte hat uns in den Ursprung und in die Entfaltung der religiösen Vorstellungen Einsicht gestattet. Ich kann also nicht zugeben, daß die praktische Vernunft eine Metaphysik zu konstruieren und zu gewährleisten berufen ist. Sittlichkeit und Religion finden in einer ausgebildeten Individual- und Sozialpsychologie ihre ausreichende Erklärung. Sie sind Produkte des Zusammenwirkens der Menschen, Produkte, die aus Elementen entstehen, die wir auch sonst wirksam finden.

Dagegen bleibt die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt, wie sie ist, immer nur Stückwerk, und um aus diesem Stückwerk ein Ganzes zu gestalten, müssen wir über die Schranken der Erfahrung hinaus. Ein transzendentes Sollen, wie es RICKERT annimmt, scheint mir eine Aufstellung, die in unserer Natur nicht begründet ist und die überdies unser Bedürfnis nach Einheit und Abschluß nicht befriedigt. Dagegen verlangt die theoretische Vernunft ein transzendentes Sein und ein transzendentes Geschehen, in dem wir den zureichenden Grund für das in der Erfahrung Gegebene finden können.

Betrachten wir nun das Universum mit MACH als eine Summe von Ereignissen, die untereinander in den mannigfachsten funktionalen Abhängigkeitsbeziehungen stehen, dann erscheint uns das Weltgeschehen als Kraftäußerung, als Prädikat. Vermöge der fundamentalen Apperzeption sind wir nun geradezu gezwungen, nach dem dazugehörigen Kraftzentrum, nach einem Subjekt zu fragen. Nehmen wir nun einen göttlichen Intellekt und einen göttlichen Willen an, von dem das Universum ins Dasein gerufen wurde, so erhält unsere Weltanschauung einen Abschluß und zugleich die verlangte Einheitlichkeit. Von einem solchen Urwesen können wir niemals ein Wissen erlangen, vermögen aber an seine Existenz zu glauben. Dies vermögen wir deshalb, weil der Glaube nichts anderes ist als das Gefühl der Übereinstimmung eines Urteils mit unseren Erfahrungen. Die Annahme eines göttlichen Urwesens steht aber mit keiner allgemeinen und bewährten Erfahrung im Widerspruch. Dies ist freilich nur dann der Fall, wenn dieses göttliche Urwesen die Gesetze, die es gegeben hat, selbst nicht überschreitet. Zu einem erneuten Eingreifen in den Weltlauf ist aber für einen wahrhaft göttlichen Intellekt und göttlichen Willen kein Anlaß gegeben. Denn es wäre ja, wie SENECA so schön sagt, "diminutio majestatis et confessio erroris mutanda fecisse" [Herabwürdigung der Erhabenheit und Geständnis von Fehlbarkeit - wp]. Die Gesetze des göttlichen Urwesens zu erforschen, ist dann die Aufgabe der Wissenschaft, zu der unter den Erdgeschöpfen dem Menschen allein die Anlage und der Antrieb verliehen wurde.

Inwiefern diese von mir als Postulat des theoretischen Denkens betrachtete metaphysische Ergänzung der Erfahrung auch für Ethik und Religionsphilosophie verwertet werden kann, das zu erörtern liegt außerhalb des Rahmens dieser Schrift. Mir war es nur ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, daß die psychologische Erkenntnistheorie nicht der Aufklärung durch einen Apriorismus, sondern daß sie der Ergänzung durch Metaphysik bedarf.

7. Diese Metaphysik muß aber als bewußte Transzendenz, als vollkommen beabsichtigte Überschreitung der Erfahrung auftreten. Sie muß eine - ich möchte sagen - ehrliche Metaphysik sein, die nicht für ein Wissen ausgibt, was immer nur Gegenstand des Glaubens sein kann. Dieser Glaube kann aber ebenso wissenschaftlich begründet werden, wie etwa eine Hypothese in der Physik. Der Wert einer solchen metaphysischen Hypothese hängt davon ab, ob sie die Erscheinungen erklärt. Eine solche Hypothese kann immer nur geglaubt werden und dieser Glaube kann immer nur darauf beruhen, daß das Urteil, welches die Metaphysik für wahr zu halten empfiehlt, mit der allgemeinen und bewährten Erfahrung nicht im Widerspruch steht. Wenn überdies durch eine nach wissenschaftlicher Methode hergestellte Metaphysik Gemütsbedürfnisse befriedigt werden, so wird dies den Glauben an diese Metaphysik verstärken und zugleich dieser Metaphysik einen durchaus nicht gering zu veranschlagenden biologischen Wert verleihen.

Damit aber kehre ich zum Ausgangspunkt meiner Untersuchungen zurück. Es gibt kein drittes Reich, das zwischen dem psychologisch, d. h. naturgesetzlich Bedingten und dem Absoluten in der Mitte steht. Das menschliche Erkennen muß psychologisch und soziologisch untersucht und mit dem übrigen Geschehen in der Welt in Zusammenhang gebracht werden. Die Methoden und die Ergebnisse dieser Untersuchung müssen aber auch dazu verwendet werden, um das Stückwerk der Wissenschaft zu einem Ganzen der Philosophie zusammenzuschauen und zusammenzufassen.

Die Erkenntniskritik hat ihre Aufgabe erfüllt, indem sie auf den subjektiven Faktor in unseren Erkenntnisinhalten hinwies und dadurch eine psychologische Erkenntnistheorie möglich und notwendig machte. Wenn die Erkenntniskritik aber so weit geht, den objektiven Faktor aus unseren Erkenntnisinhalten zu eliminieren, dann führt sie zur Vereinsamung des Denkens und entfremdet die Philosophie der Wissenschaft ebenso wie dem Leben. Damit aber nimmt sie der Philosophie das Beste, was sie zu bieten hat und entzieht sie ihrer wahren Bestimmung, die darin besteht, Wissenschaft und Leben zu befruchten und zu vertiefen.
LITERATUR - Wilhelm Jerusalem, Der kritische Idealismus und die reine Logik, Wien und Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) Ein interessanter Versuch, die historische oder richtiger die soziologische Entwicklung der Menschheit mit möglichster Eliminierung des psychischen Faktors nach rein biologischen Prinzipien darzustellen, ist jüngst von Ludo Moritz Hartmann gemacht worden. Seine Schrift ("Über historische Entwicklung", sechs Vorträge zur Einführung in die historische Soziologie, Gotha 1905) enthält sehr viel Anregendes und wirkt eben durch ihre starke Einseitigkeit. Die Eliminierung des Psychischen ist aber dem Verfasser selbst nicht vollständig gelungen. Außerdem wird Hartmann den Resultaten, die erst durch das Zusammenwirken möglich werden, nicht ganz gerecht, indem er in der organisierten Gruppe doch wieder nur die einzelnen Individuen als das Reale betrachtet und nicht zugeben will, daß eine soziale Organisation mehr ist als die Summe ihre Mitglieder.