cr-3Tagesansicht - NachtansichtIndividualität als fiktive Konstruktion    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
(1882-1949)
Die Sprache als
Medium der Erkenntnis


1. Psychologisches Problem
3. Begriff als Aktionszentrum
4. Rationalisierung des Denkens
5. Rationalität und sensorische ...
  "Diese Wissenschaften nämlich gehen davon aus, daß zwischen dem Wort und seinem Begriff ... ein eindeutiges Verhältnis, eine Kongruenz bestehe. Diese Irrlehre müssen wir zerstören."

Ehe wir eine Kritik der rationalen Erkenntnis unternehmen, müssen wir eine Kritik der Sprache hinter uns haben. Denn eine rationale und allgemeingültige Erkenntnis, die ja nicht bloß ein individuelles, sondern ein soziales Phänomen sein will, würde an sich ein unfaßbares, körperloses und in der Luft schwebendes Gebilde sein, wenn sie sich nicht eines Mediums bediente, das ihr Gestalt leiht und dadurch alle Erkenntnis erst zu einem sozialen Faktor macht. Dies unentbehrliche Medium aber ist die Sprache.

Durch sie allein läßt sich Erkenntnis übertragen und so ihre Allgemeingültigkeit in die Wege leiten, durch die Sprache allein ist auch die Bildung von Begriffen, d.h. im Worte "materialisierter" Gedanken möglich. Es wird sich uns daher zeigen, daß die vermeintlichen Gegensätze der Gedanken sehr oft solche des sprachlichen Ausdrucks sind, zum mindesten zum größten Teil in sprachlichen Schwierigkeiten wurzeln. Sind auch nicht alle Gedankenkämpfe nur Wortstreitigkeiten, wie MAUTHNER in paradoxer Zuspitzung behauptet, so ist doch sicherlich ein gutes Teil derselben nur die Folge sprachlicher Mißverständnisse und Unklarheiten.

Ich schicke also der Kritik der rationalen Erkenntnis eine Kritik der Sprache voraus. Da, wie wir sahen, diese das wichtigste Mittel des rationalen Denkens ist, ohne das überhaupt keine Wissenschaft möglich ist, so steht und fällt der Erkenntniswert der Wissenschaft mit dem Erkenntniswert der Sprache. Es ist kein Ruhmestitel der traditionellen Erkenntniskritik, daß sie das übersehen hat. Denn gesetzt, es wäre Erkenntnis als solche möglich, und die Sprache wäre kein ehrlicher Makler, so würde der Wert der Erkenntnis als überindividueller Faktor damit hinfällig.

Nehmen wir an, wir hätten zwei Menschen, deren jeder im Besitz wertvoller Erkenntnisse wäre, die sie nun versuchten auszutauschen, so muß das Ergebnis eines solchen Versuches unfehlbar zu einer Verwirrung und Trübung aller ihrer Erkenntnisse führen, sobald die Sprache nicht mit untrüglicher Sicherheit arbeitet.

Das aber tut sie nicht. Die Sprache ist, wie wir vorgreifend bereits hier feststellen wollen, zwar ein ungeheuer wertvolles Mittel der praktischen Verständigung, nicht aber des theoretischen Verständnisses. Das will besagen: sie reicht zwar aus, um in sehr vielen Fällen praktische Erkenntnisse zu vermitteln, nicht aber theoretische, da die Worte niemals die Gedanken erschöpfend zu fassen vermögen.

Am besten wird das bewiesen, wenn man die Geschichte der Philosophie betrachtet. Hier haben wir es mit Lehren zu tun, die von Leuten aufgestellt sind, denen die klare und eindeutige Fassung ihrer Gedanken in allererster Linie hätte obliegen müssen, da doch von ihnen die "Gesetze" der Logik formuliert worden sind. Was aber sehen wir, wenn wir unbefangen nachprüfen?

Gewiß, wir finden, daß jeder neu auftretende Philosoph sich mit seinen Vorgängern auseinandersetzt: aber jeder faßt jeden Vorgänger in andrer Weise auf. Wir denken dabei gar nicht bloß an die frühgriechischen Denker, von deren Hand wir nur klägliche Fragmente besitzen, aus denen wir Systeme aufbauen, die etwa soviel Wahrscheinlichkeit haben, wie es das Skelett eines Säugetiers hätte, das wir aus einem Zehenknochen, zwei Rückenwirbeln und einem Eckzahn konstruierten.

Aber auch PLATO und ARISTOTELES, von denen wir immerhin beträchtliche Nachlässe besitzen, sind keineswegs eindeutiger Besitz geworden. Fast Jeder Philosoph und jeder Philosophiehistoriker hat seine eigene Auffassung von ihnen. Wir sind heute alle einig, daß die ungeheure Nachwirkung jener Denker im Mittelalter auf weitgehendster Unkenntnis ihrer Lehren beruht, aber wer sagt uns, daß wir heute die richtige Auffassung haben? Denn wissen wir etwa, was die richtige Lehre KANTs ist?

Darüber, daß FICHTE, HEGEL und meisten Zeitgenossen ihn mißverstanden haben, sind wir zwar beinahe einig. Aber wer lehrt uns nun den kanonischen KANT kennen? F.A. LANGE? LIEBMANN? COHEN? WINDELBAND? VAIHINGER? Jeder von ihnen (und die Reihe ließe sich beliebig verlängern) wirft den andern mit hörenswerten Gründen falsches Verständnis vor! Ist es nicht, als ob sich Blinde um Farben stritten? Erscheint nicht die ganze Geschichte der Philosophie, unvoreingenommen betrachtet, als eine Kette ständiger Mißverständnisse?

Nun ist es, wie ich später zu beweisen gedenke, nicht ganz so schlimm. Die Philosophiegeschichte ist ein solches Chaos nur, was die "rationalen" Lehren der Philosophen angeht. Also gerade das, was trockenen Köpfen das Sicherste scheint, der Buchstabe, der Wortlaut, gerade das ist das Trügerischste. Dasjenige aber, was weiterlebt, was sich als der wertvollste Besitz der Philosophiegeschichte ergibt, ist das Irrationale der Persönlichkeit der Philosophen! Ihre spezifische Stellungnahme der Welt gegenüber!

Alles das mag unsre Zweifel am Erkenntniswert der Sprache rechtfertigen und es begründen, daß wir der Kritik der Erkenntnis eine Kritik der Sprache (1) vorausschicken.

Versuchen wir nun nicht eine logische Unmöglichkeit, indem wir die Sprache kritisieren und eine der Sprache nicht zugängliche Erkenntnis erweisen wollen, obwohl uns als Mittel dazu eben nur die Sprache zur Verfügung steht? Gleichen wir nicht dem seligen Baron Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe ziehen wollte? Wer derartiges behauptet, verkennt eine sehr wesentliche Eigenschaft der Sprache, die, so mangelhaft ihre Fähigkeit sein mag, die gemeinten Inhalte restlos in sich aufzunehmen, doch eine andere Fähigkeit hat, die das gar nicht voraussetzt: sie kann nämlich über sich hinausweisen.

Kann sie auch nicht alles, was sie meint, in sich fassen, so kann sie doch an vieles, was sie nicht fassen kann, heranführen und so eine nichtsprachliche Erkenntnis einleiten. Man kann z.B. sicherlich nicht jede Farbennuance begrifflich fassen; aber man kann durch sprachliche Mittel die Möglichkeit erschließen, wie man sich die Anschauung jener Farbennuance verschafft. Die Sprache kann nicht alles direkt bezeichnen, wohl aber indirekt sehr vieles andeuten.

Um z.B. ein bestimmtes Lila direkt zu bezeichnen, fehlt es der Sprache an der Möglichkeit: sie kann es aber auf dem Umweg über einen Vergleich, indem sie z.B. das gemeinte Lila als etwa die Farbe des Wiesenschaumkrauts bezeichnet. So kann sie wenigstens Annäherungswerte schaffen, sie kann gleichsam das zu Fassende, aber mit ihren Mitteln nicht restlos Faßbare, "einkreisen".

Ähnlich wie der Mathematiker die Kreislinie nicht mit den Mitteln der Trigonometrie erfassen kann, aber doch Annäherungswerte zu schaffen vermag, so verfährt auch die Sprache sehr oft. Sie kann X nicht immer direkt bezeichnen, sie kann aber non X ausschließen. Sie kann eine Gefühlswallung nicht mit Begriffen direkt erfassen, wohl aber durch Erzählung oder dichterische Darstellung von Geschehnissen in andern Menschen wenigstens ein ähnliches Erleben erregen.

Das etwa ist es, was auch hier versucht werden soll. Wir wollen versuchen, mit sprachlichen Mitteln hinzuweisen auf ein Denkenn, das erschöpfend niemals in der Sprache zu fassen ist. Wir werden Beispiele aufzeigen, in denen ein solches, nichtbegriffliches Denken sich offenbart. Ja wir werden auch im angeblich rationalen Denken selber irrationale Elemente aufweisen, die sich als solche natürlich der sprachlich -begrifflichen Formulierung entziehen, indirekt aber wohl zu bezeichnen sind. Denn wenn wir auch den theoretischen Wert der Sprache ernsthaft anzweifeln, den praktischen Wert derselben bestreiten wir gar nicht. Und um ein solches praktisches Verfahren handelt es sich ja bei solchem Hinweisen. Und neben diesen "Hinweisen" der Sprache werden wir auch die Bedeutung der emotionalen Elemente der Sprache als Offenbarungen sehr wesentlicher Faktoren der Erkenntnis zu erklären haben, was bisher sehr wenig beachtet worden ist.
Bei der Klarlegung des Verhältnisses von Sprache und Erkenntnis ist außer der eben hervorgehobenen Tatsache, daß das Sprechen einen Gedankengehalt nicht restlos auszuschöpfen vermag, die andere von größer Wichtigkeit, daß es
weder die einzige, noch die ursprünglichste, noch die wesentlichste Funktion der Sprache ist, als Vermittlung von Erkenntnissen zu dienen.
In Wahrheit nämlich hat die Sprache sehr mannigfache Funktionen, unter denen wir drei Gruppen als die hauptsächlichsten hervorheben. Und zwar unterscheiden wir erstens die emotionale oder Entladungsfunktion, zweitens die praktische oder Willensfunktion und drittens die theoretische oder Erkenntnisfunktion der Sprache.

Gewiß verquicken sich diese Funktionen im Leben fast immer untereinander und sind in Praxis nicht reinlich zu sondern. So kann ein Hilferuf zu gleicher Zeit emotionale Entladung der Angst und praktischer Willensausdruck zur Herbeilockung anderer Menschen sein. Für unsere Zwecke jedoch erscheint es vorteilhaft, zunächst die drei Funktionen getrennt zu behandeln und ihr Wesen ins Licht zu rücken.

Von diesen drei Faktoren nun ist der erste ausgesprochen irrational, verzichtend auf Allgemeingültigkeit und Objektivität. Auch der zweite ist keineswegs immer und ausschließlich rational, wie ich später zeigen werde und strebt keineswegs immer nach Allgemeingültigkeit, sondern geht in der Regel auf eine ganz bestimmte Situation ebenso wie es sich sehr selten um die Feststellung einer objektiven Realität handelt.

Indem nun aber die theoretische Funktion, welche allein auf Rationalität, Allgemeingültigkeit und Objektivität gerichtet ist, mit jenen andern Funktionen der Sprache sehr oft verquickt ist, wird sie auch in ihrer Reinheit stark beeinträchtigt sein, und man wird zugeben müssen, daß auch in eine theoretische Diskussion sehr oft irrationale Momente hineinspielen; denn es ist nicht zu erwarten, daß dieselben Worte, die wir alltäglich in emotionalen und praktischen Zusammenhängen gebrauchen, jede Spur dieses Gebrauchs einbüßten, sobald sie in theoretische Sätze gestellt werden.

Ohne Zweifel muß man auch der praktischen Funktion der Sprache einen gewissen Erkenntniswert zumessen. Behauptet doch sogar eine rasch zu internationalem Ansehen gelangte Denkerschule, der Pragmatismus, für alles Denken sei der praktische Wert entscheidend.

Uns scheint das, bei aller Anerkennung eines richtigen Kerns dieser Anschauungen, zu einseitig zu sein. Wir geben auch das Vorhandensei einer rein theoretischen Erkenntnis zu und sprechen von der theoretischen Funktion der Sprache insoweit, als diese theoretischen Erkenntnis dient. Dabei ist keineswegs leicht zu bestimmen, was unter theoretischer Erkenntnis zu verstehen ist.

Wichtig ist vor allem ein Gegensatz zur praktischen Erkenntnis, obwohl genetisch alle theoretische Erkenntnis auf praktische zurückgeht. Aber sie hat sich losgemacht von den praktischen Interessen. Was ursprünglich nur Mittel für die Praxis war, wird ein eigner Wert. Ursprünglich studierte man den Lauf der Sterne, um daraus praktische Werte zu ziehen, Schicksale vorauszusehen oder sich auf dem Meere daran zu orientieren. Es dauerte lange, bis aus der praktischen Astrologie die theoretische Astronomie wurde.

Geschichte war in ihren Anfängen zweckbewußtes Festhalten nationaler Erinnerungen mit dem Ziel dynastischer Glorifizierung oder patriotischer Erbauung: erst allmählich wurde Geschichte rein theoretische Wissenschaft. Studierte man anfangs die Verskunst und ihre Technik bloß, um so dichterische Handwerksregeln zu gewinnen, so studiert man sie heut (wo man weiß, daß Dichten nicht zu lehren ist) nur des theoretischen Interesses willen, d.h. ohne Rücksicht auf die Praxis.

Man könnte also sagen, theoretische Erkenntnis ist eine solche, die ohne Rücksicht auf praktische Verwertung entstanden ist. Ähnlich denjenigen Menschen, die den Erwerb nicht mehr um der praktischen Verwertbarkeit des Geldes willen, sondern bloß um den Besitz des Geldes selber willen betreiben, sammelt der theoretische Mensch Erkenntnisse. Doch darf man nicht annehmen, der theoretische Erkenntnistrieb sei ein so in der Luft schwebendes Etwas, wie die Logiker oft anznehmen scheinen.

Wenn er keine praktischen Werte mit sich bringt, so doch andere: er löst Zweifel und Unklarheit, er befriedigt das Bedürfnis nach Vollständigkeit und Reichtum des Wissens, also allerlei ästhetische Bedürfnisse, er dient dem Ehrgeiz und dem Schaffensdrang, wenn diese Triebe und Gefühle auch sehr oft im Hintergrund bleiben.

Mögen all diese Bedürfnisse und Triebe auch hinter dem theoretischen Erkennen als treibende Mächte stecken, trotzdem hält offiziell die theoretische Wissenschaft die Fiktion aufrecht, sie werde nur um ihrer selbst willen getrieben. Sie gibt sich den Anschein, als stünde sie jenseits aller subjektiven Bedürfnisse und Neigungen, als forsche sie nur um des Forschens willen, und so ist sie in der Tat eine bedeutsame Erscheinung des Lebens geworden.

Sie stellt ihre Werke hin, losgelöst von allen subjektiven Bedürfnissen, die sie entstehen ließ, und ohne zu fragen, welchen Absichten sie dienen sollen. Nehmen wir eine Darstellung der Astronomie, eine Geschichte des 30jährigen Krieges oder eine Poetik zur Hand, so sind die in ihnen vermittelten Erkenntnisse, wie sie da geboten werden, in der Tat scheinbar abgetrennt von aller Subjektivität.

Dieser theoretischen Erkenntnis nun dient die Sprache in ihrer theoretischen Funktion. Und hier erst tritt sie auf mit dem Anspruch, rationale, allgemeingültige und objektive Erkenntnisse zu vermitteln. Solange für die Zwecke der Sprache nur das Erreichen einer praktischen Absicht maßgebend war, war es gleichgültig, ob ihr Gedankeninhalt restlos von jedermann erfaßt wurde; wenn nur die praktische Absicht erreicht wurde. Bei der theoretischen Funktion der Sprache ist das anders.

Da hier keine praktische Wirkung in Betracht gezogen wird, so rückt der reine Gedankengehalt der Sprache in den Brennpunkt des Interesses. Dieser aber soll rational, allgemeingültig und objektiv sein, wie es dem Wesen der theoretischen Erkenntnis nach der landläufigen Anschauung entspricht. Wir stehen damit also vor der ernsten Frage, ob die Sprache wirklich fähig ist, eine solche Erkenntnis zu vermitteln.

Anders gewendet wird diese Frage auch lauten: kann die Sprache, die in ihren Anfängen dazu diente, Gefühle zu entladen oder praktische Wirkungen zu vermitteln, sich so umbilden zu lassen, daß sie den Forderungen der theoretischen Erkenntnis nach Rationalität, Allgemeingültigkeit und Objektivität gerecht wird? Das heißt aber, vermag sie von einem Hirn zum andern Inhalte zu vermitteln, die feste, klarumrissene Gebilde sind, eine Denknotwendigkeit für alle in sich tragen und losgelöst sind von subjektiven Beimengungen?

Daß die Wissenschaft zu allen Zeiten in der Tat diese Voraussetzung gemacht hat, beweist keineswegs, daß diese zu Recht bestand, wie denn zum Beispiel die Geschichte der Philosophie, wie schon angedeutet, beweist, daß die Sprache mindestens ebenso oft Mißverständnis wie Verständnis vermittelt hat.

Es dürfte darum, ungeachtet der Verbreitung jener Voraussetzung einmal am Platze sein, nachzuprüfen,
wie weit wirklich die Sprache von ihren irrationalen Elementen abstrahieren kann, und inwiefern sie wirklich fähig ist, Vermittlerin einer rationalen und allgemeingültigen Erkenntnis zu sein.
Ehe ich jedoch zur eigentlichen Analyse der Denkerlebnisse übergehe, muß ich noch eine falsche Voraussetzung zerstören, die von der Logik und vielfach auch der Erkenntnistheorie gemacht wird.
Diese Wissenschaften nämlich gehen davon aus, daß zwischen dem Wort und seinem "Begriff" oder doch zum mindesten zwischen einem "Satz und seiner "Bedeutung", also dem "Gedanken" ein eindeutiges Verhältnis, eine Kongruenz bestehe. Diese Irrlehre müssen wir zerstören.
Wie wir oben zeigten, daß bereits das rein sprachliche Element etwas außerordentlich Schillerndes und Variierendes ist und in der von der Logik angenommenen Einheitlichkeit nicht besteht, so können wir auch für den Gedanken ähnliches erweisen. Vor allem aber werden wir zu zeigen haben, daß bei denselben Worten und denselben Sätzen außerordentlch verschiedenes gedacht werden kann, so daß von einer Kongruenz, einer eindeutigen Beziehung zwischen sprachlicher Fassung und Gedanken nur mit dem größten Vorbehalte die Rede sein kann.

Der Grundfehler bei jener Voraussetzung ist der, daß das einzelne Wort eine Bedeutung habe, einem "Begriff" zugeordnet sei. Das aber ist falsch. Jedes Wort hat nicht eine Bedeutung, sondern sehr viele, ist nicht einem Begriff zugeordnet, sondern zahlreichen. Ebenso kann jeder Gedanke (mit sehr geringen Modifikationen) auf verschiedene Weise ausgedrückt werden.

Wir werden daher darauf geführt, daß man nicht Wort und Begriff zusammenordnen darf, sondern höchstens einen Satz (das heißt eine zusammenhängende Mehrheit von Worten) und einen Gedanken, wobei stets die Persönlichkeit des Sprechers und die Situation, in der der Gedanke geäußert wird, herbeigezogen werden müssen.

Es ist also vorauszuschicken, daß die Logik, wenn sie von Begriffen, die angeblich je einem Worte beigeordnet sind, spricht, von etwas künstlich Isoliertem redet, das so im Leben nie vorkommt. Denn außer in der Logik und eventuell in der Grammatik gibt es keine isolierten Begriffe, sondern nur Gedanken.

Diese aber sind keineswegs alle "Urteile". Denn ein Urteil ist ein formulierter, auseinandergelegter Gedanke, während das, was beständig unser Hirn erfüllt, viel vagere, reichere, irrationalere Gebilde sind, und das Urteil erschöpft also den Gedanken nicht, sondern ist nur eine Äußerungsmöglichkeit, und zwar nur eine Äußerungsmöglichkeit desselben.

Obwohl also die Lehre, die glaubt, daß ein Gedanke durch Aneinanderreihung mehrerer Begriffe entstünde, von uns von vornherein als irrtümlich gekennzeichnet werden muß, ist es dennoch nötig, bei der weiten Verbreitung der falschen Begriffslehre auf diese einzugehen und sie schrittweise zu widerlegen. Ich werde also darzulegen haben, daß die Gedanken, das heißt jene psychischen Wesenheiten, die den Worten einen Sinn geben, nicht etwa klar faßbare, rationale Inhalte sind, zweitens daß sie keineswegs allgemeingültig und stets gleich sind, sondern immer der Situation angepaßt, also "okkasionell", und drittens daß sie nicht "objektiv" sind, das heißt nicht etwa Abbilder einer objektiven Wirklichkeit, d.h. Vorstellungen, sondern etwas ganz andres, vor allem Tätigkeitseinstellungen.

Statt als "Vorstellung" versuche ich den Gedanken als "Einstellung" zu charakterisieren, das heißt eine seelische "Stellungnahme", eine "Tätigkeitsbereitschaft". Wir haben den Sinn eines Begriffs erfaßt, wenn wir mit dem Begriffe "arbeiten" können. Worin diese Tätigkeiten, diese Arbeiten, bestehen, ist je nach der Art der Begriffe sehr verschieden. Sie können Vorstellungen sein, d.h. es kann zum Verständnis eines konkreten Begriffes wichtig sein, daß wir auch eine anschauliche Vorstellung davon bilden.

So kann es erforderlich sein, für den Begriff "Löwen", daß ich eine anschauliche Vorstellung habe. Auch in diesem Fall ist diese Vorstellungsbereitschaft jedoch nicht das einzige. Wichtiger in den meisten Fällen ist die Urteilsbereitschaft, d.h. die Fähigkeit, Urteile über jenen Begriff bilden zu können. Wir müssen also vom Löwen aussagen können, wo und wie er lebt usw. Wir müssen auch wissen, wie wir uns einem Löwen gegenüber zu verhalten hätten. Ein Kind, das seine Hand in einen Löwenkäfig steckt, hat eben keinen Begriff davon vom Löwen, weil es seine Handlungen nicht jenem Begriff gemäß einrichtet.

Wir haben einen Begriff von der Zahl 12, wenn wir wissen, daß wir zu ihr durch Addition von 1 zu 11 gelangen, wenn wir wissen, daß wir 12 durch 2, durch 3, durch 4, durch 6, nicht aber durch 7 teilen können und was derartiger Handlungen mehr sind. Es ist offenbar, daß es bei jedem Begriff andere Handlungen sind, deren Kenntnis das Verständnis des Begriffes ausmachen, aber jeder Begriff will auf seine Weise verstanden werden.


LITERATUR - Richard Müller-Freienfels, Rationales und irrationales Erkennen, in Annalen der Philosophie hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920
    Anmerkungen
    1) Die Forderung einer "Kritik der Sprache" ist, nachdem eine solche Kritik von VICO, HAMANN; NIETZSCHE und anderen praktisch hier und da geübt worden war, am schärfsten von FRITZ MAUTHNER formuliert worden. Da meine Arbeit sich im Thema vielfach mit seinen großen Werken "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" und "Wörterbuch der Philosophie" kreuzt, so möchte ich hier meine prinzipielle Stellungnahme dazu kurz kennzeichnen. Mir scheint, daß die Fachphilosophen sich vielfach an der unsystematischen Vortragsweise über Gebühr gestoßen haben und darüber die reichen Anregungen und geistvollen Gedanken, die neben schwach gestützten Hypothesen darin zu finden sind, zu sehr vernachlässigt haben. Ich muß den Grundgedanken MAUTHNERs, die Gleichsetzung von Denken und Sprechen, anfechten und werde in Kapitel III vorliegender Abhandlung eine positive Kritik zu geben suchen. Das hindert mich jedoch nicht, auf die beiden Werke angelegentlich hinzuweisen; sie bringen viele wertvolle Ergänzungen, die ich nicht in jedem Fall durch Fußnoten anführen konnte. Daneben möchte ich noch besonders auf MAUTHNERs Gedanken zur allgemeinen Sprachwissenschaft (Beitr. Bd.II) hinweisen, die der vorliegenden Arbeit ferner stehen, aber vielleicht den wertvollsten Teil seines Gesamtwerks ausmachen.