Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern | ||||
Gedanke und Wort [ 8/10 ]
Wir haben unsere Untersuchung mit dem Versuch begonnen, die innere Beziehung zwischen dem Gedanken und dem Wort zu ermitteln. Wir haben gefunden, daß der Beginn dieser Entwicklung, die prähistorische Phase des Denkens und der Sprache, keine bestimmten Beziehungen zwischen den genetischen Ursprüngen des Denkens und der Sprache erkennen läßt. Somit sind diese inneren Beziehungen zwischen dem Wort und dem Gedanken keine von Anfang an gegebene Größe, sondern sie entstehen selbst erst während der historischen Entwicklung des menschlichen Bewußtseins und sind somit selbst das Produkt der Menschwerdung. Selbst bei den höchsten Tierarten steht die in phonetischer Hinsicht menschenähnliche Sprache mit dem - ebenfalls menschenähnlichen - Intellekt in keiner Beziehung. Auch in den Anfängen der kindlichen Entwicklung konnten wir ein vorintellektuelles Stadium bei der Herausbildung der Sprache und ein vorsprachliches Stadium in der Entwicklung des Denkens feststellen. Gedanke und Wort sind also nicht durch ein von Anfang an vorhandenes Band miteinander verknüpft. Diese Verbindung entsteht, verändert sich und weitet sich schnell nach allen Seiten im Verlauf der Entwicklung aus. Es wäre aber falsch, Denken und Sprechen sich als zwei voneinander unabhängige Kräfte vorzustellen, die parallel verlaufen oder sich an einzelnen Punkten ihres Weges überschneiden und dabei gegenseitig mechanisch beeinflussen. Das Fehlen eines ursprünglichen Zusammenhangs zwischen dem Gedanken und dem Wort bedeutet keineswegs, daß diese nur in äußerer Verbindung, als zwei wesensverschiedene Bewußtseinstätigkeiten entstehen können. Wie wir im Gegenteil zu Anfang unserer Arbeit zeigten, besteht der methodologische Fehler der meisten Untersuchungen des Denkens und der Sprache gerade in einer solchen Auffassung. Wir haben versucht nachzuweisen, daß die sich aus einer solchen Auffassung ergebende Analyse zum Scheitern verurteilt ist, denn sie zerlegt, um die Eigenschaften des sprachlichen Denkens als Ganzes zu erklären, dieses Ganze in die Elemente, aus denen es gebildet ist, also in Sprache und Denken, die nicht die Eigenschaften enthalten, die den Ganzen zu eigen sind, und versperrt sich so von vornherein den Weg zur Erklärung dieser Eigenschaften. Den Forscher, der diese Methode anwendet, haben wir mit einem Menschen verglichen, der zur Erklärung der Tatsache, daß Wasser Feuer löscht, versuchen würde, Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zu zerlegen, und zu seinem Erstaunen sähe, daß Sauerstoff die Verbrennung fördert und Wasserstoff selbst brennt. Wir haben ferner zu zeigen versucht, daß diese Methode der Zerlegung in Elemente keine Analyse im eigentlichen Sinn des Wortes ist. Eher ist eine Erhebung ins Allgemeine als eine innere Aufgliederung und Heraushebung des Besonderen in dem zu erklärenden Phänomen enthalten. Ihrem ganzen Wesen nach führt diese Methode eher zur Verallgemeinerung als zur Analyse. Tatsächlich betrifft die Feststellung, daß Wasser aus Sauerstoff und Wasserstoff besteht, etwas, was sich in gleicher Weise auf alles Wasser im allgemeinen und auf alle seine Eigenschaften im gleichen Maße bezieht: auf den Großen Ozean genauso wie auf einen Regentropfen, auf die Eigenschaft des Wassers, Feuer zu löschen ebenso wie auf das Archimedische Prinzip. Ebenso bezieht sich die Feststellung, daß das sprachliche Denken intellektuelle Prozesse und sprachliche Funktionen enthält, auf das sprachliche Denken als Ganzes und auf alle seine einzelnen Eigenschaften, und besagt damit nichts über jedes einzelne konkrete Problem, das sich einer Untersuchung des sprachlichen Denkens stellt. Wir haben uns daher von Anfang an auf einen anderen Standpunkt gestellt. Die Methode der Zerlegung in Elemente versuchten wir durch eine Analyse zu ersetzen, die das einheitliche Ganze des sprachlichen Denkens in Einheiten zerlegt, die zum Unterschied von Elementen ursprüngliche Momente darstellen, die zwar nicht die gesamte zu untersuchende Erscheinung, wohl aber konkrete einzelne Seiten und Eigenschaften betreffen. Diese Produkte verlieren auch nicht zum Unterschied von Elementen die dem Ganzen eigenen und der Erklärung unterliegenden Eigenschaften, sondern enthalten diese in einfachster ursprünglicher Form. Wir haben diese Einheit, die die Einheit von Denken und Sprechen in der einfachsten Form widerspiegel, in der Bedeutung Wortes gefunden. Die Wortbedeutung ist eine solche nicht mehr weiter zerlegbare Einheit beider Prozesse, von der nicht mehr gesagt werden kann, ob sie ein Phänomen der Sprache oder ein Phänomen des Denkens darstellt. Ein seiner Bedeutung entkleidetes Wort ist kein Wort: es ist ein leerer Klang; folglich ist die Bedeutung ein notwendiges, konstituierendes Merkmal des Wortes selbst. Es ist das von der Innenseite betrachtete Wort. Somit scheint es hinreichend begründet, die Bedeutung als ein Phänomen der Sprache anzusehen. Aber psychologisch ist die Wortbedeutung eine Verallgemeinerung oder ein Begriff. Verallgemeinerung und Wortbedeutung sind Synonyme. Jede Verallgemeinerung aber, jede Begriffsbildung ist ein spezifischer und unbestreitbarer Denkakt. Folglich sind wir berechtigt, die Wortbedeutung als Phänomen des Denkens zu betrachten. Somit ist die Wortbedeutung gleichzeitig ein sprachliches und ein intellektuelles Phänomen. Die Wortbedeutung ist nur insofern ein Phänomen des Denkens, als der Gedanke mit dem Wort verbunden und im Wort verkörpert ist - und umgekehrt: sie ist nur insofern ein Phänomen der Sprache, als die Sprache mit dem Gedanken verbunden und durch sie erhellt ist. Sie ist ein Phänomen des sprachlichen Denkens oder der sinnvollen Sprache, sie ist die Einheit von Wort und Gedanke. Uns scheint, daß dies kaum noch neuer Bestätigungen bedarf. Unsere experimentellen Untersuchungen haben unsere Meinung gerechtfertigt, indem sie zeigen, daß bei Verwendung der Wortbedeutung als Einheit des sprachlichen Denkens eine Möglichkeit gefunden werden kann, die Entwicklung des sprachlichen Denkens konkret zu untersuchen und seine wesentlichen Eigenschaften auf den verschiedenen Stufen zu erklären. Doch das Hauptergebnis unserer Untersuchungen ist die Entdeckung, daß sich die Wortbedeutungen entwickeln. Die Entdeckung der Veränderung der Wörter und ihrer Entwicklung ermöglicht uns zum ersten Male, die Voraussetzung früherer Ansichten von der Konstanz und Unveränderlichkeit der Wortbedeutungen endgültig zu überwinden. Nach der älteren Psychologie ist der Zusammenhang zwischen Wort und Bedeutung eine assoziative Verbindung, die dadurch zustandekommt, daß die Eindrücke von dem Wort und die Eindrücke von dem durch das Wort bezeichneten Ding wiederholt zusammenfallen. Das Wort erinnert an seine Bedeutung so, wie der Mantel eines bekannten Menschen an diesen selbst oder der äußere Anblick eines Hauses an die in ihm wohnenden Menschen erinnert. Danach kann sich die Bedeutung des Wortes weder entwickeln noch verändern. Die das Wort und seine Bedeutung verbindende Assoziation kann schwächer oder stärker werden, sich durch eine Reihe von Verbindungen mit weiteren Dingen der gleichen Art bereichern, sich auf Grund seiner Ähnlichkeit oder einer Nachbarschaft auf einen breiteren Kreis von Dingen ausdehnen oder im Gegenteil diesen Kreis einengen oder begrenzen, mit anderen Worten, sie kann eine Reihe von quantitativen und äußeren Veränderungen durchmachen, aber sie kann nicht ihre innere psychologische Natur ändern, weil sie dazu aufhören müßte, eine Assoziation zu sein. Natürlich ist die Entwicklung der Wortbedeutungen von diesem Standpunkt aus überhaupt unerklärbar und unmöglich. Das hat sowohl in der Linguistik als auch in der Psychologie der Sprache der Kinder und der Erwachsenen seinen Ausdruck gefunden. Die Disziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der Erforschung der semantischen Seite der Sprache befaßt, die Semasiologie, betrachtet die Wortbedeutung als Assoziation zwischen der lautlichen Form des Wortes und seinem gegenständlichen Inhalt. Daher sind alle Wörter - die konkretesten und die abstraktesten - von der semantischen Seite gleichartig aufgebaut und enthalten alle nichts für die Sprache spezifisches. Die Wort und Bedeutung verknüpfende assoziative Verbindung bildet ebenso die psychologische Grundlage der sinnvollen Sprache, wie die der Erinnerung an einen Menschen beim Anblick seines Mantels. Durch das Wort werden wir veranlaßt, uns an seine Bedeutung zu erinnern, wie uns überhaupt jedes beliebige Ding an ein anderes Ding erinnern kann. Die Semantik, da sie in der Verbindung des Wortes mit der Bedeutung nichts Spezifisches sah, konnte gar nicht die Frage nach der Entwicklung der Wortbedeutungen stellen. Die gesamte Entwicklung wurde ausschließlich auf die Veränderung assoziativer Verbindungen zwischen den einzelnen Wörtern und den einzelnen Dingen reduziert: das Wort konnte erst einen Gegenstand bezeichnen und sich dann assoziativ mit einem anderen Ding verbinden. So kann ein Mantel, wenn er den Besitzer wechselt, erst an einen und dann an einen anderen Menschen erinnern. Die Entwicklung der semantischen Seite der Sprache erschöpft sich für die Linguistik in den Veränderungen des gegenständlichen Inhalts der Wörter, aber ihr bleibt der Gedanke fremd, daß sich die semantische Struktur der Wortbedeutungen im Laufe der historischen Entwicklung der Sprache und die psychologisch Natur dieser Bedeutung verändert, daß der sprachliche Gedanke von niederen und primitiven Formen der Verallgemeinerung zu höheren und komplizierteren übergeht, die ihren Ausdruck in abstrakten Begriffen finden, und daß endlich nicht nur der gegenständliche Inhalt des Wortes, sondern auch der Charakter der Widerspiegelung und Verallgemeinerung der Wirklichkeit im Wort sich im Laufe der historischen Entwicklung der Sprache verändert hat. Die Entdeckung, daß die Bedeutungen der Wörter und ihre Entwicklung nicht konstant, sondern veränderlich sind, ist die wichtigste Einsicht, die allein das Problem des Denkens und der Sprache aus der Sackgasse zu führen vermag. Die Bedeutung eines Wortes verändert sich in der Entwicklung des Kindes. Sie wandelt sich auch bei den verschiedenen Funktionsarten des Denkens und stellt eher ein dynamisches als ein statisches Gebilde dar. Die Veränderlichkeit der Bedeutungen konnte nur festgestellt werden, indem ihre Natur selbst richtig definiert wurde. Ihr Wesen besteht vor allem in der Verallgemeinerung, die in jedem Wort enthalten ist, denn jedes Wort stellt bereits eine Verallgemeinerung dar. Wenn sich aber die Wortbedeutung in ihrem inneren Wesen verändern kann, dann bedeutet dies, daß sich auch die Beziehung des Gedankens zum Wort verändert. Wir möchten aber die Fragen der Entwicklung für einige Zeit beiseite lassen und uns der Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Gedanken und dem Wort im entwickelten Bewußtsein zuwenden. Sobald wir dies versuchen, zeigt sich uns ein grandioses und hochkompliziertes Gemälde, das in der Feingliedrigkeit seiner Architektonik alles übertrifft, was die phantasievollsten Schemata der Forscher dargestellt haben. Hier finden TOLSTOIs Worte ihre Bestätigung, daß "die Beziehung des Wortes zum Gedanken und die Bildung neuer Begriffe ein komplizierter, geheimnisvoller und zarter seelischer Prozeß ist". Bevor wir zur schematischen Darstellung dieses Prozesses kommen, möchten wir, die weiteren Ergebnisse vorwegnehmend, etwas zu dem Leitgedanken der folgenden Untersuchung sagen. Dieser Leitgedanke kann in der allgemeinen Formel ausgedrückt werden: Die Beziehung des Gedankens zum Wort ist keine Sache, sondern ein Prozeß, diese Beziehung ist eine Bewegung vom Gedanken zum Wort und umgekehrt - vom Wort zum Gedanken. Diese Beziehung stellt sich in der psychologischen Analyse als ein Entwicklungsprozeß dar, der eine Reihe von Phasen und Stadien durchläuft. Selbstverständlich ist das keine altersmäßige, sondern eine funktionelle Entwicklung. Der Denkprozeß vom Gedanken zum Wort ist eine Entwicklung. Der Gedanke drückt sich nicht im Wort aus, sondern erfolgt im Wort. Man könnte daher von einem Werden (von der Einheit von Sein und Nichtsein) des Gedankens im Wort sprechen. Jeder Gedanke ist darauf gerichtet, etwas mit etwas anderem zu verbinden, eine Beziehung zwischen dem einen und etwas anderem herzustellen. Jeder Gedanke entfaltet sich, mit einem Wort, er erfüllt eine bestimmte Funktion, leistet eine bestimmte Arbeit, löst eine bestimmte Aufgabe. Dieser Denkablauf geschieht über eine ganze Reihe von Stufen als Übergang des Gedankens zum Wort und des Wortes zum Gedanken. Daher besteht die erste Aufgabe einer Analyse in der Untersuchung der Phasen, aus denen diese Bewegung besteht, und der Unterscheidung der verschiedenen Niveaus, die der sich im Wort verkörpernde Gedanke durchläuft. Hier offenbart sich dem Untersucher vieles, "von dem sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt". In erster Linie führt uns die Analyse zur Unterscheidung zweier Ebenen in der Sprache selbst. Die Untersuchung zeigt, daß die innere, die semantische Sinnseite der Sprache und die äußere, lautliche Seite der Sprache, obwohl sie eine wirklich Einheit bilden, ihren besonderen Grenzen unterliegen. Die Einheit der Sprache ist eine komplizierte, aber keine homogene Einheit. Die eigenen Bewegungen der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache werden an einer ganzen Reihe von Ergebnissen sichtbar, die sich auf das Gebiet der sprachlichen Entwicklung des Kindes beziehen. Wir möchten nur auf die beiden wichtigsten Fakten hinweisen. Bekanntlich entwickelt sich die äußere Seite der Sprache beim Kinde vom Gebrauch eines Wortes zur Verbindung von zwei oder drei Wörtern, dann zum einfachen Satz und zur Verbindung von Sätzen und noch später zu zusammengesetzten Sätzen und zur zusammenhängenden, aus einer expliziten Reihe von Sätzen bestehenden Sprache. Das Kind geht also mit Zunahme der Beherrschung der lautlichen Seite der Sprache von den Teilen zum Ganzen. Bekannt ist aber auch, daß das erste Wort des Kindes seiner Bedeutung nach einen ganzen Einwortsatz darstellt. In der Entwicklung der semantischen Seite der Sprache beginnt das Kind also mit dem Ganzen, mit dem Satz und geht erst später zur Beherrschung der besonderen Sinneinheiten, den Bedeutungen der einzelnen Wörter über, indem es seinen komprimierten, in einem Einwortsatz ausgedrückten Gedanken in eine Reihe einzelner, miteinander verbundener Wortbedeutungen aufgliedert. Wenn man den Anfangs- und Endpunkt in der Entwicklung der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache erfaßt, kann man sich leicht davon überzeugen, daß sie in entgegengesetzten Richtungen verläuft. Die semantische Seite der Sprache geht in ihrer Entwicklung vom Ganzen zum Teil, vom Satz zum Wort, die äußere Seite der Sprache dagegen vom Teil zum Ganzen, vom Wort zum Satz. Bereits dies reicht aus, um die Entwicklung der semantischen und der lautlichen Sprache zu unterscheiden. Die Entwicklungen fallen in einer und der anderen Ebene zusammen, können aber, wie in dem von uns betrachteten Fall, entgegengesetzt erfolgen. Das bedeutet durchaus nicht die Isolierung oder die Unabhängigkeit der beiden Seiten. Im Gegenteil, die Unterscheidung beider Ebenen ist der erste und notwendige Schritt zur Herstellung ihrer inneren Einheit. Ihre Einheit setzt eigene Entwicklungen bei jeder Seite und komplizierte Beziehungen zwischen beiden Entwicklungen voraus. Die Untersuchung dieser Beziehungen ist nur dann möglich, wenn wir diejenigen Seiten unterschieden haben, zwischen denen diese Beziehungen bestehen. Wenn beide Seiten zusammenfielen, könnte überhaupt nicht von irgendwelchen Beziehungen im inneren Aufbau der Sprache die Rede sein, denn Beziehungen eines Dinges zu sich selbst sind unmöglich. In unserem Beispiel tritt diese innere Einheit beider Seiten der Sprache, deren Entwicklungen entgegengerichtet sind, nicht weniger klar hervor als ihre Inkongruenz. Das Denken des Kindes ist ursprünglich ein vages und ungegliedertes Ganzes, und eben darum muß es sprachlich in einem einzelnen Wort seinen Ausdruck finden. Das Kind wählt das sprachliche Gewand für seinen Gedanken gleichsam nach Maß. In dem Maße, wie sich das Denken des Kindes gliedert und zum Aufbau aus einzelnen Teilen übergeht, geht das Kind auch von den Teilen zum geglierten Ganzen über. Und umgekehrt - in dem Maße, wie das Kind in der Sprache von den Teilen zum gegliederten Ganzen zu den Teilen übergehen. Also sind Gedanke und Wort von Anfang an nicht nach einem Muster zugeschnitten. In gewissem Sinne kann gesagt werden, daß zwischen ihnen eher ein Widerspruch als eine Übereinstimmung besteht. Der sprachliche Aufbau ist keine einfache Widerspiegelung der Gedankenaufbaus. Die Sprache ist nicht Ausdruck eines fertigen Gedankens. Wenn sich das Denken in Sprechen verwandelt, strukturiert es sich um und verändert sich. Das Denken wird im Wort nicht ausgedrückt, sondern erfolgt im Wort. Darum bilden die entgegengesetzten Entwicklungen der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache gerade wegen ihres entgegengesetzten Verlaufs eine echte Einheit. Eine andere, nicht weniger grundlegende Tatsache bezieht sich auf eine spätere Entwicklungsepoche. Wie bereits erwähnt, hat PIAGET festgestellt, daß ein Kind die komplizierteste Struktur von Nebensätzen mit den Konjunktionen "weil", "obwohl", "da" und "obgleich" früher beherrscht als die Sinnstrukturen, die diesen syntaktischen Formen entsprechen. Die Grammatik eilt in der Entwicklung des Kindes seiner Logik voraus. Das Kind, das Abhängigkeiten ausdrückende Konjunktionen in seiner spontanen Sprache und in einer entsprechenden Situation vollkommen richtig und adäquat anwendet, ist sich während des ganzen Schulalters der semantischen Seite dieser Bindewörter nicht bewußt und kann sich dieser Seite nicht willkürlich bedienen. Das heißt, daß die Entwicklung der semantischen und der lautlichen Seite des Wortes bei der Beherrschung der komplizierten syntaktischen Strukturen in der Entwicklung nicht zusammenfallen. Die Analyse eines Wortes könnte zeigen, daß diese Inkongruenz von Grammatik und Logik genau wie im vorigen Fall ihre Einheit nicht ausschließt, sondern die Einheit der Bedeutung und des Wortes gerade möglich macht. Weniger direkt, dafür aber noch deutlicher tritt die Inkongruenz der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache in der Funktion des entwickelten Denkens hervor. Um das anschaulich zu machen, müssen wir von der genetischen zur funktionellen Betrachtung übergehen. Doch auch Ergebnisse aus der Entstehungsgeschichte der Sprache gestatten es, in funktioneller Hinsicht einige Folgerungen zu ziehen. Wenn die Entwicklung der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache während der ganzen frühen Kindheit in entgegengesetzten Richtungen verläuft, ist verständlich, daß es zwischen ihnen niemals eine volle Übereinstimmung geben kann. Weitaus kennzeichnender aber sind die Ergebnisse, die sich unmittelbar aus der funktionellen Analyse der Sprache ergeben. Diese Tatsachen sind der modernen psychologisch orientierten Sprachwissenschaft wohl bekannt. Hier muß an erster Stelle die Nichtübereinstimmung von grammatischem und psychologischem Subjekt und Prädikat genannt werden. "Es dürfte kaum einen falscheren Weg für die Deutung des Sinngehalts irgendeiner sprachlichen Erscheinung geben", sagt VOSZLER, "als der grammatischen Interpretation. Auf diesem Wege entstehen Mißverständnisse, die durch die Nichtübereinstimmung der psychologischen und der grammatischen Gliederung der Sprache bedingt sind. Noch deutlicher kann diese Übereinstimmung zwischen grammatischem und psychologischem Subjekt und Prädikat an folgendem Beispiel erläutert werden. Nehmen wir den Satz "Die Uhr ist heruntergefallen", in dem "die Uhr" Subjekt, "ist heruntergefallen" das Prädikat ist, und stellen wir uns vor, daß dieser Satz in zwei verschiedenen Situationen ausgesprochen wird und folglich in ein und derselben Form zwei verschiedene Gedanken ausdrückt. Ich richte meine Aufmerksamkeit darauf, daß die Uhr steht, und frage, woher das kommt. Man antwortet mit: "Die Uhr ist heruntergefallen". In diesem Fall war in mir vorher die Vorstellung von der Uhr, die Uhr ist in diesem Fall das psychologische Subjekt, das, worüber etwas ausgesagt wird. Als zweites entstand die Vorstellung, daß die Uhr heruntergefallen ist. "Ist heruntergefallen" ist in diesem Fall das psychologische Prädikat, das, was über das Subjekt ausgesagt wird. In diesem Fall fällt die grammatische und die psychologische Gliederung des Satzes zusammen, aber es kann auch sein, daß sie nicht zusammenfällt. Während ich am Tisch arbeite, höre ich das Geräusch eines fallenden Gegenstandes und frage, was heruntergefallen ist. Man antwortet mir mit dem gleichen Satz: "Die Uhr ist heruntergefallen". In diesem Fall war im Bewußtsein vorher die Vorstellung von etwas, das gefallen ist. "Ist gefallen" ist das, worüber in diesem Satz etwas ausgesagt wird, was als zweites im Bewußtsein entsteht, ist die Vorstellung "die Uhr", und ist in diesem Falle auch das psychologische Prädikat. Im Grunde könnte dieser so ausgedrückt werden: Das Heruntergefallene ist die Uhr. Dann würden psychologisches und grammatisches Prädikat zusammenfallen, in unserem Beispiel fallen sie jedoch nicht zusammen. Die Analyse zeigt, daß in einem zusammengesetzten Satz jeder beliebige Satzteil zum psychologischen Prädikat werden kann. In diesem Fall trägt es die logische Betonung, deren semantische Funktion darin besteht, das psychologische Prädikat hervorzuheben. "Die grammatische Kategorie stellt in gewisser Weise eine Versteinerung der psychologischen dar", sagt PAUL, "und darum bedarf sie der Belebung durch die logische Betonung, die ihre semantische Struktur hervorhebt". PAUL hat gezeigt, wie sich hinter ein und derselben grammatischen Struktur eine ganz verschiedene innere, seelische verbergen kann. Vielleicht ist die Übereinstimmung zwischen grammatischem und psychologischem Aufbau der Sprache nicht so häufig anzutreffen, wie wir annehmen. Eher wird sie von uns sogar nur als Postulat aufgestellt und in Wirklichkeit selten oder niemals realisiert. Überall in der Phonetik, Morphologie, Lexik und Semantik - verbergen sich hinter den formalen Kategorien psychologische. Die Gliederung der Sprache in Semantik und Phonologie ist nicht von Anfang an gegeben, sondern entsteht erst im Verlauf der Entwicklung: Das Kind muß beide Seiten der Sprache differenzieren, sich ihres Unterschieds und der Natur einer jeden bewußt werden. Ursprünglich treffen wir beim Kinde keine bewußte Einsicht in die Wortformen und -bedeutungen an. Das Wort und seine lautliche Struktur werden vom Kind als Teil des Dings oder als eine Eigenschaft des Dings aufgefaßt, die von seinen anderen Eigenschaften nicht zu trennen ist. Das ist offenbar eine Erscheinung, die jedes primitive Sprachbewußtsein kennzeichnet. HUMBOLDT führt eine Anekdote an, in der ein Mann niederen Standes, als er einem Gespräch von Studenten der Astronomie über die Gestirne zuhörte, die Frage stellte: "Ich verstehe, daß es den Menschen mit Hilfe aller möglichen Geräte gelungen ist, die Entfernung zwischen der Erde und den entferntesten Sternen zu messen und ihre Stellung und Bewegung festzustellen. Aber ich möchte gern wissen, wie man nun die Namen der Sterne erfahren hat?" Er war der Meinung, daß man die Namen der Sterne nur von ihnen selbst erfahren könne. Einfache Versuche mit Kindern zeigen, daß diese noch im Vorschulalter die Namen von Dingen aus ihren Eigenschaften erklären: "Die Kuh heißt Kuh, weil sie Hörner hat, das Kalb, weil seine Hörner noch klein sind, das Pferd, weil es keine Hörner hat, der Hund, weil er keine Hörner hat und klein ist, das Automobil, weil es überhaupt kein Tier ist." Auf die Frage, ob man den Namen eines Dings durch einen anderen ersetzen, ob man beispielsweise die Kuh Tinte und die Tinte Kuh nennen kann, antworten die Kinder, daß das ganz unmöglich sei, weil man mit der Tinte schreibt, die Kuh dagegen Milch gibt. Die Übertragung des Namens bedeutet gewissermaßen auch die Übertragung der Eigenschaft eines Dings auf ein anderes, so eng und unlösbar sind die Eigenschaften des Dings mit seinem Namen verbunden. Wie schwierig es für ein Kind ist, den Namen eines Dings auf ein anderes zu übertragen, wird aus den Versuchen klar, in denen nach Anleitung Dinge künstlich mit unechten Namen belegt werden. In einem Versuch werden die Namen "Kuh - Hund" und "Fenster - Tinte" ausgetauscht. "Wenn ein Hund Hörner hat, gibt der Hund dann Milch?" wird ein Kind gefragt. "Ja". Hat eine Kuh Hörner?" - "Ja". "Die Kuh ist doch ein Hund, hat denn ein Hund Hörner?" - "Natürlich, wenn der Hund eine Kuh ist, wenn er so heißt - Kuh, dann muß er auch Hörner haben. Ein Hund, der Kuh heißt, muß unbedingt kleine Hörner haben". Wir sehen aus diesem Beispiel, wie schwer es für ein Kind ist, den Namen eines Dings von seinen Eigenschaften zu trennen, und wie die Eigenschaften des Dings bei einer Übertragung dem Namen folgen wie der Besitz dem Besitzer. Die gleichen Ergebnisse erhalten wir bei Fragen nach den Eigenschaften der Tinte und des Fensters beim Austausch ihrer Bezeichnungen. Auf die Frage, ob die Tinte durchsichtig sei, erhalten wir die Antwort: Nein. "Aber die Tinte ist doch das Fenster, das Fenster die Tinte". "Also die Tinte ist trotzdem Tinte und undurchsichtig." Wir wollten an diesem Beispiel veranschaulichen, daß die lautliche und die semantische Seite des Wortes für das Kind eine unmittelbare, undifferenzierte und ihm nicht bewußte Einheit darstellt. Eine wichtige Linie der sprachlichen Entwicklung des Kindes besteht gerade darin, diese Einheit zu differenzieren und sich bewußtzumachen. Also verschmelzen zu Beginn der Entwicklung der Wortbedeutungen und ihrer Bewußtheit eine eigene spezifische Bedeutung der semantischen und der lautlichen Seite der Sprache und ein eigener spezifischer Weg des Übergangs von der Bedeutung zum Laut. Die ungenügende Abgrenzung beider Ebenen gegeneinander hängt damit zusammen, daß es im frühen Kindesalter nur in beschränktem Maße möglich ist, einen Gedanken auszudrücken und zu verstehen. Wenn wir in Betracht ziehen, was wir anfangs über die kommunikative Funktion der Bedeutungen sagten, wird klar, daß die Kommunikation des Kindes mit Hilfe der Sprache in unmittelbarem Zusammenhang mit der Differenzierung der Wortbedeutungen und mit dem Bewußtwerden dieser Bedeutungen steht. Das Kind differenziert also anfänglich nicht Wortbedeutung und Ding, Bedeutung und lautliche Form des Wortes. Erst im Verlauf der Entwicklung erfolgt diese Differenzierung in dem Maße, wie sich die Verallgemeinerung entwickelt, und am Ende der Entwicklung, wenn bereits echte Begriffe auftauchen, entstehen alle jene komplizierten Beziehungen zwischen den gegliederten sprachlichen Ebenen, von denen wir oben gesprochen haben. |