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HENRI POINCARÉ
Der Wert der Wissenschaft

"Die Wissenschaft besteht nur durch Übereinkommen, und nur diesem Umstand verdankt sie ihre scheinbare Sicherheit; die wissenschaftlichen Tatsachen - und um so mehr die Gesetze - sind das künstliche Werk der Gelehrten; die Wissenschaft kann uns also keinerlei Wahrheit lehren, sie kann uns nur als Richtschnur unserer Handlungen dienen."

".... man definiert einem Kinde nicht ein Schaf, man sagt ihm: das ist ein Schaf.


Ist die Wissenschaft künstlich?

Wir werden oft gefragt, wozu die Mathematik gut ist, und ob die feinen Konstruktionen, die ganz und gar unserem Geist entstammen, nicht künstlich und Kinder unserer Launen sind. Zwischen denen, die diese Frage stellen, ist ein Unterschied zu machen. Die praktischen Menschen verlangen von uns nur das Mittel, Geld zu erwerben. Diese verdienen keine Antwort; vielmehr sollten wir sie fragen, wozu man so viele Reichtümer ansammelt, und ob man über der Sorge, sie zu gewinnen, Kunst und Wissenschaft vernachlässigen darf, die allein unsere Seelen befähigen, sie zu genießen.

Übrigens ist eine, nur auf die Anwendung gerichtete Wissenschaft unmöglich; Wahrheiten sind nur fruchtbar, wenn eine mit der anderen verkettet ist. Wenn man sich nur an diejenigen hält, von denen man einen unmittelbaren Erfolg erwartete, so fehlen die verbindenden Glieder, und es ist keine Kette mehr.

Die Menschen, die die Theorie am meisten verachten, finden darin, ohne es zu ahnen, eine tägliche Nahrung; wäre man dieser Speise beraubt, so würde der Fortschritt schnell innehalten, und wir würden bald in chinesischer Regungslosigkeit erstarren.

Doch genug von diesen unverbesserlichen Praktikern. Außer diesen gibt es noch Menschen, die die Natur erkennen wollen und nur danach fragen, ob wir imstande sind, sie ihnen besser kennen zu lehren.

Um ihnen zu antworten, brauchen wir nur auf die beiden schon errichteten Denkmäler der Wissenschaft, die Himmelsmechanik und die mathematische Physik hinzuweisen.

Sie werden uns sicherlich zugeben, daß diese stolzen Bauwerke wohl der Mühe wert sind, die sie uns gekostet haben. Das ist aber nicht genug. Die Mathematik hat ein dreifaches Ziel. Sie soll ein Instrument zum Studium der Natur liefern. Sie hat aber auch ein philosophisches und, ich möchte sagen, ein ästhetisches Ziel. Sie soll dem Philosophen helfen, die Begriffe der Zahl, des Raumes und der Zeit zu vertiefen.

Überdies aber bereitet sie ihren Jüngern ähnliche Genüsse, wie die Malerei und die Musik. Sie bewundern die zarte Harmonie der Zahlen und der Formen; sie bewundern eine neue Entdeckung, die ihnen eine unerwartete Aussicht eröffnet; und hat die Freude, die sie empfinden, nicht einen ästhetischen Charakter, obgleich die Sinne gar nicht beteiligt sind? Wenige Auserwählte sind berufen, sie vollständig zu genießen, aber ist es nicht ebenso bei den edelsten Künsten?

Darum zögere ich nicht, zu sagen, daß die Mathematik um ihrer selbst willen gepflegt zu werden verdient, und zwar die Theorien, die nicht auf die Physik angewendet werden können, ebensogut wie die anderen.

Selbst wenn das physikalische und das ästhetische Ziel nicht unzertrennlich wären, so dürften wir weder das eine noch das andere opfern.

Aber zudem können diese beiden Ziele gar nicht voneinander getrennt werden, und das beste Mittel, das eine zu erreichen, ist, das andere ins Auge zu fassen, oder wenigstens es nie aus dem Gesicht zu verlieren. Ich will mich bemühen, dies zu beweisen, indem ich die Natur der Beziehungen zwischen der reinen Wissenschaft und ihren Anwendungen darlege.

Der Mathematiker darf dem Physiker nicht bloß Formeln liefern, es muß zwischen ihnen ein viel engeres Zusammenarbeiten bestehen.

Die mathematische Physik und die reine Analysis sind nicht nur aneinander grenzende Mächte, die gute Nachbarschaft halten, sie durchdringen sich gegenseitig, und ihr Geist ist derselbe. Das wird man besser verstehen, wenn ich gezeigt habe, was die Physik von der Mathematik empfängt und was die Mathematik dagegen von der Physik entlehnt.

Der Physiker kann vom Analytiker verlangen, daß er ihm eine neue Wahrheit enthülle; höchstens kann er ihm helfen, sie zu ahnen.

Seit langer Zeit denkt niemand mehr daran, der Erfahrung zuvorzukommen oder die Welt in allen Stücken auf einigen vorschnellen Hypothesen aufbauen zu wollen. Von all den Gebäuden, an denen man noch vor einem Jahrhundert ein naives Gefallen fand, bestehen heute nur noch Ruinen.

Alle Gesetze sind aus der Erfahrung gezogen; um sie selber auszudrücken, brauchen wir eine besondere Sprache; unsere gewöhnliche ist zu arm, sie ist auch zu unbestimmt, um so zarte, genaue und inhaltreiche Beziehungen auszudrücken.

Dies ist also ein erster Grund, weshalb der Physiker die Mathematik nicht entbehren kann: sie schafft ihm die einzige Sprache, die er sprechen kann. Und eine zweckmäßig gebildete Sprache ist nichts Gleichgültiges. Um bei der Physik zu bleiben, so hat der Unbekannte, der das Wort  Wärme  erfunden hat, ganze Generationen dem Irrtum preisgegeben. Man hat die Wärme als Stoff behandelt, bloß weil sie durch ein Substantiv bezeichnet war, und hat sie für unzerstörbar gehalten.

Hingegen hatte der, der das Wort  Elektrizität  erfunden hat, das unverdiente Glück, die Physik unbeabsichtigt durch ein neues Gesetz zu bereichern, das der Erhaltung der Elektrizität, das sich durch einen Zufall als richtig erwiesen hat, wenigstens bis jetzt.

Um bei dem Vergleich zu bleiben: die Schriftsteller, die die Sprache verschönern, die sie als eine Kunst behandeln, machen daraus gleichzeitig ein Werkzeug, das viel biegsamer und viel geeigneter ist, die Feinheiten des Gedankens wiederzugeben.

Es ist also verständlich, wie der Analytiker, der ein rein ästhetisches Ziel verfolgt, gerade hierdurch dazu beiträgt, eine Sprache zu schaffen, die geeigneter ist, den Physiker zu befriedigen.

Aber das ist nicht alles; das Gesetz geht aus der Erfahrung hervor, aber es geht nicht unmittelbar daraus hervor. Die Erfahrung ist persönlich, das daraus entnommene Gesetz ist allgemein; die Erfahrung ist nur annähernd, das Gesetz ist genau oder trachtet wenigstens danach, es zu sein. Die Erfahrung vollzieht sich immer unter verwickelten Umständen; der Wortlaut des Gesetzes schafft diese Verwickelungen weg. Man nennt das "die systematischen Fehler verbessern".

Mit einem Wort, um aus der Erfahrung das Gesetz zu entnehmen, muß man verallgemeinern; das ist eine Notwendigkeit, die sich dem allerbedächtigsten Beobachter aufdrängt.

Wie aber verallgemeinern? Jede einzelne Wahrheit kann ersichtlich auf unendlich viele verschiedene Arten ausgedehnt werden; man muß eine Wahl treffen, wenigstens vorläufig. Was wird uns bei dieser Wahl leiten?

Das kann nur die Analogie. Aber wie unbestimmt ist dieses Wort! Der natürliche Mensch kennt nur die groben Analogien, die den Sinnen auffallen, die der Farben und Töne. Er würde nicht darauf gekommen sein, zum Beispiel das Licht und die strahlende Wärme miteinander in Verbindung zu bringen.

Wer hat uns die wirklichen, tiefen Analogien kennen gelehrt, die die Augen nicht sehen, die der Verstand ahnt?

Es ist der mathematische Geist, der die Materie verschmäht, um sich an die reine Form zu halten. Er ist es, der uns lehrt, Dinge mit dem gleichen Namen zu nennen, die sich nur durch den Stoff unterscheiden, zum Beispiel die Multiplikation der Quaternionen und die der ganzen Zahlen.

Wären die soeben erwähnten Quaternionen von den englischen Physikern nicht so unmittelbar angewendet worden, so würden viele nur eine müßige Träumerei darin sehen, und doch hätten sie uns, indem sie uns lehrten, zusammenzubringen, was der Anschein trennt, schon fähiger macht, in die Geheimnisse der Natur einzudringen.

Das sind die Dienste, die der Physiker von der Analysis zu erwarten hat; damit diese Wissenschaft sie ihm aber leisten kann, muß sie im allerweitesten Sinne gepflegt werden, ohne Rücksicht auf den unmittelbaren Nutzen. Der Mathematiker muß als Künstler arbeiten.

Was wir von ihm verlangen, ist, daß er uns hilft, zu sehen, unseren Weg zu erkennen in dem Labyrinth, das sich vor uns auftut. Denn der sieht am besten, der sich am höchsten erhoben hat.


Der Begriff des Punktes

Jedermann scheint zu wissen, was ein Punkt ist, und weil wir es zu gut wissen, scheint es uns unnötig ihn zu definieren. Man kann freilich nicht von uns verlangen, daß wir alles definieren können; denn wenn man von Definition steigt, muß wohl ein Augenblick kommen, wo man Halt macht. Aber in welchem Augenblick soll man innehalten?

Zunächst wird man innehalten, wenn man zu einem Gegenstand gelangt, der sinnlich wahrnehmbar ist, oder den wir uns vorstellen können; hier wird die Definition überflüssig; man definiert einem Kinde nicht ein Schaf, man sagt ihm: das ist ein Schaf.

Dann aber müssen wir uns fragen, ob es möglich ist, sich einen Punkt im Raume vorzustellen. Wer mit Ja antwortet, überlegt sich nicht, daß er sich in Wirklichkeit einen weißen Kreidepunkt, auf einer schwarzen Tafel oder einen schwarzen Punkt auf einem weißen Papier denkt, und daß er sich nur einen  Gegenstand oder besser die  Eindrücke,  die dieser Gegenstand auf seinen Sinne machen würde, vorstellen kann.

Wenn er sich einen Punkt vorzustellen sucht, so stellt er sich die Eindrücke vor, die sehr kleine Gegenstände in ihm erwecken. Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß zwei verschiedenen Gegenstände, wenn auch beide sehr klein, durchaus verschiedene Eindrücke hervorrufen können, und ich will auf diese Schwierigkeit nicht eingehen, die immerhin einige Erörterung beanspruchen würde.

Es fragt sich nun, ob der Punkt, den ich mir vor einer Stunde vorstellte, derselbe ist, wie der, den ich mir jetzt vorstelle, oder ein anderer. Mit andern Worten: wie können wir wissen, ob der Punkt, den der Gegenstand  A  im Augenblick  a  einnimmt, der gleiche ist, wie der Punkt, den der Gegenstand  B  im Augenblick  b  einnimmt, oder besser noch, was bedeutet diese Frage?

Ich sitze in meinem Zimmer; ein Gegenstand liegt auf dem Tisch; ich rege mich eine Sekunde lang nicht; niemand berührt den Gegenstand; ich möchte behaupten, daß der Punkt  A,  den dieser Gegenstand zu Anfang der Sekunde inne hatte, der gleiche ist wie der Punkt  B,  den er zu Ende der Sekunde einnimmt. Dem ist aber nicht so: vom Punkt  A  zum Punkt  B  sind 30 km, denn der Gegenstand wurde von der Bewegung der Erde mitgeführt. Wir können nicht wissen, ob ein Gegenstand, klein oder groß, nicht seine absolute Lage im Raum geändert hat, und nicht nur daß wir es nicht behaupten können, diese Behauptung hätte auch gar keinen Sinn und könnte unmöglich irgend einer Vorstellung entsprechen.

Wir können uns aber fragen, ob sich die Lage eines Gegenstandes in bezug auf andere Gegenstände geändert hat oder nicht, und vor allem, ob sich seine Lage in bezug auf unsern Körper geändert hat; wenn sich die Eindrücke, die dieser Gegenstand in uns hervorruft, nicht geändert haben, so werden wir geneigt sein, zu urteilen, daß die relative Lage sich auch nicht geändert hat; wenn sie sich geändert haben, werden wir urteilen, daß der Gegenstand auch seinen Zustand oder seine relative Lage geändert habe.

Es muß noch entschieden werden, welches von beiden anzunehmen ist. Ich habe in  Wissenschaft und Hypothese  erklärt, wie wir dazu kommen, die Änderung der Lage zu erkennen und ich werde später noch darauf zurückkommen. Wir gelangen also zur Einsicht, ob die Lage eines Gegenstandes in bezug auf unseren Körper die gleiche geblieben ist oder nicht.

Wenn wir nun sehen, daß die Lage zweier Gegenstände in bezug auf unseren Körper die gleiche geblieben ist, so schließen wir daraus, daß sich auch die gegenseitige Lage der beiden Objekte nicht geändert hat; aber wir gelangen dazu nur durch einen mittelbaren Schluß. Das einzige, was wir unmittelbar erkennen, ist ihre Lage in Bezug auf unseren Körper.

 Umsomehr  können wir nur durch einen mittelbaren Schluß zu wissen glauben (und noch dazu irrtümlicherweise), ob die absolute Lage des Gegenstandes verändert ist.

Kurz, das System der Koordinatienachsen, auf das wir naturgemäß alle äußeren Gegenstände beziehen, ist ein unveränderlich an unseren Körper geknüpftes Achsensystem, das wir überall mit uns nehmen.

Es ist unmöglich, sich den absuluten Raum vorzustellen; wenn ich mir gleichzeitig Gegenstände und mich selbst im absoluten Raum in Bewegung vorstellen will, so sehe ich mich in Wirklichkeit unbeweglich, verschiedene, sich bewegende Gegenstände und einen Menschen betrachtend, der außerhalb von mir ist, den ich aber  Ich  zu nennen gewöhnt bin.

Wird die Schwierigkeit gehoben sein, wenn man sich entschließt, alles auf die mit unserem Körper verbundenen Achsen zu beziehen? Wissen wir dann, was ein auf diese Weise durch seine Stellung in bezug auf uns bestimmter Punkt ist? Viele werden Ja antworten und sagen, daß sie die äußeren Gegenstände lokalisieren.

Was heißt das? Einen Gegenstand lokalisieren heißt einfach, sich die Bewegungen vorstellen, die man machen müßte, um ihn zu erreichen; das ist so zu verstehen, daß es sich nicht darum handelt, sich die Bewegungen selbst im Raume vorzustellen, sondern nur die Muskelempfindungen, die diese Bewegungen begleiten, un die den Raumbegriff nicht voraussetzen.

Wenn wir uns zwei Gegenstände denken, die nacheinander die gleiche Stellung in bezug auf uns einnehmen so werden die Eindrücke, die diese zwei Gegenstände verursachen, sehr verschieden sein; wenn wir sie in dem gleichen Punkt lokalisieren, so geschieht das nur, weil wir die gleichen Bewegungen machen müssen, sie zu erreichen; abgesehen hiervon sieht man nicht wohl, was sie Gemeinsamens haben könnten.

Aber bei einem gegebenen Gegenstand kann man mehrere Reihen von Bewegungen ersinnen, die gleicherweise erlauben würden ihn zu erreichen. Wenn wir uns also einen Punkt vorstellen, indem wir uns die Gruppen der Muskelempfindungen vergegenwärtigen, die die zu dem Punkt hinführenden Bewegungen begleiten, so wird man mehrere ganz verschiedene Arten haben, sich den Punkt vorzustellen.

Will man sich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben und außer den Muskelempfindungen etwa noch die Gesichtsempfindung zu Hilfe nehmen, so wird man eine oder zwei Arten mehr haben sich denselben Punkt vorzustellen, und die Schwierigkeit ist nur vergrößert. Immer wieder drängt sich uns die Frage auf: warum nehmen wir an, daß alle diese voneinander so verschiedenen Vorstellungen dennoch ein und denselben Punkt bedeuten?

Ein andere Bemerkung ist die: Ich habe eben gesagt, daß wir naturgemäß alle äußeren Gegenstände auf unseren eigenen Körper beziehen; daß wir ein System von Achsen sozusagen überall mit uns herumtragen, auf das wir alle Punkte des Raumes beziehen, und daß dieses System von Achsen gleichsam unveränderlich mit unserem Körper verbunden ist. Man muß beachten, daß man streng genommen nur von unveränderlich mit unserem Körper verbundenen Achsen sprechen könnte, wenn die verschiedenen Teile des Körpers selbst unveränderlich miteinander verbunden wären.

Da dem nicht so ist, so müssen wir, ehe wir die äußeren Gegenstände auf diese erdichteten Achsen beziehen, unseren Körper in der gleichen Haltung denken.


Die Philosophie von Le Roy

Wir haben viele Gründe zum Zweifel; müssen wir aber diesen Skeptizismus bis an die äußersten Grenzen treiben, oder sollen wir unterwegs innehalten? Bis an die äußersten Grenzen gehen ist die verlockendste und bequemste Lösung, die auch viele angenommen haben, die daran verzweifelten, noch etwas aus dem Schiffbruch zu retten.

Unter den Schriften, die von dieser Neigung beeinflußt sind, müssen die von Le ROY ("Revue de métaphysique et de morale"/1899-1901) an erster Stelle genannt werden. Dieser Denker ist nicht nur ein Philosoph und Schriftsteller von größtem Verdienst, er hat sich auch eine tiefe Kenntnis der mathematischen und phsysikalischen Eigenschaften erworben, und sogar eine wertvolle mathematische Erfindungsgabe bewiesen.

Fassen wir seine Lehren, die zu zahlreichen Diskussionen Anlaß gab, in einigen Worten zusammen:

Die Wissenschaft besteht nur durch Übereinkommen, und nur diesem Umstand verdankt sie ihre scheinbare Sicherheit; die wissenschaftlichen Tatsachen - und um so mehr die Gesetze - sind das künstliche Werk der Gelehrten; die Wissenschaft kann uns also keinerlei Wahrheit lehren, sie kann uns nur als Richtschnur unserer Handlungen dienen.

Man erkennt hierin die unter dem Namen "Nominalismus" bekannte philosophische Theorie; nicht alles an dieser Theorie ist falsch, man muß ihr ihr rechtmäßiges Gebiet einräumen, man darf sie es aber auch nicht überschreiten lassen.

Die Lehre Le ROYs ist aber nicht nur nominalistisch, sie hat auch einen anderen Charakter, den sie zweifellos dem Einfluß von BERGSON verdankt, sie ist anti-intellektualistisch. Nach Le ROY entstellt der Verstand alles, was er berührt, und das trifft noch mehr zu bei seinem notwendigen Werkzeug, der Rede. Wirklichkeit gibt es nur in unseren flüchtigen und veränderlichen Eindrücken, und selbst diese Wirklichkeit verschwindet, sowie man sie berührt.

Und dennoch ist Le ROY kein Skeptiker; wenn er den Verstand als unabänderlich machtlos ansieht, so geschieht das nur, um anderen Quellen der Erkenntnis einen größeren Platz einzuräumen, dem Herzen zum Beispiel, dem Gefühl, dem Instinkt oder Glauben.

Wie hoch ich das Talent von Le ROY auch schätze, wie scharfsinnig diese Behauptung ist, ich kann sie doch nicht ganz annehmen. Gewiß stimme ich in vielen Punkten mit Le ROY überein, und er hat sogar zur Stütze seiner Anschauungen verschiedene Stellen aus meinen Schriften zitiert, die ich keineswegs zurückzunehmen gewillt bin. Um so mehr halte ich mich für verpflichtet, zu erklären, warum ich ihm nicht bis zu Ende folgen kann.

Le ROY beklagt sich, häufig für einen Skeptiker gehalten zu werden. Es kann nicht anders sein, obwohl diese Beschuldigung wahrscheinlich ungerechtfertigt ist. Der Schein ist gegen ihn. Nominalist der Lehre und Realist dem Herzen nach, kann er dem absoluten Nominalismus nur durch eine verzweifelte Anstrengung des Glaubens entgehen.

Indem die anti- intellektualistische Philosophie die Analysis und die Rede zurückweist, verurteilt sie sich selbst dazu, unübertragbar zu sein. Es ist eine wesentlich innere Philosophie, oder wenigstens ist das, was sich übertragen läßt, nur das Verneinende. Es ist also nicht zu verwundern, daß sie für einen äußeren Beobachter die Form des Skeptizismus annimmt.

Das ist der schwache Punkt dieser Philosophie; wenn sie sich treu bleiben will, erschöpft sie ihre Macht in einer Verneinung und einem Ausruf der Begeisterung. Jeder Schriftsteller kann diese Verneinung und diesen Ausruf wiederholen und ihre Form ändern, ohne etwas hinzuzufügen.

Und wäre es nicht viel folgerichtiger zu schweigen? Es sind lange Abhandlungen geschrieben, dazu mußt man sich doch der Worte bedienen! War man hierdurch nicht viel mehr "diskursiv" und infolgedessen weiter von dem Leben und der Wahrheit entfernt als das Tier, das ganz einfach lebt, ohne zu philosophieren? Ist nicht dieses Tier der wahre Philosoph?

Dürfen wir daraus, daß kein Maler jemals ein vollommen ähnliches Porträt gemalt hat, den Schluß ziehen, daß die beste Malerei die sei, die gar nicht malt? Wenn ein Zoologe ein Tier seziert, so verändert er es freilich, und indem er es seziert, verurteilt er sich dazu, es nie ganz kennen zu lernen. Wenn er es aber nicht sezieren würde, so wäre er verurteilt, niemals etwas davon kennen zu lernen und infolgedessen nie etwas darüber zu sagen.

Sicherlich gibt es im Menschen andere Kräfte als den Verstand; niemand war je so töricht, es zu leugnen. Der erste beste setzt diese blinden Kräfte in Tätigkeit oder läßt sie spielen; der Philosoph muß davon sprechen, und dazu muß er das wenige kennen, was man davon kennen kann; er muß also ihre Tätigkeit beobachten. Aber wie? Mit welchen Augen, wenn nicht mit seinem Verstand? Das Herz, der Instinkt, können ihn leiten, aber nicht überflüssig machen; sie können die Blicke lenken, aber nicht das Auge ersetzen.

Man kann dem zustimmen, daß das Herz der Arbeiter und der Geist nur das Werkzeug sei. Immerhin ist es ein Werkzeug, das man, wenn nicht zum Handeln, so doch zum Philosophieren nicht entbehren kann. Darum ist ein wirklich anti-intellektualistische Philosophie unmöglich. Vielleicht müssen wir auf den  Vorrang  der Tätigkeit schließen; jedenfalls aber ist es der Verstand, der so schließt. Indem er also der Tat den Vortritt läßt, wahrt er die Überlegenheit des "denkenden Rohrs" (wie PASCAL den Menschen in seinen "Pensées" nennt). Das ist auch ein Vorrang, der nicht zu verachten ist.

Man verzeihe mir diese kurzen Bemerkungen, und daß ich sie so kurz gemacht und die Frage kaum gestreift habe. Ich will hier nicht die Sache des Intellektualismus führen; ich will von der Wissenschaft und für die Wissenschaft reden. Durch Definition sozusagen ist sie entweder intellektualistisch oder sie ist überhaupt nicht. Es kommt mir gerade darauf an, zu wissen,  ob  sie ist.


Die Wissenschaft als Regel des Handelns

Für Le ROY ist die Wissenschaft nur eine Regel des Handelns. Wir sind unfähig, irgend etwas zu erkennen, und doch sind wir ins Leben hineingestellt; wir müssen handeln, und wir haben uns aufs geradewohl Regeln gesetzt. Die Gesamtheit dieser Regeln nennt man Wissenschaft.

Ebenso haben die Menschen zu ihrem Vergnügen Spielregeln festgesetzt, wie zum Beispiel die des Trick-Track, die sich sogar mit noch mehr Recht als die Wissenschaft auf die allgemeine Zustimmung stützen können. Ebenso wirft man auch, außerstande zu wählen und doch zu einer Wahl gezwungen, eine Münze in die Luft, um zu entscheiden nach Kopf oder Schrift.

Die Regel des Trick-Track ist zwar eine Regel des Handelns, wie die Wissenschaft; glaubt man aber, daß der Vergleich zutrifft, und sieht man den Unterschied nicht? Die Spielregeln sind  willkürliche  Übereinkommen, und man hätte auch die entgegengesetzten Verabredungen treffen können,  und sie wären nicht weniger gut gewesen.  Die  Wissenschaft  ist eine Regel des Handelns, die Erfolg hat - wenigstens in den meisten Fällen -, während die entgegengesetzte Regel keinen Erfolg gehabt hätte.

Wenn ich sage: um Wasserstoff herzustellen, lasse man eine Säure auf Zink wirken, so stelle ich eine Regel auf, die Erfolg hat; ich hätte sagen können, man lasse destilliertes Wasser auf Gold wirken; das wäre auch eine Regel gewesen, nur hätte sie keinen Erfolg gehabt.

Wenn also die wissenschaftlichen Rezepte als Regel des Handelns einen Wert haben, so besteht er darin, daß wir wissen, daß sie, wenigstens im allgemeinen, erfolgreich sind. Aber das zu wissen heißt schon  etwas  wissen, und wie kann man dann sagen, daß wir nichts wissen können?

Die Wissenschaft sieht voraus, und deswegen kann sie nützlich sein und als Regel des Handelns dienen. Ich weiß wohl, daß diese Vorhersage oft durch den Erfolg widerlegt wird; dies beweist, daß die Wissenschaft unvollkommen ist und wenn ich hinzufüge, daß sie es immer bleiben wird, so bin ich sicher, daß  dies  wenigstens eine Vorhersage ist, die nie widerlegt werden kann. Sicher ist, daß sich der Gelehrte weniger oft irrt, als der Prophet, der aufs Geradewohl voraussagt. Andererseits ist der Fortschritt langsam aber beständig, so daß sich die Gelehrten, obwohl sie immer kühner werden, immer weniger täuschen. Das ist wenig, aber es ist doch etwas.

Ich weiß wohl, daß Le ROY irgendwo gesagt hat, daß die Wissenschaft sich häufiger irrt, als man glaubt, daß die Kometen den Astronomen manchmal Streiche spielen, daß die Gelehrten, die offenbar auch Menschen sind, nicht gern von ihren Mißerfolgen sprechen, und daß sie, wenn sie davon sprechen wollten, mehr Niederlagen als Siege aufzählen müßten.

Hierin geht Le ROY augenscheinlich über seinen Standpunkt hinaus. Wenn die Wissenschaft erfolglos wäre, könnte sich nicht als Regel des Handelns dienen; woher sollte sie ihren Wert nehmen? Daher, daß sie  erlebt  ist, das heißt, daß wir sie lieben und an sie glauben? Die Alchimisten hatten Rezepte, um Gold zu machen; sie liebten sie und hatten Glauben an sie, und doch sind unsere Rezepte besser, weil sie Erfolg haben, obgleich unser Glaube weniger lebhaft ist.

Es gibt kein Mittel, aus diesem Dilemma herauszukommen; entweder die Wissenschaft erlaubt nicht, vorauszusehen, dann ist sie als Regel des Handelns wertlos; oder sie erlaubt, vorauszusehen, in mehr oder weniger unvollkommener Weise, und dann ist sie nicht wertlos als ein Weg zur Erkenntnis.

Man kann nicht einmal sagen, daß das Handeln das Ziel der Wissenschaft sei; können wir die über den Sirius angestellten Studien verwerfen, unter dem Vorwand, daß wir wahrscheinlich nie irgende eine Wirkung auf diesen Stern ausüben werden?

In meinen Augen ist im Gegenteil die Erkenntnis das Ziel und das Handeln das Mittel. Wenn ich mich über die Entwicklung der Industrie freue, so tue ich es nicht nur, weil sie dem Anwalt der Wissenschaft ein gutes Beweismittel an die Hand gibt, sondern hauptsächlich, weil sie dem Gelehrten den Glauben an sich selbst stärkt, und auch weil sie ihm ein unermeßliches Feld der Erfahrung eröffnet, wo er auf Kräfte stößt, die zu gewaltig sind, als daß man sie durch eine Handbewegung beiseite schieben könnte. Wer weiß, ob er nicht ohne diesen Ballast, von der Vorspiegelung irgend einer neuen Scholastik ergriffen, den festen Boden verlassen haben würde, oder ob er nicht verzweifelte, in der Meinung, daß er nur geträumt habe?


Der Nominalismus und die universelle Invariante

Wenn wir von den Tatsachen zu den Gesetzen übergehen, so ist es klar, daß die Rolle der freien Tätigkeit des Gelehrten viel größer wird. Wir wollen aber untersuchen, ob sie Le ROY nicht dennoch zu groß macht.

Erinnern wir uns zuerst an die Beispiele, der er gegeben hat. Wenn ich sage: Phosphor schmilzt bei 44°, so glaube ich ein Gesetz ausgesprochen zu haben. In Wahrheit gehört das zur Definition des Phosphor; wenn man einen Körper entdeckte, der alle Eigenschaften des Phosphors hat, nur daß er nicht bei 44° schmilzt, so würde man ihm einen anderen Namen geben, und das Gesetz bliebe wahr.

Wenn ich sage: schwere Körper durchlaufen bei dem freien Fall Räume, die dem Quadrat der Zeit proportional sind, so gebe ich gleichfalls nur die Definition des freien Falles. Jedesmal, wenn die Bedingung nicht erfüllt ist, sage ich, daß der Fall nicht frei war, und so kann das Gesetz nie falsch sein.

Es ist klar, daß die Gesetze, wenn sie sich hierauf beschränkten, nicht dazu dienen könnten, vorherzusagen; sie könnten also zu nichts dienen, weder als Mittel der Erkenntnis, noch als Grundsatz des Handelns.

Wenn ich sage: Phosphor schmilzt bei 44°, so will ich damit sagen: jeder Körper, der die und die Eigenschaften besitzt (nämlich alle Eigenschaften des Phosphors außer dem Schmelzpunkt), schmilzt bei 44°. So verstanden ist meine Behauptung wohl ein Gesetz, und dieses Gesetz kann mir nützen; denn wenn ich einen Körper treffe, der diese Eigenschaften besitzt, so kann ich voraussagen, daß er bei 44° schmelzen wird.

Freilich ist es möglich, daß man entdeckt, daß das Gesetz falsch ist. Dann wird man in den Lehrbüchern der Chemie lesen:
    "es gibt zwei Körper, die die Chemiker lange unter dem Namen  Phosphor  vereinigt haben; diese zwei Körper unterscheiden sich nur durch ihren Schmelzpunkt."
Es wäre das nicht das erste Mal, daß die Chemiker dazu kämen, zwei Körper zu unterscheiden, die sie vorher nicht unterscheiden konnten, zum Beispiel das  Neodym  und das  Praseodym,  die lange unter dem Namen  Didym  zusammengeworfen waren.

Ich glaube nicht, daß die Chemiker fürchten, daß ein derartiges Mißgeschick je den Phosphor betreffen könnte. Und wenn es gegen alle Wahrscheinlichkeit doch einträte, so hätten die zwei Stoffe voraussichtlich nicht  genau  die gleiche Dichtigkeit, genau die gleiche spezifische Wärme und so weiter, so daß man, wenn man zum Beispiel sorgfältig die Dichtigkeit bestimmen würde, doch noch den Schmelzpunkt vorhersagen könnte.

Das ist übrigens von keiner großen Bedeutung; es genügt, einzusehen, daß es ein Gesetz gibt, und daß dieses Gesetz, ob es wahr oder falsch sei, nicht auf eine Tautologie hinauskommt.

Wenn wir aber auch auf der Erde keinen Körper kennen, der bei allen anderen Eigenschaften des Phosphors nicht bei 44° schmilzt, so können wir doch nicht wissen, ob er nicht auf anderen Planeten vorhanden ist. Offenbar kann man eine solche Annahme machen, und man wird dann folgern, daß das in Frage stehende Gesetz, das uns, die wir auf der Erde wohnen, als Regel des Handelns dienen kann, gar keinen allgemeinen Wert vom Gesichtspunkt der Erkenntnis hat, und daß es seinen Wert nur dem Zufall verdankt, der uns auf dieser Erde hat geboren werden lassen. Das ist möglich; wenn es sich aber so verhielte, dann wäre das Gesetz nicht deswegen wertlos, weil es ein Übereinkommen wäre, sondern weil es falsch wäre.
LITERATUR - Henri Poincare, Der Wert der Wissenschaft, Leipzig 1906