ra-3Das UngegebeneDubois-ReymondR. HamerlingM. VerwornH. Spencer    
 
EMANUEL LASKER
Die Philosophie
des Unvollendbar


"Hat unsere Philosophie uns Vertrauen in die Welt geschenkt? Alle geschichtlich gewordene Gläubigkeit wankt. Hat unsere Philosophie uns die Wissenschaften fest erbaut? Das Fundament all unserer Wissenschaft ist vulkanisch: in Geschichte, Psychologie, Biologie, Physik - Chemie herrscht Streit über die Grundlagen - die Krankheit der Paradoxie hat sogar die strenge Mathematik befallen -, keine einzige Frage ist geklärt; überall Kampf und Zweifel. - Und schließlich hat die alte Philosophie es zumindest vermocht, uns eine glückliche, arbeitsfrohe Stimmung zu schenken? - Man schaue sich um: es klagen und spotten die Dichtungen; das Streben, welches schaffen und erhalten soll, zielt schamlos auf Zerstörung. - Wahrlich, die Arbeit, welche die Philosophie für die Menschheit zu leisten hat, ist noch ungetan."


V o r w o r t

Die alte Philosophie hat versagt, und wir bedürfen auf das Nötigste einer Neuen.

Zu dieser Behauptung mich zu bekennen, bin ich gezwungen, wiewohl ich vor den schöpferischen Philosophen Ehrfurcht fühle. Ohne sie wäre der Mensch noch in der Barbarei. Sie haben Wissenschaft und Kultur gebracht, den Tiefblick in das Geheimnis des Seienden geschärft. Ihre Gedanken haben unsere Besten, Forscher, Künstler, Männer der Tat, durchschauert und befruchtet. Im einzelnen aufzuweisen, was sie geleistet haben, überstiege die menschliche Kraft.

Aber wir erleben jetzt einen großen Wandel, wir wenden uns um Rat, Hilfe und Besinnung an die Philosophie: und nun versagt sie uns.

Dieses will ich nunmehr belegen.

Philosophie, die ihren Namen von der Weisheit zieht, unterscheidet sich von Wissenschaft, Kunst und Technik, die auf Scharfsinn, Phantasie und Geschicklichkeit beruhen, durch ihr Ziel: diese befassen sich mit einzelnen, bestimmten, besonderen, umgrenzten Gegenständen, der Gegenstand jener ist das All. Der Raum mit den Körpern darin: Kosmos, Weltenstoff; die Zeit, die von Ereignissen erfüllt ist: Ethos, Kampf, Geschichte; das Denken mit seinen Beziehungen: Logos, System der Erkenntnis; all dies ohne Einschränkung ist Gegenstand der Philosophie. Das All, nicht als ein Chaos, sondern als Einheit, als Gefüge, ist der Zielpunkt der Gedankenarbeit des Philosophen.

Philosophie wird gelehrt und mitgeteilt, denn sie ist ein System von Lehrsätzen und läßt sich in Worte fassen. Wohl an die Hunderttausende geht die Zahl der Bücher, die in der geschichtlichen Zeit der Philosophie gewidment worden sind. Aber Quelle der Philosophie sind natürlich nicht jene Bücher, sondern das Gemüt und der Geist des Menschen. Was der Philosoph in Worte faßt, stammt in seinem Ursprung aus des Menschen Inneren. Aus Gründen, die nur schwer zu erleuchten sind, schöpft der Philosoph, bringt es ans Licht und gießt es in eine Form.

In diesem Sinne hat jeder Mensch eine Philosophie, die er kaum zu stammeln weiß, die er aber mit völliger Sicherheit lebt. Seine Philosophie, würde er sie meisterlich zum Ausdruck zu bringen wissen, würde in Worten, in Begriffen, widerspiegeln, was er fühlt, denkt, erstrebt, betätigt. Diese seine Philosophie wäre eine Ausprägung seines Könnens, seines Strebens, seiner unerschütterlichen Überzeugungen, der Parteilichkeit, die er Dingen, Menschen und Gedanken gegenüber offenbart.

Die Philosophie hat die Aufgabe, aus den Gründen der menschlichen Seele eine Lehre über das All aufzustellen und zu vertreten und zu verbreiten. Sie soll ins Bewußtsein heben, in Begriffe fassen, in ein System bringen, was in den Tiefen der Seele unartikuliert wirkt und schafft. Man nennt das, was da wirkt und schafft, mit mancherlei Namen: den Glauben, die Vernunft, Gemüt und Geist: doch ist's im Grunde ein und dasselbe, was damit bezeichnet wird. Der Vernunft die Sprache zu verleihen, ist die Aufgabe des Philosophen.

Die alte Philosophie nun ist an dieser Aufgabe gescheitert.

Bevor ich dies begründe, rufe ich als Bürgen einen großen Philosophen an. In der Vorrede zur ersten Aufgabe seiner "Kritik der reinen Vernunft" sagt KANT: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben; die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft." So spricht, man wird es wohl zugestehen, kein Siegesbewußter. So spricht eine ungeheure Offenheit, so spricht sich die Reife des Urteils unerschrocken aus, wobei die Grundstimmung die der Resignation ist.

KANT verleiht hier einer starken philosophischen Bewegung eine Stimme.Sehr viele Philosophen meinen, daß in der Vernunft selbst ein Widerspruch steckt. Sie nennen den Widerspruch das Unendlich, das vollendete Unendlich, das Unbedingte, oder noch anders. Und sie führen Gründe an, warum man der Antinomie, dem Selbstwiderspruch, durchaus nicht entgehen kann. Die Gründe sind gute und gewichtig, nur folgt daraus nicht die Antinomie: diese ist aufhebbar. Doch ich will das hier nicht weiter ausführen. Hier zeige ich nur auf jene uralte Bewegung des Zweifels an der Vernunft hin, zu deren Wortführern neben vielen Philosophen auch ein KANT gehört. Gewiß, KANT wollte kein Skeptiker sein und war es nicht. Auch hat er die Antinomie mit vieler Kunst wegerklärt. Aber war seine Erklärung, trotz aller Kunst, stichhaltig? Für den Unbefangenen sind die ersten Worte der Vorrede seines bedeutendsten Werkes, trotzdem er sie umgedeutet hat, Zeugnis für eine Resignation.

Doch die Begründung des Satzes, daß die alte Philosophie versagt hat, will ich keineswegs auf dieses Zeugnis stützen, sondern auf den alten Spruch, daß die Dinge an ihren Früchten erkannt werden. Ich will dartun, daß die alte Philosophie der Aufgabe, die ihr im Getriebe des menschlichen Lebens obliegt, nicht gerecht geworden ist.

Man ziehe Bilanz. Hat unsere Philosophie uns Vertrauen in die Welt geschenkt? Alle geschichtlich gewordene Gläubigkeit wankt. Hat unsere Philosophie uns die Wissenschaften fest erbaut? Das Fundament all unserer Wissenschaft ist vulkanisch: in Geschichte, Psychologie, Biologie, Physik - Chemie herrscht Streit über die Grundlagen - die Krankheit der Paradoxie hat sogar die strenge Mathematik befallen -, keine einzige Frage ist geklärt; überall Kampf und Zweifel. - Und schließlich hat die alte Philosophie es zumindest vermocht, uns eine glückliche, arbeitsfrohe Stimmung zu schenken? - Man schaue sich um: es klagen und spotten die Dichtungen; das Streben, welches schaffen und erhalten soll, zielt schamlos auf Zerstörung. - Wahrlich, die Arbeit, welche die Philosophie für die Menschheit zu leisten hat, ist noch ungetan.

Die alte Philosophie hat nicht ohne eigene Schuld versagt. Das Welträtsel hat sie lösen wollen, als wäre es ein Rätsel gestellt von Menschenwitz. - Die Griechen haben die Fabel von den Göttern und den Titanen sicherlich als ein Gleichnis gemeint. Hatten sie dabei nicht die Philosophie im Auge? Die Philosophen, die den Himmel der Wahrheit ersteigen wollten, büßten ja diese Vermessenheit gerade wie die Titanen. - Die heutigen Nachfolger der alten Philosophen haben den überheblichen Versuch noch immer nicht aufgegeben. Mit Hypothesen der Physik - Chemie wollen sie uns zeigen, wie der Weltenbau konstruiert ist, mit reiner Logik das Gefüge der Begriffe und allen Sinnes erkennen. In solchen hoffnungslosen und verderblichen Streben einen sich die verschiedensten Schulen, ihr Gegensatz kommt nur bei den Mitteln, wodurch sie dieses Ziel erreichen wollen, zum Ausbruch. Durch dieses Streben sind sie alle in gleicher Weise gekennzeichnet. Freilich, viele Philosophen bekennen, die Aufgabe der Philosophie sei ohne Ende; KANT verurteilt den Ehrgeiz, die Welt vollends zu begreifen, und nennt das "Ding ansich" unerkennbar; SPINOZA und HEGEL deuten die Unvollendbarkeit der Erkenntnis durch ihre Auffassung des Unendlich an; Neukantianer stellen eine Lehre von der Unvollendbarkeit des Systems der Erkenntnis ausdrücklich auf; andere unserer Philosophen betonen das "Irrationale", das "Numinose", der Wirklichkeit, infolgedessen sie sich von der Vernunft nie vollends meistern läßt: aber sie alle versuchen immer von neuem, ihren Bekenntnissen zum Trotz, dem Unvollendbar ein Schnippchen zu schlagen. Den Gegensatz des Unendlich und des Unvollendbar haben sie nicht festgehalten, darum haben sie das Wesen des Begriffs des Unvollendbar nicht getroffen und das Gesetz dieses Begriffs tausendfach übertreten. Ihnen hat das Unvollendbar kein ruhiges, leuchtendes Licht geworfen, sondern ein schwankendes Irrlicht: zum Verführer, nicht zum sicheren Wegweiser wurde es ihnen. Und zwar durch ihre Schuld, denn vor dem Unvollendbar haben sie das nüchterne Urteil, die gesunde Kritik, den stetigen methodischen Fortschritt aufgegeben. Gerade da, wo die stärkste Waffe des Mannes der Wissenschaft am nötigsten war, haben sie zum alten, längst abgetanen Rüstzeug der romantischen Erdichtungen und der Spitzfindigkeiten gegriffen.

Die jetzt notwendige Philosophie hat die Fehler der alten zu bezeichnen, zu beleichten und meiden zu lehren. Sodann hat sie fruchtbar zu sein. Als Sprungbrett ist ein Gedanke dienlich, der in den letzten sechs Jahrzehnten gereift ist: der des Kampfes, der Entwicklung. Diese günstige Gelegenheit, die sich den alten Philosophen nicht geboten hat, weil ja die Biologie lange Zeit auf einen DARWIN hatte warten müssen, muß die jetzt notwendige Philosophie ausnützen, indem sie DARWINs Gedanken zu Ende denkt. Sodann hat sie deas Problem des Unvollendbar nach strenger Methode zu lösen. Auch hier wiederum hat die Neuzeit den Boden gedüngt durch die geniale Lehre CANTORs, die Mengentheorie. Nur wenige Begriffe und Sätze braucht der Philosoph zu borgen, das Gesetz des Begriffs des Unvollendbar wird dann einleuchtend und, abgerechnet die Denkgewöhnung, die erst erworben werden muß, selbstverständlich. Diese Bestrebungen, folgegerecht fortgesetzt, leiten von selbst zu einem neuen System der Philosophie. Denn diese Bestrebungen, systematisch entwickelt, führen zu einer Lehre des All, worin die Mystik, das Mysterium, des Daseins Licht empfängt vom Begriff des Unvollendbar, und die Aufgabe des Begreifens in einer Theorie des Kampfes zusammengefaßt und erleichtert wird.

Die alte Philosophie hat versagt, und die neue wird ihren Einzug halten. Man lasse sich darüber nicht täuschen durch die Verblendung Jener, die alles Alte mit Glorienschein umgeben, noch durch die Verschwörung der Pedanten, die jedem neuen Gedanken ein Etikett anhängen, um ihn als registriert hinzustellen und dann beiseite zu rücken. Die kommende Zeit wird ihnen nicht mehr geduldig folgen. Die Zeit ist aufgewacht. Sie will alle Dinge, alle ohne Ausnahme, an deren Leistung messen. Vor dieser wachen, unerschrockenen Zeit kann die alte Philosophie nicht bestehen.

Bei einem neuen System der Philosophie ist nicht allein der Gehalt, den es predigt, wichtig.

Im Leben mag man über die Form, den Stil, die Darstellungsweise urteilen, wie man will - es hat Verächter der Form gegeben, die Tüchtiges geleistet und sich durchgesetzt haben -, für den Philosophen ist der Stil von erheblicher Bedeutung, denn er muß sich mitteilen, er muß Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen, und zwar so, daß er verstanden wird und die Seele ergreift.

Vielleicht ist Philosophie nur als Kunstwerk zu begreifen: jedenfalls wirkt der Philosoph nicht anders als der Künstler.

In dieser Erkenntnis war die Frage für mich von Belang, an welches Publikum ich mich wenden soll.

Zwar schreibt der Philosoph für die Menschheit, aber er braucht als Mittler ein kleines Publikum, das sich allmählich auszubreiten die Kraft hat. Daher fragte ich mich, ob ich für Philosophen oder Gelehrte oder die weite Menge des Volkes schreiben soll?

Daß ich mich einzig und allein an Fachphilosophen wenden soll, kam für mich nicht ernsthaft in Frage. Nicht, daß ich die Fachphilosophen unterschätze: sie haben, wie ich sogleich zeigen werde, eine sehr wesentliche Aufgabe erfüllt. Aber sie sind mir nicht mit einer Gloriole umgeben, ich sehe sie mit nüchternen Augen an und schätze sie nur gemäß dem Guten und Trefflichen, das sie geleistet haben, ohne daß ich imstande wäre, den Schaden, den sie stiften, zu vergessen.

Die Philosophen von Beruf: jene, die die Katheder der Universitäten besteigen, und jene, die bei ihnen gehört haben, um sodann ihr Wissen in der Literatur auszuwerten: haben den großen Vorzug einer genauen Kenntnis der Logik. Sie sind geschult, die Voraussetzungen und die Schlußfolgerungen einer vorgetragenen Lehre zu entdecken, und zwar auch dort, wo der Vortragende sich dieser logischen Gliederung nicht bewußt wird und sogar, wo er sie verschleiert. Diese Kunst ist ebenso selten wie wertvoll. - Wenn, um ein Beispiel zu geben, Staatsmänner an ihre Reden und Kundgebungen den Maßstab der Logik anzulegen verständen, so würden die politischen Gedanken und also auch die politischen Maßnahmen in Voraussetzungen und Zielen klar erkannt werden und daher eines stetigen Fortschritts gewiß sein; bei den Staatsmännern Europas und Amerikas spürt man jetzt von einer solchen Kunst überhaupt nichts; sie wenden andere Prinzipien auf Freund wie Feind an, verwickeln sich daher notgedrungen in Sophistereien, und die Menschheit, welche zwar nicht logisch zu denken gelernt hat, aber wohl Logik mit dem Herzen treibt, wird enttäuscht und muß leiden. - Und wiederum, wenn Physiker Logik verständen, würden ihnen die Voraussetzungen ihrer Theorie gegenwärtig sein und sie würden dadurch davor bewahrt, gegen diese Voraussetzungen zu verstoßen: heute aber begehen auch führende Physiker diesen Fehler, sehr zum Schaden der Wissenschaft.

Ein fernerer Vorzug der Fachphilosophen ist, daß sie für Fragen, die das All betreffen, einen eigenen Geschmack entwickelt haben. Ich rede hier nicht von ihrer  Kenntnis:  Kenntnis der philosophischen Systeme wäre kein Vorzug, wenn sie nur eine Sache des Verstandes bliebe, sie wird aber wertvoll, wenn sie einen fein sondernden und gesunden Geschmack hervorruft. Bei der Lehre HAECKELs etwa, daß das Leben auf Erden aus chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffs zu erklären ist, überlaufen den Philosophen tausend Schauder, und daher bleibt er äußerst vorsichtig und zurückhaltend; das Publikum, da sein Geschmack nicht so empfindlich ist, hält die Gedanken HAECKELs für erwiesen, glaubt an die Lösung der Welträtsel, deren Zahl genau gleich sieben sein soll, und wird für eine Weile verführt.

Nun aber werden ich einen starken Mangel der zeitgenössischen Philosophie aufweisen. Die Philosophen unserer Tage wissen zwar, was not tut, vermögen es aber nicht zu leisten, denn es ist leichter, die Aufgabe zu erkennen, als sie zu lösen. Aus diesem Gefühl ihrer Ohnmacht heraus sind sie enttäuscht, müde und abgebraucht und insofern ein Hemmnis für den Fortschritt.

Bevor ich dies begründe, erkläre ich ausdrücklich, den menschlichen Charakter der Philosophen keineswegs angreifen zu wollen. SCHOPENHAUER hat die Berufsphilosophen beschuldigt, daß sie sich bei ihren Vorträgen von weltlichen Absichten, doch nicht vom ungetrübten Wahrheitsdurst leiten lassen; schon im griechischen Altertum wurden die Berufsphilosophen ähnlicher Motive angeklagt; aber ich kann mich diesen Anklägern durchaus nicht anschließen. Beim persönlichen Verkehr mit Philosophen habe ich viele uneigennützig und anregend gefunden. Als Klasse sind sie ganz hervorragend. Daß sie neuen Lehren gegenüber vorsichtig sind, liegt in der Natur der Dinge, kann man doch seine philosophische Ansicht nicht wechseln, ohne sich im Innersten zu reorganisieren und dabei wie an einem Wundfieber zu leiden. Aber daß sie eine neue Lehre aus Brotsorge oder Eifersucht bekämpfen sollten, glaube ich nimmermehr. In ihnen ist der Drang nach Wahrheit lebendig. Nur sind sie, als Klasse, d. h. in ihrer Mehrheit, die jungen Leute und einige von der Natur Bevorzugte wie billig ausgenommen, fremden Gedanken gegenüber müde und blasiert.

Es liegt dies an der Erfolglosigkeit unserer Philosophen und an der ungeheuren Produktion der philosophischen Literatur.

Die Erfolglosigkeit unserer Philosophen ist eine zweifache: den Problemen gegenüber und dem Publikum gegenüber. Sie haben die Probleme nicht meistern können und sich mit bloßen Versuchen bescheiden müssen; dies, wenn auch schmerzlich, war erträglich, denn die Probleme, die sie angriffen, waren schwierige; aber für ihre Versuche haben sie nicht einmal ein Publikum gewinnen können, und das war unerträglich.

Mögen auch Einige die Theorie verfechten, daß der Autor für sich selber schreibt, er ist dennoch kein gefühlloser Automat. Der Mensch hat das unstillbare Bedürfnis, sich Anderen mitzuteilen, und wenn die Anderen nicht hinhören, so schleicht er beschämt fort. Das ist auch recht so, denn ein Autor, der für sich selber schreibt, wäre eine Ungeheuer an Hochmut. Der Autor, wie er im Fleische lebt, braucht Aufmerksamkeit wie die Pflanze Sonnenlicht. Die Philosophen unserer Tage aber haben vor dem Lärm des bunten Treibens verstummen müssen; Gedanken der Weisen von Jahrtausenden waren ihr Lehrgegenstand, und von der Welt da draußen hat niemand gehorcht; die akademischen Kreise schrieben viele Jahrzehnte unter Ausschluß der Öffentlichkeit nur für sich selbst; ihre Abhandlungen in den philosophischen Zeitschrifen und ihre Bücher über Logik und Ethik und Metaphysik blieben fast ungelesen - und mit Recht, denn die alten längst abgetanen Fehler wurden dort immer aufs Neue begangen; und so wurden die Zunft zuletzt müde und blasiert.

Gewiß. Einige von den Fachphilosophen, kräftige Naturen, haben ihre Frische und Freudigkeit behalten, aber auch Diese finden sich unter dem massenhaften Angebot mittelmäßiger und geradezu schlechter Bücher nicht mehr zurecht. Wer zeigt ihnen das Gute? - Es gibt ja, ach, keine Methode, wie das Gute zu erkennen wäre, außer durch eifriges Sichversenken, durch eine vertrauensvolle Hingabe. Und sie waren so oft enttäuscht worden.

Kurz, die Fachphilosophen, wenn auch als Menschen sehr achtenswert, obwohl Kenner der Logik und mit philosophischem Geschmack begabt, sind in ihrer überwiegenden Mehrheit als Leser philosophischer Werke ein schlechtes Publikum. Sich einzig und allein an sie zu wenden, um sie als Mittler zur Verkündigung eines neuen Gedankens zu gewinnen, wäre die Politik eines in Wahn Befangenen.

Eher als für ein Publikum von Philosophen habe ich für eines von Gelehrten geschrieben.

Männer der Wissenschaft, eben, weil ihre ganze Tätigkeit, Denkweise und Logik auf ein enges Gebiet eingeschränkt ist, haben vor den Philosophen einen großen Vorzug: sie sind mit der Wirklichkeit eng verwachsen. Ein Physiker, ein Biologe, ein Forscher der Geschichte richten sich nach Gegenständen. Diese Gegenstände haben im Laufe der Entwicklung der Menschheit die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, mit ihnen haben sich Viele beschäftigt, an ihnen hat die Forschung einen Leitfaden gehabt. Die Theorien, welche auseinanderstreben, haben an diesen Gegenständen eine Prüfung zu bestehen, und wertlose Theorien werden daran erkannt und sodann ausgeschieden. Daher haben Männer der Wissenschaft Sinn für das Wirkliche und einen Geschmack, der sich gegen das Phantastische, das Fingierte, mit Hypothesen Überladene erklärt.

Freilich geht es nicht an, in einem philosophischen Werk einen bestimmten Gegenstand, etwa die elektrische Kraft oder das Skelett der Säugetiere oder die Geschichte KEPLERs, eindringend zu erforschen, aber auch in einem philosophischen Werk ist es statthaft, dem Geschmack der Männer der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Dies zu tun, habe ich mich bemüht. Erläuternde Beispiele habe ich vorzugsweise dem Betrieb der Wissenschaft entnommen und meine Lehre so an Realitäten erprobt.

Das Publikum, an das ich bei der Abfassung dieses Buches vor allem gedacht habe, ist das große Volk, das wie ein immerfort rinnender klarer Quell frisch, sauber, fruchtbar ist.

Das Volk ist keine Vielheit. In den Jahrhunderten ist es zu einer Einheit zusammengewachsen. Es ist ein Baum, an dem wir Einzelnen die Blätter und Blüten, noch weniger, die Zellen sind.

Das Volk hat eine Seele. Und sie ist sehr, sehr weise.

Wir Einzelnen dünken uns klug, aber diese armselige Klugheit ist einseitig. Das Volk, mag sein, hat nicht diese Art der Klugheit, die zuletzt nichts anderes ist als eine sehr besondere, sehr eingeschränkte Art von schnell erworbener Geschicklichkeit: Geschicklichkeit der Dressur. Das Volk dagegen hat Weisheit, die in Jahrtausenden organisch gewachsen ist.

Ich hege Ehrfurcht vor jedem Volk.

Darum schreibe ich ehrfürchtig für das Volk.

Ich lege meinen Glauben, auch, wo er mir selbstverständlich dünkt, genau dar, ohne falsche Scham breite ich meine Gründe aus, auch wo sie in die Augen springen, ich drücke mich offen aus, ich täusche keinen Tiefsinn vor: All dies geschieht im Gefühl meiner Beschränktheit; es geschieht nicht aus dem Glauben, daß man zum Volk "populär" oder "elementar" reden muß, daß man also die Wahrheit verschminken muß; diese Ansicht ist mir lächerlich. Wahrheit ist einfach. Und das Volk, wenn es sich erst die Mühe macht, versteht sie vollkommen: weit besser und tiefer als irgendein Einzelner. Auch die fruchtbarste Wahrheit, scheint sie auch verborgen, läßt einen einfachen Ausdruck zu; man muß ihn nur suchen. Man muß nur seine Eitelkeit bekämpfen, die den geraden Weg nicht mag und nun im Streben, Anderen und sich selber zu imponieren, Umwege macht. Die sogenannte "elementare" Schreibart täuscht Einfachheit nur vor, tatsächlich verdeckt sie den rechten Gesichtspnkt; sie ist unfähig, ein Ganzes Einheitlich darzustellen, zerschneidet es vielmehr in lauter kleine Stücke und dabei zerschneidet sie das geistigen Band. - Beispielsweise, die elementare Lehre von der Perspektive versenkt sich in viele Einzelfälle, das mathematische Prinzip ordnet das Vielfältige mit einem Schlag. - Die Elementare Schreibart ist also immer Zeitverlust. Es gelingt ihr auch nicht, das Volk zu befriedigen. Das Volk verlangt nach Einsicht in den großen Zusammenhang. Verweigert man ihm die Wahrheit, die es sucht, so zeugt sein Schoß die Organe, fähig und befugt, die Wahrheit, welche bei aller Größe in ihrem Gefüge einfach ist, zu ergreifen und ihm zu überreichen.

Zum Volk zu rden in der wundervollen Sprache des Volkes, welche in den Jahrtausenden gereift ist, welche die Prägung der Weisheit erhalten hat, welche ein Abbild der Volksseele ist, habe ich mit heißem Bemühen erstrebt. Die Schulsprache, die dazu angetan ist, den Gedanken eher einen akademischen Aufputz anzulegen als sie zu verdeutlichen, habe ich zu meiden versucht. Noch verweist dieses Buch auf andere Bücher. Was zum Verständnis und zur Kontrastwirkung seiner Sätze an Kenntnis der Geschichte der Philosophie vonnöten ist, steht im Buch selbst beschrieben, ausgeführt, zitiert.

Gewiß, ich glaube keineswegs, das Volk werde nun zur Begutachtung dieses Buches auf die Mitwirkung der Philosophen und der Gelehrten verzichten. Es ist mir klar, daß der Weg dieses Buchs zunächst einmal zu den Stätten der Philosophie und der Wissenschaft führt, um von da aus allmählich zu den Häusern des Volkes zu leiten. Und ich erwarte, ja erhoffe, heftigen Widerstand durch Nichtbeachtung und lauten Widerspruch. Aber eine harte Kindheit macht einen starken Mann.

Und nun, oh Buch, bereite dich darauf vor, deine Eigenleben zu führen! Leben heißt zu leiden und zu wirken: sei beides dein Schicksal! Ich habe dich ausgestattet in der Voraussicht, daß du im ehrlichen Streit der Wahrheitssucher stehen wirst. Was sich dir innerhalb eines solchen Streits auch ereignet, ist gut und dienlich. Nur  eines  wäre mir schmerzlich: wenn etwa deine Freunde jemals meinen würden, dich zu verstehen sei ein Vorrecht der Wenigen. Denn als ich dich schuf, habe ich gewollt, daß deine Sprache einfach, ohne Vorbehalt noch Hinterhalt noch Hochmut sei, wie die Rede eines Kindes zu Kindern.
LITERATUR: Emanuel Lasker, Die Philosophie des Unvollendbar, Leipzig 1919