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ERNST CASSIRER
Symbolische Formen -
Religion, Kunst und Mythos

- I I -

Begriff der symb. Formen
Die Sprache
So führt der Weg der Sprache von der sinnlichen Komplexion zur immer bewußteren und strafferen gedanklichen Einheit: von elementarer Fülle zu einer scheinbaren Armut, die aber in Wahrheit die Strenge analytischer Beherrschung erst ermöglicht.

Und auch hier ist es die  Sprache,  indem sie an beiden Haltungen teilhat, indem sie sich die Momente des Mythos mit denen des Logos verknüpft, damit zwischen die beiden Extreme tritt und zwischen ihnen eine geistige Vermittlung herstellt. Die Eigentümlichkeiten des "komplexen" Denkens tritt für uns am deutlichsten in demjenigen Sprachtypus heraus, den man als den Typus der einverleibenden oder polysynthetischen Sprachen zu bezeichnen pflegt. Der wesentliche Charakter dieser Sprachen besteht bekanntlich darin, daß in ihnen eine scharfe Grenze zwischen Wort und Satz nicht besteht, daß die Einheit des Satzes sich nicht in relativ selbständige Worteinheiten gliedert, sondern daß die Tendenz besteht, den sprachlichen Ausdruck für einen Gesamtvorgang oder für das Ganze einer konkreten Situation in ein einziges Wort von außerordentlich komplexem Bau zusammenzuziehen.

HUMBOLDT ist einer der ersten gewesen, der dieses Verfahren am Beispiel der mexikanischen Sprache erläutert und der es seiner geistigen Grundrichtung nach klarzustellen versucht hat. Es liege - so betont er - dieser Form der Sprache offenbar eine eigentümliche Vorstellungsweise zugrunde: der Satz solle nicht konstruiert, nicht aus Teilen allmählich aufgebaut, sondern als zur Einheit geprägte Form auf einmal hingegeben werden.

Aber diese scheinbar völlig in sich geschlossene und einheitliche Form entbehrt insofern der echten synthetischen Einheit, als sie eine noch undifferenzierte Form ist. Die Synthesis ist ihrem reinen gedanklichen Sinne nach nicht der Gegensatz zur Analyse, sondern setzt diese vielmehr voraus und schließt sie als notwendiges Moment in sich. Die Kraft der Zusammenfassung beruht auf der Kraft der Gliederung; je schärfer diese vollzogen wird, um so bestimmter und energischer tritt jene hervor. Hier dagegen, in dem "polysynthetischen" Verfahren der Sprache, ist die Worteinheit nicht in diesem Sinne die Zusammenfassung klar geschiedener Bedeutungselemente zu einem sprachlichen Bedeutungsganzen, sondern sie ist im Grunde nur ein Konglomerat, in dem die einzelnen Bestimmungen unterschiedslos nebeneinander liegen und ineinander verfließen.

Neben der verbalen Bezeichnung, neben dem Ausdruck für die qualitative Eigenart eines Vorgangs oder einer Tätigkeit, wird im Wortganzen eine Fülle zufälliger Nebenbestimmungen des Tuns oder des Vorgangs zum Ausdruck gebracht. Diese Modifikationen verschmelzen mit der Bezeichnung des Hauptbegriffs und wachsen gleichsam völlig mit ihm zusammen. Ihr Sinn legt sich wie ein dichte Hülle um den des Verbalausdrucks selbst. So geht z.B. in die sprachliche Bestimmung der Tätigkeit jeder besondere Umstand des Ortes, der Zeit, der individuellen Art und Weise und der Richtung des Tuns ein.

Das Verbum ändert durch Einverleibung von Partikeln, durch eine Fülle von Suffixen oder Infixen seine Form, je nachdem das Subjekt der Handlung sitzt, steht oder liegt, je nachdem es zur Klasse der beseelten oder unbeseelten Wesen gehört, je nachdem die Handlung mit diesem oder jenem Werkzeug erfolgte. "Vielleicht" - so bemerkt POWELL, der dieses Verfahren am Beispiel der Indianersprachen eingehend und anschaulich geschildert hat - "war es einmal in Millionen Fällen die Absicht, dies alles mit auszudrücken, und in diesem Fall hat die Sprache den ganzen Ausdruck in  einem  kompakten Wort; aber in einer Unzahl von Fällen zwingt sie auch dort zu einem solchen Ausdruck, wo der jeweilige Zweck der Rede die Erwähnung all dieser Nebenumstände keineswegs erfordert hätte."

Dieser Bemerkung läßt sich freilich entgegenhalten, daß sie unwillkürlich  unsere  Denkgewohnheiten und  unsere  Denkerfordernisse der Beurteilung anders gerichteter Sprach- und Denkweise zugrunde legt. Was als Hauptumstand und was als bloßer Nebenumstand einer Handlung oder eines Vorgangs zu gelten hat, steht ja eben nicht an sich, durch eindeutige objektive Kennzeichen, fest, sondern es ist die Art der geistigen Auffassung, die hierüber entscheidet - und diese Auffassung ist es, die dem sprachlichen Denken und dem sprachlichen Ausdruck seine bestimmte Richtung gibt.

In der Gesamtentwicklung der Sprache aber scheint es sich wieder als allgemeine Regel zu bewähren, daß die Form des anschaulich-kompakten Ausdrucks mehr und mehr der Form des begrifflich-analytischen Ausdrucks weicht; daß an Stelle der außerordentlichen Konkretion, wie sie in primitiven Sprachen herrscht, die logische Schärfe im Ausdruck reiner  Beziehungen  tritt. Während die konkrete Bezeichnungsweise ein Zeugnis und ein Symptom dafür bildet, daß hier das Bewußtsein die Fülle seiner Inhalte gleichsam in Eins zusammenballt und im eigentlichen Wortsinn "konkresziert" besitzt: drückt auf der anderen Seite die fortschreitende Gliederung des Satzes den Fortschritt der gedanklichen Gliederung nicht nur aus, sondern erweist sich zugleich als Mittel, als ein geistiges Vehikel dieses Prozesses.

Es ist bekannt, wie langsam sich in der Entwicklung der Sprache die Form des eigentlichen generischen Ausdrucks herausbildet; wie er durch das Bedürfnis und die Fähigkeit des individuellen Ausdrucks lange Zeit hintangehalten wird. Die früheren Phasen der sprachlichen Entwicklung sind gegenüber den späteren dadurch charakterisiert, daß in ihnen nicht nur kein Mangel, sondern vielmehr eine Überfülle differenzierender Ausdrücke besteht, daß aber nichtsdestoweniger die Differenzen nicht als  solche  bewußt und als  solche  bezeichnet sind, weil es an dem allgemeinen Begriff und somit an dem allgemeinen Prinzip mangelt, aus dem sie als Besonderungen einer übergreifenden Einheit bestimmt werden könnten.

Erst indem die logische Kraft der Analyse erstarkt, und indem sie die Bildung der Sprache mehr und mehr durchdringt, wird dieses Prinzip gefunden und gefestigt. Jetzt nimmt auch die Satzform eine immer strengere logische Fügung an. An Stelle des bloßen Nebeneinanders von Satzgliedern, an Stelle der Parataxe, die für jede primitive Sprachbildung bezeichnend ist, tritt immer bestimmter die Über- und Unterordnung, die der Rede sozusagen erst den geistigen Vorder- und Hintergrund, erst eine logische Perspektive erschafft. So führt der Weg der Sprache von der sinnlichen Komplexion zur immer bewußteren und strafferen gedanklichen Einheit: von elementarer Fülle zu einer scheinbaren Armut, die aber in Wahrheit die Strenge analytischer Beherrschung erst ermöglicht.

Damit scheint sich freilich ein Einwand aufzudrängen, der nunmehr nicht nur gegen die Sprache, sondern gegen die Gesamtheit der symbolischen Formen erhoben werden kann. Erschöpfen diese Formen den tiefsten unmittelbaren Gehalt des Bewußtseins oder bedeuten sie nicht vielmehr eine ständige Verarmung desselben?

Wir haben das Wort WILHELM von HUMBOLDTs erwähnt, daß die Sprache  zwischen  Subjekt und Objekt, zwischen den Menschen und die ihn umgebende Wirklichkeit trete. Aber ist durch dieses Wort nicht zugleich zugestanden, daß sich durch sie, wie durch die anderen Formen, ein Gegensatz und eine trennende Schranke zwischen unserem Bewußtsein und der Wirklichkeit aufrichtet? Und muß somit nicht die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht möglich sei, diese Schranke zu durchbrechen und damit erst zum wahren und wesenhaften, zum hüllenlosen Sein zu gelangen?

In der Tat macht sich heute wieder stärker als zuvor das Bestreben geltend, von aller bloßen Bedeutung zum letzten ursprünglichen Sein, von allem bloß Repräsentativen und Symbolischen zur metaphysischen Grundgewißheit der reinen Intuition zurückzudringen. Der erste und notwendige Schritt hierzu scheint darin zu bestehen, daß wir uns aller konventionellen Symbole entäußern, daß wir an Stelle der Worte die unmittelbare Anschauung, an Stelle des sprachlich-diskursiven Denkens das reine, wortlose Schauen setzen.

Schon BERKELEY hat hierin die Forderung der modernen positivistischen "Sprachkritik" vorweggenommen. "Vergeblich" - so sagt er einmal - breiten wir unsern Blick in die Räume des Himmels aus und suchen wir in die Eingeweide der Erde zu dringen; vergeblich befragen wir die Werke gelehrter Männer und gehen den dunklen Spuren des Altertums nach: wir brauchen nur den Vorhang von Worten wegzuziehen, um hinter ihnen den Baum der Erkenntnis zu erfassen, dessen Frucht vortrefflich und in greifbarer Nähe für uns ist."

Und was hier von der Sprache gesagt ist, das scheint folgerecht von jeder Art symbolischen Ausdrucks gelten zu müssen. Jede geistige Form scheint zugleich eine Hülle zu bedeuten, in die sich der Geist einschließt. Wenn es gelänge, alle diese Hüllen abzustreifen, dann erst - so scheint es - würden wir zur echten unverfälschten Wirklichkeit, zur Wirklichkeit des Subjekts wie des Objekts durchdringen.

Und doch muß schon der Blick auf die Sprache und auf die Stellung, die sie im Aufbau der geistigen Welt einnimmt, gegen Folgerungen dieser Art bedenklich machen. Gelänge es, alle Mittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks und alle Bedingungen, die uns durch sie auferlegt werden, wahrhaft zu beseitigen, dann würde uns nicht der Reichtum der reinen Intuition, die unsagbare Fülle des Lebens selbst entgegentreten, sondern es würde uns nur wieder die Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins umfangen.

Und noch klarer tritt die Notwendigkeit dieser Folgerung heraus, wenn wir die Frage auf die Gesamtheit der symbolischen Formen, auf die Sprache und den Mythos, auf die Kunst und die Religion richten. Von jeder einzelnen dieser Formen glaubt man absehen zu können und kann man unter bestimmten Bedingungen absehen, sofern man nur gewiß ist, daß man, indem man sie aufgibt, eine andere gehaltvollere zurückbehält. So sucht die Mystik sich aller bildhaften Gestaltung, wie sie den Kern der ästhetischen Anschauung ausmacht und aller Bedingtheit des Sprachausdrucks zu entziehen - und in dieser Negation, in diesem reinen "Nein, Nein", das als ein Grundmotiv in jeder geschichtlichen Gestalt der Mystik wiederkehrt, scheint sich nun erst die neue, die eigentümliche Position des religiösen Bewußtseins zu erschließen.

Aber eben als positive Gestalt enthält auch die letztere eine bestimmte und spezifische Weise der Formung in sich. Der Gang unserer Betrachtung hat zu zeigen versucht, wie hinter jedem bestimmten Kreis von Symbolen und Zeichen - mag es sich nun um sprachliche oder mythische, um künstlerische oder intellektuelle Zeichen handeln - immer zugleich bestimmte  Energien  des Bildens stehen. Sich des Zeichens nicht nur in dieser oder jener, sondern in aller Form entäußern, hieße zugleich diese Energien zerstören. Die echte Substantialität des Geistes aber besteht nicht darin, daß er sich alles sinnlich-symbolischen Inhalts als eines bloßen Akzidens entledigt, daß er ihn wie eine leere Schale fortwirft, sonder daß es sich in diesem widerstehenden Medium behauptet.

Für die Philosophie, für die denkende Betrachtung des Seins, kann daher niemals das Leben selbst, vor und und außerhalb aller Geformtheit, das Ziel und die Sehnsucht der Betrachtung bilden; sondern für sie bilden Leben und Form eine untrennbare Einheit. Denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des  Geistes  an: die Kraft des Geistes aber ist - nach einem Wort HEGELs - nur so groß, als seine Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut."
LITERATUR - Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956