p-4 p-4E. MallyÜber GegenständePhilosophie des Als-ObWerttheorie    
 
ALEXIUS MEINONG
Über Annahmen
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             Vorwort
 § 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen
 § 2. Das Negative gegenüber dem "bloß Vorgestellten".
 § 3. Zum Begriff des Zeichens
 § 4. Ausdruck und Bedeutung beim Wort.
 § 5. Der Satz als Urteilsausdruck
 § 6. Unabhängige und abhängige Sätze
 § 7. Das Verstehen bei Wort und Satz
 § 8. Die nächstliegenden Annahmefälle
 § 9. Explizite Annahmen
§ 10. Annahmen in Spiel und Kunst
§ 11. Die Lüge
§ 12. Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen
§ 13. Aufsuggerierte Annahmen

"Wer Gelegenheit hatte, Kinder zu beobachten, wird Anlaß gehabt haben, sich über die Sicherheit zu wundern, mit der die Kinder bereits in frühen Jahren Spiel und Ernst zu unterscheiden wissen, als sie bei einer Verwechslung solcher Situationen anzutreffen. Das freilich begegnet einem nicht weniger als selten, daß das Kind, das etwa seine Spielsachen aufräumen soll, erklärt, dies sei zur Zeit unpassend, weil die Puppe eben schlafe oder die Pferde zu müde seien oder dgl.; und Eltern, die sich solchen Bescheid gefallen lassen, können ihn dann unzählige Male in den unglaublichsten Variationen erhalten. Aber für mehr als für einen Beitrag zu dem schier unerschöpflichen Kapitel von Kinderausreden wird dies doch niemand nehmen wollen."

"Das intellektuelle Verhalten des Spielenden ist weniger als Urteilen, es ist aber mehr als Vorstellen, indem es eben Annehmen ist."

"Es ist ja schon oft genug darauf hingewiesen worden, wie die Grenze zwischen unschuldiger Betätigung kindlicher  Phantasie  und lügnerischem Verhalten der Kinder gar nicht immer leicht und scharf zu ziehen ist und bei Erwachsenen, die gut und darum gern und viel erzählen, mag es oft auch nicht viel anders bewandt sein. Was aber die wortlosen Lügen anlangt, so weiß ja auch jeder, daß schauspielerische Talente im Verkehr des täglichen Lebens durchaus nicht immer eine völlig gefahrlose Mitgift bedeuten."

Drittes Kapitel
Die nächstliegenden Annahmefälle

§ 8.
Vorbemerkung

Aus der Feststellung, daß es Annahmen gibt, ist uns die Frage erwachsen, wo dieselben im psychischen Leben zu suchen sein werden und wir haben als selbstverständlich erkannt, daß diese Frage vor allem durch den Hinweis auf dasjenige an einschlägigen Tatsachen zu beantworten ist, was sich der psychologischen Empirie in besonderem Maße aufdrängt. Dennoch könnte es befremden, daß ich nun daran gehe, hier unter dem äußerlichen und wenig präzisen Gesichtspunkt der Auffälligkeit ziemlich Verschiedenartiges zusammenzustellen. Es sei darum sogleich bemerkt, daß ich zu einem so äußerlichen Vorgehen wirklich auch durch mehr äußere als innere Beweggründe mit veranlaßt finde.

Sie hauptsächlich einmal darin, daß der erste Versuch, den Annahmen zu ihrem Recht zu verhelfen, unmöglich darauf verzichten kann, sich auf diejenigen Fälle in etwas konkreterer Weise zu berufen, wo die Eigenart der Annahme besonders deutlich in die Augen springt und darum der Existenznachweis verwickeltere und daher auch angreifbarere Untersuchungswege nicht einzuschlagen braucht, - dann aber auch darin, daß die in diesem Sinne namhaft zu machenden, ziemlich heterogenen Tatsachengruppen in der vorliegenden Schrit einer eingehenderen Behandlung deshalb nicht unterzogen zu werden brauchen, weil monographische Bearbeitungen dieser Tatsachengebiete in Aussicht stehen, die teilweise wenigstens nach dem ursprünglichen Plan dieser Schrift (1) hätten in ihr als besondere Kapitel ihre Aufnahme finden sollen. Es gilt das namentlich von den unten in § 10 zu berührenden Dingen, die hoffentlich in allernächster Zukunft der Öffentlichkeit übergeben werden können. Es gilt aber auch vom Thema des § 12, das die von Professor E. MARTINAK geleitete Abteilung des Grazer philosophischen Seminars im letzten Sommersemester bereits lebhaft beschäftigt hat und voraussichtlich ebenfalls in nicht ferner Zeit den Gegenstand einer aus dem genannten Seminar hervorgehenden Veröffentlichung abgeben wird.

So müssen die Ausführungen, die ich im gegenwärtigen Kapitel vereinige, in ganz besonderem Maße für vorläufig gelten. Doch ist die Aufgabe, die ich mir hier allein stellen kann, die nämlich, den Anteil der Annahmen auf diesen Gebieten zur Geltung zu bringen, eben der Natur der Sache nach eine so leicht lösbare, daß, soweit es sich nicht um mehr handelt, der einfache Hinweis auf die Tatsachen durchaus genügen wird.


§ 9.
Explizite Annahmen

Ich möchte diese Bezeichnungsweise nicht gerade als technischen Ausdruck empfehlen: über die Meinung jedoch, in der ich diesen Terminus an die Spitze dieses Paragraphen setze, wird ein Zweifel schwerlich aufkommen. Es ist eben Tatsache, daß es Annahmen gibt, die ihren Charakter gleichsam an der Stirn tragen, wohl gar vom annehmenden Subjekte noch ganz expreß als Annahmen gibt, die ihren Charakter gleichsam an der Stirn tragen, wohl gar vom annehmenden Subjekt noch ganz expreß als Annahmen erklärt werden und so das eine Extrem einer Reihe bilden, an deren anderem Ende Fälle stehen, an denen Annahmen als beteiligt zu erweisen, wie sich später zeigen wird, sehr sorgfältiger Analyse und wohl auch verwickelterer Untersuchungsweisen bedarf.

Beispiele solcher "offener" Annahmen, wie man im Gegensatz zu den erwähnten Fällen mehr oder minder "versteckten" Annehmens auch ganz wohl sagen könnte, sind uns bereits oben (2) begegnet: es mußten ja zu Anfang Fälle ausgewählt werden, die in besonderem Maß geeignet waren, die Aufmerksamkeit des Beobachters den kennzeichnenden Eigentümlichkeiten der neu zu untersuchenden Tatsachengattung zuzuwenden. Im gegenwärtigen Zusammenhang wollen wir uns nur noch fragen, einmal, in welchem sprachlichen Gewand man dieser Art Annahmen in der Regel begegnet, dann aber, was sie unter normalen Umständen sozusagen leisten bestimmt sind.

Was zuvörderst den ersten Punkt anlangt, so versteht sich, daß eine Annahme nirgends leichter als eine solche zu erkennen sein wird, als wo das Subjekt selbst sein Erlebnis als Annahme ausdrücklich ankündigt. Dies wird natürlich dort geschehen, wo die vorliegende Annahme sekundär ausgedrückt auftritt, also in Aussagen wie: "Ich nehme an, daß ..." und dgl. Natürlich tritt dann der primäre Ausdruck der betreffenden Annahme in Gestalt eines abhängigen Satzes auf, und so kommt ein Gegesatz zustande gegenüber Fällen von ausschließlich primärem Ausdruck von Annahmen in unabhängigen Sätzen, die dann nicht selten durch einen Konjunktiv charakterisiert sind. "Es sei ein rechtwinkliges Dreieck gegeben, dessen eine Kathete die halbe Länge der anderen hat", - das ist eine Wendung, die nur als Ausdruck einer Annahme verstanden werden kann. Daß endlich Annahmen auch in unabhängigen Sätzen ausgesprochen werden können ohne durch den Konjunktiv besonders gekennzeichnet zu sein, darauf kommen wir sogleich unten zurück; doch möchte in solchen Fällen jene besonders aufdringliche Deutlichkeit in der Regel zu vermissen sein, die uns für die Einordnung in diese erste Gruppe maßgebend bleiben soll.

Das Recht zur zweiten der beiden oben aufgeworfenen Fragen leuchtet im Grunde gar nicht ohne weiteres ein. Sie verlangt einen Bescheid darüber, zu welchem Ende sich das Subjekt auf Annahmen sozusagen einlasse und da könnt es gar wohl sein, daß sich derlei zuträgt ohne allen weiteren Zweck, so daß es seine Legitimation, wenn ja eine solche erforderlich sein sollte, einfach darin findet, daß es den Annehmenden eben befriedigt. Und solches ist in der Tat unter Umständen der Fall: Luftschlösser zu bauen und dgl. ist bisweilen gewiß ein ganz erfreuliches Geschäft und manches von dem, was sogleich unten unter den Titeln "Spiel" und "Kunst" zu berühren sein wird, könnte ganz wohl schon hier zur Sprache kommen. Daneben verdient es aber doch auch schon hier Beachtung, daß das Annehmen offenbar gar nicht selten in den Dienst intellektueller Verrichtungen genommen zu werden schein, die selbst in letzter Linie es durchaus nicht bei bloßen Annahmen bewenden lassen wollen, vielmehr ohne Zweifel auf die Gewinnung von Urteilen gerichtet sind.

Der Leser des obigen Beispiels vom rechtwinkligen Dreieck hat sicher bereits daran gedacht, wie häufig sich mathematische Darlegungen ähnlicher Wendungen bedienen, um dann Positionen daran zu knüpfen, die durchaus nicht mehr den Charakter "bloßer Annahmen" an sich tragen. So läßt sich vom Gegenstand der in Rede stehenden Annahme, dem rechtwinkligen Dreieck mit den im Verhältnis von 1:2 stehenden Katheten etwas über die relative Länge der Hypotenuse, ebenso etwas über die Größe der beiden schiefen Winkel und noch vieles andere nicht etwa bloß annehmen, sondern mit der die mathematische Erkenntnis unter normalen Umständen so vorteilhaft auszeichnenden Gewißheit behaupten. Daß es dabei zumindest besonders naturgemäß sein muß, von einer Annahme auszugehen, dafür bürgt fürs Erste die häufige Anwendung der betreffenden Ausdrucksweisen. Daß aber die Annahmen dabei wenigstens unter Umständen unentbehrlich sein möchten, wird schon beim gegenwärtigen Stand unserer Untersuchung für den Fall eingesehen werden, daß man von negatvien Daten seinen Ausgang nimmt, also sich z. B. mit rechtwinkligen Dreiecken beschäftigen wollte, deren Kathetenverhältnis durch eine ganze Zahl  nicht  ausdrückbar ist oder dgl.

In welchem Maße und warum auch sonst, also wo es sich nicht um Negativa handelt, Annahmen unentbehrlich sind, soll weiter unten darzulegen versucht werden. (3) Für jetzt erhellt sich die Rolle, die den Annahmen sozusagen im Dienste der Erkenntnis zukommt, vielleicht noch deutlicher aus der Anwendung der expliziten Annahmen bei minder strengen, ja vielleicht ausschließlich praktischen Erwägungen. "Versetze Dich in meine Lage und überlege, wie Du Dich dann verhalten müßtest" - das ist eine Aufforderung, von deren Erfüllung man sich nicht selten etwa eine Verständigung erwartet. Verwandt, zugleich wieder einer so strengen theoretischen Behandlung zugänglich, als empirische Wissenschaften sie nur immer gestatten, ist, was man gewöhnlich unter dem Namen "Hypothese" zusammenzufassen pflegt. Es wird dabei freilich nicht immer leicht sein, den Punkt genau namhaft zu machen, wo derjenige, der sich mit einer solchen Hypothese beschäftigt und sie etwa an der Wirklichkeit zu verifizieren unternimmt, aus dem Zustand des Annehmens in den des Vermutens übergeht. Daß es aber ein Erfassen und Verfolgen von Hypothesen vor jeder Stellungnahme und ohne Präjudiz gibt, eines also, wo das Urteil auch als Vermutung unbeteiligt bleibt, wonach die Annahme allein funktionieren kann, ist sofort durchsichtig. Zusammenfassen erkennt man so, daß die Annahme in ziemlich verschiedenartigen Leistungen eine Art logischer Dignität erweist, deren Würdigung indessen nicht im ausschließlichen Hinblick auf diese auffälligsten Annahmefälle versucht werden kann, uns aber, sobald wir wirklich zu einer solchen gelangt sein werden, voraussichtlich eine charakteristische Seite der Annahmetatsache kennen lehren dürfte.


§ 10.
Annahmen in Spiel und Kunst

Es kann sich mir hier natürlich nicht darum handeln, dem Wesen dieser ebenso eigenartigen wie bedeutsamen Äußerungen psychischen Lebens näher zu treten. Was hier ausschließlich versucht werden soll und, wie mir scheint, auch ohne Schwierigkeit durchgeführt werden kann, ist der Nachweis der Berechtigung dafür, diese beiden großen Gebiet als allenthalben durch Annahmen bestimmt oder wohl gar ausgemacht in Anspruch zu nehmen.

I. Es ist herkömmlich, das intellektuelle Verhalten des Kindes beim Spiel, - und das Kind ist es zunächst, das ich im Folgenden im Auge habe, - unter dem Wort "Phantasie" zusammenzufassen; und wenn man dieses Wort in einem Sinn versteht, für den ich weiter unten eintreten werde (4), so habe ich gegen eine solche Anwendung des in Rede stehenden Terminus auch durchaus nichts einzuwenden. Bisher aber hat es doch für selbstverständlich gegolten, von Betätigungen der Phantasie nur als Leistungen zu sprechen, in denen über das Vorstellen nicht hinausgegangen wird. Unter dieser Voraussetzung aber ist durch die gewöhnliche Auffassung das intellektuelle Verhalten des Spielenden einfach zur Vorstellungsleistung gemacht, und es darf die Frage aufgeworfen werden, ob eine solche Charakteristik auch wirklich den Tatsachen entspricht.

Doch soll zuvor das dieser Auffassung entgegengesetzte Extrem wenigstens nicht ganz unberührt bleiben, obwohl niemand, der nur einigermaßen einen Blick für Tatsachen hat, sich dabei aufzuhalten Neigung haben wird. Ich meine den Versuch, dem spielenden Kind zuzutrauen, daß es sich während des Spiels wirklich im Zustand der Täuschung befinde, d. h. daß es den Sessel, den es als Pferd vor den Tisch als Wagen spannt, wirklich für ein Pferd, den Tisch wirklich für einen Wagen halte. So viel Erinnerung an seine Kinderzeit hat am Ende doch jeder Erwachsene zurückbehalten, um die Unnatürlichkeit einer solchen Interpretation sofort einzusehen. Wer vollends Gelegenheit hatte, Kinder zu beobachten, wird weit eher Anlaß gehabt haben, sich über die Sicherheit zu wundern, mit der die Kinder bereits in frühen Jahren Spiel und Ernst zu unterscheiden wissen, als sie bei einer Verwechslung solcher Situationen anzutreffen. Das freilich begegnet einem nichts weniger als selten, daß das Kind, das etwa seine Spielsachen aufräumen soll, erklärt, dies sei zur Zeit unpassend, weil die Puppe eben schlafe oder die Pferde zu müde seien oder dgl.; und Eltern, die sich solchen Bescheid gefallen lassen, können ihn dann unzählige Male in den unglaublichsten Variationen erhalten. Aber für mehr als für einen Beitrag zu dem schier unerschöpflichen Kapitel von Kinderausreden wird dies doch niemand nehmen wollen. Seltenen Ausnahmen mag dadurch die Möglichkeit vorsichtsweise nicht abgesprochen sein: ich muß mich vielmehr damit begnügen, die Versicherung abzugeben, daß mir selbst ein solcher Ausnahmefall niemals begegnet, ebensowenig ein glaubwürdiger Bericht über ein derartiges Geschehnis zur Kenntnis gelangt ist, und dies wird wohl ausreichen, um den Beweis zu erbringen, daß das Charakteristische des intellektuellen Zustandes beim Spiel nicht im Urteil, genauer nicht in einer Täuschung des Spielenden gelegen sein kann, die überdies ihren Ursachen nach ganz unverständlich wäre.

Ohne Zweifel ist dem gegenüber die erwähnte herkömmliche Berufung auf die "Einbildungskraft" des Kindes das weitaus Natürlichere, auch wenn man damit die Angelegenheit lediglich ins Gebiet der Vorstellungen hinübergeschoben zu haben meint. Daß man nun aber mit den "bloßen Vorstellungen" sein Auslangen denn doch nicht findet, dafür legen auch hier, wie sonst so häufig die Verneinungen ein trotz seiner Äußerlichkeit in besonderem Maße unmißverständliches Zeugnis ab. Es müßte also nur etwa der Versuch gemacht werden, zu bestreiten, daß beim Spiel Negationen überhaupt in der uns hier beschäftigenden Hinsicht in Frage kommen: aber angesichts der Tatsachen wird solches wohl kaum zu gewärtigen sein. Der Knabe, der "Siegfried" spielt und sich daruaf hin für unverwundbar oder bei Gebrauch des Tarnhelms auch für unsichtbar gibt, muß doch gewiß nicht erst von einem Theoretiker erfunden werden. So bietet das Spiel jedenfalls ganz ähnliche Erfahrungen dar, wie diejenigen waren, an denen wir uns oben von der Existenz der Annahmen zuerst überzeugen mußten und es würde an ihnen denn auch hier zunächst erwiesen sein, daß beim Spiel Annahmen überhaupt vorkommen. Darf man aber weiter behaupten, daß das intellektuelle Verhalten des Spielenden dort, wo es negativen Charakter aufweist, außer eben diesem Charakter nichts Eigenartiges dem affirmativen Verhalten gegenüber an sich trägt, dann ist es wohl außerordentlich nahe gelegt, allgemein zu behaupten: das intellektuelle Verhalten des Spielenden ist weniger als Urteilen, es ist aber mehr als Vorstellen, indem es eben Annehmen ist.

Und dies wird dann auch durch die direkte Empirie aufs Beste verifiziert, so deutlich, daß man schwerlich fehlgehen wird, wenn man vermutet, man werde sich bisher nur deshalb so leicht mit der "Vorstellungsansicht" zufrieden gegeben haben, weil sich die Unbrauchbarkeit einer jeden "Urteilsansicht" so unverkennbar aufdrängte und ein Drittes neben diesen beiden Ansichten nicht zu Geboten zu stehen schien. Nun  steht  aber etwas Drittes zu Gebote: die "Annahmeansicht" und dieser Möglichkeit gegenüber wird es nun auch niemandem schwerfallen, sich daran zu erinnern, wie oft er im Grunde bereits selbst für sie Zeugnis abgelegt hat durch Äußerungen wie die, daß der Spielende an sich und anderen Eigenschaften, Situationen und dgl. "fingiere", um dann häufig, solange das Spiel währt, zu tun, als ob er an die Fiktion glaubte, obwohl ihm sowas völlig fern liegt. Die praktische, ich meine dem Handeln zugewendete Bedeutsamkeit, welche die Annahmen hier betätigen, bildet zugleich ein natürliches Seitenstück zu der schon oben berührten logischen Bedeutsamkeit derselben, die übrigens auch dem Spiel nicht fehlt, innerhalb dessen Konsequenz und Vernünftigkeit für mindestens durchaus sinnvolle, wenn auch der Kinderweise nicht über alle Grenzen hinaus gemäße Anforderungen gelten.

Man kommt damit ganz von selbst von den Spielen der Kinder auf manche Spiele der mehr oder minder Erwachsenen und auf spielähnliche Betätigungen, die insofern bereits völlig "ernsthaften" Charakter tragen, als es dabei auf eine Einübung für den "Ernstfall" ankommt, die man dadurch ermöglicht, daß man diesen Ernstfall "fingiert". Von den Kriegsspielen der Militärschulen und den Sonntagsübungen der Dorffeuerwehren an bis zu den großen Manövern ganzer Armeen reicht eine Reihe mehr oder minder komplizierter und planvoll erdachter Geschehnisse, die, ohne noch zu Spielen zu zählen, doch gleich diesen auf die Grundlage eines mehr oder minder komplizierten Systems von Annahmen gestellt sind.

II. Das es der Kunst nicht an allen Anknüpfungspunkten und an jeder Verwandtschaft mit dem Spiel fehlen kann, ergibt sich schon aus der freilich recht äußerlichen Tatsache, daß es eine Kunstübung gibt, die man kurzweg "Spielen" nennt. Allerdings weist die Sprache in dieser Weise wohl gleich deutlich auf das Tun des Instrumentalisten als auf das des Schauspielers hin und für unser gegenwärtiges Interesse kommt zunächst vorwiegend das Letztere in Frage. Dafür tritt aber hier der Anteil des Annehmens in ganz besonders unverkennbarer Weise ans Licht.

Fürs Erste freilich schein die Situation, in der sich der Schauspieler seiner Rolle gegenüber befindet, eine doppelte Auffassung zu gestatten. Dem der naiven Betrachtungsweise allenthalben so natürlichen rationalistischen Zug, der den Anteil der Absichtlichkeit stets so hoch als möglich anschlägt, entspricht es vielleicht als das anscheinend Natürlichste, zu vermuten, der Schauspieler habe eben die Aufgabe, das Äußerliche in der Verhaltensweise der von ihm darzustellenden Personen, das ihm aus Erfahrung ausreichend gut bekannt sein muß, in überlegter Absichtlichkeit zu kopieren und so den äußeren Schein innerer Vorgänge zu erwecken, die sich in Wahrheit in ihm so wenig zutragen, als er mit der dargestellten Persönlichkeit identisch ist. Und in der Tat wird es vielleicht keine schauspielerische Leistung geben, in der dieses oder jenes Detail nicht wirklich durch absichtliches Erlernen erworben wäre: je mehr aber dieses Angelernte überwiegt, desto mehr pflegt man die bloße Routine durchzuspüren, die man für echte schauspielerische Kunst dann doch nicht leicht gelten läßt. In Bezug auf diese Kunst aber hat man immer gemeint und die größten Schauspieler haben nach Befragen Zeugnis dafür abgelegt, daß dazu vor allem erforderlich sei, daß sich der Darsteller "in die Lage des Darzustellenden versetze" und dieser Forderung liegt die zweit der beiden eben als verfügbar bezeichneten Auffassungen des schauspielerischen Tuns zugrunde. Wenn der Darstellende "sich einzubilden" vermag (5), er sei die darzustellende Person und befinde sich in der durch die Handlung des Stückes ihm dargebotenen Umgebeung, dann wird er sich, ausreichende Begabung natürlich vorausgesetzt, schon auch äußerlich so verhalten, wie es der Darzustellende voraussichtlich tun müßte, und den schauspielerischen Intentionen ist in natürlicherer und harmonischerer Weise Genüge geleistet, indem die natürlichen Ausdrucksinstinkte anstelle einer in der Regel viel zu ärmlichen Empirie oder gar Theorie der Ausdrucksbewegungen treten. Natürlich meine ich nicht, daß in diesem allerdings sehr einfachen Rezept das ganze Geheimnis der Schauspielkunst beschlossen liege: für unsere Zwecke genügt, daß wir auf dieses "Einbilden", oder "in die Lage des anderen hineinversetzen" geführt worden sind als auf ein jedenfalls ganz fundamental wichtiges und charakteristisches Moment im Verhalten des darstellenden Künstlers und daraufhin die Frage nach der psychologischen Natur dieses "Hineinversetzens" aufzuwerfen Anlaß haben.

Die Antwort bedarf keines langen Nachdenkens, wenn man sich erinnert, daß die in Rede stehende Verhaltensweise ganz und gar mit dem zusammenfällt, was die Kinder tun, wenn sie Soldaten oder Kunstreiter oder dgl. spielen. Es braucht also weiter auch kein besonderer Beweis mehr dafür angetreten zu werden, daß im psychischen Leben des seinen Beruf ausübenden Schauspielers den Annahmen eine ganz grundlegende Stellung zukommt. Daß es mit diesem bloß intellektuellen Verhalten nicht sein Bewenden hat, vielmehr durch diese Annahmen dann auch die emotionale Seite des annehmenden Subjekts in hohem Grade in Mitleidenschaft gezogen zu werden pflegt, belegt neuerlich die das intellektuelle Gebiet weit überschreitende Bedeutung der Annahmen. Ob es nur sozusagen gewöhnliche Gefühle und Begehrungen sind, die im Gefolge der Annahmen auftreten, ob nicht vielleicht dabei Gefühls- und Begehrungstatsachen besonderer Art zum Vorschein kommen, die den Annahmen gegenüber eine Art eigentümlicher Verwandtschaft zeigen, darauf wird in einem späteren Zusammenhang (6) noch zurückzukommen sein.

Von der vorwiegend redenden, jedenfalls reproduktien Kunst des Schauspielers vollzieht sich leicht der Übergang zur wesentlich redenden, aber produktiven Kunst des Dichters. Und da leuchtet ein, daß der Dramatiker unvermeidlich vor die Aufgabe gestellt sein wird, sich während der Konzeption seines Dramas nicht nur in eine, sondern abwechselnd nahezu in alle Personen seines Dramas zu "versetzen". Auch der Epiker, mag er übrigens in Versen oder in Prosa reden, wird nur ausnahmsweise wahre Geschichten zu erzählen, ebenso der Lyriker mindestens weitaus nicht immer die ihm eben jetzt gegenwärtigen Gefühle und Stimmungen zum Ausdruck zu bringen haben. Anerkanntermaßen tritt hier allenthalben die "Fiktion" in ihre Rechte: Fiktion ist aber eben Annahme.

Verwickelter und darum durch diese nur andeutenden Ausführungen am besten unerörtert zu lassen ist der Anteil der Annahmen an den übrigen Künsten. Eines aber dürfte auch hier sofort für sich selbst sprechen. In dem Maße, in dem auch diese Künste über das sinnlich durch sie Gegebene hinausstreben und reichen, in dem Maße also, in dem auch der bildende Künstler oder Musiker zum Dichter oder doch Nachtdichter wird, in dem Maße zum allerwenigsten wird auch hier für das Verhalten des Künstlers die Annahme als charakteristisches Moment in ihre Rechte treten.


§ 11.
Die Lüge.

Das "Vorstellen" fremder Urteile.

Man hat ein begreifliches Widerstreben zu überwinden, ehe man sich entschließt, in unmittelbarem Anschluß an die der Kunst zugewandten Feststellungen nund die Lüge in Untersuchung zu ziehen und dadurch eine gewisse Verwandtschaft zwischen einem so hoch und einem so niedrig stehenden menschlichen Verhalten zur Anerkennung gelangen zu lassen. Aber es gehört eben mit zum Geheimnisvollen in der Menschennatur, daß Hohes und Niedriges darin so nahe beisammenwohnen kann und übrigens sind Tatsachen eben Tatsachen und es steht uns nicht frei, das Auge vor dieser oder jener darunter nach Gefallen zu schließen. Im gegenwärtigen Zusammenhang aber dürften wir das vollends nicht, da das Verwandte gerade seinem Hauptgewicht nach in der uns eben hier interessierenden Tatsachensphäre liegt.

Übrigens aber ist die Verwandtschaft, auf die es hier ankommt, eine aller Welt gar wohl bekannte Sache. Es ist ja schon oft genug, vielleicht sogar öfter und nachdrücklicher als billig, darauf hingewiesen worden, wie die Grenze zwischen unschuldiger Betätigung kindlicher "Phantasie" und lügnerischem Verhalten der Kinder gar nicht immer leicht und scharf zu ziehen ist und bei Erwachsenen, die gut und darum gern und viel erzählen, mag es oft auch nicht viel anders bewandt sein. Was aber die wortlosen Lügen anlangt, so weiß ja auch jeder, daß schauspielerische Talente im Verkehr des täglichen Lebens durchaus nicht immer eine völlig gefahrlose Mitgift bedeuten.

In abstracto ist es nun ferner auch gar nicht schwer, das Moment namhaft zu machen, welches das Verhalten des Lügners gegenüber dem in Spiel und Kunst kennzeichnet: es ist natürlich die Absicht zu täuschen. Ethisch besagt das, wie sich von selbst versteht, ganz außerordentlich viel: psychologisch ist es aber zunächst nur ein neu hinzutretendes Bestandstück eine komplexen psychischen Sachlage, das der richtigen Beurteilung der übrigen Bestandsstücke dieser Komplexion eventuell sehr förderlich sein könnte. Und wirklich ist das in der uns hier interessierenden Richtung der Fall. Wer einen anderen täuschen will, unterliegt selbst der betreffenden Täuschung sicher nicht; genauer wäre es nur etwa, da er ja auch selbst getäuscht sein und daher in der Meinung, zu täuschen, wider seinen Willen etwas Wahres sagen kann, zu behaupten: wer täuschen will, hat jedenfalls eine andere Meinung, als die er zu haben vorgibt, fällt also das Urteil nicht selbst, das er im anderen hervorrufen will. Was man also in Spiel und Kunst zwar zu vermuten das beste Recht hat, aber doch mehr als einmal nicht zur vollen Gewißheit bringen können wird, das ist im Fall der Lüge von vornherein ausgemacht: der Lügner glaubt nicht selbst, was zu glauben er sich den Anschein gibt, und so erhebt sich hier besonders nachdrücklich die Frage, wie er denn eigentlich das erfaßt, was er die anderen glauben machen will.

Und über den Ausfall der Antwort auf diese Frage könnte nach der Analogie des bisherigen eine Unsicherheit weiter gar nicht aufkommen, drängte sich unter den besonderen Umständen dieser Sachlage nicht noch ein Gesichtspunkt auf, dessen Berechtigung nicht ganz ungeprüft bleiben kann. Wer sich vorsetzt, die Überzeugung eines anderen in bestimmter Weise zu beeinflussen, wird sich zu seinem Vorhaben doch wohl ebenso verhalten müssen wie sonst der Begehrende, insbesondere also auch Wollende zu seiner Absicht, d. h. er wird wohl das, was er will, vorstellen müssen. In unserem Fall ist dasjenige, was hervorgebracht werden soll, eine bestimmte Überzeugung in einem anderen: und wer diese verwirklichen will, muß sie eben vorstellen und zwar natürlich nicht nur den Gegenstand "Urteil des anderen" etwa in abstracto, sondern gerade das Urteil, worauf es ankommt und das gegenüber anderen Urteilen nach Akt und Inhalt differenziert ist. In dieser Weise scheint man hier über den Rekurs auf die Annahmen hinauskommen zu können: auch wenn es sich um negative Urteile handelt, scheint es entbehrlich, die Annahmen zu Hilfe zu rufen, da man ja ein negatives Urteil am Ende ebensogut muß vorstellen können wie ein affirmatives.

Man findet sich durch diesen Bescheid vor eine der psychologischen Untersuchung noch in besonderem Maße bedürftige Frage gestellt, vor die Frage nämlich nach der Weise, wie es beim Vorstellen von psychischen Tatsachen zugeht, die nicht etwa der inneren Wahrnehmung direkt gegenwärtig sind. Es würde uns viel zu weit führen, wollten wir diesem Problem hier in seinem ganzen Umfang nachgehen. In betreff des relativ speziellen Falles, der uns hier zunächst angeht, sind einige erste Feststellungen unschwer zu gewinnen. Gesetzt, man finde sich vor die Aufgabe gestellt, sich das Urteil vorzustellen, die Engländer hätten in ihrem Verhalten gegen die Buren das Völkerrecht nicht verletzt. Wer wirklich dieser Ansicht ist, wird wohl ohne viel Besinnen die Aufgabe in der Weise lösen, daß er das seinen Überzeugungsdispositionen entsprechende Urteil erneuert und sich so mit Hilfe der inneren Wahrnehmung zugleich in den Besitz der verlangten Vorstellung setzt. Wie aber wird sich derjenige verhalten, der das so wenig glaubt, daß er sich etwa eben darüber wundert, eine solche Überzeugung bei diesem oder jenem sonst ganz urteilsfähigen Menschen angetroffen zu haben? Oder wie, wenn man sich an eine Ansicht erinnert, die man vormals selbst gehabt, dann aber aufgegeben hat?

Daß es möglich sein muß, zunächst Erinnerungen an Urteile analog zu konzipieren wie Wahrnehmungen dieser Urteile, dafür bürgt schon der fließende Übergang des Wahrnehmens ins Erinnern. (7) Sage ich also etwa: "ich war gestern überzeugt, daß die erwarteten Gäste eintreffen würden", so kann ich, obwohl sich einstweilen die Irrigkeit dieser Meinung herausgestellt hat, diese Erinnerung an mein gestriges Urteil in ganz gewöhnlicher Weise auf die zugehörige Vorstellungsgrundlage stellen, indem ich mein gestriges Urteil in seiner Bestimmtheit nach Akt und Gegenstand (genauer natürlich Inhalt) vorstelle. Und ähnlich, wenn auch nicht mehr in voller Anschaulichkeit, werde ich auch die Meinung eines anderen als solche erfassen können, gleichviel ob sie auch meine Meinung ist oder nicht.

Daß dies nun aber keineswegs die einzige Weise ist, in der ich das Urteil anderer in meinen Gedankenkreis einzubeziehen vermag, davon überzeugt man sich besonders leicht, wenn man sich mit der Geschichte einer Wissenschaft beschäftigt und dabei etwa den theoretischen Konzeptionen eines bestimmten Forschers näher zu treten bemüht ist. Man prüfe z. B., wie man sie verhält, wenn man sich LOCKEs Gedanken über die primären und sekundären Qualitäten zu vergegenwärtigen versucht. Davon, daß da der Gedanke "Urteil LOCKEs" oder "Meinung LOCKEs" oder dgl. im Vordergrund der Aufmerksamkeit stünde, und das, was LOCKE gedacht hat, sich nur wie eine Art Determination anschlösse, davon ist auch nicht entfernt die Rede. Man hält sich vielmehr an die primären und sekundären Qualitäten selbst, und wird dabei die Autorschaft LOCKEs vielleicht auch zu keiner Zeit ganz aus dem Auge verloren, so wird dieser Erfolg doch höchstens durch einen an die Hauptgedanken ganz äußerlich sich anknüpfenden Neben- oder Begleitgedanken an jene erzielt. Und das wird umso gewisser der Fall sein, je kompliziertere oder sonst schwierigere Theoreme es zu erfassen gilt, je mehr es darauf ankommt, Theoreme, die ein Ganzes ausmachen, nicht nur als tatsächlich vermöge der Person des Autors zusammengegeben zu erkennen, sondern auch ihren Zusammenhang, ihre natürliche Zusammengehörigkeit zu verstehen.

Das Verfahren, das man einschlägt, gleicht also weit mehr einem Nachbilden als einem passiven Beschauen. Wie ist es aber möglich, ein Urteil "nachzubilden", ohne selbst zu urteilen? - und daß der das Urteil des anderen Erfassende es dem Stand seiner Überzeugung gemäß nicht miturteilen kann, haben wir ja vorausgesetzt. Oder sollte das "Nachbilden" etwa darin bestehen, daß man ein dem vorgegebenen Urteil konformes Urteil nur sozusagen für den Augenblick fällt, um es dann sogleich wieder zurückzunehmen? Solcher plötzlicher Überzeugungswechsel verstieße gegen alle sonstige Erfahrung und so steht man hier eben wirklich vor einem der schon im vorigen Kapitel (8) erwähnten Fälle, wo der gehörte oder gelesene Satz, obwohl er ein Urteil ausdrückt, im Hörenden oder Lesenden doch kein Urteil wachruft. Der einzige psychische Tatbestand jedoch, der das affirmative wie negative Urteil noch "nachzubilden" imstande ist, kann, soweit unser Wissen reicht, dann eben nur noch die Annahme sein, und die Frage, wie es in Fällen der eben betrachteten Art mit dem Erfassen überzeugungsfremder Urteile bewandt ist, kann dann etwa so beantwortet werden: das Subjekt erzeugt in sich eine dem vorgegebenen Urteile gegenstands- und qualitätsgleiche (9) Annahme, verbunden mit dem mehr oder minder deutlichen Bewußtsein, daß das zugehörige Urteil dieses oder jenes andere Subjekt zum Autor oder Vertreter habe. In Bezug dieses Nebengedankens wird genauere psychologische Präzisierung sicher noch in besonderem Maße nötig sein: für unsere Zwecke wird der Hinweis auf die Annahmen ausreichen.

Wir können nämlich nunmehr zusammenfassend behaupten: es gibt zwei Wege, Urteile anderer zu erfassen, einen direkten, indem das betreffende Urteil zum Gegenstand einer Vorstellung und dann eines auf diese gestellten Urteils gemacht wir, - außerdem einen mehr indirekten, für den das Eintreten einer dem betreffenden Urteil gegenstands,- und qualitätsgleichen Annahme wesentlich ist. Auch wer einen anderen täuschen will, muß ein Urteil dieses anderen oder auch deren viele ins Auge fassen als das zu verwirklichende Ziel seines Begehrens: es entsteht die Frage, welchen der beiden in Betracht kommenden Wege er erfahrungsmäßig beschreitet. Sehe ich recht, so kann die Antwort hierauf nun weiter auch nicht zweifelhaft sein. Es mag ja oft geschehen, daß, wer den Entschluß faßt, den anderen zu belügen, fürs erste sein Ziel rein vorstellungsmäßig ergreift, soweit so etwas überhaupt möglich ist (10): häufig, wenn es sich um ein einigermaßen verwickelteres "Lügengewebe" handelt, wird schon dies auf beträchtliche, wohl gar unüberwindliche Schwierigkeiten in der Ausführung stoßen, so daß schon hier die um vieles leichter zustande zu bringenden Annahmen zu Hilfe gerufen werden müssen. Diese werden aber so ziemlich immer in Anspruch zu nehmen sein, wenn es auf die Ausführung des Entschlusses ankommt. Denn die unvergleichlich einfachste Verhaltensvorschrift wird hier dieselbe sein wie beim "Spiel" im weitesten Sinne: man wird sich möglichst in die Lage versetzen, als glaubte man wirklich, was man sagt oder sonst glauben macht und dieses "in die Lage versetzen" ist uns ja längst als der Tatbestand der Annahme bekannt.

Eine Verifikation findet diese Auffassung dann in der so oft beobachteten Tatsache, daß, wer andere täuschen will, damit am Ende sich selbst täuscht, indem er zuletzt seine eigene Lüge glaubt. Die "bloße Vorstellung" eines Urteils wird man nicht leicht mit einem wirklichen Urteil zu verwechseln imstande sein; und vom Vorstellen zum Urteilen überzugehen, wäre unter den gegebenen Umständen besonders fernliegend, da das neu hinzukommende Urteil nicht einmal denselben Gegenstand aufzuweisen hätte wie die Vorstellung, indem die Vorstellung das fremde Urteil, das hinzukommende Urteil dagegen den Gegenstand des vorgestellten Urteils zum Gegenstand hat. Dagegen ist die Annahme dem Urteil ähnlich genug, um unter Umständen eine Verwechslung nicht geradezu unverständlich erscheinen zu lassen. Außerdem aber ist die Ähnlichkeit einem sich tatsächlich vollziehenden Übergang von einem psychischen Verhalten zum andern natürlich in hohem Maße günstig. Wir sind sonach berechtigt, in der Lüge einen das Auftreten von Annahmen zwar nicht in strenger Allgemeinheit fordernden, ein solches aber aufs Kräftigste begünstigenden Tatbestand zu erblicken.


§ 12.
Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen

Vielleicht hat es auf den ersten Blick befremdet, daß bereits im vorigen Kapitel die Frage kurzweg dem Gebiet der Begehrungen zugewiesen wurde. Aber es liegt darin wirklich nicht mehr als die Konstatierung einer Selbstverständlichkeit. Sieht man etwa von den sogenannten rhetorischen Fragen ab, die eben streng genommen gar keine Fragen sind, übrigens dem Interessenkreis dieser Darlegungen insofern nahe stehen, als der rhetorisch Fragende sich leicht in der Lage befinden könnte, den Zustand des wirklich Fragenden zu "fingieren", - von der rhetorischen Frage also abgesehen, steht doch außer Zweifel, daß, wer fragt, eben eine Antwort erhalten möchte. Läßt man überdies auch die leicht zu übersehenden Komplikationen beiseite, die sich speziell bei den mancherlei didaktischen und ihnen verwandten sowie sonstigen uneigentlichen Fragen einstellen, so ist klar, daß, wer fragt, etwas wissen möchte und daß er dasjenige, worauf das gewünschte Wissen sich beziehen soll, durch seine Frage zur Mitteilung bringt. Hierzu stellt die Sprache dem Fragenden, wie berührt, Sätze zur Verfügung, die oben bereits in der Liste der Fälle, wo Sätze anderes als Urteile ausdrücken können, Aufnahme gefunden haben: es scheint eben selbstverständlich, daß man in einer Sache, in der man sich urteilsunfähig fühlt und darum zur Urteilsfähigkeit eben erst gelangen will, sich nicht gleichwohl zu einem Urteil verstehen wird. Nun muß aber die Gültigkeit dieser oben schon angewendeten Betrachtungsweise doch dahin eingeschränkt werden, daß es immerhin Fragen gibt, die, wenn sie auch kein Urteil direkt ausdrücken, dieses doch insofern indirekt tun, als sie ein Urteil zur wesentlichen Voraussetzung haben. Wer mich fragt, zu welchen Zeiten Eisenbahnzühge in der Nähe des von mir bewohnten Hauses halten, behauptet damit, wenn auch nur "implizit", daß ich in der Nähe einer Eisenbahn-Haltestelle wohne. Wer fragt, wem die Seefischerei gehöre, setzt durch seine Frage voraus, wem die Seefischerei gehöre, setzt durch seine Frage voraus, daß es in dem See, den er meint, eine Fischerei gebe usw. Fragen solcher Art gehen von einem Wissen aus, das nur in diesem oder jenem Punkt noch nicht bestimmt genug ist: sie zielen auf Ausfüllung der betreffenden Wissenslücke, können daher passend Ergänzungsfragen (11), auch wohl Bestimmungsfragen heißen. Ihnen stellen sich in schon äußerlich auffälliger Deutlichkeit Fragen gegenüber, die in korrekter Weise anders als durch "Ja" oder "Nein" nicht beantwortet werden können und die im Hinblick hierauf als Bestätigungsfragen bezeichnet worden sind. (12) Genau genommen ist indessen durch diese Benennung nur auf die eine der beiden möglichen Antworten, die affirmative nämlich, Rücksicht genommen und insofern möchte etwa die Bezeichnung dieser Fragen als "Entscheidungsfragen" vorzuziehen sein. Jedenfalls ist es diese zweite Klasse von Fragen, welche im Hinblick auf das Thema dieser Untersuchungen von uns ausschließlich in Betracht zu ziehen ist.

Um in Betreff des psychischen Zustandes des in dieser Weise Fragenden ins Reine zu kommen, empfiehlt es sich, vor allem festzustellen, was dieser durch seine Frage eigentlich erreichen will. Ohne Zweifel ebensogut eine Erweiterung oder Bereicherung seines Wissens wie bei der Bestimmungsfrage. Daß es aber diesmal kein gegenständliches Mehr ist, worauf es dem Fragenden ankommt, das erhellt sich aus der Beschaffenheit der beiden adäquaten Antworten, deren keine die Sachlage nach der gegenständlichen Seite hin zu verändern vermag. Das Einzige,was eine solche Antwort leisten kann, ist dies, daß sie den Fragenden, falls er dem Gefragten traut, ist dies, daß sie den Fragenden, falls er dem Gefragten traut, in die Lage setzt, dem von ihm selbst vorgegebenen gegenständlichen Material gegenüber durch Fällung eines darauf bezüglichen affirmativen oder negativen Urteils sozusagen Stellung zu nehmen. Damit ist gesagt, daß der Fragende als solcher in betreff der Sache, auf die seine Frage eigentlich geht, noch nicht urteilt, die Frage also insofern darauf zielt, ihn in die Lage zu setzen, in einer Angelegenheit zu urteilen, in der er zur Zeit der Frage, gleichviel aus welchem Grunde, nicht urteilen kann. Kurz also: der Fragende - immer nur den Fall der Entscheidungsfrage im Auge behalten - als solcher urteilt nicht; was tut er also?

Nächstliegend, jedenfalls dem Herkommen am besten entsprechend ist der Bescheid: was der Fragende tut, ist eben das, was zum Erfassen eines gegenständlichen Materials unerläßlich ist. Er bietet dem Gefragten sozusagen einen Gegenstand für ein zu fällendes Urteil dar, indem er selbst diesen Gegenstand vorstellt und zugleich bereit ist, an diese Vorstellung je nach dem Ausfall der Antwort ein affirmatives oder negatives Urteil zu knüpfen. Nun belehrt uns aber ein Blick auf die gewöhnlichsten der einschlägigen Fragesätze darüber, daß diese selbst sowohl affirmative als negative Form annehmen können. Es ist also in Wahrheit nicht erst Sache der Antwort, dem Gegensatz von Ja und Nein hier eine Stelle zu schaffen: dieser Gegensatz liegt vielmehr schon im psychischen Verhalten des Fragenden vor und wenn unsere bisher durchgeführten Untersuchungen im Wesentlichen das Richtige getroffen haben, so muß sich im Fragenden auch mehr als bloßes Vorstellen zugetragen haben.

Bevor hier die Konsequenz gezogen wird, auf die es, wie der Leser ohne Mühe bereits erraten haben mag, abgesehen ist, muß noch eine Möglichkeit erwogen werden, die in manchen Fällen ohne Zweifel in gut beglaubigte Wirklichkeit umgesetzt erscheint. Könnte die Entscheidungsfrage nicht so aufzufassen sein, daß der Fragende nicht nur gegenständliches Material, sondern auch zugleich eine Vermutung darüber dem Gefragten präsentiert und von diesem nur verlangt, die Vermutung in eine wenigstens praktisch ausreichende Gewißheit, sei es ihrer selbst, sei es ihres Gegenteils, umzuwandeln? Wirklich ist diese Charakteristik der Sachlage bereits gelegentlich als eine ganz selbstverständliche ohne besondern Beweis in Anspruch genommen worden (13) und es scheint in der Tat sozusagen aus sich selbst heraus plausibel, daß derjenige nicht wohl mit "Ja" fragen werde, der die Antwort "Nein" erwartet und umgekehrt. Die Erfahrung wird dem überdies, wie gesagt, gar nicht jedesmal entgegen sein: auch mag die Anforderung, einem gegebenen gegenständlichen Material gegenüber sich jeglicher Vermutung zu enthalten, keine in voller Strenge leicht zu erfüllende Forderung sein. Inzwischen findet, was ich eben das innerlich Forderung sein. Inzwischen findet, was ich eben das innerlich plausibel Scheinende an dieser Sache nannte, eine seltsame Beleuchtung durch die Tatsache, daß die negative Entscheidungsfrage nicht selten eine der Erfahrung sehr wohl vertraute suggestive Kraft nach der Richtung ihres Gegenteils hin betätigt, weil sie eine der Negation entgegengesetzte, also affirmatie Vormeinung des Fragenden zu verraten pflegt. "Nähern wir uns nicht bereits dem Ziel unserer Wanderung"?, fragt natürlichst derjenige, der das Ziel schon zu erkennen meint und diese Vermutung bekräftigt hören möchte. Auf eine nähere Untersuchung dieser merkwürdigen Tatsache kann hier nicht eingeganen werden und für unsere nächste Zwecke genügt jedenfalls der Hinweis darauf, daß es Entscheidungsfragen genug gibt, bei deren naturgemäß zumeist affirmativer Formulierung die vielleicht vorliegende, sehr häufig aber die Stärke des praktisch in Betracht Kommenden keineswegs erreichende Vormeinung gar keinen Anteil hat. Auch gibt es negative Formulierungen solcher Fragen, die nicht intellektuell, sondern emotional motiviert sind und so zugleich bald als Ausdruck eines Wunsches, bald als der eines Widerstrebens verstanden werden. Und so bleibt denn für einen guten Teil der in Wirklichkeit anzutreffenden Entscheidungsfragen, ja für die eigentlich normalen Fälle derselben zunächst für deren Differentiation in affirmative und negative Fragen doch keine andere psychologische Interpretation als der Hinweis auf die Annahmen übrig, der die sonst drohenden Schwierigkeiten aufs Ungezwungendste löst. Wer eine Entscheidungsfrage stellt, macht über einen bestimmten, allenfalls, wie vorerst noch hingenommen sein mag, (14) einfach durch Vorstellung gegebenen Gegenstand eine je nach Umständen affirmative oder negative Annahme, von der zu einem entsprechenden oder auch qualitativ entgegengesetzten Urteile zu gelangen, das Ziel der in der Frage ausgedrückten Begehrung ist. (15)

Zugleich legt dieses Ergebnis die Frage nahe, ob die Entscheidungsfragen wohl den einzigen Begehrungsfall darstellen, an dem Annahmen beteiligt sind. Ohne Zweifel nehmen ja die Fragen anderen Begehrungen gegenüber eine Ausnahmestellung ein, nicht unähnlich der der "Wissensgefühle" gegenüber den "Wertgefühlen" (16): man könnte nicht unpassend die Fragen als Wissensbegehrungen charakterisieren. Dies tritt auch im sprachlichen Ausdruck hervor: was der Fragesatz an gegenständlichem Material darbietet, ist nicht etwa der Begehrungsgegenstand, wie solches bei Begehrungssätzen sonst der Fall ist. Und bei sekundärem Ausdruck einer Frage knüpft der von der Fragebehauptung abhängige Satz an diesen natürlichst mit einem "ob" an, indessen dem sekundären Ausdruck gewöhnlicher Begehrungen ein "daß" zu dienen pflegt. Dem "ich frage, möchte wissen, ob das Wetter beständig bleiben wird" steht die Wendung gegenüber "ich wünsche, daß es beständig bleibe"; und man erkennt zugleich, daß hier der abhängige Satz mit "ob" als natürlicher Ausdruck der in der Frage liegenden Annahme gelten kann. Trotz sonstiger Verschiedenheiten wird nun aber vielleicht schon jetzt unmittelbar zu erkennen sein, daß in der uns hier zunächst interessierenden Beziehung ein solcher "ob"-Satz einem der bei sonstigen Begehrungen auftretenden "daß"-Sätze ganz analog zur Seite steht, indem, um zu begehren, daß etwas geschehe oder nicht geschehe, das "bloße Vorstellen" schon wegen des auch hier zur Geltung kommenden Gegensatzes von Ja und Nein nicht ausreicht, sonach das Annehmen zu Hilfe gerufen werden muß. Doch soll hierauf an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden, weil uns spätere Untersuchungen (17) ein abschließendes Urteil über diese Sachlage wesentlich erleichtern werden.


§ 13.
Aufsuggerierte Annahmen

Wir haben bisher Spiel, Kunst, Frage usw. ausschließlich vom Standpunkt des dabei zunächst aktiven Subjektes aus betrachtet und die Annahmen in dessen Verhalten aufgesucht. Nun haben wir es aber da mit Betätigungen zu tun, die teils häufig, teils ausnahmslos über dieses zunächst dabei aktive Subjekt auf andere Subjekte gleichsam übergreifen und es steht zu erwarten, daß dabei die von uns im obigen agnoszierten [als richtig anerkannt - wp] Annahmen die durch sie in Mitleidenschaft gezogenen Subjekte im Sinne der Hervorbringung weiterer Annahmen bestimmen, diesen Subjekten also Annahmen aufsuggerieren werden, wie man mit Recht sagen kann, wenn man das Wort "suggerieren" im weistesten, von jeder pathologischen Nebenbedeutung freien Sinn versteht.

Dem ist dann auch wirklich so. Im Spiel vor allem gibt es ja so häufig Mitspielende, die nicht selten eine ganz unerläßliche Voraussetzung des betreffenden Spieles sind und für deren Verhalten in erster Linie wesentlich zu sein pflegt, daß sie auf die ihnen "mitgeteilten" Annahmen durch gegenstands- und qualitätsgleiche (18) Annahmen reagieren um dann immerhin durch das Ziehen praktischer oder logischer Konsequenzen, wohl auch durch das mehr oder minder willkürliche Hinzufügen neuer Annahmen das Spiel weiter zu führen. In gleicher Weise steht dem schaffenden wie dem reproduzierenden Künstler das seine Leistungen aufnehmende "Publikum" als mehr oder minder unentbehrliches Komplement gegenüber und bei dem dieses "Aufnehmen" ausmachenden Verhalten spielen wieder die aufsuggerierten Annahmen eine fundamentale Rolle. Natürlich auch diesmal in auffälligster Weise bei den redenden Künsten, denen gegenüber der Unterschied zwischen Hören und Lesen in der uns beschäftigenden Richtung kaum etwas Wesentliches zu bedeuten hat. Man steht hier geradezu wieder vor einem der Fälle, bei denen die Ratlosigkeit, in der man sich ohne Rekurs auf die Annahmen befindet, in besonders handgreiflicher Weise zutage tritt.

Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man sich nur etwa beim einfachsten und bekanntesten Volksmärchen die Frage vorzulegen, welche Stellung man, indem man dasselbe erfaßt, ihm gegenüber denn eigentlich einnehme. Von der Situation desjenigen, der die "wunderbare Geschichte" einfach glaubt, kann hier also ebenso seltenem wie psychologisch uninteressantem Ausnahmefall abgesehen werden. Aber auch auf den Gedanken, man könnte es hier mit "bloßem Vorstellen" zu tun haben, braucht im Hinblick darauf, daß in einem solchen Märchen Positives und Negatives bunt durcheinander läuft, nicht mehr zurückgenommen zu werden. Gäbe es aber hier vielleicht doch einen Weg, das Urteil heranzuziehen, obwohl der Zuhörer, wie eben berührt, das, was ihm erzählt wird, nicht glaubt? Ich selbst habe in Zeiten, da mir die Annahmen unbekannt waren, zwei Wege einzuschlagen versucht, um der Schwierigkeit Herr zu werden. Einmal könnte man sich denken, der Zuhörer stelle sich irgend jemanden, etwa sich selbst oder auch den Erzähler oder sonst jemanden vor, der das Erzählte wirklich glaubte. Das andere Auskunftsmittel bestünde in der Vermutung, der Zuhörer glaube, d. h. urteile zur Zeit des Hörens wirklich im Sinne der Erzählung, nehme aber dann die so zustande kommenden Urteile sofort wieder zurück, so daß durch das Zuhören keine ungehörige Änderung in den Stand seines Wissens hineinkäme. Von diesen beiden Hypothesen wird dem natürlichen Erkenntnis-Instinkt dessen, der von ihnen zum ersten Mal hört, wohl keine sich als sonderlich verlockend darstellen; und so kann ich mich bei der Begründung des Verwerfungsurteils, das auch ich heute über beide fälle, kurz fassen.

Demjenigen, der sich die Geschichte von den sieben Schwaben oder von Dornröschen erzählen läßt, Vorstellungen von Urteilen zuzumuten, hat in der direkten Empirie keinen Halt und erscheint auch gegenüber allem, was man sonst weiß, als völlig unnatürlich. Damit ist die erste Hypothese abgelehnt, ganz abgesehen davon, daß auch dann aus uns bereits wohlbekannten Gründen, zunächst um der immer noch wohl unvermeidlich sich einstellenden Negationen willen, das Einbeziehen von Annahmen unvermeidlich sein möchte. Die zweite Hypothese wäre vielleicht vom letzterwähnten Mangel leichter frei zu halten; auch kommt sie ihrem unmittelbaren Eindruck nach gerade dem Märchenbeispiel gegenüber keineswegs zur Geltung, die ihr unter anderen Umständen gar wohl zukommen könnte. Die Zumutung, auch nur vorübergehend ein Märchen zu glauben, wird sich wenigstens der "Gebildete" nur sehr ungern bieten lassen. Dagegen wird er vielleicht ohne sonderliches Widerstreben einräumen, daß, obwohl er den Roman, den er eben liest, doch in der Regel auch nicht für eine "wahre Geschichte" nimmt, er sich während der Lektüre desselben zur Handlung und zu den einzelnen Personen recht ähnlich verhält, als ob sie wirklich wären. So wird der Gedanke, daß beim Romanlesen mehr vorgeht als bloßes Vorstellen, sich manchem als Selbstverständlichkeit aufgedrängt haben und mancher wird dann auch keinen allzu großen Schritt bis zur Vermutung nötig finden, daß er das Gelesene zwar nicht dauernd, aber während des Lesens und ehe er sich Zeit nimmt, sich darüber zu besinnen, wirklich glaubt, d. h. urteilt. Gleichwohl wird genaueres Zusehen auch hier höchstens ausnahmsweise die Sachlage richtig charakterisiert finden können: im Allgemeinen steht auch diese zweite Hypothese mit dem, was uns innere Empirie über unser Verhalten sagt, in nicht minder bestimmtem Widerspruch wie die erste Hypothese. Zudem wäre der durch sie in Anspruch genommene plötzliche Überzeugungswechsel doch jedenfalls Sache meiner Willkür. Nun ist man aber sonst gewöhnt, die Überzeugung für etwas vom Wollen relativ Unabhängiges zu halten; und was wäre das für eine Unabhängigkeit, wenn es in jedem Augenblick in meiner Macht stünde, diese oder jene meinen sonstigen Ansichten beliebig widerstrebende Überzeugung sozusagen mir selbst auf- und in nächsten Augenblick dann wieder wegzusuggerieren? Es kommt noch hinzu, daß ein solcher plötzlicher Überzeugunswechsel, der zudem auch sonst wieder ohne seinesgleichen wäre, aufmerksamer Selbstbeobachtung und Erinnerung noch viel weniger entgehen könnte als der immerhin in gewissem Sinne minder greifbare Vorgang, den die erste Hypothese in Anspruch zu nehmen versucht.

Zu solchen Künstlichkeiten konstrastier nun auf das Vorteilhafteste die Position, daß der Zuhörer eben keine andere Aufgabe zu erfüllen hat, als anzunehmen, was, wie wir sahen, der Erzähler, indem er erzählt, ja gleichfalls annimmt. Daß damit eine gewisse logische Verarbeitung des Angenommenen auch seitens des Hörers nun gleichfalls keiner besonderen Hervorhebung mehr. Zugleich ist aber das Verhalten dem einfachen Märchen gegenüber paradigmatisch für das Verhalten gegenüber beliebig kompliierten Dichtungen, mögen diese übrigens unter den Typus des Romans oder unter den des Dramas fallen und die vielen ästhetischen Schwierigkeiten über künstlerische Täuschungen, bei denen im Grunde normalerweise doch niemand getäuscht wird, sind damit zugleich in eben so einfacher als erfahrungsgemäßer Weise behoben.

Außerdem belehrt uns nun das Drama auch darüber, daß Annahmen nicht nur mit Hilfe des Wortes aufsuggeriert werden können. Es gibt ja auch dramatische Vorführungen ohne Worte und sollte der Kunstwert derselben auch nicht allzu hoch einzuschätzen sein, sie setzen den Zuschauer ohne Zweifel in bezug auf sein intellektuelles Verhalten in eine ganz ähnliche Lage, wie die ist, in der sich der Zuhörer einer erdichteten Erzählung befindet und lassen so erkennen, daß auch das gewöhnliche auf Worte gestellte Drama, bei dem man ohnehin herkömmlich nicht von Zuhörern sondern von Zuschauern redet, diese nicht nur vermöge der Worte, sondern auch vermöge anschaulicher Vorstellungen aus dem Bereich des Gesichtssinns mit Annahmen versorgt. Damit ist zugleich der Übergang von den redenden zu den bildenden Künsten gewonnen und dargetan, daß der Beschauer auch diesen gegenüber so ziemlich überall dort auf Annahmen angewiesen sein wird, wo das im Kunstwerk sich darbietende Anschauliche auf eine "Bedeutung" Anspruch macht. Daß die Rolle der Annahmen aber auch noch über eine direkte "Darstellung" hinausgehen wird, darauf macht das Verhalten des verständnisvollen Hörers dem musikalischen Kunstwerk gegenüber (19) aufmerksam; spricht doch alles dafür, daß in diesem Verhalten den Annahmen zumindest keine unerheblichere Stellung zukommen wird, als die war, die wir ihnen im künstlerischen Erleben des schaffenden Musikers haben beimessen dürfen.

Nun müssen wir aber noch einmal auf unser obiges Paradigma vom erzählten Märchen zurückgreifen, weil daran noch eine wichtige Tatsache zu konstatieren ist. Wir sind oben von der Voraussetzung ausgegangen, daß der Erzähler selbst in seiner Erzählung nur Annahmen auszusprechen habe. Das ist nun aber eine Voraussetzung, die sich in vielen Fällen gar nicht nachkontrollieren läßt, weil der Erzähler sich äußerlich ganz ebenso verhalten könnte, auch wenn er nicht bloß Angenommenes, sondern wirklich für wahr Gehaltenes erzählte. Natürlich ist die suggestive Wirkung auf den Hörer häufig gleichwohl die nämliche, als wenn der Erzähler bloß Annahmen ausspräche und es erhellt sich daraus neuerlich die schon im vorigen Kapitel berührte Tatsache, daß ein verstandener Ausdruck im Verstehenden durchaus icht die psychische Tatsache wachrufen muß, die gerade ausgedrückt wird. Im Besonderen aber erkennen wir daraus, daß wenn der Redende Überzeugungen ausspricht, der Hörer, indem er versteht, sich diese Überzeugungen gar nicht muß aufsuggerieren lassen. Wer könnte sich etwa erinnern, die Meinung des theoretischen Gegners, wenn es dessen Beweise zu prüfen galt, auch nur vorübergehend zur seinigen gemacht zu haben? Hätte damit nicht der Hauptimpuls zum Durchprüfen überdies normalerweise verloren gehen müssen? Man geriete damit, wie man nicht verkennen kann, unversehens in das Fahrwasser der oben bereits in Bezug auf unser Verhalten bei Erzählungen erwogenen und aus guten Gründen vorworfenen Hypothese vom willkürlichen Überzeugungswechsel. So stehen also auch hier nur die Annahmen als dasjenige zur Verfügung, wodurch der Hörende auf die Worte, zunächst die Sätze des Redenden reagieren wird. Alle Fälle also, wo der Hörende seine Ansicht in bezug auf ein ihm mitgeteiltes Urteil in suspenso [im Zweifel - wp] lassen will oder muß, sind zugleich Fälle von Annahmen.

Mit diesen kurzen Hinweisen will ich die Aufzählung der sich der direkten Empirie in besonders deutlicher Weise aufdrängenden Annahme-Tatsachen beschließen, ohne gerade für die Vollständigkeit dieser Aufzählung mich verbürgen zu wollen. Nun meine ich aber, daß wir damit zu einem Einblick in die wichtigsten Weisen, in denen die Annahmen in die Operationen des menschlihen Intellekts eingreifen, so wenig gelangt sind, daß das Grundlegendste in dieser Hinsicht bisher noch gar nicht zur Sprache kommen konnte. Um dem aber näher zu treten, müssen wir nun auf den Vorteil relativer Leichtzugänglichkeit verzichten und es uns nicht verdrießen lassen, in einige erkenntnis-psychologische Probleme einzudringen, deren Beziehung zur Sache der Annahmen vielleicht nicht sofort kenntlich sein mag. Doch sind es Fragen, deren jede schon um ihrer selbst willen einer sorgfältigen Untersuchung in hohem Maße würdig wäre, deren Hierhergehörigkeit sich dabei aber als ebenso zweifellos, erweisen wird, als die hier darzubietenden Beantwortungsversuche derselben aufrecht zu bleiben verdienen. Neue Wege einzuschlagen wird dabei mehr als einmal, auch abgesehen von der Heranziehung der Annahmen, unerläßlich sein. Doch soll mit der Verhandlung einer Materie begonnen werden, bei der wenigstens die Fragestellung an bereits vielbearbeitete Tatsachen anzuknüpfen in der Lage ist.
LITERATUR: Richard Avenarius, Über das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie, [Eine Antrittsvorlesung] Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1877
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierüber einstweilen meine Abhandlung "Über Gegenstände höherer Ordnung und ihr Verhältnis zur inneren Wahrnehmung", Zeitschrift für Psychologie 21, Seite 185
    2) Vgl. § 1
    3) Vgl. unten Kap. IV
    4) Vgl. Kap. IX, § 62
    5) Natürlich ohne es "wirklich zu glauben".
    6) Vgl. unten Kap. VIII, § 53
    7) Vgl. "Über Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. besonders Seite 265f
    8) Vgl. oben § 7
    9) In Bezug auf die innere Zusammengehörigkeit dieser Momente muß auf Kap. VII vorverwiesen werden.
    10) Vom Anteil der Annahmen an Begehrungen als solchen wird weiter unten die Rede sein, vgl. Kap. VII, § 45
    11) Nach DELBRÜCK, vgl. *KARL GROOS, Experimentelle Beiträge zur Psychologie des Erkennens" in der Zeitschrift für Psychologie 26, Seite 149
    12) Wo auch auf die alte Unterscheidung zwischen erotematischen und peistischen Fragen hingewiesen ist.
    13) KARL GROOS, a. a. O.
    14) Eine Prüfung dieser Supposition soll weiter unten (Vgl. Kap. V und VI) vorgenommen werden.
    15) Daß ich durch diese Aufstellung implizit einen vor Jahren gegen die in BENNO ERDMANNs Logik vertretene Auffassung der Frage erhobenen Einwand einen wesentlichen Punkt nach zurücknehme, wird weiter unten zu berühren sein, vgl. Kap. IX, § 61
    16) Vgl. meine "Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie", Seite 36f
    17) Vgl. unten Kap. VII, § 45
    18) Die Bedeutung dieses Zusammenauftretens von Gegenstand und Qualität wird uns, wie schon einmal berührt, in Kap. VII klar werden.
    19) Vgl. STEFAN WITASEK, "Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung, Zeitschrift für Psychologie Bd. 25, Seite 37f