cr-2 cr-4ReinholdAenesidemusHamannnDie Wissenschaftslehre    
 
JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Sonnenklarer Bericht
an das größere Publikum, über das
eigentliche Wesen der neuesten Philosophie.


"Durch Beobachtung der Welt außer ihm, und seines eigenen Gemütes, erhält jeder Mensche von gesunden Sinnenwerkzeugen einen Vorrat von Erkenntnissen, von Erfahrungen und Tatsachen. Es vermag ferner dieses durch die unmittelbare Wahrnehmung Gegebene, auch ohne wirkliche Wahrnehmung, frei in sich zu erneuern, darüber nachzudenken, das Mannigfaltige der Wahrnehmung gegeneinander zu halten, die Gleichheiten des Einzelnen, so wie seine Verschiedenheiten aufzusuchen; und auf diese Weise wird, wenn er nur den gewöhnlichen gesunden Verstand hat, seine Erkenntnis  deutlicher, bestimmter, brauchbarer;  immer mehr ein Besitz, in welchem er mit vollkommener Freiheit und Gewandtheit walten kann: keineswegs aber wird sie durch dieses Nachdenken  vermehrt;  man kann nur nachdenken über das  Beobachtete,  nur dieses, so wie es beobachtet ist, unter sich  vergleichen,  keineswegs aber durch bloßes Denken sich neue Gegenstände  erschaffen." 

Vorrede

Gewisse Freunde des transzendentalen Idealismus, oder auch des Systems der Wissenschaftslehre, haben diesem System den Namen der neuesten Philosophie beigelegt. Ungeachtet dessen, daß diese Benennung beinahe wie Spott aussieht, und bei ihrenn Urhebern das Suchen einer allermeuesten Philosophie vorauszusetzen scheint; ungeachtet ferner, daß der Urheber dieses Systems für seine Person überzeugt ist, daß es nur eine einzige Philosophie gibt, so wie nur eine einzige Mathematik, und daß, sobald nur diese einzig mögliche Philosophie gefunden und anerkannt worden ist, keine neuere entstehen, sondern alle bisherigen sogenannten Philosophen nur als Versuche und Vorarbeiten gelten werden: so hat er doch auf dem Titel einer populären Schrift lieber auf jede Gefahr jenem Sprachgebrauch folgen, als sich der unpopulären Benennung des transzendentalen Idealismus, oder der Wissenschaftslehre, bedienen wollen.

Ein Bericht über diese neusten Bemühungen, die Philosophie zur Wissenschaft zu erheben, an das größere Publikum, welchem das Studium der Philosophie nicht zum eigentlichen Geschäft geworden ist, ist aus mancherlei Gründen nötig und schicklich. Zwar sollen bei weitem nicht alle Menschen ihr Leben den Wissenschaften, und eben darum auch nicht der Grundlage aller Wissenschaft, einer wissenschaftlichen Philosophie, widmen; auch bedarf es, um in die Untersuchungen einer solchen Philosophie einzudringen, einer Freiheit des Geistes, eines Talents und eines Fleißes, wie sie nur bei wenigen anzutreffen sind.. Wohl aber sollte jeder, der auf allgemeine Geistesbildung Anspruch erhebt, im allgemeinen wissen,  was  die Philosophie ist; - ungeachtet dessen, daß er die Untersuchungen derselben nicht mit anstellt, doch wissen,  was  sie untersucht; ungeachtet dessen, daß er in das Gebiet derselben nicht eindringt, doch  die Grenze  kennen, wodurch dieses Gebiet von demjenigen, worauf er selbst sich befindet, abgesondert wird; damit er nicht aus jener ganz anderen und ihm völlig fremden Welt Gefahr befürchtet für  die  Welt, in welcher er steht. Er sollte es wenigstens darum wissen, damit er wissenschaftlichen Männern, mit denen er doch als Mensch zu leben hat, nicht Unrecht tue, damit er seinen Anvertrauten nicht falsch rät, und sie von dem abhält, dessen Vernachlässigung sich einst bitter an ihnen rächen dürfte. Aus allen disen Gründen sollte jeder Gebildete zumindest wissen, was die Philosophie  nicht  ist,  nicht  beabsichtigt,  nicht  zu wirken vermag.

Und diese Einsicht in sich hervorzubringen ist nicht nur möglich, es ist sogar nicht schwer. Die wissenschaftliche Philosophie, ungeachtet dessen, daß sie sich über die natürliche Ansicht der Dinge, und über den gemeinen Menschenverstand erhebt, steht dann doch mit ihrem Fuß auf dem Gebiet des letzteren fest, und geht von ihm aus, ungeachtet dessen, daß sie ihr weiterhin freilich verläßt. Diesen ihren Fuß auf dem Boden der natürlichen Denkart erblicken, diesem ihrem Ausgehen zusehen, kann jeder, der auch nur gemeinen Menschenverstand und die gewöhnliche, jedem Gebildeten anzumutende Aufmerksamkeit besitzt.

Eine Berichterstattung, wie die angekündigte, ist besonders einem solchen System - ich nehme hier das Kantische und das neueste für Eins, weil wenigstens in ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit beide unwidersprechlich übereinkommen - sie ist, sage ich, einem solchen System unerläßlich, das der Zeit nach auf ein anderes, das noch fortdauernde  eklektische,  folgt, welches alle Anspruch auf Wissenschaft, wissenschaftliche Vorbereitung und Studium förmlich aufgab, und jeden, der nur zwei zu zwei zählen konnte, zu seinen Untersuchungen einlud; unerläßlich zu einer Zeit, da das unwissenschaftliche Publikum diese Einladung nur zu wohl gefallen lassen, und von der Meinung, daß es sich mit dem Philosophieren ebenso von selbst gebe, wie mit Essen und Trinken, und daß über philosophische Gegenstände jeder eine Stimme hat, der nur überhaupt das Vermögen der Stimme hat, durchaus nicht will abbringen lassen; zu einer Zeit, da diese Meinung soeben großen Nachteil angerichtet hat, und philosophische, nur in einem wissenschaftlich-philosophischen System zu verstehende und zu würdigend Sätze und Ausdrücke wirklich vor den Gerichtshof des unwissenschaftlichen Verstandes und Unverstandes gezogen worden sind, und so der Philosophie kein kleiner übler Leumund erwachsen ist; zu einer Zeit, da man sogar unter den wirklichen philosophischen Schriftstellern vielleicht nicht ein halbes Dutzend finden dürfte, die es wissen, was die Philosophie eigentlich ist, und andere, die es zu wissen scheinen, ein jämmerliches Gewinsel erheben, daß Philosophie - eben nur Philosophie ist; zu einer Zeit, da noch die gründlichsten unter den heutigen Bücherrichtern der neuesten Philosophie keine geringe Schmach angehängt zu haben glauben, wenn sie versichern, daß dieselbe doch viel zu abstrakt ist, als daß sie jemals allgemeine Denkart werden könnte.

Der Verfasser desselben hat nicht versäumt, schon zu mehreren Malen, in den verschiedensten Wendungen, an die angeblichen Kunstverwandten solche Berichterstattungen zu erlassen. Es muß ihm damit nicht durchgängig gelungen sein, denn noch immer hört er von vielen Seiten das alte Lied. Er will jetzt versuchen, ob es ihm bei dem, wenigstens im Sprachgebrauch des Verfassers nicht philosophischen Publikum besser gelingen wird; er will auf die gemeinfaßlichste Weise, die in seiner Gewalt steht, abermals zeigen, was er schon einigemale, und wie er glaubt, in einigen seiner Aufsätze sehr faßlich, gezeigt hat. Vielleicht gelingt es ihm auf diesem Weg wenistens mittelbar auch bei den Fakultätsgenossen. Vielleicht wird der rechtlich unbefangene Mann, der keine philosophische Lehrer- oder Schriftsteller-Berühmtheit zu behaupten hat, inne werden, daß es für die Philosophie gewisser Abstraktionen, Spekulationen und Anschauungen bedarf, welche gemacht zu haben er sich keineswegs erinnert, und die ihm, wenn er sie zu machen versucht, nie gelingen wollen; vielleicht wird er einsehen, daß diese Philosophie über das, worüber er denkt und redet, überhaupt gar nicht denkt oder redet, daß sie ihm nie widerspricht, weil sie mit ihm, von und über ihn gar nicht spricht; daß alle die Worte, deren sie sich etwa gemeinschaftlich mit ihm bedient, einen ganz anderen, ihm durchaus unverständlichen Sinn erhalten, sobald sie in den Zauberkreis dieser Wissenschaft eintreten. Vielleicht wird dieser rechtliche und unbefangene Mann sich von nun an ebenso ruhig enthalten, über Philosophie zu mitzusprechen, wie er sich enthält, über Trigonometrie oder Algebra mitzusprechen, wenn er diese Wissenschaften nicht gerlernt hat; wird, so oft ihm etas von Philosophie vorkommt, unbefangen sagen: laßt das die Philosophen unter sich ausmachen, die nichts anderes gelernt haben; mich geht es nichts an: ich treibe ruhig  mein  Geschäft. Vielleicht, nachdem nur einmal das Beispiel dieser billigen Enthaltsamkeit durch die Laien gegeben ist, werden auch die Gelehrten sich nicht mehr so bitter entrüsten über die - wiederholten geschärften Verbote nicht mitzusprechen über dasjenige, was sie doch offenbar -  nicht einmal gelesen haben. 

Kurz, die Philosophie ist dem Menschen  angeboren;  das ist die gemeine Meinung, und darum hält jeder sich für berechtigt, über philosophische Gegenstände zu urteilen. Wie es sich mit dieser angeborenen Philosophie verhalten mag, lasse ich hier gänzlich an seinen Ort gestellt, und behaupte nur von der  neuesten,  von der  meinigen,  die ich selbst am besten kennen muß: sie ist nicht  angeboren,  sondern muß  gelernt  werden, und es kann daher nur derjenige über sie Urteilen, der sie gelernt hat. Ich werde das Erstere zeigen: das Letztere ergibt sich aus dem Ersteren von selbst.

Zwar scheint es hart, und ist immer mit verdrießlichen Gesichtern aufgenommen worden, dem gemeinen Menschenverstand das Recht abzusprechen, über die Materien, die man auch für das letzte Ziel der Philosophie hält, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, sein Urteil abzugeben: und eben deswegen will man sich auch das angeführte, von der Mathematik, oder von irgendeiner anderen positiven und zu erlernenden Wissenschaft hergenommene Beispiel nicht gefallen lassen lassen, sondern findet es unpassend. Jene Begriffe sind ja doch in der natürlichen gemeinen Denkart des Menschen gegründet; also in einer gewissen Rücksicht allerdings angeboren. - Hierbei ist in Absicht der neuesten Philosophii nur dies zu erinnern und zu bedenken, daß diese dem gemeinen Menschenverstand das Recht über jene Gegenstände zu urteilen so wenig abspricht, daß sie es ihm vielmehr, gewaltiger, wie mir scheint, als eine der vorhergehenden Philosophie, zuspricht; nur lediglich  für seine Sphäre,  und auf  seinem eigenen Gebiet;  keineswegs aber  philosophisch-wissenschaftlich:  - ein Boden, der für den gemeinen Verstand, als solchen, durchaus nicht vorhanden ist.  Räsonnieren  wird über diese Gegenstände der gemeine Verstand, vielleicht sehr richtig räsonnieren; - nur nicht  philosophieren,  denn das vermag keiner, der es nicht gelernt und geübt hat.

Will man jedoch den geliebten Ausdruck, Philosophie, und den Ruhm eines philosophischen Kopfes, oder eines philosophischen Juristen, Historikers, Zeitungsschreibers und dgl. um keinen Preis aufgeben, so lasse man sich jenen, gleichfalls schon ehemals gemachten Vorschlag gefallen, daß die wissenschaftliche Philosophie sich nicht weiter Philosophie, sondern etwa Wissenschaftslehre nenne. Dieses Namens versichert, will letztere auf den andern der Philosophie Verzicht tun, und ihn feierlich an  allerlei Räsonnement  abtreten. Die Wissenschaftslehre läßt sodann das größere Publikum und jeder, der sie nicht gründlich studiert hat, für eine neuentdeckte, unbekannte Wissenschaft, so wie etwa die Hindenburgische Kombinationslehre in der Mathematik, gelten; und glaube unserer Versicherung, daß diese Wissenschaft mit dem, was sie Philosophie nennen mögen, nirgends zusammenfällt; dasselbe nicht bestreitet, aber dadurch auch nicht bestritten werden kann. Ihre Philosophie soll sodann in allen möglichen Ehren und Würden bleiben; nur sollen sie uns, unseres Anspruchs auf die natürliche Freiheit aller Menschen zufolge, erlauben, uns auf dieselbe nicht einzulassen, so wie wir sie bitten in dieser ihrer Philosophie von unserer Wissenschaftslehre nicht Notiz zu nehmen.

Folgendes ist demnach der eigentliche Zweck dieser Schrift: Sie beabsichtigt für die neueste Philosophie keine Eroberung, sondern nur einen billigen Frieden innerhalb ihrer Grenzen. Sie, diese Schrift, ist selbst gar nicht  Philosophie,  im strengen Sinn des Wortes, sondern lediglich  Räsonnement.  Wer sie bis zu Ende gelesen hat, und durchaus verstanden hat, besitzt durch sie noch keinen einzigen  philosophischen Begriff,  Satz oder dgl.; aber er hat einen  Begriff von der Philosophie  erhalten; er ist aus dem Gebiet des gemeinen Menschenverstandes auf den Boden der Philosophie mit keinem Fuß getreten; aber er ist zur gemeinschaftlichen Grenzscheidung beider gekommen. Will er von nun an diese Philosophie wirklich studieren, so weiß er wenigstens, worauf er in diesem Geschäft seine Aufmerksamkeit zu richten, und wovon er sie abzulenken hat. Will er das nicht, so hat er wenigstens das deutliche Bewußtsein gewonnen, daß er es nicht will und nie gewollt hat, oder wirklich getan hat, daß er sich dementsprechen über philosophische Gegenstände alles Urteils bescheiden muß; er hat die Überzeugung gewonnen, daß keine eigentliche Philosophie je in seine eigentümlichen Zirkel eingreifen und dieselben stören kann.



E i n l e i t u n g

Mein Leser, ehe du - denn erlaube mir immer, dich mit dem vertraulichen  du  anzureden - ehe du an das Lesen dieser Schrift gehst, laß uns eine vorläufige Abrede miteinander nehmen.

Was du von nun an lesen wirst, habe ich freilich gedacht; aber es liegt weder dir, noch mir daran, daß du es nun auch wissen sollst, was ich gedacht habe. So sehr du auch sonst gewohnt sein magst, Schriften zu lesen, bloß um zu wissen, was die Verfasser dieser Schriften gedacht und gesagt haben, so wünschte ich doch, daß du es mit dieser nicht genaus hältst. Ich wende mich nicht an dein Gedächtnis, sondern an deinen Verstand: mein Zweck ist nicht der, daß du dir merkst, was ich gesagt habe, sondern daß du selbst denkst, und, wenn es der Himmel geben wollte, gerade so denkst, wie ich gedacht habe. Sollte dir dann beim Lesen dieser Blätter begegnen, was den heutigen Lesern zuweilen begegnet, daß du noch fortläßt, ohne doch fortzudenken, daß du zwar noch die Worte auffaßt, nicht aber ihren Sinn ergreifst; so kehre um, verdopple deine Aufmerksamkeit, und lies von der Stelle an, da sie abglitschte, noch einmal; oder auch, lege für heute das Buch auf die Seie, und lies morgen mit ungestörten Geisteskräften weiter. Lediglich von dieser Bedingung auf deiner Seite hängt die Erfüllng des stolzen Versprechens auf dem Titel ab, dich zum Verstehen zu zwingen. Du mußt mit deinem Verstand nur wirklich herausrücken, und ihn dem meinigen zum Kampf gegenüberstellen; und hierzu vermag ich dirch freilich nicht zu zwingen. Hältst du ihn an dich, so habe ich die Wette verloren. Du wirst nichts verstehen, gleichwie du nichts siehst, wenn du die Augen verschließt.

Sollte dir aber das begegnen, daß du von einem gewissen Punkt an, auf keine Weies, und durch kein Nachdenken, dich von der Richtigkeit meiner Behauptungen überzeugen könntes, so lege von nun an das Buch ganz weg, und laß es auf geraume Zeit ungelesen. Gehe mit deinem Vestand deinen bisherigen Gang auf die gewohnte Weise fort, ohne an dasselbe zu denken; vielleiht daß ganz von ungefähr, und indem du alles andere beabsichtigst, dir die Bedingung des Verständnisses von selbst kommt, und du nach einiger Zeit sehr gut und leicht einsiehts, was du jetzt durch keine Mühe begreifen kannst. Dergleichen Dinge sind uns anderen, die wir uns gegenwärtig einiges Denkvermögen zuschreiben, auch begegnet. Nur tue Gott die Ehre; und schweige über diesen Gegenstand ganz still, bis dir die Bedingung des Verständnisses und das wirkliche Verständnis gekommen ist.


Mein Gang ist durchaus folgernd, nur eine einige ununterbrochene Kette des Räsonnement. Alles jedesmal Folgende ist für dich nur unter der Bedingung wahr, daß du das jedesmal Vorhergegangene als wahr befunden hast. Du würdest von jenem nicht wahr befundenen Punkt aus nicht mehr so denken können, wie ich gedacht habe, und die Fortsetzung des Lesens unter diesen 
Umständen würde keinen anderen Erfolg für dich haben, als daß du  wüßtest,  was ich gedacht habe. Diesen Erfolg habe ich von jeher für sehr unbedeutend gehalten und mich sehr gewundert über die Bescheidenheit der meisten Menschen, den Gedanken anderer einen so hohen, unf ihren eigenen einen so geringen Wert beizulegen, daß sie ihr Leben lieber damit zubringen, die ersteren zu erfahren, als selbst welche zu erzeugen: eine Bescheidenheit, welche ich mir in Rücksicth auf meine Gedanken völlig verbitte.



Gehen wir jetzt zur Sache!


1.

Durch Beobachtung der Welt außer ihm, und seines eigenen Gemütes, erhält jeder Mensche von gesunden Sinnenwerkzeugen einen Vorrat von Erkenntnissen, von Erfahrungen und Tatsachen. Es vermag ferner dieses durch die unmittelbare Wahrnehmung Gegebene, auch ohne wirkliche Wahrnehmung, frei in sich zu erneuern, darüber nachzudenken, das Mannigfaltige der Wahrnehmung gegeneinander zu halten, die Gleichheiten des Einzelnen, so wie seine Verschiedenheiten aufzusuchen; und auf diese Weise wird, wenn er nur den gewöhnlichen gesunden Verstand hat, seine Erkenntnis  deutlicher, bestimmter, brauchbarer;  immer mehr ein Besitz, in welchem er mit vollkommener Freiheit und Gewandtheit walten kann: keineswegs aber wird sie durch dieses Nachdenken  vermehrt;  man kann nur nachdenken über das  Beobachtete,  nur dieses, so wie es beobachtet ist, unter sich  vergleichen,  keineswegs aber durch bloßes Denken sich neue Gegenstände  erschaffen. 

Diesen Vorrat von Erkenntnissen, und eine gewisse oberflächlichere, oder genauere Bearbeitung desselben durch freies Nachdenken besitzen Du und ich, und alle unseres Gleichen: und dieses ohne Zweifel ist es, was man meint, wenn man von einem System, oder von Aussprüchen des gemeinen und gesunden Menschenverstandes redet.


2.

Nun gab es eine Philosophie, welche den soeben beschriebenen Umkreis durch bloßes  Folgern  erweitern zu können vorgab, und nach welcher das Denken nicht nur, wie wir es soeben beschrieben haben,  ein Zerlegen und Anderszusammensetzen des Gegebenen  war; sondern zugleich auch  ein Hervorbringen und Erschaffen eine ganz Neuen.  In diesem System befand sich der Philosoph im ausschließlichen Besitz gewisser Kenntnisse, deren der gemeine Verstand entbehren mußte. In ihm konnte sich der Philosoph einen Gott und eine Unsterblichkeit erräsonnieren, und sich weise und gut vernünfteln, Wollten solche Philosophen konsequent sein, so mußten sie den gemeinen Verstand als unzulänglich erklären für die Geschäfte des Lebens, indem sonst ihr erweiterndes System überflüssig geworden wäre; sie mußten auf ihn verachtend herabblicken; sie mußten alles, was menschliches Angesicht trug, einladen, ebenso große Philosophen zu werden, als sie es selbst waren, damit sie ebenso weise und tugendhaft würden, wie diese Philosophen.


3.

Erscheint dir, mein Leser, ein philosophisches System, wie das beschriebene, als ehrenvoll für den gemeinen Verstand, und desselben Interesse angemessen: ein System, nach welchem dieser sich von seiner angeborenen Blindheit in der Schule des Philosophen heilen, und sich dort zu seinem natürlichen Licht ein künstliches holen soll? Wenn sich nun diesem System gegenüber ein anderes stellt, das sich erbietet, dieses Vorgeben von erräsonnierten neuen, dem gemeinen Verstand verborgenen Kenntnissen von Grundauf zu widerlegen, einleuchtend darzutun, daß wir überhaupt nichts Wahres und Reelles haben, außer der Erfahrung, welche jedem zugänglich ist; Nichts für das Leben, außer dem oben beschriebenen System des gemeinen Verstandes; daß man das Leben nur durch das Leben selbst, keineswegs aber durch Spekulieren kennenlernt, und daß man sich weise und gut nicht vernünftelt, sondern lebt - würdest du, als Repräsentant des gemeinen Verstandes gedacht, dieses letztere System für deinen Feind halten, oder für deinen Freund; würdest du glauben, daß es dich in neue Fesseln schlagen, und nicht vielmehr von denen, die man dir bisher angelegt hat, befreien will?

Wenn nun dieses letztere System bei dir angeklagt würde, als feindselig, übelgesinnt, dich zugrunde richtend; wenn diese Anklage noch dazu von Leuten herrührte, die allen Anschein haben, selbst zur Partei der zuerst geschilderten Philosophie zu gehören; was würdest du von der Ehrlichkeit, oder auf das Gelindeste die Sache angesehen, von der Bekanntschaft dieser Ankläger mit der wahren Lage der Dinge halten?


4.

Du staunst, mein Leser, und fragst, ob es sich denn mit den gegen die neueste Philosophie vor deinen Richterstuhl gebrachten Anklagen so verhält, wie ich eben die Sache beschrieben habe!

Ich bin hier genötigt, aus der Person des Autors überhaupt mich in meine individuelle Persönlichkeit zu versetzen. Was man auch immer von mir denkt und sagt, so bin ich doch nicht als bloßer Nachbeter bekannt; und es ist, soviel ich weiß, über diesen Punkt im Publikum nur  eine  Stimme. Es zeigen mir sogar Mehrere die oft verbetene Ehre, mich für den Urheber eines ganz neuen, vor mir unerhörten Systems zu halten, und der Mann, der hierüber der kompetenteste Richter scheinen dürfte, KANT, hat sich von allem Anteil an diesem System öffentlich losgesagt. Verhalte es sich hiermit wie es wolle; ich habe wenigstens von keinem anderen  gelernt,  was ich vortrag; es in keinen Buch  gefunden,  ehe ich es vortrug, und wenigstens der Form nach ist des durchaus mein Eigentum. Ich sollte demnach wohl selbst am besten  wissen,  was ich selbst lehre. Auch werde ich es ohne Zweifel sagen  wollen.  Denn was könnte es mir helfen, hier öffentlich vor dem großen Publikum etwas zu beteuern, dessen Gegenteil der erstbeste Unterrichtete aus meinen übrigen Schriften darlegen könnte?

Ich erkläre also hiermit öffentlich, daß es der innerste Geist und die Seele meiner Philosophie ist: der Mensch hat überhaupt nichts, als die Erfahrung, und er kommt zu allem, wozu er kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. All sein Denken, sei es ungebunden oder wissenschaftlich, gemein oder transzendental, geht von der Erfahrung aus, und beabsichtigt wiederum Erfahrung. Nichts hat unbedingten Wert und Bedeutung, als das Leben; alles übrige Denken, Dichten, Wissen hat nur Wert, insofern es sich auf irgendeine Weise auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht, und in dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt.

Dies ist die Tendenz meiner Philosophie. Dasselbe ist die der Kantishen, die wenigsten über diesen Punkt sich nicht von mir lossagen wird; dasselbe die eines mit KANT gleichzeitigen Reformators in der Philosophie, JACOBIs, der, wenn er mich auch nur über diesen Punkt verstehen wollte, wenig Klage mehr über mein System erheben würde. Es ist also die Tendenz aller  neuerer  Philosophie, die sich selbst versteht, und bestimmt weiß, was sie will.

Ich habe hier keine der anderen zu verteidigen, ich rede nur von der meinigen, von der sogenannten  neuesten.  Es liegen in ihrer ganzen Form, Gründe, durch die man verleitet werden kann, zu glauben, sie gehe gar nicht auf das aufgestellte, sondern vielmehr auf das entgegengesetzte Resultat aus; wenn man nämlich ihren eigentümlichen Standpunt verkent, und das, was nur für ihn gesagt ist, als gültig für den des Lebens und des gemeinen Verstandes ansieht. - Ich habe also nur diesen Standpunkt zu beschreiben, und ihn von dem des gemeinen Verstandes scharf zu scheiden; und es wird sich ergeben, daß meine Philosophie keine andere Tendenz hat, als die angegebene. Du, mein Leser, wirst, falls du im Standpunkt des gemeinen Verstandes stehenbleiben willst; auf demselben die vollkommenste Sicherhet gegen meine Philosophie, oder gegen jede andere Philosophie, erhalten: oder falls du dich in den Standpunkt der Philosophie solltest erheben wollen, die möglichst faßliche Hinleitung auf denselben bekommen.

Ich wünschte über die Punkte, welche ich hier abzuhandeln habe, endlich einmal verstanden zu werden; indem ich es müde bin, das so oft Gesagte immer zu wiederholen.

Ich muß mir aber die Geduld des Lesers für ein fortlaufendes Räsonnement erbitten; wo ich dem Gedächtnis desselben nur dadurch zu Hilfe kommen kann, daß ich die erwiesenen Sätze wiederhole, wo aus ihnen gefolgert werden soll.



Erste Lehrstunde

Es befremde dich nicht, mein Leser, wenn ich etwas weit auszuholen scheine. Es liegt mir daran, dir einige Begriffe, die in der Zukunft von Wichtigkeit sein werden, durchaus klar zu machen; nicht um dieser Begriffe selbst willen, welche ansich gemein und trivial sind, sondern um der Folgen willen, die ich aus ihnen zu ziehen gedenke. Auch entwickle ich diese Begriffe nicht weiter, als ich derselben zu meinem Zweck bedarf; welches du dem Bücherrichter, der etwa ein analytisches Kunststück hier erwarten dürfte, sagen kannst.

Zuerst, du weißt doch das wirkliche Reelle, das, was die wahre Tatsache deines gegenwärtigen Erfahrens und Lebens ist - was dur wirklich  lebst  und  erlebst  - von dem nicht Wirklichen, bloß Eingebildeten und Vorgebildeten zu unterscheiden. - Du sitzt z. B. jetzt da, hältst dieses Buch in deiner Hand, siehst seine Buchstaben, liest seine Wörter. Dies ist ohne Zweifel die wirkliche Begebenheit und Bestimmung deines gegenwärtigen Lebensmomentes. Du kannst, indem du da sitzt und das Buch hältst, dich erinnern an ein gestriges Gespräch mit einem Freund, dir diesen Freund abbilden, als ob er lebendig vor dir stände, ihn reden hören, ihn wiederholen lassen, was er gestern redete usw. Ist nun dieses letztere, die Erscheinung des Freundes, ebenso wie das erste, dein Dasitzen und Halten des Buches, die wirkliche und wahr Begebenheit deines gegenwärtigen Lebensmomentes?

 Der Leser.  Keineswegs.

 Der Autor.  Ich sollte aber doch meinen, daß Etwas wenigstens auch im letzteren Zustand, wirkliche reelle Begebenheit deines Lebens wäre: denn, sage mir, lebst du nicht indessen fort, entflieht dir nicht indesen dein Leben,  ist es nicht durch Etwas gefüllt? 

 Der Leser.  Ich finde, daß du Recht hast. - Die wahre Begebenheit meines Lebens im letzteren Zustand ist eben, daß ich den Freund vor mich  hinstelle,  ihn  reden lasse  usw., nicht aber, daß er  da ist.  Dieses Hinstellen ist es, wodurch ich die Zeit, die ich indessen lebe, ausfülle.

 Der Autor.  In deinem  Dasitzen  und  Halten des Buches  usw. - und in deinem  Hinstellen  des Freundes, den du gestern sahst,  Vorstellen  seines Gespräches usw., muß also etwas  Gemeinschaftliches  sein, zufolge dessen du von beiden urteils, es sei eine  wirklich reelle Begebenheit deines Lebens. 

Jene  gestrige wirkliche  Gegenwart deines Freundes, sein  geistern wirklich sich begebendes  Gespräch, wie du es noch heute beurteilst, muß im Zusammenhang der Zeit, in den du es  heute  stellst, jenes Etwas, zufolge dessen du es für wirklich halten würdest, nicht haben; vielleicht sogar ein Entgegengesetztes dieses Etwas, zufolge dessen du es heute nicht für eine wirkliche Begebenheit hältst.

 Der Leser.  So muß es allerdings sein. Mein Urteil einen Grund haben; ein gleiches Urteil den gleichen Grund; ein entgegengesetztes, Abwesenheit des ersteren Grundes, oder Anwesenheit eines Grundes der Entgegensetzung.

 Der Autor. Welches mag dieser Grund sein?

 Der Leser.  Ich weiß es nicht.

 Der Autor.  Aber du urteiltest doch alle Augenblicke über Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, und urteilst darüber richtig, mit dir selbst, und mit anderen vernünftigen Wesen übereinstimmend. Der Grund jener Urteile muß dir also doch stets gegenwärtig sein, nur daß du im Urteil dir desselben nicht deutlich bewußt wirst. - Übrigens heißt deine Antwort: Ich weiß es nicht, nichts weiter als: Das hat mir noch niemand erzählt. Wenn es dir aber auch jemand erzählte, so hülfe dir dies alles nichts; du mußt es selbst finden.

 Der Leser.  Soviel ich auch herumsinnen mag, so kann ich doch nicht darauf kommen, wie es zugehen mag.

 Der Autor.  Auch das ist nicht der rechte Weg, herumzusinnen und herumzuraten. Auf diesem Weg entstehen leere Wahnsysteme. Ebensowenig läßt sich darauf  schließen.  Werde nur deines Verfahrens bei jenem Urteil über Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit dir recht innig bewußt, schaue in dich selbst hinein, so wirst du zugleich des Grundes deines Verfahrens dir bewußt werden, und ihn innerlich anschauen. - Alles, was man hierbei für dich tun kann, ist, daß man dich leite, damit du auf das Rechte triffst; und diese Leitung ist überhaupt alles, was irgendin philosophischer Unterricht zu tun vermag. Immer aber wird vorausgesetzt, daß du selbst das, worauf der andere dich leitet, innerlich wirklicht hast, es anschaust und beschaust. Außerdem erhieltest du nur die Erzählung einer fremden Beobactung, keineswegs deiner eigenen; dazu noch eine  unverständliche  Erzählung; denn das, worauf es ankommt, läßt sich nicht durch Worte vollkommen beschreiben, als zusammengesetzt aus lauter dir schon bekannten Dingen, sondern es ist ein schlechthin Unbekanntes, das nur durch die eigene innere Anschauung bekannt, und nur nach der Analogie mit einem bekannten Sinnlichen bezeichnet wird; welches Zeichen erst durch die Anschauung seine vollendete Bedeutung erhält.

Laß dir dies einmal für immer, auch für ähnliche Fälle in der Zukunft, gesagt sein; und suche es weiter zu bringen an die berühmten Schriftsteller, die es nicht wissen, und deswegen sehr ungeschicket über das Verhältnis der Philosophie sich zur Sprache vernehmen lassen.

Doch zur Sache! - Wenn du im Lesen dieses Buches, in der Betrachtung dieses Gegenstandes, im Gespräch mit deinem Freund begriffen bist; denkst du dann an dein Lesen, dein Betrachten, Hören, Sehen, Fühlen des Gegenstandes, dein Sprechen usw.?

 Der Leser.  Keineswegs. Ich denke dann überhaupt gar nicht an mich; ich vergesse mich selbst durchaus im Buch, im Gegenstand, im Gespräch. Darum sagt man auch wohl:  ich sei darin begriffen;  auch: ich sei darin  vertieft. 

 Der Autor.  Und dieses zwar, um es im Vorbeigehen zu erinnern, - umso mehr, je inniger, voller, und lebendiger dein Bewußtsein des Gegenstandes ist. Jenes halbe, träumende und zerstreute Bewußtsein, jene Unaufmerksamkeit und Gedankenlosigkeiten, die ein Charakterzug unseres Zeitalters, und das kräftigste Hindernis einer gründlichen Philosophie ist, ist eben der Zustand, da man sich selbst nicht ganz in den Gegenstand  hineinwirft,  sich in ihm vergräbt und vergißt; sondern zwischen ihm, und sich selbst, herumschwankt und zittert.

Aber wie verhält es sich in dem Fall, da du einen in diesem Zusammenhang der Zeit nicht als wirklich beurteiltenn Gegenstand, z. B. das gestrige Gespräche mit deinem Freund, vor dich hinstellst? Ist dann auch etwas, in welches du dich selbst wirfst, und in demselben dich vergißt?

 Der Leser.  O ja, eben dieses  vor mich Hinstellen  des abwesenden Gegenstandes, ist es, in welchem ich mich selbst vergesse.

 Der Autor.  Nun sagtest du oben, daß im ersten Zustand die  Anwesenheit  des Gegenstandes, im zweiten dein  Wiedervorstellen  des Gegenstandes das wahre Reelle in deinem Leben ist: hier sagst du, daß du in beiden sich selbst vergißt. Dann wäre der gesuchte Grund deiner Urteile über Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit gefunden. Das Selbstvergessen wäre der Charakter der Wirklichkeit; und in jedem Zustand des Lebens wäre der Fokus, in welchem du dich selbst hineinwirfst und vergißt, und der Fokus der Wirklichkeit ein und dasselbe. Das dich dir selbst Entreißende wäre das wirklich sich Begebende und deinen Lebensmoment füllende.

 Der Leser.  Ich verstehe dich noch nicht ganz.

 Der Autor.  Ich mußte schon hier diesen Begriff aufstellen, und ihn so deutlich bezeichnen, als es möglich war. Erhalte dich übrigens nur fort in aufmerksamker Unterredeung mit mit, und ich hoffe, in Kürze dir ganz deutlich zu sein.

Kannst du auch dein soeben vollzogenes  Repräsentieren  deiner gestrigen Unterredung mit dem Freund wiederum repräsentieren?

 Der Leser.  Ohne Zweifel. Ja, gerade das ist es, was ich jetzt während unserer Reflexion über jene Repräsentation getan habe. Ich habe nicht eigentlich jenes Gespräch, sondern ein Repräsentieren jenes Gesprächs repräsentiert.

 Der Autor.  Was hältst du nun in dieser Repräsentation des Repräsentierens für das eigentlich  Faktische,  die abfließenden Momente deines Lebens  Füllende? 

 Der Leser.  Eben das Repräsentieren des Repräsentierens.

 Der Autor.  Gehe jetzt mit mir wieer zurück, und abwärts. - Wie verhielt sich in der Repräsentation des gestrigen Gesprüchs - und werde dir derselben auch ja recht innig bewußt, und schau hinein in dein Bewußtsein - das letztere, das Gesprüch, sich zu deinem Bewußtsein und zum eigentlich Faktischen, dasselbe Fülleden?

 Der Leser. Das Gespräch  war, wie schon gesagt, nicht die wirkliche Begebenheit, sondern das  Vorbilden des Gesprächs  war die Begebenheit. Doch war das letztere nicht ein  Vorbilden überhaupt,  sondern ein Vorbilden eines  Gesprächs,  und zwar  dieses bestimmten  Gesprächs. Das Vorbilden, als die Hauptsache, hatte das Gespräch in seinem Gefolge; das letztere war nicht das wirkliche, sondern nur die  Modifikation, die durchgängige Bestimmung  des wirklichen.

 Der Autor.  Un im Repräsentieren dieser Repräsentation? -

 Der Leser.  War das Repräsentieren der Repräsentation die wirkliche Begebenheit; die  Repräsentation  die weitere Bestimmung der ersteren, indem nicht überhaupt nur repräsentiert, sondern eine Repräsentation repräsentiert wurde; ferner  das Gespräch  die weitere Bestimmung der (repräsentierten) Repräsentation, indem nicht eine Repräsentation überhaupt, wie auch wohl möglich gewesen wäre, sondern eine bestimmte Repräsentation, indem nicht eine Repräsentation überhaupt, wie auch wohl möglich gewesen wäre, sondern eine bestimmte Repräsentation eines bestimmten Gesprächs repräsentiert wurde.

 Der Autor.  Die jedesmalige Realität, wirklich und wahrhaft  gelebte  Begebenheit, wäre als das, in welchem du dich selbst vergißt, dies der Anfang und eigentliche Brennpunkt des Lebens; welche weitere untergeordnete Bestimmungen dieser Fokus, weil er nun einmal gerade ein solcher ist, auch mit sich führen mag. - Ich wünsche und hoffe dir gegenwärtig ganz deutlich geworden zu sein, wenn du nur während dieser Untersuchung bei dir selbst gewesen, dich selbst innerlich angeschaut, und auf dich attentdiert [geachtet - wp] hast.



Indem du das gestrige Gespräch mit deinem Freund repräsentiertest, oder - damit ich lieber nichts Erdichtetes annehme, sondern dich gerade in deinen gegenwärtigen wahren Gemütszustand hineinführe, indem du mit mir räsonniertest, wie du oben räsonniert hast, - damit dein Leben ausfülltest, und dein Selbst hineinwarfst - hältst du wohl darüf, daß während dieser Zeit  auch außer dir und deinem Gemüt  manches andere fortgerückt ist, und sich begeben hat?

 Der Leser.  Allerdings. So ist z. B. inzwischen der Zeiger meiner Uhr weitergerückt; die Sonne ist fortgerückt, und dgl.

 Der Autor.  Hast du denn diesem Fortrücken zugesehen, es  erfahren;  - hast du es  gelebt? 

 Der Leser.  Wie konnte ich, da ich ja mit dir räsonnierte, und in dieses Räsonnieren mein ganzes Selbst geworfen, und es damit ausgefüllt hatte?

 Der Autor.  Wie weißt du also von diesem Fortrücken deines Uhrzeigers? - daß wir bei diesem stehen bleiben.

 Der Leser.  Ich habe vorher meine Uhr wirklich angesehen, und die Stelle wahrgenommen, auf welcher der Zeiger stand. Ich sehe sie jetzt wieder an, und finde den Zeiger nicht mehr auf derselben, sondern auf einer anderen Stelle. Ich  schließe  aus der mir vorher gleichfalls durch Wahrnehmung bekannt gewordenen Einrichtung meiner Uhr, daß der Zeiger, während der Zeit, da ich räsonnierte, allmählich fortgerückt ist.

 Der Autor.  Nimmst du an, daß wenn du statt mit mir zu räsonnieren, in derseleben Zeit auf den Zeiger deiner Uhr gesehen hättest, du das Fortrücken desselben wirklich wahrgenommen haben würdest?

 Der Leser.  Allerdings nehme ich das an.

 Der Autor.  Also beides, dein Räsonnieren und ebensowohl das Fortrücken deines Uhrzeigers in denselben Zeitmomenten, ist, nach dir, eine wahre wirkliche Begebenheit; das letztere zwar nicht Begebenheit  deines Lebens,  indem du zu dieser Zeit etwas anderes lebtest; aber es hätte doch Begebenheit deines Lebens werden können; und wäre es notwendig geworden, wenn du auf die Uhr geachtet hättest?

 Der Leser.  So ist es.

 Der Autor.  Und der Zeiger ist ohne dein Wissen und Zutun wirklich und in der Tat fortgerückt?

 Der Leser.  So nehme ich an.

 Der Autor.  Glaubst du, daß, wenn du nicht räsonniert hättest, wie du nicht in die Uhr gesehen hast, ebenso dein Räsonnement ohne dein Wissen und Zutun fortgerückt sein würde, wie es der Zeiger der Uhr ist?

 Der Leser.  Keineswegs; mein Räsonnement rückt nicht von selbst fort; ich muß es fortführen, wenn es weiter rücken soll.

 Der Autor.  Wie verhält es sich in dieser Rücksicht mmit dem Repräsentieren des gestrigen Gesprächs? Kommt auch dieses ohne dein Zutun, wie die Bewegung des Zeigers, oder muß du es selbst hervorbringen, wie das  Räsonnement? 

 Der Leser.  Wenn ich es recht überlege - ich weiß es nicht. Für diesesmal bin ich mir zwar wohl bewußt, daß ich auf deine Aufforderung jene Repräsentation tätig in mir erzeugt habe. Aber da mir sonst ohne mein wissentliches Zutun Bilder durch den Kopf gehen, einander verdrängen und ablösen, ebenso wie der Zeiger fortrückt, so kann ich nicht wissen, ob mir jene Repräsentation nicht auch ohne deine Aufforderung, und ohne mein Zutun, von selbst gekommen sein würde.

 Der Autor.  Mit aller Achtung, die ein Autor seinem Leser schuldig ist, und die ich wirklich zu dir trage, muß ich dir doch bekennen, daß dieses dein Geständnis von schlimmer Vorbedeutung ist für den Erfolg meiner Unterhaltung mit dir. Meines Erachtens darf man nur im Schlaf träumen, bei wachen Augen sich aber keine von selbst kommenden Bilder durch den Kopf gehen lassen. Diese absolute Freiheit, seinem Geist willkürlich die bestimmte Richtung zu geben, und ihn auf derselben zu erhalten, ist ausschließliche Bedingung, nicht nur des philosophischen, sondern sogar des gemeinen gesunden und richtigen Denkens. In der Hoffnung jedoch, daß du wenigstens während dieser Unterhaltung jenem blinden Hang der Ideenassoziation widerstehen, und jene fremden Bilder und Gedanken abhalten wirst, will ich diesen zweifelhaften Punkt über die sinnliche Repräsentation fallen lassen, und mich lediglich an dein obiges Geständnis über die Freiheit des Räsonnements halten.

Es gäbe diesem zufolge zweierlei Wirklichkeit, die beide gleich wirklich sind, von denen aber die eine sich selbst macht, die zweite von dem, für welchen sie da sein soll, gemacht werden muß, und ohne dieses sein Machen gar nicht ist?

 Der Leser.  So scheint es.

 Der Autor.  Laß uns die Sache noch ein wenig näher überlegen. - Also der Zeiger deiner Uhr ist während deines Räsonnierens wirklich fortgerückt, sagst du. Würdest du das sagen können, würdest du es wissen, wenn du nicht doch irgendeinmal seit deinem  Räsonnieren  auf den Zeiger  wieder geachtet,  und nun zufolge der  wirklichen Wahrnehmung,  daß er an einer anderen Stelle steht, als zuvor, deinen Schluß gemacht hättest?

 Der Leser.  Ohne Zweifel würdeich es sodann nicht wissen.

 Der Autor.  Vergiß das nicht. Es ist mir wichtig. Alle Realität der ersteren Art ist - mag sie doch für sich ohne all dein Zutun und Wissen ihren Gang fortgehen und  ansich d. h. ohne Beziehung auf irgendein mögliches Bewußtsein, dasein, welchen Punkt wir hier ganz unentschieden lassen wollen - sie ist, sage ich,  für dich,  und als Begebenheit  deines  Lebens, doch nur, insofern du irgendeinmal darauf achtest, dein Selbst hineinversetzst, und jene Realität an dein Bewußtsein hältst. Dieses wohl überlegt, kann deine Behauptung, der Zeiger sei, von einer deiner Wahrnehmungen desselben bis zu einer zweiten Wahrnehmung ebendesselben, wobei er ohne letztere nie wieder in dein Bewußtsein käme, in der Zwischenzeit, da du ihn nicht wahrnahmst, fortgerückt, nichts anderes heißen, als:  Du würdest ihn in dieser Zwischenzeit als fortrückend wahrgenommen haben, wenn du auf ihn geachtet hättest.  Du sagst also durch die Behauptung einer Begebenheit außer deinem Leben doch nur eine  mögliche  Begebenheit deines eigenen Lebens aus, ein mögliches Fortfließen und Gefülltsein dieses Lebens von der ersten Wahrnehmung des Zeigers zur zweiten; du ergänzst und setzst ein Reihe möglicher Beobachtungen zwischen die Endpunkte zweier wirklichen hinein. Wenn ich dir nur mein Wort gebe, daß ich hier allenthalben nur von einer Realität  für dich  reden, und an die Stelle derselben nirgends eine Realität  ohne Beziehung auf dich  setzen, noch von dieser das Geringste behaupten und aussagen will, wirst du mir unter dieser Bedingung erlauben, den Fortgag einer äußeren Realität, ohne dein Zutun, zu betrachten, lediglich als Fortgang eines eigenen  möglichen  Bewußtseins und Lebens, da du ja eingesehen hast, daß sie nur auf diese Weise Realität für dich wird?

 Ein Leser  (der noch dazu ein seines Ortes berühmter Philosoph sein kann). - Ich will davon nichts hören. Habeich es dir noch nicht sattsam bedeutet, daß dies die reine Tollheit ist? Ich gehe immer von einer Realität an und für sich von einem  absoluten Sein aus.  Höher kann ich nicht und will ich nicht. Die Unterscheidung, die du da machst zwischen einer Realität ansich, und einer für uns, und die Abstraktion in der ersteren, die du vornimmst, und welches, wie ich merke, der Grundstein deines Gebäudes ist, mußt du mir erst - demonstrieren.

 Der Autor.  So! du vermagst von einer Realität zu  reden,  ohne von ihr zu  wissen,  ohne sie wenigstens dunkel an dein Bewußtsein zu halten, und auf dasselbe zu beziehen? Du vermagst mehr als ich. Leg das Buch hin: für dich ist es nicht geschrieben.

 Ein zweiter billiger Leser.  Ich will mir deine Einschränkung, nur von einer Realität für uns zu reden, gefallen lassen, auf die Bedingung, daß du derselben treu bleibst, und die Realität ansich weder im Guten noch im Bösen erwähnst. Sobald du aber aus deinen Schranken heraustrittst, und eine Folgerung zum Nachteil der letzteren machst, so lasse auch ich dich stehen.

 Der Autor.  - Nicht mehr als billig! -

Diese Ansicht also vorausgesetzt, daß nur von unserer Beziehung auf Realität und Wirklichkeit die Rede ist, würde es sich mit unserem Bewußtsein folgendermaßen verhalten:  Alle Realität,  wie sie Namen haben möge, entstände uns durch das Einsenken und Vergessen unseres Selbst in gewissen Bestimmungen unseres Lebens; und dieses Vergessen unseres Selbst überhaupt wäre es eben, was diesen Bestimmungen, in denen wir uns vergessen, den Charakter der Realität, und uns  überhaupt ein Leben  gäbe.

Es gäbe zuerst gewisse  Grund-  und  erste  Bestimmungen - der sogleich folgende Gegensatz wird diese Ausdrücke, um deren reifliche Überlegng ich dich ersuche, deutlich machen - gewisse Grund- und erste Bestimmungen unseres Lebens, die wahre Wurzel desselben, die sich selbst machen, und sich selbst fortführen, denen man sich nur  hinzugehen  und sein Selbst nur von ihnen ergreifen zu lassen braucht, um sie sich zuzueignen, und sie zu seinem wirklichen Leben zu machen; deren fortlaufende Kette, wenn man sie auch irgendwo fallengelassen hat, man willkürlich wieder aufnehmen und das Abgelaufene rückwärts und vorwärts, von jedem Punkt aus ergänzen kann.

Man braucht sich ihnen nur  hinzugeben,  sagte ich; denn unwiderstehlich an sich zu  reißen  vermögen sogar diese Grundbestimmungen nicht. -

Denn wir haben ferner das Vermögen, unser in jenen Bestimmungen vergessenes Selbst wieder von ihnen loszureißen, über sie emporzuheben, und frei aus uns selbst uns eine höhere Reihe des Lebens und der Wirklichkeit zu bereiten. Wir können uns z. B. als  das Wissende  in jenem Grundbewußtsein,  das Lebendige  in jenem Grundleben denken und erfreifen: - die  zweite  Potenz des Lebens, wenn ich jenes Beruhen in den Grundbestimmungen die  erste  Potenz nenne. Man kann sich wiederum als  das Denkende  in jenem Denken des ursprünglichen Wissens, als das  Anschauende  seines eigenen Lebens in jenem Setzen desselben, ergreifen, welches eine  dritte Potenz  gäbe; und so fort ins Unendliche.

Der ganze Unterschied zwischen jener ersten und den höheren Potenzen; - dem gleichsam vorausgegebenen und uns geschenkten Leben, das wir nur anzunehmen brauchen, um es zu unserem wirklichen Leben zu machen, und dem nicht gegebenen, das sich nur durch Selbsttätigkeit hervorbringen läßt, dürfte lediglich der sein, daß man von jeder der höheren Potenzen herabsehen, und sich herablassen kann, in eine niedere; von der letzteren aus aber nichts sieht, denn sie selbst, und nicht tiefer herab kann, außer in das Reich des Nichtseins; in Rücksicht des  Hinabsteigens  also durch sie beschränkt und befangen ist, obgleich keineswegs in Rücksicht des  Hinaufsteigens  durch Reflexion; daß sie also aus diesem Grund der eigentliche Fuß und die Wurzel alles anderen Lebens ist. Darum nannte ich sie oben erste und Grundbestimmungen allen Lebens.

Uns sei hier zufolge unserer Abrede genug, diese Sphäre der ersten Potenz als Sphäre solcher Grundbestimmungen unseres Lebens, keineswegs aber als Sphäre von Dingen an und für sich, von welcher Ansicht wir hier wegsehen, zu betrachten. Mögen sie doch immer an und für sich selbst auch das letztere sein: für uns sind sie nur, an uns kommen sie nur, als Bestimmungen unseres Lebens, dadurch, daß wir sie leben und erleben; und wir begnügen uns hier von denselben nur in Beziehung auf uns zu reden. Man nennt das in der Sphäre liegende auch vorzugsweise  Realität, Tatsache des Bewußtseins Man nennt es auch  die Erfahrung

Wisse, mein Leser, daß von nun an bloß und lediglich auf dieses System der ersten Potenz reflektiert wird; vergiß das keinen Augenblick; sondere alles, was in höheren Potenzen liegt, ab, und sieh davon ab.

Ich rechne zu diesem System der ersten Potenz alles, was wir teils durch die äußeren Sinne im Raum wahrnehmen, teils durch den inneren Sinn in unserem Gemüt entdecken. In Rücksicht des letzteren fällt in diese Sphäre auch das, was ich höhere Potenzen genannt habe, zwar nicht seinem  Gehalt  nach, wohl aber in einer Absicht der  Form,  d. h. der Gesetze, nach denen es sich richtet, und gerade so zustande kommt, wie es zustande kommt. Denn diese Gesetze gehören zu den Tatsachen des inneren Sinnes, und werden, wenn man sich bei jenen Verrichtungen des Gemüts wohl beobachtet, wahrgenommen.



Die Hauptabsicht der gegenwärtigen Unterhaltung mit dir, mein Leser, was die, daß du - übrigens ganz willkürlich, und nur für meinen künftigen Zweck zweckmäßig - alles, was in deinem Bewußtsein vorgeht, in zwei Klassen teilst, den Unterschied dessen, was in die eine oder in die andere Klasse fällt, deutlich begreifst; das, was Produkt der Freiheit ist, und in die höheren Potenzen gehört, absonderst, und in der folgenden Untersuchung beiseite legst, dagegen lediglich an das, was ich erste Potenz genannt habe, denkst, und darauf siehst. Nur insofern du diesen Unterschied eingesehen hast und ihn festhältst, und das Gesonderte nicht wieder vermischst, wirst du richtig fassen, worüber wir uns weiterhin unterhalten. werden.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. [Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen] Sämtliche Werke 2, herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845