tb-2cr-1Der Neopositivismus    
 
LENORE RIPKE-KÜHN
Kant contra Einstein

"Hat Einstein den  Absolutismus gestürzt, so hat er die wissenschaftliche Wahrheit gestürzt, den theoretischen Wirklichkeitsbegriff in seiner notwendigen Eindeutigkeit zertrümmert. Wir mögen alternativ  meinen, Hypothesen aufstellen oder irren - aber  voraussetzen müssen wir, daß das Festzustellende auch fest ist, unabhängig von einem Standpunkt, eben  absolut. Sonst schöpfen wir Wasser in ein Sieb und können unser Denken überhaupt aufgeben. Wenn etwas nicht nur verschieden  erscheinen kann,  sondern auch ansich  verschieden ist, selbst  relativ ist, d. h. abhängig vom Standpunkt und Zustand des Beschauens, - nicht nur etwa in den Maßbedingungen, sondern im  Gemessenen selbst, so hört jedes Denken auf."
Einleitung

Die physikalische Relativitätstheorie, deren Ausbau sich an den Namen EINSTEIN knüpft, schlägt ihre Wellen bis in das allgemeine Denk- und Kulturbewußtsein. Schon wird verkündet: die neue Lehre bedeute das Ende des "Absolutismus", schon wird unsre heutiger geistiger Zustand mit dem bei einem Erdbeben verglichen, unter dem der scheinbar für die Ewigkeit geschaffene Bau des Denkens zusammenbricht, nachdem sich der festgewurzelte Glaube an die Unveränderlichkeit der Maßverhältnisse im Weltall als Irrglaube erwiesen habe. Tageszeitungen verkünden die neue "Wahrheit". "Wir müssen" - so schreibt ein ernsthafter Betrachter, - "künftig in unser Hirn die widerspruchsvolle Betrachtung hineinzwängen, daß nicht über all und für jeden ein Meter wirklich ein Meter, eine Stunde wirklich eine Stunde, eine Grammasse wirklich eine Grammasse ist; wir müssen lernen, daß alles, was meßbar ist, variablen Maßwert hat, und daß dieser Maßwert abhängig ist vom jeweiligen Bewegungszustand des Beobachters zum beobachteten Gegenstand oder Ereignis". Trotzdem wird diese "Tat des Kopernikus", wie EINSTEINs Theorie von maßgebender Seite genannt wird, als "Ankergrund für eine in sich geschlossene abgerundete Lebensauffassung" bezeichnet. Die exakte Wissenschaft habe das Absolute relativiert. - Kurz, was nachdenkliche Geister schon seit Jahren bei der Verfolgung und Wandlung der Erwägungen über die Relativität von Raum und Zeit befürchtete, nämlich ein  Überwuchern  dieser als begrenzte Teilwahrheit fruchtbaren Erkenntnis einer "Relativität" von Zeit und Raum (genauer: von  Zeit-  und Raum messung)  über das gesamte Denk- und Weltbild, ist eingetroffen, und ein Forscher selbst, EINSTIN, hat die Theorie zu dieser verhängnisvollen Bedeutung umgebogen mit der sogenannten  allgemeinen Relativitätstheorie: es mußte daraus ein allgemeiner Denkrelativismus werden.  Wohl wankt das Denkgebäude -  aber gerade deshalb fragen wir uns: kann das Denken sich selbst, kann es seine eigenen Bedingungen aufheben ohne sich selbst ad absurdum zu führen?  Ist nicht damit das äußere Kennzeichen einer inneren Schiefheit gegeben?  Dürfen  wir eine "widerspruchsvollen Betrachtung" annehmen? Und was heißt "wirklich" in dem obigen Satz, daß nun nicht überall ein Meter "wirklich" ein Meter sei? Ist ein Meter - als Maßbetrachtung -  überhaupt wirklich?  Läßt sich der exakte Begriff der Wirklichkeit auf Raumzeitliches  als solches  anwenden? Und darf eine Grammasse damit in Parallele gesetzt werden?  Muß  nicht vielmehr der exakte theoretische Wirklichkeitsbegriff  zerstört  werden, wenn man ihn mit solchen Elementen vermischt, die seine Anwendung nicht gestatten? Haben wir nicht in KANT schon den großen Warner gehabt, der Raum und Zeit als besondere phänomenale Anschauungsgesetzmäßigkeit kennzeichnet, beschrieb und von den eigentlich erfahrungkonstituierenden Momente abhob? Die sogenannte "Marburger Schule" war zwar beflissen, diesen Unterschied als trübendes Moment des reinen Intellektualismus wieder zu verwischen. Hat man diesen Unterschied dort bei den Relativitätsforschern beachtet und überhaupt nur  verstanden,  was KANT in den Kategorien als den einzig tragenden und kompetenten Faktoren eines exakten Wirklichkeitsbegriffs aufstellte? Und was heißt hier überhaupt "Bewegung", jener Bewegungszustand, der eine Abhängigkeit der Maßwerte nach sich zieht?  Ist es das an der Bewegung, was als real angesprochen werden kann,  d. h. als unverrückbar gültig und insofern absolut? Denn  die reale Existenz ist keine relative Aussage,  sie ist nicht "je nach dem Standpunkt" oder Bewegungszustand aufhebbar oder wiederum auszusagen. Wir werden sehen: EINSTEINs Relativitätstheorie, so richtig oder falsch auch ihre Einzelaufstellungen und besonderen physikalischen Forschungsresultat sein mögen, ist als Gesamtdenkform unhaltbar,  weil sie den Begriff der theoretischen Wirklichkeit durch einen Relativismus zerstört, der sie selbst unter seinen Trümmern begraben muß.  Nicht jene physikalischen Einzelbehauptungen, sondern die  philosophischen Grundlagen und Folgerungen werden hier bestritten.  Was besagt das Relativitätsprinzip letzten Endes? Eine Binsenwahrheit für den, der - sei es aus erkenntnistheoretischem, sei es aus anderem, etwa ästhetischem Interesse, die Formen und besondere Gültigkeitsbedingungen von Raum und Zeit unbefangen und ansich betrachtet:  nämlich, daß Raum und Zeit, als Relationsformen kat exochen  [schlechtin, ansich - wp] - und diese Rolle spielen sie, gerade auch in der Welt der wirklichen Dinge, -  nicht selbst schon starre Absolute sein können.  - daß eine Verbindung nicht ansich eine  Fixierung  sein kann, daß eine Relation, eine Beziehung nicht  selbst  ein Relationierbares, also ein fester starrer Punkt sein kann, daß der Begriff der  Perspektive,  d. h. eine Verschiebung, Verwandlung des Betrachteten je nach dem Standpunkt, in einem vertieften Sinn für  alles  Raumzeitlich  als solches  - aber auch  nur  als solches - gültig ist, - auch für die Zeit - darin liegt ein gewisses Novum konsequenter Anschauung; die Zeitperspektive - eine "unanschauliche Perspektive" - geht uns hart ein. Aber ist damit schon ein allgemeiner Relativismus und Perspektivismus gerechtfertigt? Ist nicht vielmehr eine  tiefere Besinnung  auf die Verschiedenheiten dieser Formungen von jenen Denkformen geboten, die am  Nicht- Perspektivischen, am Absoluten, d. h. dem in sich gültigen Losgelösten, im Gegensatz zur Relationsform, der Verbundenheit, festhalten  müssen,  wenn nicht in der Tat unser Denken, der letzte Pfeiler unseres Denkens, die  Identität die in sich unverrückte Fixiertheit zertrümmert werden soll? Schon taucht die PILATUS-Frage auf: "Was ist Wahrheit?" Und schwächliche Konsequenzen von "Toleranz" und vom Gleichrichtigen aller Betrachtungsweisen strahlen ins Ethisch wie ins Denkmäßige hinüber.  Aber das ist nicht der Anfang eines neuen Denkens, das ist das Ende allen Denkens!  Die Relativität besonderer Formen, von Raum und Zeit, somit auch Bewegung als Durchmessen eines Raumes in der Zeit - die nur dem Wissenschaftsgebäude als Ergänzung  dienen,  es festigen und erleuchten sollte, wird, durch Überschätzung ihrer Tragweite und ihrer  Kompetenz  in Bezug auf Wirklichkeitsbehauptungen, zum anarchischen Prinzip, das die Wissenschaft über den Haufen rennt.  Tiefe Besinnung auf das Wesen des theoretisch Wirklichen tut not,  Besinnung überhaupt auf die Eigenwertigkeit und Eigenartigkeit der Formen, die unsere Erkenntnis voraussetzt, mit denen sie arbeiten muß. Nur eine Bestimmung auf  Sinn  und  Ziel  unserer  philosophischen Disziplinen,  auf den  teleologischen, d. h. auf ein Ziel zugespitzten Bau  ihrer verschiedenen Formen hilft hier weiter. (1) - Sonst ist ein hoffnungloses Durcheinander von Formen und Gültigkeiten geschaffen, bei dem leicht eine Relations- und somit auch Relativform, die eines Beziehungspunktes bedarf, sich am falschen Platz zur Führerin ausrufen kann, wie dies die zum Relativismus ausgewachsene Relativitätstheorie zeigt. KANT  hat uns - auch auf physikalischem Gebiet - den Weg gewiesen zu einer klaren, strengen Unterscheidung. Über ihn wird unser Weg zur Klärung gehen müssen.  Es erscheint als ein Umweg, in Wahrheit ist es der kürzeste Weg. Ich behaupte, daß drei Viertel der Schwierigkeiten und Irrtümer vermieden worden wären, wenn unsere physikalischen Forscher sich gewisse Grundbegriffe, Unterschiede von Kategorie und Raum-Zeit-Form, von phänomenal und real, von phoronomischer und dynamischer Bewegung wirklich klargemacht hätten.

Eine seltsame Ironie des Schicksals zwingt mich, die ich mir als Lebensaufgabe gesetzt hatte, das gute Recht von Raum- und Zeitgültigkeiten - das Recht des "Phänomenalen" - in ihrer Heimatsphäre, der Sphäre, wo sie konstituierend sind, gegen Übergriffe einer intellektualistischen Auffassung zu verteidigen (siehe meine Dissertation), nun den notwendigen eisernen Bestand des theoretischen Gebäudes  gegen einen wild und tollgewordenen Phänomenalismus zu verteidigen. Suum cuique  [Jedem das Seine - wp]: sind diese Raum-Zeit-Formen mit ihrer eigentümlichen, perspektivischen Gesetzlichkeit, mit ihrer gleitenden Relation, mit ihrem Fehlen von allem, was an Identität, Kausalität, Realität im üblichen und exakten Sinn erinnert, bisher zu lange unbeachtet ihrem eigentlichen und eigentümlichen Wesen nach geblieben, so muß doch die  Überwältigung des theoretischen Denkens durch die "relativen" Gesetzlichkeiten  der phänomenalen Sphäre ebenso kräftig abgewehrt werden. Nur wer überhaupt dort Unterschiede sieht, kann Übergriffe erkennen. Gerade weil mir diese Sphäre der Raum-Zeit-Gültigkeit in ihren eigentümlichen Bedingungen sehr vertraut ist, erkenne ich mit Schrecken, wie ungeheuer aufgebauscht und in ihrer Bedeutung verzerrt sie und ihre Art der Gültigkeit nur als  fermentum decompositionis  [Gärungsprozeß - wp] in der neuen Theorie auftauchen. Und zwar vor allem in der sogenannten "Allgemeinen Relativitätstheorie" EINSTEINs, die die  ganze  theoretische Gesetzeswelt im Grunde unter das Gesetz der Relativität stellen will. Bestimmte bedenkliche und schwierige Punkte der sogenannten Speziellen Relativitätstheorie, die die Relativität, die  Vertauschbarkeit der Deutung  von Ruhe und Bewegung mit ihrer Konsequenz für Messungen nur auf geradlinige und gleichförmige Bewegung beschränkte - und mit gutem Grund, denn bei anderen tritt der  Kraft- und Kausalbegriff  gebieterisch  eindeutig  hinzu und macht aus der bloßen "Bewegung" - Verhältnis vom Räumlichen zum Zeitlichen - ganz etwas Neues, - brechen nun in der Allgemeinen Relativitätstheorie als Wunden auf. Nun ist  alles  zweideutig und "alternativ", relativ deutbar, nun "scheint" nicht nur, sondern "ist" etwas so und anders - d. h.  die Sphäre des rein Phänomenalen,  das keine Wahrheit im strengen Sinne kennt und kennen  kann  - die Erscheinung ist noch kein "Irrtum", nur der  Schein  ist Irrtum -  frißt die Sphäre des Realen auf.  Damit ist unsere Wissenschaft entweder, trotz gelehrter Umwege, auf einen primitivsten Standpunkt zurückgeschleudert, oder, was im Effekt auf dasselbe herauskommt, in einen solchen Standpunkt wieder zersetzt, wo die Frage der Wahrheit sinnlos wird. Hat EINSTEIN den "Absolutismus gestürzt",  so hat er die wissenschaftliche Wahrheit gestürzt, den theoretischen Wirklichkeitsbegriff in seiner notwendigen Eindeutigkeit zertrümmert.  Wir mögen alternativ  meinen,  Hypothesen aufstellen oder irren - aber  voraussetzen müssen wir, daß das Festzustellende auch "fest" ist,  unabhängig von einem Standpunkt, eben "absolut". Sonst schöpfen wir Wasser in ein Sieb und können unser Denken überhaupt aufgeben. Wenn etwas nicht nur verschieden  erscheinen kann,  sondern auch ansich  "verschieden" "ist",  selbst "relativ" ist, d. h. abhängig vom Standpunkt und Zustand des Beschauens, - nicht nur etwa in den Maßbedingungen, sondern im  Gemessenen selbst,  so hört jedes Denken auf. Der Rest ist Skepsis, Verwirrung, Relativismus. Ist wirklich der Mensch das Maß aller Dinge geworden? Dekretiert und schafft er Existenzen, Kausalitäten, mehrt und mindert er Substanzen "relativ" zu ihm und seinem Standort? So aber stellt sich, durch eine Verwechslung von Phänomenalem und Realem, von perspektivischer und somit relativer Betrachtung eines zwar phänomenalen,  erscheinenden  Realen mit einer  Relativität dieses Realen selbst,  das vielmehr der ruhende Pol in der Flucht der Erscheinungen  denknotwendig  sein muß, das neue Weltbild dar, wo es über eine methodische Bedeutung seiner "Entdeckungen" hinaus schreiten will. Wir wollen versuchen, das Trugbild auf seinen wahren Gehalt zurückzuführen. Die Aufgabe ist so riesengroß, daß hier nur die Richtung des Weges angedeutet werden kann. Unser Wegweiser aber ist wieder einmal: KANT (2)



"... sollicite cavendum esse, ne principia sensitivae cognitionis domestica terminos suos migrent ac intellectualia afficiant ... erit permutatio intellectualium et sensitivorum vitium subreptionis metaphysicum (phaenomenon intellectuam, si barbaris vocis venia est)" - KANT, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis
[Man sorge, daß die Grundsätze, welche der sinnlichen Erkenntnis eigentümlich sind, nicht ihre Grenzen überschreiten und nicht die Verstandeserkenntnisse anstecken. ... Da nun die Blendwerke des Verstandes mittels der Aufstellung eines sinnlichen Begriffes als eines Verstandesbegriffes ein  Fehler der Erschleichung  (nach Analogie der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes) genannt werden können.] - Übersetzung nach HARTENSTEIN


Die Relativitätstheorie, auch in der Umbildung und Erweiterung, die EINSTEIN ihr neuestens als "allgemeine Relativitätstheorie" gegeben hat, scheint ihren Siegeszug antreten zu wollen. Fast ist sie schon zu einem festen Besitz der physikalisch-philosophischen Theorie erklärt, obwol auch ihre experimentellen Bestätigungen bei weitem nicht so sicher und so zahlreich sind, wie es, nach der Ankündigung der gefundenen Lösung schwierigster Probleme, den Anschein haben könnte. Und vor allem ergeben auch die experimentellen Bestätigungen spezieller Art noch  keineswegs die Beweise für die theoretische Grundauffassung,  die EINSTEIN in seiner "erweiterten" Relativitätstheorie als gesichert hinstellen möchte: nämlich die Gültigkeit der Relativität der Bewegungen für  alle  Bewegungsarten einschließlich der Gravitation, für die  Äquivalenz  von Gravitationswirkung und Beschleunigung des Beobachtungsortes (Bezugssystem). Vielmehr kann man physikalische Einzelresultate EINSTEINs anerkennen, ohne ihm doch seine neue Grundposition zuzugeben.

Für den philosophisch wertenden und abwägenden Zuschauer bietet sich ein seltsames Schauspiel. Er sieht den physikalischen Theoretiker eifervoll den Ast absägen, auf dem er selber sitzt, d. h. er sieht den an die Grundbedingungen des theoretischen Denkens gebundenen Forscher die Grundlage allen theoretischen Feststellens überhaupt zerstören: es ist die apriorische Voraussetzung der  Eindeutigkeit,  genauer: der  Identität  der gemeinten Naturvorgänge, um die sich die Deutung bemüht. Es handelt sich also  nicht  etwa um Hypothesen, die in mehrfacher Deutung an einen zu erforschenden Sachverhalt knüpfen, sondern um die Preisgabe des letzten vom Theoretischen unablösbaren Prinzips, daß sich das Zugrundegelegte, "in Wirklichkeit" nur auf  eine bestimmte  Weise verhalten  kann.  Das Äquvalenzprinzip EINSTEINs ist der Schlag ins Gesicht des theoretisch  notwendigen  und  apriorisch  gegebenen Wahrheitsbegriffs, nachdem bereits vor der endgültigen Fassung des Relativitätsprinzips wiederholte Versuche und Anstürme ihn ins Schwanken zu bringen versuchten. Ein "phaenomenon intellectuam", um mit KANT zu reden, trägt hier die heterogenen Gesetzlichkeiten seiner Sphäre zerstörend in die festgefügte Welt des Intellekts. Und diese Verwechslung und Vertauschung der "intellectualia" und der "sensitiva", die das metaphysische  vitium subreptionis,  das "Laster der Erschleichung" darstellen, trägt ihre Strafe sofort in sich: Zwiespältigkeit und innerer Widerspruch des Aufgestellten, und Selbstzerstörung der Theorie.

Ansich und in seiner noch nicht überwuchernden Gestalt bedeutete das moderne Relativitätsprinzip eine nützliche Erweiterung des Blickfeldes der theoretischen Forschung; eine Erweiterung, die sich zum ersten Mal genötigt sah, einen Typus von Formen und Gesetzmäßigkeiten in ihrem eigentümlichen Charakter fest ins Auge zu fassen, welcher bisher vielfach gröblich vernachlässigt war, nämlich den Typus alles rein Räumlichen und Zeitlichen. Eine Erweiterung, die zwar von KANT, vor allem in seinem "Neuen Lehrbegriff von Bewegung und Ruhe" (1758) und in seinen "Metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaft" (1786) schon klar vorgezeichnet war, und  prinzipiell schon eine saubere Lösung all der Fragen gab, die heute unseren Physikern zu schaffen machen,  die aber in der physikalischen Welt so gut wie gar keine, in der philosophischen auch nur verhältnismäßig schwache Spuren hinterließ und bei KANT selber, trotz der Konsequenzen, die er in der "Kritik der reinen Vernunft" für die theoretischen Belange mit systematischer Klarheit zog, über der Fülle seiner Probleme wieder in den Hintergrund trat. Erstaunlicher als die fehlende Nachwirkung des obenerwähnten physikalisch-theoretischen Werks von KANT ist fast schon die Tatsache, daß die modernen physikalischen Theoretiker auch die philosophischen Grunderrungenschaften eines KANT, selbst in den unumstrittensten Resultaten seiner Kr. d. r. V. nicht ihrem Denken nutzbar machten. Wer die verschiedenen Schriften pro und contra in der Erörterung des Relativitätsprinzips verfolgt hat, der kann, ohne zuviel zu behaupten, sagen, daß noch nicht einmal der Begriff der Kategorie und ihr grundlegender Unterschied von der Raum- oder Zeitgesetzlichkeit den Forschern zu Bewußtsein gekommen ist. Die Verwechslungen von Kausalität mit Zeit, von Substantialität mit Raum lassen sich dort zu Dutzenden aufzeigen. Dieser Umstand - das Fehlen philosophischer Besinnung und die ungeheuerlichen, überflüssigen Verwirrungen, die daraus für die ohnehin schwierige Materie erfolgen, - können wohl den Anstoß dazu geben, daß man auch von philosophisch-erkenntnistheoretischer Seite in dieser Sache hervortritt. Die Kritik hier soll sich auch  ausschließlich auf die philosophischen Grundlagen und Folgerungen  beziehen, die aber sowohl für die physikalische wie die philosophische Forschung bedeutsam sind. Am "neuen" Begriff von Raum, Zeit und Bewegung, der durch die Relativitätstheorie von theoretisch-wissenschaftlicher Seite herausgearbeitet wird, hat ja auch die Philosophie, und  nicht  nur von der theoretischen Disziplin her, ein starkes Interesse, und sie kann am wenigstens stillschweigen, wenn der Begriff der Wirklichkeit und die Bedingungen theoretischer Erkenntnis überhaupt zerstört und aufgelöst werden. Die Tendenz dazu liegt in der Zeit:  es ist kein Zufall, daß die sogenannten Phänomenologen  - in ihren jüngeren und radikaleren Vertretern - ohne es zu wissen, denselben Weg der Zerstörung wandeln: Zwischen Fiktion und Vorstellung des Wirklichen gibt es für sie kein entscheidendes Kriterium, soll es keins geben, da es ihnen nur auf den phänomenalen Gehalt ankommt. Damit mag sehr seine und wertvolle Spezialforschung, insbesondere zugunsten ästhetischer oder psychologischer Vorgänge geleistet werden - als  Gesamteinstellung einer Erkenntnistheorie  zerstört dieser Standpunkt sich selbst und seine eigenen Grundlagen. Ist im Fall der Phänomenologen eine Art  versetzter Ästhetizismus  und ein ungeduldiges Rütteln an den Schranken des theoretischen Formenkreises vielfach die Veranlassung so einer prinzipiellen Überwertung phänomenaler Faktoren, so ist beim Vorstoß von physikalischer Seite die dringende  Notwendigkeit  einer Einsicht in den letzten Charakter besonders gearteter Formen, wie Raum und Zeit, gar nicht zu bestreiten; die  Not  hat die Physiker gezwungen, sich das eigentliche Wesen von Raum und Zeit und somit Bewegung, genauer anzusehen, um sie dann, unter den Bedingungen des theoretischen Erkennens, beherrschen zu können. Der eigentümliche Rückschlag im Verlauf der Untersuchungen ist nur der, daß die "neuentdeckten", lange vernachlässigten Eigentümlichkeiten dieser Formen nun, sozusagen im Schreck und Staunen über ihren, dem theoretischen Denktypus so ganz fremden und inkommensurablen Charakter  in ihrer prinzipiellen Bedeutung für die eigentlichen Erkenntnisziele weit überschätzt werden und statt zu Dienern zu Herren gesetzt werden,  die das ganz Gebäude theoretischen Denkens zu zertrümmern drohen. Es ist, mit NIETZSCHE zu reden, eine Art Rache der Unterdrückten, die sich jetzt in der theoretischen Disziplin zeigt, - die Relativitätstheorie ist, sowohl in den Schwankungen und Irrtümern der ansich sehr zu begrüßenden sogenannten speziellen Relativitätstheorie (die sich auf gradlinige und gleichförmige Bewegungen beschränkt), wie vor allem in der stürmischen Erweiterung ihrer Gültigkeit  auf alle und zwar physikalischen  Vorgänge, nicht als ein einziges triumphierendes "phaenomenon intellectuam", eine zu theoretischer Gültigkeit aufgebauschte "Phänomenalisierung" der Denkweise. Es wäre nun im einzelnen nachzuweisen, inwiefern eine solche  Verwechslung phänomenaler und realer Gültigkeiten  in der Relativitätstheorie, vor allem in der allgemeinen Relativitätstheorie EINSTEINs vorliegt, und inwiefern in den Kantischen Errungenschaften sowohl ein Schlüssel zur Lösung des sachlichen Schwierigkeiten (teilweise auch schon die Lösung selbst!) gegeben ist, als eine Widerlegung der hauptsächlichsten und folgenschwersten Irrtümer. Die Darlegung der Fehlerquellen und Verirrungen ist ungeheuer schwierig, denn sie fordert einerseits ein festes Zurückgreifen auf die zu unterst gelegene philosophische Schicht, auf die oft unausgesprochenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die unter den Schichten der mathematischen und physikalischen Erwägungen als "selbstverständliche" Annahmen verborgen sind, sodann aber eine sehr subtile, scheinbar kleinliche Behandlung der Probleme. Denn in einem unscheinbaren "selbstverständlichen" Zusatz liegt oft der Hinweis auf das  proton pseudos  [erster Fehler - wp] für lange Fehlerketten, die bisweilen allerdings in der Sackgasse einer  offenbaren  Abstrusität enden. Sodann aber ist es für einen Nicht-Mathematiker und Nicht-Physiker oft sehr schwer, überhaupt das Netz der Einzelbehauptungen zu durchdringen, um zu diesem philosophischen Untergrund zu gelangen, und unmöglich, es zu kontrollieren. Vor dem Eintritt in die spezielle Untersuchung seien hier aber noch einige Hauptpunkte aufgestellt, die die Haupteinwände vor allem gegen EINSTEINs neue "allgemeine" Relativitätstheorie und die Erfordernisse zur Behebung der Verwirrung kurz zusammenfassen.

1. EINSTEIN hat das  spezielle Relativitätsprinzip  mit seinem richtigen Gedanken der Gleichwertigkeit von Bezugssystemen für eine räumliche und zeitliche Messung  durch Verallgemeinerung sozusagen "überdreht".  Damit ist sein ursprünglicher Sinn - die Unterscheidung von Faktoren, die die theoretische Gesetzlichkeit tangieren und verändern, und solchen, die sie  nicht  tangieren und für die endgültige Formulierung gleichgültig sind, in Unsinn verkehrt. Ansätze zu einer solchen Überspannung spezieller Gültigkeiten in allgemeine boten bereits  gewisse Inkonsequenzen  der speziellen Relativitätstheorie (Interpretierung eines Raum-Zeit-Messungseffekts als reale  Wirkung  und Deutung von phänomenalen Gesetzlichkeiten als reale; "Kausalisierung" der Zeit und Substantialisierung des Raums, - also rechte  phaenomena intellectuata;  daraus: "Erschleichung" von  angeblich auch für das theoretisch Reale gültigen Aufstellungen).  Diese "Inkonsequenzen" haben folgerichtig zu einer Zerstörung des Ganzen geführt.

2. EINSTEIN verkennt vor allen Dingen  den grundlegenden Unterschied von Phoronomischem und Dynamischem,  wie er bei KANT bereits mustergültig durchgeführt ist und auch bei LEIBNIZ einheitlich eingehalten ist, der vor allem den  dynamischen  Bewegungsbegriff betont - der eben durch den Faktor der  dynamis  [Kraft - wp] über das rein räumliche  pherein  [Träger - wp] hinausgeht und in einer anderen, der Sphäre der eigentlich theoretischen kategorialen Gültigkeiten verankert ist. Daran ändert nichts, daß EINSTEIN gelegentlich auch vom rein Kinematischen (Phoronomischen) spricht - seine  Schlußfolgerungen  greifen jedoch unbefangen vom Phoronomischen ins Dynamische über,  hypostasieren  [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]  somit Phänomenales zu Realem.  Es ist eine dauernde  metabasis eis allo genos  [Sprung auf fremdes Gebiet - wp]. Die Verwechslung von Phoronomischem und Dynamischem begegnet uns auf Schritt und Tritt und ist  das eigentliche Grundübel der Argumentationen.  Die Äquivalenz und Vertauschbarkeit zweier Vorgänge  kann sinnvollerweise  überhaupt nur als Phänomenales, rein Phoronomisches verstanden werden, ihre Anwendung auch auf Dynamisches ist der typische Sprößling dieser Vermengung der Begriffe. Daher  zurück zu Kant und seiner klaren Unterscheidung von Phoronomischem und Dynamischem, von reiner Bewegung und den Kräften (Energien, Ursachen) der Bewegung, also von "Anschauungs- und kategorialen Formen", von Phänomenalität und Realität  in einem streng gültigen Sinn!

3. EINSTEIN  "phänomenalisiert" einerseits alle theoretisch gültig sein sollenden Erwägungen,  d. h. er  überträgt  Gesetzlichkeiten und Gültigkeiten des rein Phänomenalen auf die Sphäre realer Erfahrungserkenntnis, wodurch das Grundgebäude theoretischen Denkens erschüttert wird; andererseits (da ihm eben die kritische Unterscheidung hier abgeht) "realisiert" er in unzulässiger Weise phänomenale Verhältnisse, d. h. er  substantialisiert" und "kausalisiert" Raum und Zeit,  indem er Formen des theoretisch realen Denkens auch in ihnen als gültig  voraussetzt  - wie dies übrigens auch in der bisherigen Betrachtung von Raum und Zeit und sogar in bestimmten mathematisch-geometrischen Erwägungen üblich war; ein Verahren, das übrigens gerade von der speziellen Relativitätstheorie, ihrem Sinn und Ziel nach, ausgemerzt werden  sollte.  Der Fortschritt dieser speziellen Relativitätstheorie über frühere Ansichten bestand gerade darin, daß nun Raum und Zeit wirklich "ansich" ins Auge gefaßt und als  reine Relationen,  somit  nicht  als  ansich schon relationierbare  Fixierte, wie die Fixationsbegriffe der theoretischen Denktypen, aufgefaßt und behandelt werden sollten. Aus ihrem Charakter als reiner Relation ergab sich ja gerade, für ihre Verwendbarkeit im theoretischen Denkgebäude, ihre bloße Relativität, d. h. ein noch nicht ansich festgelegter, festgesetzter Charakter ihrer Gliederungen und Einschnitte; diese wurden nun erst "angesetzt" innerhalb einer ansich gleitenden, unbestimmten Relation, deren Verhältnisse und deren Bedeutung abhängig waren von den theoretischen Gesetzlichkeiten und Fixierungen. Dies ist der Gedanke der Relativität in einem genauen und berechtigten Sinn.

Der erste und zweite Fehler stehen in engstem ursächlichen Zusammenhang: wo  keine kritische Unterscheidung  von Formtypen und ihren besonderen Gesetzlichkeiten stattfindet, kann ich ebensogut ein Phänomenales als ein Reales, wie ein Reales als ein Phänomenales ansprechen.

4. EINSTEIN  verwechselt nachweislich Zeit  (zeitlichen Verlauf, zeitliche Beziehung) und  Kausalität, Raum  (räumliche Gebilde, räumliche Beziehung) und  Substantialität Er hat das Wesen der Kategorien und somit das Spezifische des theoretischen Denkens überhaupt nicht begriffen.  Ebensowenig hat er ernsthaft die Konsequenzen einer wirklichen strengen Relativitätstheorie in Bezug auf Raum und Zeit durchgeführt,  vielmehr die sachlichen Ansätze derselben infolge der Ungeklärtheit seiner Anschauungsweise wiederum vernichtet;  der Beweis dafür ist eben die Aufstellung seiner "allgemeinen Relativitätstheorie",  die die Gravitation (einen  Kraft begriff, der auf ganz anderen gedanklichen Voraussetzungen fußt, als die reine Bewegung als Verhältnis von Räumlichem zu Zeitlichem) in die "Relativität" mit hinein bezieht und so eine für einen besonderen Formenkreis durchaus geltende Wahrheit durch Überspannung ihrer Kompetenz in ihr Gegenteil verkehrt.

5. EINSTEINs Relativitätstheorie  kann weder theoretisch noch empirisch als einwandfrei betrachtet werden.  Theoretisch nicht, weil sie zur Selbstaufhebung einer Theorie überhaupt führt und weil sie voller Widersprüche steckt, nicht zuletzt dadurch, daß er sich keineswegs darüber klar ist, wo es sich um notwendige Denkvoraussetzungen (Apriorisches), wo um durch Experiment Beweisbares (Empirisches) handelt. Dies zeigt sich besonders bei seiner Behandlung der Maßansetzung (Lichtgeschwindigkeit; Ätherfrage). Empirisch nicht, weil, wie er in den meisten Fällen selbst zugibt, seine Voraussetzungen sich nicht an den faktisch gegebenen empirischen Bedingungen wirklich nachprüfen lassen, sei es, daß nicht die betreffende Geschwindigkeit, sei es, daß nicht die nötigen msasen aufbringbar sind, die den von ihm theoretisch vorausgesagten Effekt zeigen sollen. Ferner: sie sind nicht bündig, weil das Resultat zwar mit bestimmten Überlegungen von ihm übereinstimmt, aber entweder diese Überlegungen durchaus  nicht notwendig  mit seinen Grundgedanken verknüpft sind, oder aber das Resultat ansich  noch nichts für diesen beweist;  er überschätzt somit dessen theoretische Tragweite. Die Resultate - rein physikalischer Art - mögen sogar richtig sein, die Rückschlüsse auf die letzte umstürzende Grundauffassung sind aber falsch.

6. Zusammenfassen: EINSTEIN  stellt einen Phänomenalismus in der physikalisch-philosophischen Theorie dar, ähnlich wie die Phänomenologen in der erkenntnistheoretisch-philosophischen. Beide zersetzen durch Phänomenalismus den theoretischen Wirklichkeitsbegriff und Wahrheitsbegriff, durch Überspannung seiner Tragweite und vor allem durch die Überschätzung seiner Kompetenz.  Beide sind daher  notwendigerweise  inkonsequent, da sie selber auf dem theoretischen Boden stehen den sie unterhöhlen. Eine nicht nur "relativ" deutbare, sondern sich je nach Auffassung "relativ" verhaltende Wirklichkeit, in der sich die Vorgänge  so oder  anders verhalten können (und zwar ansich und nicht nur  pros hemas  [auf uns - wp], der Voraussetzung nach) ist ebenso in sich widersinnig, wie eine relativ (ansich relativ) seiende Wahrheit. Die Relativitätstheorie im begrenzten und berechtigten Sinn  (Notwendigkeit  der Anknüpfung von bloßen Relationen an ein erst in ihnen anzusetzendes Fixierendes, somit eine  abhängige Relativität  der Gültigkeit dieser Relationsfunktionen (Raum und Zeit) wird nun, als  umfassende Theorie des Erkennbaren  verkündet, zu einer unberechtigten Relativierung des theoretischen Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriffs überhaupt. Das Phänomenale hat das Reale, die "bloße" Relation hat das Fixierend, Bestimmende übermannt, dessen helfender Diener zur Erreichung seiner theoretischen Ziele es darstellen sollte; der neu entdeckte Formtyp hat den theoretisch bodenständigen nicht nur ergänzt, sondern soll nun sogar  bestimmend  sein: er ist zum  phaenomenon intellectuatum  geworden. KANTs Scheidungen, Warnungen, Unterscheidungen müssen wieder beachtet und durchdacht werden, wenn wir nicht in einen vorkritischen, ja im Grund, trotz aller gelehrten Umwege,  völlig naiven Phänomenalismus  am falschen Ort versinken sollen. Denn was ist die unkritische Analogisierung von phänomenalen mit realen Gesetzlichkeiten im Grunde anderes, als das treuherzige Identifizieren von Augenschein mit wissenschaftlich haltbaren Resultaten? Der wahre und "berechtigte" Phänomenalismus als Gesamteinstellung hat an ganz anderer Stelle seine Gültigkeit, nämlich im Ästhetischen. Als Grundlage der physikalischen Wissenschaft muß er zu einer Zerstörung des ganzen theoretischen Wirklichkeitsbegriffes führen.
LITERATUR - Lenore Ripke-Kühn, Kant contra Einstein, Erfurt 1920
    Anmerkungen
    1) Ich habe diese Methode der Teleologie der Erkenntnisformen, die transzendentalteleologische Methode, vor Jahren angedeutet (Ästhetische Autonomie, Dissertation in der Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft), und sie inzwischen auf allen philosophischen Gebieten durchzuführen versucht; diese "Transzendentalteleologie" konnte infolge der Zeitverhältnisse noch nicht in Druck gelangen. Sie gibt den methodischen Unterbau für das hier nur flüchtig Angedeutete.
    2) Nach Vollendung dieser Arbeit im Frühling 1920 trat im August bis September die "Denkempörung" gegen EINSTEIN ans Licht. Forscher wie E. GEHRKE charakterisieren mit Recht EINSTEINs Lehre als Solipsismus - das ist aber eben der wissenschaftliche Nihilismus, den ich hier zu schildern suche. Auch gegen EINSTEINs physikalische Beweise werden von fachlicher Seite neuerdings starke Bedenken erhoben.