cr-2 Le BonErdmannW. Lexis-Analogie--Gleichheit-    
 
KARL MARBE
(1869-1953)
Die Gleichförmigkeit in der Welt
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"Abnorm, biologisch unzweckmäßig und ethisch minderwertig handelt derjenige, der seine Bequemlichkeit höher stellt als andere wertvollere Zwecke, niemals aber derjenige, der einen bestimmten Zweck auf bequemste Weise anstrebt."


Viertes Kapitel
Zur Theorie der
psychischen Gleichförmigkeit

Wir wissen, daß sich die Gleichförmigkeit psychischer Erscheinungen auf die Gleichförmigkeit der Bedingungen dieser Erscheinungen zurückführen läßt. Eine Theorie der psychischen Gleichförmigkeit kann sich aber mit einer so generellen Betrachtung nicht begnügen. Wie die Gleichförmigkeit in allen Gebieten auf gewisse Einzelprobleme führt, so legt uns auch die psychische Gleichförmigkeit manche spezielleren Fragen nahe.

Wenn wir die Gesamtheit aller erwähnten Tatsachen ins Auge fassen, so dürfen wir sagen, daß sie zu einem gewissen Teil Kulturprodukte sind. HUBER (47) hat gezeigt, daß bei Assoziationsversuchen die Qualität der Reaktionswörter unter anderem vom Beruf und von den Lebensgewohnheiten der Versuchspersonen abhängt. Auch reagieren bei solchen Versuchen Gebildete innerhalb gewisser Grenzen anders als Ungebildete. Die letzteren klammern sich mehr an die Bedeutung des Reizwortes und sie suchen dann oft nach Erklärungen und Merkmalen der durch das Reizwort bezeichneten Gegenstände, während bei gebildeten und sprachgewandten Personen die Reaktionsworte meist sozusagen automatisch im unmittelbaren Anschluß an die Reizworte erfolgen. Mit diesen Tatsachen wird es teilweise zusammenhängen, daß die gebildeten Personen mehr bevorzugte Reaktionen haben, als die ungebildeten.

Daß aber das Gleichförmigkeitsphänomen trotz des offensichtlichen Einflusses von kulturellen Faktoren teilweise auch auf allgemeinen über Jahrtausende hin verbreiteten Neigungen der Menschen beruth, ist gleichfalls durch Untersuchungen festgestellt worden. Der Historiker BELOCH sammelte in seinem Buch "Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt" (48) die Angaben über das Alter der verstorbenen Personen aus den im  Corpus Inscriptionum latinarum  enthalten Grabschriften aus der ersten, zweiten und zehnten Region Italiens. Die Altersangaben, welche die alten Römer auf diese Grabmäler schrieben, waren nicht so genau wie diejenigen auf unseren Friedhöfen, sondern sie beruhten in der Regel auf roher Schätzung. Man kann nun feststellen, welche Endziffern auf diesen Grabdenkmälern am häufigsten vorkommen und welche Endziffern in zweiter, dritter, vierter Linie usw. bevorzugt werden. Diese Feststellungen stehen mit der Bevölkerungsstatistik im Widerspruch. Konstatiert man andererseits, welche Endziffern am beliebtesten sind, wenn man einer größeren Anzahl von Versuchspersonen die Aufgabe stellt, Strecken, die größere Bruchteile von Dezimetern lang sind, in Zentimetern und Millimetern abzuschätzen, und stellt man auch hier die an zweiter, dritter, vierter Stelle usw. bevorzugten Endziffern fest, so gelang man zu genau denselben Resultaten. [...]

Wir wenden uns jetzt der Frage zu, warum in einem bestimmten Fall gerade diese und nicht andere Reaktionen bevorzugt werden. Wir gebrauchen dabei den Ausdruck  Reaktion  in weitesten Sinne des Wortes und wir verstehen daher unter Reaktionen nicht Bewegungen, sondern auch alle uns interessierenden geistigen Vorgänge der Beobachter, die in den geschilderten Experimenten durch die Versuchsbedingungen ausgelöst werden. Zu den Reaktionen gehören demnach für uns z. B. auch die Erlebnisse oder Bewußtseinsvorgänge, welche die Größenauffassungen ausmachen, auf welche die Versuchspersonen beim Abschätzen von Zehntelmillimetern ihre Urteile gründen. Ja auch die Altersangaben auf den römischen Gräbern oder bei Volkszählungen können wir im weiteren Sinn als Reaktionen ansehen, da es sich dabei um menschliche, unter bestimmten Bedingungen erfolgende Betätigungen handelt.

Wenn nun bei einem einzelnen Individuum unter bestimmten physikalischen (d. h. also innerhalb eines Körpers liegenden) Bedingungen  n  Reaktionen möglich sind, wenn aber von diesen  n  Reaktionen nur eine tatsächlich eintritt (wie dies bei all unseren Tatsachen der Fall ist), so wird diese faktische Reaktion diejenige sein, für welche die Bedingungen des Eintretens günstiger sind als für alle anderen. Wir können diese Tatsache auch so formulieren, daß wir sagen: es wird diejenige Reaktion eintreten, welche die größte Bereitschaft zum Eintreten besitzt. Ebenso werden bei mehreren Individuen, die unter gleichen oder gleichförmigen Bedingungen stehen, diejenigen Reaktionen am meisten auftreten, welche die größte Bereitschaft haben. Bei der Gleichförmigkeit der Bedingungen aber, unter welchen diese Individuen stehen, wird auch eine gewisse Gleichförmigkeit der Bereitschaft für gewisse Reaktionen vorhanden sein, so daß also aufgrund der gegebenen Gleichförmigkeit der Bedingungen eine gewisse Übereinstimmung der Reaktionen eintreten muß.

Mit dem Begriff der  Bereitschaft  ist übrigens ansich gewiß nicht viel gewonnen. Aber wir können doch experimentell feststellen, durch welche Faktoren die Bereitschaft einer Reaktion erhöht wird. Wir betrachten zunächst lediglich die Assoziationsversuche. Hier hat sich gezeigt (49), daß die in der Sprache häufiger vorkommenden Wörter durchschnittlich häufiger bevorzugte und im allgemeinen auch häufiger bevorzugteste Reaktionen sind, als die in der Sprache seltener vorkommenden Wörter. Wir sehen hieraus, daß gewohntere Betätigungen und Bewußtseinsvorgänge öfter zu Reaktionen werden als weniger gewohnte, daß also die Geläufigkeit (50) eines Vorgangs seine Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen einzutreten, erhöht.

Ähnliches zeigt sich auch auf anderen Gebieten. DAUBER (51) frug 153 Schüler in Abwesenheit zweier allen Schülern bekannter Lehrer nach der Haarfarbe dieser beiden Lehrer, von denen der eine blondes, der andere dunkles Haar hatte. Es zeigte sich nun, daß die Haarfarbe der dunklen Person von viel mehr [125] Versuchspersonen richtig angegeben wurde als die Haarfarbe der blonden Person [77]. Zugleich wurde die blonde Person in 47 Fällen als dunkel (schwarz, braun, brünett), die dunkle Person nur in 9 Fällen als blond bezeichnet. Die Bereitschaft für die Reaktion "dunkel" war also eine entschieden größere als die für die Reaktion "blond". Dies zeigte sich auch bei einem anderen Versuch, in welchem DAUBER viele Versuchspersonen aufforderte, die Haarfarbe zu notieren, die ihnen zuerst einfiel. Hier notierten 46 VP "schwarz", 6 "braun, 1 "hellbraun" und nur 37 VP schrieben "blond". (Zehn Personen hatten teils "rot", teils "weiß", teils "grau" geschrieben.) Diese Ergebnisse stimmen nun auf das Beste überein mit Ergebnissen von HABERLANDT (52), der festgestellt hat, daß in der Gegend von Würzburg nur 21 bis 30% Schüler dem blonden, alle übrigen dem schwarzen Typus angehören. Wir sehen aus diesen Tatsachen wiederum, daß die *Gewohnheit die Bereitschaft von Reaktionen erhöht.

In anderen Versuchen (53) frug DAUBER eine große Anzahl von Personen: welches Dorf liegt westlich von Würzburg? Auf diese Frage erhielt er neben richtigen und mehreren falschen, aber auseinanderfallenden Antworten 44 falsche, jedoch gruppenweise übereinstimmende Antworten. Diese gruppenweise zusammenfallenden falschen Antworten enthielten die Reaktionsworte: Heidingsfeld, Dürrbach, Gerbrunn. Am häufigsten wurde Heidingsfeld, dann Dürrbach, am seltendsten Gerbrunn genannt. Andererseits stellte DAUBER vielen Personen die Aufgabe, ein ganz beliebiges Dorf in der Nähe von Würzburg zu notieren. Hierbei zeigte sich, daß die Orte Heidingsfeld, Dürrbach, Gerbrunn wiederum am häufigsten notiert wurden, und wiederum stand Heidingsfeld an erster, Dürrbach an zweiter und Gerbrunn an dritter Stelle. Offenbar wurden die drei Orte beim letzten Versuch deshalb am häufigsten notiert, weil sie mehr genannt oder besucht oder überhaupt bekannt sind als andere, und offenbar entsprach auch die Reihenfolge dem Bekanntheitsgrad. Dementsprechend traten sie in der erwähnten Häufigkeitsfolge auch als Antworten auf die Frage "Welches Dorf liegt westlich von Würzburg?" auf. Wir sehen also hier wiederum den Einfluß der Bekanntheit und somit der Gewohnheit auf die Bereitschaft. Sowohl im Versuch mit den Dörfern als auch im Versuch mit der Haarfarbe ist der Einfluß der Gewohnheit so groß, daß er direkt falsche Aussagen hervorruft.

Auch der Umstand, daß viele Versuchspersonen, aufgefordert einen beliebigen Farbennamen niederzuschreiben, in den meisten Fällen  rot  schreiben, dürfte damit zusammenhängen, daß  rot  in der deutschen Sprache häufiger vorkommt als irgend ein anderer Farbennamen (54). Auch die von STOLL festgestellte Tatsache, daß bei Abschreibefehlern vielfach irrigerweise sprachlich seltene Wortformen durch solche, die in der Sprache häufiger vorkommen, ersetzt werden, zeigt den Einfluß der Gewohnheit auf die Reaktionen (55). Es scheint somit die Wirkung der Gewohnheit von fundamentalen Einfluß auf die Bereitschaft von Reaktionen zu sein.

Die Bereitschaft einer bestimmten von  n  möglichen Reaktionen kann aber auch gefördert werden durch Sinneswahrnehmungen und Betätigungen, die der Reaktion unmittelbar vorhergingen. Bei der Untersuchung der Schreibfehler hat sich nämlich gezeigt, daß viele von einem Prozentsatz der Versuchspersonen gleichmäßig ausgeführte Schreibfehler infolge von Nachwirkungen solcher gelesener Laute und Schriftzeichen entstehen, die den fehlerhaft geschriebenen Silben vorausgehen oder doch vor der Niederschrift der letzteren perzipiert wurden (56). Auch die Richtung der Aufmerksamkeit scheint für die Bereitschaft bestimmter Reaktionen von Einfluß zu sein. So nimmt zumindest BAUCH (57) an, daß die beim Zehntelschätzen auftretende Bevorzugung der Randzehntel dadurch entsteht, daß der der abzuschätzenden Größe am meisten benachbarte Randstrich die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wodurch der bei der Schätzung in Frage kommende Skalenpunkt der Begrenzungslinie mehr angenähert erscheint, als es in Wirklichkeit der Fall ist.

Natürlich sind mit diesen Hinweisen die Faktoren, welche die Bereitschaft einer psychophysichen Reaktion zu fördern imstande sind, nicht im entferntesten erschöpft. Diese Faktoren im weitesten Umfang festzustellen und zu untersuchen, ist eine der wichtigsten Aufgaben einer abschließenden Theorie der psychischen Gleichförmigkeit. Freilich würden, auch wenn dies geschehen sein sollte, noch viele Fragen offen bleiben.

Die oben abgeleitete physiologische Tatsache, daß eine große Anzahl von Individuen unter bestimmten Bedingungen diejenigen Bewegungen bevorzugt, die schneller ausführbar und die subjektiv bequemer sind, hängt in gewisser Weise mit dem Gesetz der kleinsten Wirkung und des kleinsten Kraftmaßes zusammen. Schon FERMAT hat (vielleicht im Anschluß an antike Vorstellungen (58) und an Ansichten früherer Naturforscher und Philosophen (59) den Satz formuliert, daß die Natur, die er als eine große Arbeiterin betrachtet, immer auf den kürzesten Wegen tätig ist (60). Dieser Satz, der sagt, daß jede mögliche Abänderung des faktischen Naturverlaufs die Überwindung eines größeren Widerstandes bedeuten würde, ist in der späteren Mechanik mannigfach verändert und diskutiert worden (61). Während der Satz, der (in den verschiedenen Formulierungen der Mechanik) schließlich nur aussagt, daß unter gegebenen Umständen gerade so viel geschieht, als unter den gegegeben Umständen geschehen kann (62), sich in der *Mechanik zurzeit keines besonderen Ansehens erfreut, ist er in der Neuzeit in verschiedenen Formen auf andere Gebiete übertragen worden. Auch diese Übertragungen, unter denen die von *AVENARIUS und MACH am bekanntesten sind, sind freilich nicht ohne ältere Vorläufer (63).

Wenn wir auf irgendeinem Gebiet des praktischen Lebens, der Kunst oder der Wissenschaft eine Aufgabe zu lösen haben, so werden wir im allgemeinen bestrebt sein, uns der einfachsten, kürzesten und daher bequemsten Wege zu bedienen, ein Verfahren, welches im Sinne der größten Kraftersparnis und somit der größten Leistungsfähigkeit die Billigung aller Urteilsfähigen findet. So kann man, wie vielfach üblich, mit Recht auf dem Gebiet des *sozialen Lebens*, der *Wissenschaft und überhaupt auf allen Gebieten, wo menschliche Betätigungen in Betracht kommen, von einer Ökonomie dieser Betätigungen, von einer geringsten Anstrengung und ähnlichem reden, wenn man auch nie vergessen darf, daß das Handeln im Sinne dieses Prinzips durch andere Faktoren durchkreuzt oder gestört werden kann.

Dieses Prinzip hat nicht nur auf den Gebieten der wohl überlegten *Willenshandlungen seine Bedeutung, sondern auch dann, wenn mehr oder weniger automatisch gewordene Betätigungen vorliegen, und auch dort, wo sogenannte Willenshandlungen gegeben sind, die unter bestimmten psychischen Bedingungen unmittelbar im Anschluß an bestimmte Reize erfolgen (64). Wenn wir etwa von Feinden verfolgt, ganz unmittelbar auf dem kürzesten Weg fliehen, wenn wir uns in größter Eile ankleiden, und in tausend anderen Fällen handelns wir im Sinne des Prinzips der kleinsten Kraftanstrengung.

Auch als heuristisches Prinzip kann die in Rede stehende Auffassung nützlich werden, so z. B. wenn der Historiker oder der Untersuchungsrichter irgendeinen nur teilweise durch Zeugen gedeckten Vorgang nachkonstruieren; auch in der Biologie und Physiologie werden wir öfters von dem Gesichtspunkt geleitet, daß die Individuen gewisse Leistungen auf dem bequemsten Weg vollbringen. So operiert z. B. ADOLF FICK in einer Erörterung der Bewegungen des menschlichen Augapfels (65) mit dem Satz, daß man die Bewegungen mit einer möglichst geringen Gesamtanstrengung ausführt. (66)

Unser obiges Ergebnis, daß wir, wenn wir aufgefordert werden, eine bestimmte Bewegung auszuführen, allgemein von  n  möglichen Bewegungen die bequemeren und schneller ausführbaren bevorzugen, darf gleichfalls als ein Beleg für den Satz von der geringsten Anstrengung dienen. Daß von einer großen Anzahl von Individuen nicht alle, sondern nur ein großer Prozentsatz im Sinne dieses Satzes verfahren, zeigt, daß die Geltung des fraglichen Prinzips bei den in Rede stehenden Versuchen durch andere Faktoren mehr oder weniger gestört wurde.

Die Tatsache, daß die in einer bestimmten Richtung wirkende Suggestion die Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens erhöht, ist leicht verständlich. Werden eine Anzahl von Personen durch gleiche Mittel suggestiv beeinflußt, so gehören die suggestiv wirkenden Vorgänge (das sind z. B. im letzten Kapitel angeführten Versuch von DÜCK die Worte des Lehrers) zu den Bedingungen des psychischen Verhaltens dieser Personen. Die Gleichförmigkeit der Bedingungen des psychischen Verhaltens von Personen und somit die Gleichförmigkeit ihres Verhaltens selbst wird aber offenbar erhöht, wenn (wie z. B. im Versuch von DÜCK) unter den Bedingungen des Verhaltens solche auftreten, die im gleichen Sinn suggestiv wirken.

Das Phänomen der bevorzugtesten, nächstbevorzugten und minder bevorzugen Reaktionen findet sich auch in biologischen Massenuntersuchungen über Reaktionsweisen von Organismen auf bestimmte Reize. Zu den ältesten Untersuchungen dieser Art gehören die von VITUS GRABER (67) über den Helligkeits- und Farbensinn der Tiere, die aber auch ihrerseits nicht ohne Vorläufer sind (68). Von den neueren zusammenfassenden Schriften nenne ich die von JAQUES LOEB (69) und HERBERT SPENCER JENNINGS (70). Unter den periodischen Druckschriften kommt für dieses Gebiet besonders das "Journal of Animal Behaviour" nebst seinen Ergänzungsheften in betracht (71).

Bei diesen Untersuchungen wird in der Regel die Frage aufgeworfen, welche Reaktionsbewegungen die Organismen bei der Einwirkung bestimmter Reize vorzugsweise ausführen. THEODOR WILHELM ENGELMANN zeigte die Verteilung von Purpurbakterien in einem mikroskopischen Spektrum. Die größte Anzahl der Bakterien sammelt sich im Gebiet der ultraroten Strahlen; eine zweite Ansammlung finden wir im Gelb, während nur wenige Bakterien im Grün und Blau verstreut sind. In anderen Teilen des Spektrums finden sich, wie die Abbildung lehrt, keine oder fast keine Bakterien (72). Den bevorzugtesten, nächstbevorzugten und minder bevorzugten Reaktionen in unseren psychologischen Versuchen am Menschen entsprechen daher hier, wie man sieht, bevorzugteste, zweibevorzugte und minderbevorzugte Reaktionsbewegungen von Bakterien.

Einige polemische Bemerkungen zur Theorie der psychischen Gleichförmigkeit sollen im 28. Kapitel mitgeteilt werden.


Fünftes Kapitel
Gleichförmigkeit und Sprachwissenschaft

Die Untersuchungen über die Gleichförmigkeit der Reaktionen bei Assoziationsversuchen haben auch sprachwissenschaftliches Interesse. Der Sprachforscher ALBERT THUMB, welcher die erste Anregung zu all diesen Assoziationsversuchen gab, hatte die Idee, daß die Worte, die einander im Sinn der sogenannten Analogiebildung beeinflussen, auch Beziehungen aufweisen müßten, die sich durch geeignete Assoziationsversuche zutage fördern lassen. Und die Ergebnisse der oben mitgeteilten Versuche haben diese Ansicht THUMBs in weitem Umfang bestätigt und immer wieder bekräftigt (73). Die Sprachen sind so wenig wie die biologischen Arten konstant, sondern sie sind einer durch die Sprachgeschichte nachweisbaren Entwicklung unterworfen. Diese Entwicklung läßt sich unter gewisse Sätze, zu denen auch die sogenannten Lautgesetze gehören, subsumieren. Einer dieser Sätze ist die Regel der sogenannten Analogiebildung, die sagt, daß in den Sprachen gewisse Wortänderungen oder Neubildungen in Analogie zu schon vorhandenen Worten entstehen. Analogiebildung liegt z. B. vor, wenn unsere süddeutschen Dialekte für "Tag" den Plural "Täge" in Analogie zum Plural "Nächte" bilden. Dementsprechend ist "Nacht" die bevorzugteste Reaktion auf "Tag", wovon sich jeder durch einige Versuche nach Art der geschilderten Experimente leicht überzeugen kann.

Es bestehen aber auch andere Beziehungen zwischen Gleichförmigkeit und Sprachwissenschaft. Wir haben gegen Schluß des vorletzten Kapitels u. a. folgende physiologische Sätze abgeleitet:
    1. Wenn bei einer großen Anzahl von Individuen unter bestimmten physikalischen (d. h. außerhalb der Individuen liegenden) Bedingungen  n  Bewegungen möglich sind, so stimmen die tatsächlich erfolgenden Bewegungen in weitem Umfang miteinander überein; es gibt bevorzugteste, zweibevorzugte und minder bevorzugte Bewegungen.

    2. Die bevorzugteren Bewegungen können durchschnittlich schneller ausgeführt werden als die minder bevorzugten.

    3. Die bevorzugteren Bewegungen sind durchschnittlich subjektiv bequemer als die minder bevorzugten.
Wir setzen nun den Fall, wir stellen einer großen Anzahl von Versuchspersonen die Aufgabe, ganz bestimmte Bewegungen auszuführen, z. B. einige nicht in einer geraden Linie liegenden Punkte einer Ebene mit der Spitze des Zeigefingers zu verbinden. Wir dürfen dann in Analogie zu den eben erwähnten Sätzen aus der Physiologie erwarten, daß die Bewegungen der einzelnen Versuchspersonen durchaus nicht genau zusammenfallen und daß die Abweichungen von der vorgeschriebenen Bewegung in bevorzugteste, zweitbevorzugte und minder bevorzugte verschiedenen Grades zerfallen. Natürlich ist bei diesem Experiment zu bedenken, daß die Änderungen der vorgeschriebenen Bewegung vielleicht nicht einmal bei zwei unter tausend Versuchspersonen zusammenfallen. Aber die tatsächlichen Bewegungen werden sicherlich ganz analog den Bewegungen der Purpurbakterien im oben beschriebenen Versuch in gewisse gleichwertige Spielräume fallen, so zwar, daß in den einen möglichen Spielraum mehr, in den anderen weniger Bewegungen fallen; es müssen dann als gleichbevorzugt bzw. vernachlässigt diejenigen Bewegungen gelten, die in gleiche Spielräume fallen. Ferner müssen wir in Analogie zu unseren Sätzen  2  und  3  auch annehmen, daß die bevorzugteren Abweichungen durchschnittlich schneller ausführbar und subjektiv bequemer sind als die minder bevorzugten. Aus diesen sehr elementaren Betrachtungen ergeben sich dann folgende neue Sätze:
    a) Wenn viele Personen unter bestimmten Bedingungen bestimmte vorgeschriebene Bewegungen ausführen, so stimmen die tatsächlichen Bewegungen nicht genau miteinander überein. Die Abweichungen von den vorgeschriebenen Bewegungen zerfallen in bevorzugteste, zweitbevorzugte und minder bevorzugte Änderungen.

    b) Die bevorzugteren Änderungen sind schneller ausführbar als die minder bevorzugten.

    c) Die bevorzugteren Änderungen sind durchschnittlich subjektiv bequemer als die minder bevorzugten.
Wenn nun diese Sätze zutreffen, so müssen sie auch für solche Bewegungen eine Bedeutung haben, die sich im Laufe der Geschichte nachweislich ändern. Zu diesen Bewegungen gehören aber vor allem die Sprechbewegungen. Wir wollen nun versuchen, die Ansichten über die Sprachentwicklung abzuleiten, die sich aus den Sätzen  a, b, c  und  1, 2, 3  ergeben.

Jedem Wort einer bestimmten Sprachgenossenschaft entspricht zu ein und derselben Zeit eine bestimmte, typische, usuelle Sprechweise, von der sich niemand allzuweit entfernen darf, ohne lächerlich oder gar unverständlich zu werden. Daß alle Mitglieder einer Sprachgenossenschaft ein bestimmtes Wort ganz genau gleich sprechen, ist ebenso unmöglich, wie daß eine große Anzahl von Versuchspersonen eine vorgeschriebene Bewegung ganz gleich ausführt. Der Usus ist nichts anderes als eine Norm, von welcher die Mitglieder der Sprachgenossenschaft mehr oder weniger abweichen, wie auch in unserem fingierten Versuch, der zu den Sätzen  a, b, c  führte, die Vorschrift des Versuchsleiters eine Norm darstellt, der die Versuchspersonen in verschiedenem Grad entsprechen.

Die Sprachgeschichte lehrt nun, daß sich der Usus im Verlauf der Zeit mehr oder weniger lebhaft ändert. Von allen möglichen Änderungen aber werden ganz im Sinne unseres Satzes  a  nur ganz bestimmte, allerdings auch wieder nicht identische, sondern nur in einem bestimmten Spielraum fallende Änderungen bevorzugt werden, welche dann andere mögliche und wohl auch vielfach vorhandene Änderungen verdrängen.

Da nach den Sätzen  b  und  c  die bevorzugteren Änderungen zugleich die schneller ausführbaren und die bequemeren sind, so werden auch diejenigen unter allen möglichen Sprachänderungen bevorzugt und daher usuell werden, welche am schnellsten und am bequemsten ausführbar sind. Hiernach müssen wir annehmen, daß die Neigung oder Tendenz zu bequemeren und schneller ausführbaren und daher auch  de facto  schnelleren Bewegungen ein Faktor ist, welcher die Entwicklung der Sprache beeinflußt.

Freilich darf man sich die Sache nicht so vorstellen, daß jede Sprache immer und immer bequemer und schneller wird. Schon aus rein physiologischen Gründen gibt es hier natürlich ein Maximum der Geschwindigkeit und ein Optimum der Bequemlichkeit. Auch wäre es ganz falsch, wenn man etwa annehmen wollte, daß jede Sprache in den Anfangsstadien, in denen sie uns bekannt ist, unbequem und langsam, in ihren späteren Entwicklungsstadien aber bequemer und schneller ist und daß ihre Entwicklung dann abgeschlossen ist, wenn sie das mögliche Maximum der Geschwindigkeit und das mögliche Optimum der Bequemlichkeit erreicht hat. Aber ganz abgesehen davon, daß sich solche Ansichten durch die Sprachgeschichte nicht verifizieren lassen, muß ich nachdrücklich betonen, daß meine Ausführungen, in meinem Sinne aufgefaßt, solche Folgerungen ganz und gar nicht nahe legen.

So sicher alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die zugleich Kaufleute sind, im Laufe der Jahrhunderte bei ihren kaufmännischen Aktionen fortgesetzt danach streben, ihr Vermögen zu vergrößern, so unsinnig wäre es doch, wenn man hieraus schließen wollte, daß sie im Laufe der Zeit immer reicher und reicher werden, bis ein bestimmtes Maximum des Reichtums erreicht ist. Die Zersplitterung des Vermögens infolge von Erbschaft, die Zunahme der Bevölkerung innerhalb gewisser Epochen und tausend andere wohlbekannte und vielleicht noch mehr unbekannte Bedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung machen jene Auffassung einfach unmöglich. Sie wäre nur dann zutreffend, wenn der Reichtum einzig und allein von einem Streben nach Bereicherung abhängig wäre, was aber nicht im entferntesten der Fall ist. Trotz jenem Streben der Kaufleute ist es also infolge der anderen Bedingungen des Reichtums keineswegs wunderbar, daß der Reichtum der einzelnen Kaufleute und der gesamten Kaufmannschaft im Laufe der Zeit bald größer, bald kleiner ist. Unzählige Beispiele dieser Art könnten angeführt werden zur Erläuterung des Satzes, daß kompliziertere Vorgänge niemals von einer oder wenigen, sondern immer von einer Vielheit von Bedingungen abhängig sind. Diese Tatsachen, die wir im ersten Kapitel in einem anderen Zusammenhang entwickelt haben, zeigen ohne weiteres, daß es eine unzulässige Annahme wäre, die Entwicklung der Sprache ganz ausschließlich aus dem Streben nach Bequemlichkeit und der parallel gehenden Bevorzugung von Worten, die mit großer Geschwindigkeit gesprochen werden können, ableiten zu wollen. Die Zurückführung komplizierter historischer Vorgänge auf eine geringe Anzahl von Bedingungen ist (so ungefähr sagten wir oben) eine notwendige Resignation, aber niemals eine restlose Erklärung. So kann auch eine restlose Erklärung der Sprachveränderungen aus unseren beiden Prinzipien nicht gegeben werden.

Die Sache verhält sich vielmehr so, daß die tatsächlichen Änderungen der Worte einer Sprachgemeinschaft durch eine unübersehbare Menge von Bedingungen bestimmt werden; zu diesen Bedingungen gehört auch die Neigung der Menschen, soweit es mit ihren Zwecken vereinbar ist, bequemere und schneller ausführbare Bewegungen zu bevorzugen. Da nun neben diesen beiden Faktoren noch viele andere für die Entwicklung der Sprache maßgebend sind, so kann die Tatsache, daß das Streben nach bequemen und schnell ausführbaren Bewegungen die Sprachentwicklung beeinflußt, sehr wohl zu Recht bestehen, ohne daß die Sprachen fortwährend bequemer und schneller werden müssen. Ja, es kann ganz gut sein, daß die Sprachen zeitweise infolge anderer, jenen beiden Prinzipien entgegenwirkender Bedingungen längere und unbequemere Worte bilden. Ja, rein logisch gesprochen, könnte sogar das Streben nach Bequemlichkeit und schnell sprechbaren Worten zwar vorhanden sein, die Sprache aber trotzdem infolge anderer Ursachen immer unbequemer und umständlicher werden. Trotzdem aber müssen wir aus unseren Betrachtungen schließen, daß das Streben nach bequemen und mit möglichster Geschwindigkeit sprechbaren Worten die Entwicklung der Sprache beeinflußt.

Die hier dargelegten Folgerungen stimmen mit den Ansichten der Sprachforscher in manchen Zügen überein. So betont HERMANN PAUL (74), daß der Usus zu einer bestimmten Zeit die Sprechtätigkeit niemals vollkommen beherrscht, sondern immer ein bestimmtes Maß individueller Freiheit übrig läßt, daß also die tatsächliche Sprechweise gegenüber der vom Usus geforderten immer mehr oder weniger verschoben ist.
    "Durch die Summierung einer Reihe solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in gleicher Richtung bewegen, ergibt sich als Gesamtresultat eine Verschiebung des Usus."

    "Daneben gibt es eine Menge gleichartiger Verschiebungen in den einzelnen Organismen, die, weil sie sich nicht gegenseitig stützen, keinen solchen durchschlagenden Erfolg haben."
Die prinzipielle Übereinstimmung dieser Lehren mit unseren Ausführungen fällt ohne weiteres ins Auge. Daß sich aber eine große Anzahl von Verschiebungen des Usus  unbedingt  in gleicher Richtung bewegen  muß,  zeigen unsere Ergebnisse über die bevorzugtesten Reaktionen bzw. die bevorzugtesten von einer vorgeschriebenen Bewegung abweichenden Änderungen.

Freilich sind auch andere Ansichten von Sprachforschern vertreten worden. So meint DELBRÜCK (75), daß eine Neuerung bei einem einzelnen beginnt und sich dann von ihm aus in immer weitere und weitere Kreise fortsetzt. den hauptsächlichsten Grund, warum die mehreren die wenigen nachahmen, erblickt DELBRÜCK im persönlichen Einfluß der wenigen. Es kann gewiß nicht geleugnet werden, daß vielleicht in einzelnen Fällen das isolierte Verhalten eines einzelnen oder weniger von fundamentalem Einfluß auf die Sprachentwicklung sein mag. Aber die in den verschiedensten Gebieten experimentell erwiesene Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens unter gleichförmigen Bedingungen scheint doch darauf hinzuweisen, daß die Ansichten PAULs und unsere eigenen das Richtige eher treffen. Die Übereinstimmung des sprachlichen Verhaltens auch voneinander unabhängiger Individuen ist jedenfalls ein Faktor der Sprachentwicklung, der nicht über sehen werden darf.

Das Streben nach Bequemlichkeit und Beschleunigung ist oft von Sprachforschern als Faktor der Sprachentwicklung in Anspruch genommen worden. F. M. MÜLLER war, seiner Ansicht nach (76), "der erste, der den Lautwandel einem natürliche Streben nach Sparen von Muskelanstrengung, einer  vis inertiae  oder deutlicher gesprochen der menschlichen Trägheit" zuschrieb. Diese Trägheit ist nach MÜLLER die  vera causa  des Lautwandels.

Freilich können wir diesen Ausführungen MÜLLERs, wiewohl auch wir das Streben nach Bequemlichkeit für eine Bedingung der Sprachentwicklung und also auch des Lautwandels halten, nicht beipflichten. Was heißt  vera causa?  Wir müssen uns hier genau an die Ausführungen des ersten Kapitels erinnern, aus denen sich ergibt, daß der Begriff der  vera causa  in dem hier in Frage stehenden Sinn den populären Ansichten der Menschen entwachsen ist, daß er aber wegen seines subjektiven Charakters auf dem Gebiet einer objektiven Ursachenforschung, worauf es doch in der Sprachwissenschaft ankommt, nicht am Platz ist. Auch haben wir dort betont, daß die Wirksamkeit von einer oder ein paar Bedingungen die Wirksamkeit anderer Bedingungen nicht ausschließt, weshalb es nicht geraten erscheint, die Bedeutung einzelner Bedingungen gegen die anderer Bedingungen auszuspielen. Wir müssen daher nicht nur die einseitige Betonung des Einflusses der Bequemlichkeit durch F. M. MÜLLER, sondern auch alle jene Theorien verwerfen, die, wie z. B. die von GEORG von der GABELENTZ (77), nur wenige Faktoren als Bedingungen der sprachlichen Entwicklung in Anspruch nehmen. Übrigens betrachten auch GABELENTZ (78) und schon vor ihm GEORG CURTIUS (79) und viele andere Autoren das Streben nach Bequemlichkeit als eine mehr oder weniger wichtige Bedingung der Sprachänderungen, so auch PAUL (80), der jedoch selbst vor der Verwendung nur weniger Erklärungsprinzipien mit Recht nachdrücklich warnt (81).

Andere haben freilich die Bequemlichkeit als Faktor der Sprachentwicklung verworfen. Alle Einwände aber, die mir bekannt wurden, scheinen mir, so berechtigt sie vielfach ansich sind, die Bequemlichkeit in unserem Sinne überhaupt nicht zu treffen. So sagt DELBRÜCK (82):
    "Wenn man in der absteigenden Linie der Generationen einen Fortschritt zu immer größerer Bequemlichkeit findet (und das ist doch die Annahme), so würde man rückschreitend auf immer unbequemere Zustände stoßen und zu der Annahme gedrängt werden, daß unsere ältesten Vorfahren sich das Sprechen erstaunlich unbequem gemacht haben."
Man sieht sofort, daß der hier bekämpfte Standpunkt vom unsrigen weit abliegt und daß er auch durch unsere obigen Ausführungen bereits abgelehnt ist. Analoges gilt hinsichtlich der Ausführungen von SÜTTERLIN (83), der das Prinzip der Bequemlichkeit als eine Sackgasse bezeichnet und dies auf die Tatsache stützt, daß die Sprache auch oft von bequemeren zu unbequemeren Formen übergeht. Daß dieser Umstand die Bedeutung des Bequemlichkeitsprinzips in unserem Sinne nicht tangiert, ist oben direkt gezeigt worden.

Ausdrücklich betonen muß ich, daß auch die Einwände meine Auffassung nicht berühren, die gegen das Prinzip der Nachlässigkeit oder das Prinzip der Trägheit in einem ethisch verwerflichen Sinn erhoben werden können. Dieses Prinzip ist etwas ganz anderes als unser Bequemlichkeitsprinzip. Es wird in dem bekannten Werk von WHITHNEY-JOLLY allerdings mit dem letzten vermischt. Dort (84) heißt es:
    "Jede ... Anstrenung sucht sich der Mensch kraft eines natürlichen Instinkts vom Hals zu schaffen oder doch zu erleichtern: eines Instinkts, den man nach Belieben als einen Ausfluß der angeborenen Trägheit oder der Sparsamkeit, d. h. des Selbsterhaltungstriebes des Menschen betrachten mag, er fließt in der Tag bald aus der ersteren, bald aus der letzteren Quelle, je nach den Umständen; er ist Trägheit, wenn dadurch mehr verloren als gewonnen wird, weise Sparsamkeit, wenn der Gewinn die Einbuße übersteigt."
Man sieht, daß hier die Sprachänderungen zu einem Teil aus der nachteiligen Trägheit des Menschen erklärt werden, zum Teil allerdings auch aus dem Prinzip der Kraftersparnis, was auf unser Prinzip der Bequemlichkeit hinausläuft. Eine ähnliche Verbindung beider Faktoren finden wir bei GABELENTZ (85), der einerseits von einem Bestreben, Kräfte zu ersparen, andererseits von jener Trägheit spricht, die dahin neigt, sich auch das Unerläßliche zu erlassen. Solchen Auffassungen der Dinge gegenüber mag es zumindest verständlich erscheinen, wenn WILHELM WUNDT (86) sagt, sie führten irrigerweise die normale Entwicklung der Sprache auf das Streben nach Bequemlichkeit zurück, also auf eine Eigenschaft, die bereits der Grenze des abnormen Verhaltens nahekommt. Es ist ohne weiteres klar, daß sich diese Lehre WUNDTs nur auf die Nachlässigkeit, Trägheit und Bequemlichkeit im biologisch unzweckmäßigen und ethisch verwerflichen Sinn, nicht aber auf das Streben nach Bequemlichkeit in unserem Sinn beziehen kann und daß daher unsere Ansichten durch die genannte WUNDTsche Auffassung nicht berührt werden.

Wir haben experimentell gezeigt, daß eine größere Anzahl von Versuchspersonen, aufgefordert, eine unter  n  bestimmten Bewegungen auszuführen, die subjektiv bequemeren Bewegungen bevorzugt, und daraus den Satz abgeleitet, daß auch unter den möglichen Änderungen bestimmter Bewegungen die bequemeren Änderungen bevorzugt werden müssen. Auch sahen wir, daß sich das von uns experimentell erwiesene Bevorzugen bequemer Bewegungen dem Satz vom kleinsten Kraftmaß, nach dem wir allgemein vorgeschriebene Aufgaben mit möglichst geringer Kraftanstrengung ausführen, auf das Beste einordnet. Das Streben nach Bequemlichkeit ist zudem im Sinne unseres Satzes Nr. 3 ein allgemeines physiologisches Verhalten. Dieses Verhalten muß auch, wie oben gleichfalls angedeutet, wenn man es schon unter einem biologischen und ethischen Gesichtspunkt betrachten will, allgemeine Billigung finden. Jede Anstrengung, die zu keinem wertvollen Ergebnis führt, ist einfach deshalb zu verwerfen, weil sie Kräfte absorbiert, die in wertvollerer Weise verwendet werden können. Die Auffassung, daß das Streben nach Bequemlichkeit an der Grenze des Normalen liegt, gilt also für unsere Auffassung der Dinge durchaus nicht, außer man bezeichnet es als normales Verhalten, wenn jemand als Weg in die Kirche den um das Dorf wählt. Abnorm, biologisch unzweckmäßig und ethisch minderwertig handelt derjenige, der seine Bequemlichkeit höher stellt als andere wertvollere Zwecke, niemals aber derjenige, der einen bestimmten Zweck auf bequemste Weise anstrebt. So werden unsere Ansichten durch WUNDTs Ausführungen nicht betroffen.

Der Satz, daß das Streben nach schnell, also mit großer Geschwindigkeit sprechbaren Worten die Sprachentwicklung beeinflußt, ist den Sprachforschern weniger geläufig als das Bequemlichkeitsprinzip. Doch findet auch er seine Analoga in der Sprachwissenschaft. So bezeichnet z. B. BRUGMANN (87) die größere Sprechgeschwindigkeit als spezielle Bedingung bestimmter sprachlicher Neuerungen und F. SOMMER hat den Einfluß der Redegeschwindigkeit auf die Sprachentwicklung nachdrücklich betont (88). Auch WUNDT lehrt in Vorlesungen und Büchern seit langer Zeit, daß die Beschleunigung der Rede neue Sprachformen schafft (89). WUNDT neigt aber auch sehr der Ansicht zu, daß die Rede im Lauf der Zeit schneller geworden ist, ohne übrigens Stillstände und retrograde Bewegungen auszuschließen (90). LUDIWIG SÜTTERLIN (91) hat an den hier angedeuteten und den anderen konnexen Ansichten WUNDTs eine scharfe Kritik geübt. Gegen unsere Formulierungen des Geschwindigkeitsprinzips sind aber alle diese Einwände gar nicht gerichtet, da dieses über den faktischen Verlauf der Sprechgeschwindigkeit, woran SÜTTERLIN speziell anknüpft, überhaupt nichts aussagt (92).

Auch sei noch erwähnt, daß gegen unsere Lehre von der Bequemlichkeit und Sprechgeschwindigkeit auch nicht eingewendet werden darf, daß Bequemlichkeit und geschwinde Sprechbarkeit insofern relative Begriffe sind, als heute vielleicht manches bequem ist, was unseren Vorfahren unbequem war (93), und daß wir heute vielleicht ein Wort  a  schneller sprechen können als ein Wort  b,  während bei unseren Vorfahren das umgekehrte der Fall gewesen sein kann. Unser Maßstab der Bequemlichkeit und schnellen Sprechbarkeit ist natürlich kein absoluter, sondern ein vom Standpunkt der in Frage kommenden Individuen zu bestimmender.

Schließlich will ich noch betonen, daß ich nicht das Streben nach Bequemlichkeit und das Streben nach schnell sprechbaren Worten als reale Kräfte oder als sprachliche Mächte oder dgl. aufgefaßt wissen will. Eine solche Betrachtung der Dinge beginge genau denselben Fehler, den wir oben dem ARISTOTELES vorgeworfen haben; sie würde Ursachen oder Bedingungen als Kräfte in Anspruch nehmen. Wenn wir sagen, die Entwicklung der Sprache wird durch das Streben des Menschen nach bequemeren und schnell sprechbaren Worten bedingt, so heißt dies für uns lediglich: Unter den Bedingungen der Sprachänderungen finden sich solche, welche, wenn andere entgegengesetzt wirkende Bedingungen fehlen, von unbequemeren zu bequemeren und von langsamer zu schneller sprechbaren Worten führen.

Hieraus erhellt sich auch, daß der Begriff  Bedingung  hier im zweiten Sinn des Wortes (vgl. Kapitel 1) in Betracht kommt: zu bequemeren und schneller sprechbaren Worten führend, sind offenbar Merkmale einer ganzen Reihe im einzelnen unbekannter Bedingungen der historischen Sprachveränderungen.

Da sich bei den Experimenten über die Gleichförmigkeit der Bewegungen gezeigt hat, daß im allgemeinen die gleichen Bewegungen als bequemer bezeichnet werden, die auch schneller ausgeführt werden können, so wird man vielleicht mit der Möglichkeit rechnen dürfen, daß Streben nach bequemen und Streben nach schnell sprechbaren Worten zwei verschiedene Merkmale für ein und dieselbe Sache sind. Man wird also vielleicht vermuten dürfen, daß wir mit beiden Merkmalen genau dieselben Bedingungen in unserem ersten Sinn des Wortes zusammenfassen. Unbedingt notwendig ist dies freilich nicht, da ansich auch zwei gleich schnell sprechbare Worte subjektiv verschieden bequem sein können.

Es ist klar, daß es prinzipiell keineswegs ausgeschlossen ist, noch mehr Bedingungen der Sprachentwicklung im zweiten Sinn des Wortes  Bedingung  zu finden. Wenn wir aus den Erfahrungen der Geschichte der Wissenschaft einen Analogieschluß ziehen dürfen, so müssen wir sagen, daß das Experiment als die hoffnungsvollste Methode zur Erweiterung unseres Wissens in dieser Beziehung erscheint. Ob freilich solche Experimente zum Ziel führen, können keine theoretischen Überlegungen, sondern nur Experimente selbst entscheiden. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß etwa gelingende Untersuchungen in der angedeuteten Richtung wertvolle Erkenntnisse über das Werden der Sprache vermitteln könnten, und daß schon die Prinzipien der Bequemlichkeit und Schnelligkeit eine wenn auch sehr untergeordnete Einsicht in diese Entwicklung in einer ganz speziellen Richtung gewähren. Auch lassen sich einzelne konkrete Sprachänderungen als Folgen dieser Bedingungen auffassen, wie dies wiederholt von seiten der Sprachforscher geschehen ist.

Wir fragen uns nun, ob wir Sätze aus dem Gebiet der Naturwissenschaften formulieren können, die sic als Parallelsätze zu unseren beiden Sätzen der Bequemlichkeit und Geschwindigkeit erweisen. Dies ist tatsächlich der Fall. Ein solcher Satz ist der folgende: die Fallbewegung der freifallenden Körper wird durch die Tendenz der Körper, immer schneller und schneller zu fallen, bedingt.

Über diesen Satz lassen sich teilweise ganz analoge Betrachtungen anstellen, wie wir sie über unseren Bequemlichkeitssatz angestellt haben. Er sagt nicht aus, daß alle Körper immer und immer schneller fallen; dies ist ja auch keineswegs der Fall, was man z. B. bei Schneeflocken bisweilen ohne weitere Hilfsmittel beobachten kann. Trotz jenes Satzes wäre es, rein logisch gesprochen, sogar denkbar, daß alle Körper immer langsamer und langsamer fallen, wie dies bei einem sehr leichten Körper von sehr großer Grundfläche, der in immer dichtere Luftschichten gerät, tatsächlich der Fall sein kann. Jener Satz sagt nur folgendes: ein Teil der Bedingungen des freien Falles der tatsächlich frei fallenden Körper ist so geartet, daß er an sich zu einer Beschleunigung der Fallbewegung führt. Über die tatsächliche Erscheinung des freien Falles sagt unser Satz überhaupt nichts aus.

Viele ähnliche Sätze, die unserem Bequemlichkeitssatz und unserem Geschwindigkeitssatz korrespondieren, lassen sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaften formulieren, so z. B. der folgende: Die Temperatur des menschlichen Körpers wird durch die Tendenz gewisser physiologischer Vorgänge, eine konstante Temperatur zu erhalten, geregelt. Auch dieser Satz sagt, daß gewisse ungenannte Vorgänge im Körper so geartet sind, daß sie das Merkmal haben, eine konstante Körpertemperatur zu bedingen. Er sagt nicht, daß die Körpertemperatur immer konstant ist. Sie steigt z. B. bei wachsendem Fieber und sie ist auch im Leben des Normalen niemals absolut konstant. Und an und für sich schließt jener Satz die Annahme, daß bei den Menschen die Temperatur stets abnimmt, durchaus nicht aus, wiewohl diese Annahme freiliche eine irrige wäre. Der Satz sagt nur, daß ein Teil der Bedingungen des Organismus so beschaffen ist, daß er im Sinne der Erhaltung einer konstanten Temperatur wirkt.

Die beiden zuletzt aus der Naturwissenschaft abgeleiteten Sätze sowie unser Bequemlichkeits- und unser Geschwindigkeitssatz sind nun wesentlich anderer Art als die Sätze, die in der Physik und Chemie als Naturgesetze bezeichnet werden. Bei den letzteren Sätzen werden bestimmte, bekannte Bedingungen des Geschehens namhaft gemacht oder ins Auge gefaßt und es wird dargelegt, welches konkrete, genau bestimmte Geschehen unter diesen bestimmten Bedingungen stattfindet. Bei den ersteren aber werden verschiedene, mehr oder weniger unbekannte Bedingungen eines bestimmten Geschehens durch ein bestimmtes Merkmal charakterisiert, ohne daß wir das konkrete Geschehen, das unter dem Einfluß dieser (und anderer) Bedingungen stattfindet, voraussagen könnten. Wir kennen die Fallgesetze, wir kennen den Einfluß des Luftwiderstandes, des Windes usw. auf die fallenden Körper und wir wissen genau, was unter gewissen bestimmten Bedingungen  in concreto  geschieht. So können wir, wenn die Fallhöhe und die Beschleunigungskonstante  g  gegeben sind, genau die Fallbewegung eines Körpers im luftleeren Raum voraussagen und daher hier genau angeben, was unter bestimmten bekannten Bedingungen  in concreto  stattfindet. Wir haben aber keinen so guten Einblick in die Bedingungen der Sprachentwicklung und wir sind gänzlich außerstand, vorauszusagen, welche konkreten Sprachänderungen unter dem Einfluß der als Streben nach Bequemlichkeit oder Geschwindigkeit bezeichneten Bedingungen stattfindet. Ebensowenig können wir aus unseren Sätzen über die Körpertemperatur und die Fallbewegung ("Die freifallenden Körper haben die Tendenz, immer schneller und schneller zu fallen") irgendwie feststellen, wie groß die Temperatur eines Menschen oder wie beschaffen die Fallbewegung irgendeines frei fallenden Körpers ist. Und wenn wir noch tausend analoge Sätze über die Sprachentwicklung ableiten könnten, so würde sich aus ihnen niemals mit Bestimmtheit sagen lassen, welche tatsächliche Sprachänderung infolge solcher im einzelnen unbekannter Bedingungen stattfindet. Was  de facto  geschehen wird, kann man wohl voraussagen, wenn man weiß, welche bestimmten Bedingungen obwalten und was unter diesen Bedingungen geschieht, niemals aber wenn man nur weiß, daß gewisse im einzelnen unbekannte Bedingungen neben anderen Bedingungen ein bestimmtes Geschehen beeinflussen. Dazu müßte man eben wissen, welches die Bedingungen sind, welche anderen Bedingungen noch in Betracht kommen und welche Bedingungen tatsächlich obwalten.

So sicher also, wie wir oben sahen, Sätze wie der Bequemlichkeits- und der Geschwindigkeitssatz uns gewisse Erkenntnisse vermitteln, und so sehr es gelegentlich förderlich sein mag, konkrete Sprachänderungen durch das Bequemlichkeitsprinzip und das Streben nach schnell sprechbaren Worten zu erklären, so sind solche Sätze doch von den Naturgesetzen wesentlich verschieden und auch weniger bedeutsam als diese.

Schließlich sei noch hervorgehoben, daß wir lediglich der Kürze und Anschaulichkeit wegen unsere bisherigen Betrachtungen immer auf die Veränderungen von Worten bezogen haben, daß aber natürlich das Bequemlichkeits- und Geschwindigkeitsprinzip, sofern es überhaupt zu Recht besteht, auf alle historischen Sprachänderungen, als auch auf die syntaktischen, Anwendung findet.

Unsere Untersuchungen über die Gleichförmigkeit sind auch geeignet, einiges Licht auf die Lehre von den sogenannten Lautgesetzen zu werfen. Die Lautgesetze beziehen sich auf den Lautwandel. Zu ihnen gehören Sätze wie die folgenden: Mittelhochdeutsches  ou  wird im Neuhochdeutschen zu  au;  die einfachen Vokale  î, u, iu  des Mittelhochdeutschen werden im Neuhochdeutschen zu  ei, au, eu (äu)  diphtongisiert. Ob Sätze dieser Art ausnahmslos gelten oder ob sie Ausnahmen haben, ist eine in wissenschaftstheoretischer Hinsicht äußerst einfache Frage, sofern man sich an den konkreten Wortlaut der Sätze hält. Daß gewisse Lautgesetze von den Sprachforschern ganz offenbar als Sätze, die nicht allgemeine gültig sind, angesehen werden, zeigt ohne weiteres ihre Formulierung. Dies ist z. B. bei folgendem Lautgesetz der Fall: unbetontes  e  im Mittelhochdeutschen wird im Neuhochdeutschen vielfach ausgestoßen.

Lautgesetze wie die bisher aufgeführten werden öfters als spontane bezeichnet. Daß diese Bezeichung natürlich nicht so verstanden werden darf, als hätten sich gewisse Laute im Laufe der Sprachgeschichte ganz von selbst und ohne Einfluß irgendwelcher Bedingungen in andere verwandelt (94) braucht heute nicht mehr betont zu werden; spontaner Lautwandelt ist offenbar nur eine Bezeichnung eines solchen Lautwandels, über dessen Bedingungen wir ganz im unklaren sind. Eine Reihe von anderen Lautgesetzen bezieht sich auf den sogenannten bedingten oder kombinatiorischen Lautwandel. Hierher gehören z. B. folgende Sätze: Mittelhochdeutsches  s  wird im Neuhochdeutschen vor  l, m, n, w  zu  sch;  nach  l  und  r  wird mittelhochdeutsches  w  im Neuhochdeutschen zu  b.  Der durch solche Sätze angegeben Lautwandel erscheint, wie die Sätze selbst andeuten, durch bestimmte Laute bedingt. Auch die Frage nach der Ausnahmslosigkeit solcher Sätze ist eine einfache Tatsachenfrage ohne logische Schwierigkeit, sofern man auch hier die Sätze wörtlich versteht. An und für sich ist es offenbar ebensogut möglich, daß irgendein Lautgesetz Ausnahmen erleidet, als daß es keine erleidet. Die tatsächlichen Ergebnisse der Sprachwissenschaft aber lehren, daß von einer Ausnahmslosigkeit aller Lautgesetze keine Rede sein kann, immer natürlich vorausgesetzt, daß man unter Lautgesetzen die Sätze versteht und wörtlich in Betracht zieht, die man eben als Lautgesetze bezeichnet.

Anders liegt freilich die Sache, wenn man die Frage nach der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze mit der Frage nach dem gesetzmäßigen Verlauf des Lautwandels vermengt oder verwechselt, was jedoch höchst unzweckmäßig ist. Selbstverständlich erleidet die durchgängige Gesetzmäßigkeit im Sinne der naturwissenschaftlichen Funktionssätze auch in der Sprache und auch innerhalb des Lautwandels keinerlei Ausnahmen.

Wenn man schließlich heute meistens die Ausnahmslosikgiet der Lautgesetze behauptet, so meint man damit nicht die ausnahmslose Gültigkeit der als Lautgesetze bezeichneten Sätze, sondern die ausnahmslose Wirksamkeit der durch die Lautgesetze festgestellten Bedingungen des sprachlichen Geschehens innerhalb jenes Tatsachengebietes, auf das sich die Lautgesetze beziehen.

Es liegt zunächst nahe, die Gesetze des bedingten Lautwandels als Sätze aufzufassen, die auf eine kausale Bedingung des in ihnen beschriebenen Lautwandels hinweisen, da sie ja allgemein Bedingungen namhaft machen, unter denen der fragliche Lautwandel eintritt. An und für sich ist es fraglich und nur durch sprachwissenschaftliche Erfahrungen entscheidbar, ob diese Betrachtung der Dinge die richtige ist. Denn nicht alles, was man Bedingungen nennt, sind Bedingungen im Sinne von kausalen Bedingungen. Als Bedingungssätze (hypothetische Urteile) gelten in der Logik z. B. auch Sätze wie die folgenden: Jedesmal wenn es Nacht war, wird es nachher wieder Tag; als  Peter  heute aufstand, schlug die Uhr halb zehn. Offenbar aber ist weder die Nacht eine kausale Bedingung des Tages, noch das Aufstehen  Peters  eine kausale Bedingung des Schlagens der Uhr. So könnte ansich auch wohl  l, m, n, w  vor dem mittelhochdeutschen  s  als eine Bedingung des dann im Neuhochdeutschen entstehenden  sch  bezeichnet werden, ohne daß es deshalb eine kausale Bedingung im Sinn unserer Lehre von den Bedingungen im ersten Kapitel sein müßte. Wenn aber alle kombinatorischen Lautgesetze auf kausale Bedingungen und nicht nur auf äußerliche Bedingungen im Sinne unseres Tag-Nacht-Beispiels hinweisen, so ist die Auffassung entschieden diskutabel, daß in diesen Lautgesetzen genannte Bedingungen auch dort in Betracht kommen, wo sich Fälle aufzeigen lassen, die dem Wortlaut des fraglichen Lautgesetzes widersprechen. In diesem Sinne kann man von der Ausnahmslosigkeit der bedingten Lautgesetze reden; viel weniger irreführend ist es aber, statt Ausnahmslosigkeit ein anderes weniger mißverständliches Wort zu wählren, wie etwa den von PAUL (5) bevorzugten Ausdruck: Konsequenz der Lautgesetze. Genau genommen handelt es sich freilich auch nicht um die Konsequenz von Lautgesetzen, sondern um die konsequente Wirkung gewisser bei Lautgesetzen in Betracht kommender Bedingungen.

Auch die spontanen Lautgesetze können ansich als Sätze, die nichts über kausale Bedingungen aussagen, oder als Sätze, die auf solche kausalen Bedingungen hinweisen, aufgefaßt werden. Der Satz "Mittelhochdeutsches  ou  ist im Neuhochdeutschen zu  au  geworden" kann dem Satz "auf alle Nächte folgen Tage" parallel gestellt werden, er kann aber auch so aufgefaßt werden, daß  ou  ganz allgemein infolge irgendwelcher unbekannter kausaler Wirksamkeit des  ou  die Tendenz hat, zu  au  zu werden, und daß diese Tendenz auch dann in Betracht käme, wenn sich in irgendeinem Fall zeigen ließe, daß  ou  nicht zu  au  wurde. Ist diese Auffassung richtig, so ist das Lautgesetz "Mittelhochdeutsches  ou  wird zu  au"  "ausnahmslos" oder besser gesagt "konsequent" gültig oder vielmehr ein Satz, der auf konsequent wirksame Bedingungen hinweist.

Ob eine Konsequenz der Lautgesetze in dem angedeuteten Sinn tatsächlich besteht, ist natürlich lediglich aufgrund empirischer Sprachuntersuchungen zu entscheiden. Sehr wohl möglich wäre es natürlich auch, daß einzelne Lautgesetze konsequent, andere, vielleicht solche, die sich auf den sogenannten sporadischen Lautwandel beziehen (96) und die man vielleicht besser nicht als eigentliche Lautgesetze bezeichnet, nicht konsequent sind. Die Sprachforscher der Gegenwart halten wie PAUL (97) meistens am Prinzip der Konsequenz der Lautgesetze fest.

Jedenfalls beziehen sich alle Lautgesetze ihrem Wortlaut zufolge auf Gleichförmigkeiten des Geschehens oder, wie PAUL sich ausdrückt, auf Gleichmäßigkeiten innerhalb einer Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen (98). Diese Gleichförmigkeiten verdanken genau wie die experimentell ermittelten Gleichförmigkeiten ihren Ursprung der Gleichförmigkeit der einschlägigen Bedingungen. Dabei ist natürlich nicht zu übersehen, daß nicht nur die Lautgesetze, sondern auch alle anderen allgemeinen Tatsachen der Sprachentwicklung, wie z. B. die Analogiebildungen, als Gleichförmigkeiten infolge ähnlicher Bedingungen zu betrachten sind. Daß solche Tatsachen und auch die Lautgesetze nicht in allen Sprachen gleich sind, hängt mit der Verschiedenheit der Bedingungen der Sprachänderungen in den verschiedenen Sprachgemeinschaften zusammen. Daß aber andererseits, wie wir im zweiten Kapitel durch eine Reihe von Beispielen bewiesen haben, selbst Sprachen, die gar nicht miteinander verwandt sind, überraschende Gleichförmigkeiten der Entwicklung zeigen, beruth darauf, daß die Bedingungen der Entwicklung der verschiedensten Sprachen, wie verschieden sie auch sein mögen, doch übereinstimmende Züge aufweisen müssen.

Wenn nun auch die sogenannten Lautgesetze auf gewisse möglicherweise kausale Bedingungen der Sprachentwicklung und auf Gleichförmigkeiten innerhalb derselben hinweisen, so können sie doch ebensowenig wie unser Bequemlichkeitssatz auf den Rang von Naturgesetzen im üblichen Sinn Anspruch erheben. Denn auch sie lehren nicht wie die Naturgesetze, was  schlechthin  unter bestimmten Bedingungen tatsächlich geschieht, sondern sie zeigen, was  innerhalb eines bestimmten Tatsachengebietes  stattfindet, da ja zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen verschiedene Lautgesetze gelten. Freilich erscheint es nicht  a priori  ausgeschlossen, daß uns neue Untersuchungen lehren, was für konkrete Veränderungen die Sprache notwendig allerorts und zu jeder Zeit unter bestimmten Bedingungen erleiden muß. Sollten solche Untersuchungen wirklich in exakter Weise gelingen, so würde man allerdings auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft zu Sätzen fortschreiten, die geradezu als Naturgesetze in Anspruch genommen werden könnten. Schon vor vielen Jahren hat mir der Sprachforscher ALBERT THUMB die Ansicht unterbreitet, es müßte sich  in concreto  der Einfluß der Geschwindigkeit des Sprechens auf die Veränderungen der Sprache experimentell feststellen lassen. THUMB meinte, daß die gesprochenen Silben und Worte infolge einer Vergrößerung des Sprechtempos ganz bestimmte Veränderungen erleiden müßten, die durch das Experiment feststellbar wären. Sollte es gelingen im angedeuteten Sinn zu verfahren, und sollte sich zeigen lassen, daß auch die Einführung anderer Bedingungen generell ganz bestimmte notwendige Veränderungen bewirkt, so würde die Sprachwissenschaft, die freilich in gewissem Sinne eine eminent historische Disziplin ist, dadurch noch mehr, als es heute der Fall ist, der Naturwissenschaft angenähert werden. Wie weit man auf diesem Weg kommt, kann freilich nur die Erfahrung entscheiden.

LITERATUR - Karl Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt - Untersuchungen zur Philosophie und positiven Wissenschaft, München 1916
    Anmerkungen
    47) EDWIN HUBER, Assoziationsversuche an Soldaten, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 59, 1911, Seite 241f
    48) JULIUS BELOCH, Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt (Historische Beiträge zur Bevölkerungslehre, 1. Teil) Leipzig, 1886, Seite 49.
    49) JOHANN DAUBER, Über bevorzugte Assoziationen und verwandte Phänomene,Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 59, 1911, Seite 190f.
    50) Das Wort  Geläufigkeit  wird hier im üblichen vulgären Sinn gebraucht und nicht etwa in dem Sinn, in dem es in dem oben erwähnten Geläufigkeitsgesetzt figuriert.
    51) DAUBER, Psychophysische Untersuchungen etc. a. a. O., Seite 126f.
    52) MICHAEL HABERLANDT in ALBERT SCOBEL, Geographisches Handbuch, Leipzig 1909, Bd. 1, Seite 356f
    53) DAUBER, Photometrische Untersuchungen etc. a. a. O.
    54) Dies ergibt sich aus FRIEDRICH WILHELM KAEDING, Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache, Steglitz bei Berlin 1898.
    55) STOLL, Zur Psychologie der Schreibfehler, a. a. O., Seite 22f
    56) STOLL, a. a. O., Seite 88f
    57) BAUCH, Psychologische Untersuchungen über Beobachtungsfehler, a. a. O., Seite 218f.
    58) EUGEN DÜHRING, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1887, Seite 102.
    59) Zur Literatur vgl. RUDOLF EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2, 1910, Seite 948f
    60) PIERRE de FERMAT, Varia opera mathematica, Tolosae 1679, Seite 156. Vgl. dazu DÜHRING, a. a. O., Seite 100f.
    61) DÜHRING, a. a. O., Seite 287f. ERNST MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1912, Seite 347f.
    62) MACH, a. a. O., Seite 371
    63) Zur Literatur der älteren und neueren Zeit vgl. RUDOLF EISLER, a. a. O., Seite 948f.
    64) Über solche Willenshandlungen siehe MARBE, Grundzüge der forensischen Psychologie, a. a. O., Seite 90f
    65) ADOLF FICK, Zeitschrift für rationelle Medizin, Neue Folge Bd. 4, 1854, Seite 120. Abgedruckt in FICKs gesammelten Schriften, Bd. 3, Würzburg 1904, Seite 339.
    66) vgl. auch WALTER RUDOLF HESS, Das Prinzip des kleinsten Kraftverbrauchs im Dienste hämodynamischer Forschung, Archiv für Anatomie und Physiologie, Physiologische Abteilung, Jhg. 1914, Seite 1f.
    67) VITUS GRABER, Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits- und Farbensinns der Tiere, Prag und Leipzig 1884.
    68) GRABER, a. a. O., Seite Vf und 3 f.
    69) JAQUES LOEB, Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen, Würzburg 1890.
    70) H. S. JENNINGS, Das Verhalten der niederen Organismen unter natürlichen und experimentellen Bedingungen, Leipzig und Berlin 1910. Vgl. auch FRANZ LUCAS, Psychologie der niedersten Tiere, Wien und Leipzig 1905 und CARL HESS, Die Entwicklung von Lichtsinn und Farbensinn in der Tierreihe, Wiesbaden 1914.
    71) "Journal of Animal Behaviour", Cambridge-Massachusetts (founded 1911) und "The Behaviour Monographs, gleichfalls Cambridge- Mass.
    72) Nach H. S. JENNINGS, a. a. O., Seite 53
    73) vgl. ALBERT THUMB und KARL MARBE, Experimentelle Untersuchungen über die Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung, Leipzig 1901, Seite 49f. ALBERT THUMB, Indogermanische Forschungen, Bd. 22, 1907/1908, Seite 37f. Vgl. hierzu THUMB, Germanisch-Romanische Monatsschrift, Jahrgang 1911, Seite 65f.
    74) HERMANN PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, 1909, Seite 32. Die wiederholt von WUNDT (Indogermanische Forschungen, Bd. 28, 1911, Seite 205f) gegebenen Darstellungen der Ansichten PAULs über die allgemeine Entwicklung der Sprache sind gänzlich irreführend. Vgl. dazu PAUL, a. a. O., Seite 62. Wenn PAUL a. a. O., Seite 75 meint, meine Bemerkungen zu seiner Theorie der okkasionellen und usuellen Bedeutungen (MARBE, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 1906, Seite 493f) seien hinfällit, wenn man unter seinen Kunstausdrücken das versteht, was er darunter verstanden wissen will, so kann ich dem nicht widersprechen. Ich darf aber hinzufügen, daß seine Terminologie psychische Verhältnisse voraussetzt, die meiner Ansicht zufolge nach neueren, insbesondere experimentell festgestellten Ergebnissen der Psychologie nicht zu Recht bestehen.
    75) BERTHOLD DELBRÜCK, Grundfragen der Sprachforschung, Straßburg 1901, Seite 98.
    76) FRIEDRICH MAX MÜLLER, Die Wissenschaft der Sprpache, Bd. 2, Leipzig 1893, Seite 192. Schon WILHELM von HUMBOLDT hat aber die Lautveränderung auf die Trägheit der Sprachorgane und die Veränderung unbequemer Laute zurückzuführen versucht. Vgl. darüber HEYMAN STEINTHAL, die sprachphilosophischen Werke Wilhelm von Humboldts, hg. und erklärt von H. STEINTHAL, Berlin 1884, Seite 309.
    77) GEORG von der GABELENTZ, Die Sprachwissenschaft, Leipzig 1901, Seite 181f.
    78) GABELENTZ, a. a. O.
    79) G. CURTIUS, Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig 1879, Seite 23: "Bequemlichkeit ist und bleibt der Hauptanlaß des Lautwandels unter allen Umständen."
    80) H. PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle/Saale, Seite 56.
    81) H. PAUL, a. a. O., Seite 59f
    82) DELBRÜCK, Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen, Leipzig 1904, Seite 157.
    83) LUDWIG SÜTTERLIN, Werden und Wesen der Sprache, Leipzig 1913, Seite 33f.
    84) Die Sprachwissenschaft. W. D. WHITNEYs Vorlesungen, bearbeitet und erweitert von J. JOLLY, München 1874, Seite 105f. Vgl. dazu A. LESKIEN, Jenauer Literaturzeitung, Jhg. 2, 1875, Seite 98.
    85) von der GABELENTZ, a. a. O., Seite 182.
    86) WILHELM WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. 1, Teil 1, Leipzig 1911, Seite 377.
    87) KARL BRUGMANN, Vergleichende Laut-, Stammbildungs- und Flexionslehre der indogermanischen Sprachen, Straßburg 1897. (Bd. 1 von BRUGMANNs und DELBRÜCKs "Grundriß der vergleichenden Sprachwissenschaft), Seite 70.
    88) FERDINAN SOMMER, Kritische Erläuterungen zur lateinischen Laut- und Formenlehre (Indogermanische Bibliothek, 1. Reihe, 3. Band, 2. Teil). Heidelberg 1914, Seite 8f. Vgl. auch JAKOB WACKERNAGEL, Altindische Grammatik, I. Lautlehre, Göttingen 1896, Seite 280f und FRIEDRICH STOLZ, Lateinische Grammatik, Laut- und Formenlehre (in IWAN MÜLLERs Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft), 1910, Seite 49.
    89) Vgl. besonders WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. 1, 1. Teil, Leipzig 1911, an den im Register unter  Tempo der Rede  angeführten Stellen. Unter den Sprachforschern hat THUMB wiederholt (so in Englische Studien, Bd. 42, 1910, Seite 407) die WUNDTschen Gedanken anerkannt.
    90) WILHELM WUNDT, a. a. O., Seite 500
    91) SÜTTERLIN, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, Heidelberg 1902, Seite 38f.
    92) Es sei hier darauf hingewiesen, daß dievon uns nicht vertretene Ansicht, daß die Sprache tatsächlich immer schneller wird, im Tempo der Parlamentsreden eine Stütze zu finden scheint. Vgl. "Die Stenographie" (im Auftrag des Deutschen Stenographenbundes Gabelsberger herausgegeben), 2. Jhg. 1914, Nr. 5, Seite 34: "Sehr schwer ist auch die Frage, wie schnell die Redner sprechen. Übereinstimmung scheint darüber zu herrschen, daß die Redegeschwindigkeit immer mehr zunimmt. Jedenfalls ist sie über den früher angenommenen Durchschnitt von 250 Silben (in der Minute) ganz wesentlich gestiegen und überschreitet oft die Geschwindigkeit von 300 Silben, manchmal ganz wesentlich."
    93) Dies betont HERMANN OSTHOFF, Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen Formenbildung, Berlin 1879, Seite 14f (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hg. von RUDOLF VIRCHOW und F. von HOLTZENDORFF, 14. Serie, Berlin 1879, Seite 518f). Übrigens erkennt auch OSTHOFF a. a. O. (Seite 15) an, daß das unbewußte Streben nach Kraftersparnis eine große ROlle bei den lautlichen Umwandlungen in der Sprache spielt. Die seit OSTHOFF immer wieder auftretenden Spekulationen im Interesse einer subtilen Unterscheidung über den Anteil des psychologischen und des physiologischen Moments bei der Sprachentwicklung würden besser unterbleiben. Im Sinne der modernen positiven Wissenschaft sind alle psychologischen Vorgänge Begleitvorgänge bestimmter physiologischer Vorgänge und die Sprache ist eine Verbindung von Erscheinungen, die einerseits physiologisch und andererseits psychologisch betrachtet werden können und am besten unter beiden Gesichtspunkten betrachtet werden.
    94) vgl. hierzu E. WECHSSLER, Forschungen zur romanischen Philologie. Festgabe für H. Suchier, Halle/Saale 1900, Seite 427f. Der Aufsatz von WECHSSLER (Gibt es Lautgesetze?) erschien auch separat (Halle 1900).
    95) PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, a. a. O., Seite 67f
    96) vgl. hierzu WECHSSLER a. a. O., Seite 407f
    97) PAUL, a. a. O., Seite 67f. PAUL nimmt an, daß die durch die Lautgesetze indizierten Faktoren der Sprachentwicklung unter allen Umständen wirksam sind und nur durch andere Faktoren paralysiert werden können. So a. a. O., Seite 70. - Zur Frage des Wesens der Lautgesetze vgl. auch die bei WECHSSLER und PAUL a. a. O., Seite 68 zitierte Literatur.
    98) PAUL, a. a. O., Seite 68.