ra-2A. WagnerH. AlbertK. DiehlF. LifschitzL. Stephinger    
 
NORBERT PINKUS
Das Problem des Normalen
in der Nationalökonomie


"Erörterungen über das Wesen des Normalen sind, wie wir sahen, von den meisten Nationalökonomen für unnötig gehalten worden. Man operierte mit diesem Begriff bei verschiedenen Gelegenheiten wie mit etwas Feststehendem, ohne zu merken, daß er dabei seinen Sinn änderte."

"Den scheinbar naturwissenschaftlichen Vorstellungen entspricht keine Realität im wirklichen Wirtschaftsleben: es gibt darin, vom objektiven Standpunkt aus betrachtet, weder Wachstum, noch Gesundheit oder Krankheit und auch kein Gleichgewicht oder irgendwelche Störungen desselben. Ebensowenig kann offenbar von objektiv gerechten, harmonischen, guten, fortschrittlichen usw. Erscheinungen die Rede sein, denn diese Urteile sind schlechthin Wertungen, die wir aufgrund unserer subjektiven Normen, unserer Ideale und dgl. mehr vorzunehmen pflegen. Sie haften also den wirtschaftlichen Erscheinungen nicht an, sondern werden von uns auf sie projiziert."


Vorrede

Es gibt wohl in jeder Wissenschaft Begriffe, die von den meisten Forschern als allgemein bekannt vorausgesetzt und gebraucht werden, und deren Erörterung als banal oder gar geschmacklos unterlassen zu werden pflegt. Vielen von diesen Begriffen werden sehr bald Allgemeingut und Grundlage von einander widersprechenden Theorien, ohne daß die Frage ihrer Existenzberechtigung aufgeworfen wird. Legt man aber an diese "Selbstverständlichkeiten" ein kritisches Maß an, so ergibt es sich sofort, daß die Quelle dieser scheinbar einfachen "Erkenntnisse" von vornherein recht trübe war und daß ihr Sprachgebrauch - durch die in ihnen verschleiert zur Geltung gelangenden Lust- und Unlustgefühle sowie persönliche und Partei-Interessen - immer vieldeutiger wird.

Jedem in der nationalökonomischen Literatur einigermaßen Bewanderten ist es sicherlich aufgefallen, wie sehr der Fortschritt der Forschung durch diese unklaren Begriffsbildungen beeinträchtigt wird. Man wüßte da kaum ein Gebiet zu nennen, das von den scheinbar harmlosen und plausiblen Vorstellungen der Gesundheit und Krankheit, Harmonie und Disharmonie, des Gleichgewichts und der Gleichgewichtsstörung, des Natürlichen und Unnatürlichen, des Proportionierten und Unverhältnismäßigen, des Guten (z. B. "gute" Zeiten) und Schlechten, der Ordnung und des  Chaos,  oder - ganz allgemein gesprochen - von den Vorstellungen des wirtschaftlich  Normalen  und  Abnormen  gänzlich frei wäre. Ja, gar manche Streitfragen der Wert-, Preis-, Lohn-, Zins-, Kapital-, Einkommens- u. a. Lehren dürften sich einfach in die Uneinigkeit der Autoren über diese angeblichen Trivialitäten auflösen. Nirgends aber ist die Herrschaft dieser Schädlinge so groß, wie auf dem Gebiet der Krisenforschung; letztere ist es auch gewesen, welche mich zu der Frage führte, die ich auf dem Titelblatt genannt habe.

Die fast unübersehbare Fülle von Krisentheorien, die noch neuerdings um das Jahr 1901 herum zutage gefördert wurde und die demgegenüber erstaunliche Ergebnislosigkeit der statistischen Behandlung des Gegenstandes scheinen mir die Quellen der im theoretischen Denken eingebrochenen Entmutigung zu sein, die sich zuletzt in der Unmöglichkeitserklärung der Krisentheorie seitens SOMBART kundgab. Angesichts dessen drängte sich mir die Frage auf, ob denn diese Bankrotterklärung der  bisherigen,  von der Vorstellung der "Abnormität" der Krisen ausgehenden Krisenlehre, und nicht der Krisenlehre  überhaupt,  zu gelten hat. Um diese Frage zu beantworten, lag es nahe, die Grundidee der bisherigen Krisenforschung - den Begriff des wirtschaftlich "Abnormen" - näher zu untersuchen und dann die Vorfrage nach dem wirtschaftlich "Normalen" aufzuwerfen. So ergab sich für mich die Verknüpfung des recht allgemeinen Hauptproblems dieser Schrift mit dem spezielleren Krisenproblem (1), und es erwuchsen hieraus im einzelnen folgende Aufgaben.

Zunächst galt es, den dogmengeschichtlichen Nachweis dafür zu erbringen, eine wie wichtige Rolle die eingangs erwähnten Begriffe und Metaphern in der nationalökonomischen Theorie überhaupt gespielt haben und noch spielen, trotz der vielen Ermahnungen und Klagen, die seit alters her darüber geführt wurden. Daß sie in der Erörterung von praktisch-politischen Tagesfragen kaum zu vermeiden sind, zumal die Streitenden wohl geneigt sind, den Widerpart als "pathologische" Erscheinung (womöglich mit "letaler Prognose") zu bezeichnen, - liegt auf der Hand; es braucht daher das rein politische Denken, sofern sich dasselbe von der theoretischen Forschung scheiden läßt, nicht in diese Betrachtung hineingezogen zu werden. Nur die Theoretiker, und zwar mit Vorliebe diejenigen, die auf ihre "Objektivität", "Exaktheit" und "Strenge" besonderen Nachdruck legen, sollen zu Wort kommen; und es soll der Nachweis der häufig angedeuteten Tatsache versucht werden, daß gerade dieses "reine" nationalökonomische Denken durch Werturteile, Wünsche, Stimmungen und allerlei andere subjektive Momente recht stark getrübt zu werden pflegt. Es stellt sich dann heraus, daß auch die subjektivsten Theorien durch die Verwendung einer von den Naturwissenschaften übernommenen Ausdrucksweise einen Schein von Objektivität und strenger Wissenschaftlichkeit erhalten, der nicht nur deren Schöpfer, sondern auch weiteste Kreise über deren tatsächlichen Inhalt zu täuschen vermag.

Daß es keine leichte Aufgabe ist, das so häufig Verschwiegene auszusprechen, das hinter dem "Selbstverständlichen" Verborgene aufzudecken und die Selbsttäuschungen der Autoren als solche erkennen zu lassen, - dessen war ich mir voll bewußt. Allein ich durfte mir diese Aufgabe wesentlich vereinfachen, indem ich vieles nur streifte oder andeutete, was aus den dogmengeschichtlichen Werken ROSCHERs, COSSAs, INGRAMs, LESERs, ONCKENs u. a. als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden konnte. Auch mußten die Wahl der zu besprechenden Autoren und der ihnen zugemessene Raum allein durch die Bedeutung derselben für unser spezielles Problem, und nicht durch ihre sonstigen Leistungen, bestimmt werden (2).

Was speziell die Krisenliteratur anbetrifft, so war ich in der glücklichen Lage, mich an das vortreffliche Werk EUGEN von BERGMANNs (3) anzulehnen, welcher bekanntlich in verdienstlicher Weise die  ursächlichen Erklärungen  der Krisen zusammengestellt und kritisch untersucht hat; in Bezug auf die bei den einzelnen Krisentheoretikern angegebene Ursachen der Krisen durfte ich also auf BERGMANN verweisen, seine Leistung bis auf die Gegenwrt weiterführen und nur in manchen wesentlichen Punkten vervollständigen.

Ist seitens BERGMANNs ein Gutteil der dogmengeschichtlichen Aufgabe gelöst, so fragt es sich, ob hiermit auch alles oder das Wichtigste getan ist. Sind die ursächlichen Erklärungen die wichtigsten Bestandteile der einzelnen Krisentheorien? Und noch mehr: bilden sie deren Wesen oder bloß Akzidentien, die durch mehr oder weniger zufällige Momente bestimmt werden? Ich glaube, im letzteren Sinne antworten zu müssen. Denn legt man, gleich BERGMANN, das Hauptgewicht auf den Kausalnexus, so lassen sich die Krisentheorien bestenfalls "nach ihrer allgemeinen Verwandtschaft" in Gruppen vereinigen; dann werden  Theorien  verschiedenster Richtungen und Schulen durcheinandergewürfelt, weil es ja sehr wohl vorkommen kann, daß ein Individualist und ein Sozialist in derselben Erscheinung die "Ursache" einer Krise erblicken.

Nur die  Definitionen  der einzelnen Krisentheoretiker können uns eine feste Grundlage zu einer brauchbaren Klassifikation abgeben; nur durch sie wird eine Orientierung in der Unmasse von Erklärungen der Krisen möglich; nur sie vermögen - last but not least - den Zusammenhang der Krisentheorien mit den sonstigen Lehren der betreffenden Schulen aufzudecken. Denn die Definitionen bilden den Kern und den Ausgangspunkt aller Theorien; gelangen doch in ihnen die Ansichten der Autoren darüber zum Ausdruck, worin sie das Wesen der zu untersuchenden Erscheinung - der Krisen erblicken. Nun gehen aber die Krisentheoretiker durchweg von der Unterscheidung der "schlechten" und "guten" Zeiten aus; sie legen mithin ihren Definitionen Urteile - und wie ich eben nachweisen möchte - Werturteile zugrunde, die wiederum durch ihre sittlichen, politischen und dgl. Wertmaßstäbe bestimmt werden. Da aber letztere im wesentlichen die soziale Weltanschauung jeder Gruppe von Autoren ausmachen, so wird hier die Quelle des Zusammenhangs ihrer Krisentheorien mit den Grundideen ihrer "Schule", d. h. desjenigen Zusammenhangs, den wir bei BERGMANN vermissen (4), bloßgelegt.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß, wo die subjektiven Wertmaßstäbe ausschlaggebend sind, die Meinungen auseinandergehen müssen, wo dagegen lediglich Beobachtung oder gar Zählung nötig ist - sich sogar Vertreter entgegengesetzter Richtungen zusammenfinden können. So lag es in der Natur der Sache, daß die Abschnitte meiner "Geschichte der nationalökonomischen Werturteile" (1. Kapitel) mit denen allgemeiner dogmengeschichtlicher Werke gleichlautend überschrieben werden konnten. Dies ist mit dem wichtigen Vorteil verbunden, daß so manche wohlvertraute Vorstellung wachgerufen wird, welche außerhalb des genannten Zusammenhangs erst ausführlich erörtert werden müßte.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil scheint mir aus meiner Fragestellung insofern zu erwachsen, als sich meine Kritik allein auf die Frage nach der  wirklichen Beschaffenheit  der einzelnen Lehren erstreckt und nicht darin zu bestehen hat, daß den vielen Werturteilen ein weiteres - mein eigenes gegenübergestellt wird, um sie auf ihre "Richtigkeit" hin zu prüfen. Denn das würde bedeuten, den gleichen methodischen Fehler zu begehen, dessen man anderen zu bezichtigen beabsichtigt.

Keiner ausdrücklichen Rechtfertigung bedarf es sicherlich, daß ich genaue, meist wörtliche Zitate der so häufig irreleitenden und mißbräuchlichen "freien" Wiedergabe vorgezogen habe. Ich glaube nämlich, daß dies das einzige Mittel ist, um allerlei Mißdeutungen, vor allem aber das so gefährliche Herauslesen eigener Gedanken aus fremden Lehren zu vermeiden; ein gutes Beispiel einer derartigen "Vereinfachung" werden wir bei der Besprechung von THÜNENs Theorie kennenlernen.

Das Fazit der im dogmengeschichtlichen ersten Kapital gewonnenen Einsichten soll im folgenden Kapitel gezogen und ferner die Frage erörtert werden, ob denn eine Verschmelzung der Wertschätzung mit dem objektiven Denken, wie sie in der Literatur unseres Problems gang und gäbe war, eine unumgängliche Notwendigkeit ist. Eine Nutzanwendung der in den ersten zwei Kapiteln aufgestellten Thesen und eine Jllustration derselben fällt dem letzten Kapitel zu; die darin vorzuschlagende und zu begründenden Methode der statistischen Behandlung wirtschaftlicher Störungen soll  in concreto  veranschaulichen, wie man meines Erachtens  ohne den Begriff des "Normalen", bzw. "Abnormen" auskommen  könnte. Diese Jllustration des Grundgedankens der vorliegenden Arbeit steht mithin und fällt mit diesem, - nicht aber umgekehrt. Durch meine Methode hoffe ich schließlich eine sachliche Handhabung der einschlägigen statistischen Daten nahegelegt zu haben, während die Subjektivität der meisten bisherigen Definitionen der wirtschaftlichen Störungen eine weitgehende Willkür in der Benutzung jener Daten nach sich zog.



Zweites Kapitel
Das Problem des Normalen

"Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein."

- Faust I -


Wir haben eine lange Reihe von Denkern vor uns vorüberziehen lassen und haben ihnen allen dieselbe Frage vorgelegt: wie sie der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit gegenüberstehen. Die Antworten lauteten außerordentlich verschieden. Die einen sprachen von guten und schlechten Zeiten, von Aufschwungs- und Niedergangsjahren, von Krisen und krisenfreien Zeitabschnitten, von Expansions oder Hausseperioden und Kontraktions-, Baisse- oder Depressionsperioden. Andere, und deren Zahl war recht beträchtlich, klagten über krankhafte, fieberhafte, abnorme, verbildete usw. Erscheinungen des Wirtschaftslebens. Bei dritten sahen wir das Bestreben, die gerechten, rationalen, vernünftigen, richtigen, natürlichen usw. Werte, Preise und Löhne zu bestimmen. Noch andere suchten den Zustand der Harmonie, der Proportionalität, der Stabilität oder des Fortschritts, der Gesetzmäßigkeit und des Gleichgewichts ganz allgemein oder nur für gewisse Gebiete des Wirtschaftslebens zu schildern. Fast alle diese Autoren, und mit ihnen die große Menge der Volkswirtschaftspolitier, haben sich schließlich darüber geäußert, was von der wirtschaftlichen Wirklichkeit lebensfähig oder im Absterben begriffen, was als notwendiges Opfer des Fortschritts oder aber als unterstützungswürdiges Element anzusehen ist. Sind nun alle diese Feststellungen neue Begriffe und Erkenntnisse, die die Summe unseres Wissens von der wirtschaftlichen Wirklichkeit vermehren, oder aber - um das Wort des Dichters zu gebrauchen - nur "Worte", die das Fehlen der Begriffe zu verdecken haben?  Sind sie  in der Tat oder  heißen  sie nur "objektiv"?

Die Antwort, deren Einzelheiten wir bereits im vorigen Kapitel vorweggenommen haben, wird in unserer Analyse des  Normalen  überhaupt liegen. Wir wählen diesen Sammelnamen für all jene soeben aufgezählten Vorstellungen, indem wir uns dessen Zweideutigkeit nicht nur nicht verhehlen, sondern gerade willkommen heißen. Denn, wie all jene Bezeichnungen, wird auch dieses Wort im übertragenen Sinn gebraucht; aber - und das ist kein zu unterschätzender Umstand - dieser Begriff dürfte, im Gegensatz zu den anderen, ursprünglich im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch entstanden sein und erst später die andere in die Naturwissenschaften übertragene Bedeutung angenommen haben. Wir sind also einmal in der Lage, die Rolle von Darlehensgebern den Naturwissenschaften gegenüber zu spielen und können den wahren Inhalt des Begriffs definieren, ohne uns auf fremde Wissensgebiete begeben zu müssen, um zu erfahren, was unter "Harmonie", "Gleichgewicht" oder "Gesundheit" zu verstehen ist. Außderdem haben wir noch den Vorteil, daß durch die Erörterung des Begriffs des Normalen und der durch dessen Zweideutigkeit verursachten Verwirrung nur der jedermann geläufige Spezialfall - die Unterscheidung der beiden Bedeutungen des Wortes "Gesetz" verallgemeinert wird.

Erörterungen über das Wesen des Normalen sind, wie wir sahen, von den meisten Nationalökonomen für unnötig gehalten worden. Man operierte mit diesem Begriff bei verschiedenen Gelegenheiten wie mit etwas Feststehendem, ohne zu merken, daß er dabei seinen Sinn änderte. So kommt es, daß sogar diejenigen Schriftsteller, die, wie DÜHRING, KNIES, MARSHALL u. a., manche treffende Bemerkung über das Normale gemacht haben, der hier herrschenden Verwirrung nicht Herr zu werden vermochten.

Nicht wesentlich besser steht die Sache auf dem eigentlichen Gebiet derartiger methodologischer Untersuchungen - der Soziologie. Zwar liegen in derselben zwei eingehende Forschungen über unser Problem vor; aber die diametrale Gegensätzlichkeit der darin erzielten Ergebnisse scheint darauf hinzuweisen, daß auch in der Soziologie die Frage durchaus nicht als selbstverständlich angesehen wird.

Den ersten Versuch im großen Stil, das Normale im Gesellschaftsleben streng zu definieren, hat ÉMILE DURKHEIM in seinen "Régles de la méthode sociologique" (Paris 1889) gemacht. Mit großem Scharfsinn und kühner Dialektik sucht er da zu beweisen, daß das  Normale  mit dem Durchschnittlichen schlechthin identisch' ist. Dieser Gedanke ist freilich nicht neu, da wir ihm bereits in der klassischen Nationalökonomie begegneten; auch QUETELET mit seinem Anhang legte ihn der Konstruktion des "homme moyen" zugrunde; in der abstrakten Schule haben wir ebenfalls Vertreter desselben gefunden. Neu ist aber bei DURKHEIM allein die Vertiefung in das Problem und die Art der Begründung. Seine erste und grundlegende Regel:  "Die sozialen Tatsachen sind als Sachen aufzufassen"  (Seite 20) kennzeichnet den Verfasser bereits als äußersten Objektivisten; auch weist DURKHEIM darauf hin, daß in der Ethik und in der Nationalökonomie, wie sie gegenwärtig getrieben werden, nicht die wissenschaftliche Forschung, sondern teleologische Betrachtungen überwiegen, was sie zu Kunstlehren macht. Streift man nun, meint DURKHEIM, alle Vorkenntnisse ab und beschränkt sich lediglich auf die Untersuchung der durch  äußerlich erkennbare Merkmale  charakterisierten Erscheinungsgruppen, so verwandelt sich die Soziologie aus einer subjektiven in eine  objektive  Wissenschaft. Mit diesem methodischen Werkzeug ausgerüstet tritt nun DURKHEIM an die Analyse des Normalen und des Pathologischen in der Gesellschaft heran (Kap. III). Da fragt er zunächst nach dem "objektiven Kriterium, das in den Tatsachen selbst liegt, welches uns gestatten würde, die Gesundheit von der Krankheit in verschiedenen sozialen Erscheinungsreihen wissenschaftlich zu unterscheiden". Die üblichen Merkmale: den Schmerz, den Grad der Anpassung an die Umgebung usw. verwirft er sowohl, als auch die aprioristische Annahme einer Norm, als deren Verletzungen die Krankheitserscheinungen aufgefaßt werden könnten; denn diese Kriterien seien zufällig, unstetig und subjektiv - für seine Zwecke also unbrauchbar. Er selbst geht von der Unterscheidung der in einer Gattung gewöhnlichen und Ausnahme bildenden Formen aus und behauptet, daß  sowohl der Physiologe wie der Soziologe  bloß die Funktionen des "Durchschnittsorganismus" zu studieren haben. "Einigt man sich" - so fährt DURKHEIM fort - "als mittleren Typus das schematische Wesen zu bezeichnen, das man bildet, indem man die häufigsten Merkmale ... in eine Art abstrakter Individualität zusammenfaßt, so kann man sagen, daß der normale Typus mit dem mittleren Typus zusammenfällt, und daß jede Abweichung von diesem Eichmaß der Gesundheit eine Krankheitserscheinungen ist". Es kann also mithin von Gesundheit oder Krankheit  in abstracto  niemals, wohl aber in Bezug auf eine bestimmte Gattung die Rede sein. Zwar sind nach DURKHEIM die am meisten verbreiteten Formen im Großen und Ganzen auch die vorteilhaftesten; aber nicht alles, was nützlich ist, kann auch normal genannt werden, da z. B. die Arznei wohl nützlich, nicht jedoch normal ist. Der Verfasser ist so sehr von der Richtigkeit seiner Definition des Normalen überzeugt, daß ihn sogar die sich ihm mit Notwendigkeit ergebende Folgerung -das Verbrechen sei ein notwendiger, integrierender Teil jeder gesunden Gesellschaft - nicht stutzig macht; er überwindet, im Gegenteil, sehr leicht seine Überraschung und führt bald darauf aus, das Verbrechen sei gerade nützlich, indem es das ethische Bewußtsein im gleichen Maß, wie der Idealismus, stärkt. Auf dieses Ergebnis bereitet uns allerdings der Verfasser schon in der Vorrede vor, wo es u. a. heißt, es sei Sache des Gelehrten, sich vor den Forschungsresultaten nicht zu fürchten und nicht mal vor einem Paradox zu weichen, wenn es von den Tatsachen diktiert ist.

Trotz dieser Ermutigung hat sich doch die Kritik von DURKHEIMs Buch nicht mit diesem Paradox abzufinden vermocht. So hat GABRIEL TARDE in seinem Aufsatz über "Kriminalität und gesellschaftliche Gesundheit" (5) DURKHEIMs Räsonnement in Zweifel gezogen und eine eigene Definition aufgestellt. Er fragte DURKHEIM, ob dieser auch Unbildung, Ignoranz oder Dummheit  normal  nennt, welche zweifellos häufig genug vorkommen, um im Durchschnitt fühlbar zu werden. DURKHEIMs Definition stellt er die eigene gegenüber, die dasjenige, was sich im Kampf ums Leben und in der Vereinigung für das Leben am besten bewährt,  normal  nennt. Den Fehler DURKHEIMs, den TARDE als "unbeabsichtigte Metaphysik" bezeichnet, erklärt er ganz richtig dadurch, daß jener die Vorstellung der Finalität aus der Sozialwissenschaft gänzlich auszuschalten trachtet, während nach TARDE die teleologischen Betrachtungen im Vordergrund derselben stehen müßten. Das Abnorme definiert TARDE  für das organische, das geistige und das soziale Wesen in gleicher Weise  als dasjenige, was dessen "systematische Harmonie stört ..., was die Einigkeit der Zwecksetzungen und die Einigkeit der Urteile ... verhindert". Nach dem Voranschreiten JOHN STUART MILLs identifiziert TARDE das  Normale mit dem Idealen  und betont, im ausdrücklichen Gegensatz zu DURKHEIM, "daß der ganze Mensch mit seinem Herzen, seiner Seele, seiner Einbildungskraft sogar, und nicht mit der Vernunft allein, denken soll". Denn die Veränderungen der Intensität sowie der Richtung dieser "innerlichen Energie" werden nach TARDE nicht durch ein Theorem, ein physikalisches, physiologisches oder soziologisches Gesetz, sondern durch einen neuen Gegenstand der Liebe oder des Hasses, der Anbetung oder des Abscheus hervorgerufen. "Indem man von der Wissenschaft" - so lautet eine treffende Schlußbemerkung TARDEs - "mehr forderte, als sie geben kann, indem man ihr Rechte einräumte, die über ihren ohnehin weiten Bereich hinausgehen, hat man zur Annahme ihres angeblichen Bankrotts Anlaß gegeben".

Von diesem subjektiven Standpunkt aus war TARDE auch gewiß berechtigt, in seiner kurz vor seinem Tod verfaßten "Psychologie économique" (Paris 1902) von "gerechten", "natürlichen" oder "normalen" Werten, Preisen und Gewinnen zu sprechen (Bd. 2). Auf derselben Grundlage hat er auch seine Krisentheorie (6) aufgebaut. Danach sind die Fälle, in denen die von den Käufern zum Ankauf eines Artikels bestimmte Geldsumme von der von den Produzenten desselben erwarteten unempfindlich abweicht, "normal"; werden dagegen die Abweichungen empfindlich, so liegt eine Krisis vor. Soweit ist TARDE konsequent; wenn er sich aber gegen die übliche Auffassung der Krisen als "vorübergehender Anomalien, ohne jeden Zusammenhang mit den stummen, ständigen und allgemeinen Kämpfen, ... die den Normalzustand" der Gesellschaft bilden, auflehnt, so merkt er nicht, daß er hier das Wort "normal" in einem objektiven Sinn gebraucht und mithin seinen eigenen früheren Ausführungen widerspricht. Den Physiologen sagt TARDE ferner, daß es wohl bekannt ist, daß man die Krankheiten nicht anders, als im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand erklären kann; weswegen auch die Entstehungsgründe der Überproduktionen, und zwar die verschiedenen Antagonismen, "im normalsten Wirtschaftsleben vorhanden sind"; der Unterschied liegt nur in der Intensität dieser "contradictions des croyances" [widersprüchlichen Ansichten - wp] (7). Der Rhythmus des Wirtschaftslebens sei eher als eine "normale und konstante  Rotation",  denn als eine "krankhafte und vorübergehende  Oszillation"  aufzufassen. Wie in einem intermittenten [diskontinuierlichen - wp] Fieber das Bestreben des Lebens zu erblicken sei, in den Normalzustand zurückzukehren, so könne auch das periodische Eintreten von Krisen als "eine die Aufhebung der Störungsursachen und eine Reorganisation der industriellen Produktion anstrebende Arbeit der sozialen Logik angesehen werden". Schließlich glaubt TARDE in der Bemerkung von CLEMENT JUGLAR, die Perioden der Schwankungen des Wirtschaftslebens wären in der Vergangenheit viel unregelmäßiger, als gegenwärtig, eine Bestätigung seiner optimistischen Beurteilung der Krisen zu finden; denn, bemerkt TARDE zum Schluß, "die Krisen könnten weder lange periodisch sein, ohne allgemein vorausgesehen zu werden, noch - vorausgesehen, ohne verhindert zu werden, d. h. ohne aufzuhören, periodisch zu sein". So sehen wir, wie inkonsequent TARDE selber die Grundsätze des Subjektivismus durchführt, die er so treffend DURKHEIM gegenüber vertritt (8).

Wir haben diese beiden Theorien des Normalen herausgegriffen, da sie in ihrer extremen Fassung gute Beispiel zweier entgegengesetzter Weltauffassungen abgeben können (9). Die eine, von DURKHEIM vertretene, hat die Welt der Naturphänomene zu ihrem Ausgangspunkt; Sie geht von der einfachen Überlegung aus, daß, wo ein Typus vorliegt, die positiven und negativen Abweichungen von demselben gleich wahrscheinlich sind und daß, wie bei Ziehungen aus einer Urne mit einer bestimmten Anzahl weißer und schwarzer Kugeln, bei hinreichend großer Zahl der Versuche, sich dieselben ausgleichen müssen. In diesem Sinn spricht der Naturwissenschaftler von normaler Körpergroße, normalem Hirngewicht usw. Solange als wahre Naturerscheinungen, der Mensch  als Säugetier  mit inbegriffen, den Gegenstand der Beobachtungen bilden, hat der Mittelwert aus denselben nicht nur einen  vernünftigen,  sondern auch  realen  Sinn. Nun aber ist der Mensch das Objekt naturwissenschaftlicher wie auch soziologischer Betrachtung; beide Reihen von Erscheinungen werden dabei mittels der Statistik in quantitativer Form wahrgenommen. Offenbar liegt die Versuchung nahe, dasjenige Verfahren, das sich im Reich der Naturphänomene bewährt hat, auch auf die sittlichen Erscheinungen zu übertragen. Nirgends ist wohl dieser Analogieschluß klarer an den Tag gelegt worden, als in der berühmten Untersuchung ADOLPHE QUETELETs "Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft" (1835). Er geht da von der "Entwicklung des Menschen in Bezug auf seine körperlichen Fähigkeiten" aus, bespricht im zweiten Buch die "Entwicklung der Größe des Körpers, seines Gewichts, seiner Kraft usw.", schildert dann ganz analog die "Entwicklung der sittlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen, um zuletzt zu den "Eigenschaften des mittleren Menschen und des gesellschaftlichen Systems" überzugehen. Nun ist aber diese Verallgemeinerung des in den Naturwissenschaften berechtigten Verfahrens auf die sozialen Erscheinungen nicht nur eine  petitio principii  [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp], sondern schlechthin ein Mißverständnis. Denn, während in den Naturwissenschaften das Bestehen des Normalen, d. h. der Gesetzmäßigkeit, mit Hilfe objektiver mathematischer Kriterien konstatiert werden kann (10), versagen dieselben in Bezug auf die eigentlichen Sozialphänomene vollständig. Ein solches objektives Kriterium bietet uns die Dispersionstheorie von WILHELM LEXIS, der die wahrscheinliche Abweichung (R) mit dem wahrscheinlichen Fehler (r) vergleicht und als Bedingung des "Maximums der Stabilität" der statistischen Reihe der Gleichung  R = r  aufstellt (11). Trifft nun diese Bedingung zu, so nennt LEXIS die betreffende Reihe "typisch" und deren Dispersion  "normal"  oder  "normalzufällig".  Demnach kann von normalen Erscheinungen im naturwissenschaftlichen Sinn nur dann die Rede sein, wenn sich die Einzelfälle um den Mittelwert so gruppieren, wie die Einzelversuche, denen eine apriorische Wahrscheinlichkeit zugrunde liegt und deren Verlauf dem Zufall überlassen ist. Wenn daher SIGWART (12) bemerkt, auch bei den Definitionen "normaler" Naturphänomene klinge "immer ein  teleologischer  Gedanke mit durch," so ist dies meines Erachtens nur insofern richtig, als wir uns in der Tat den typischen Verlauf normaler Naturerscheinungen so vorzustellen pflegen, als ob die Natur ein bestimmtes Ziel im Auge hätte (13). Unbeschadet dessen bleibt die Grenze zwischen der  naturwissenschaftlichen  und einer  teleologischen  Gesetzmäßigkeit bestehen; zwar erscheinen uns beide als Zwecksetzung, aber im einen Fall geht der Zweck von außen - vom Objekt aus, im anderen dagegen von uns - vom Subjekt. Die metaphysische Frage nach der Berechtigung dieser Unterscheidung von Objekt und Subjekt gehört nicht hierher; uns genügt, daß nach dem Stand der Forschung die vom objektiven  Naturgesetz  beherrschte und die durch unsere subjektiven  Normen  regierte Sphäre voneinander geschieden werden können und müssen (14).

Wir sehen also, daß beide Erklärungen des Normalen, die DURKHEIMs wie auch die von TARDE, monistisch sind; während nämlich ersterer den naturwissenschaftlichen Begriff auch in der sittlichen Welt gelten lassen will, begeht TARDE dieselbe Einseitigkeit, vom anderen Pol, dem des sittlichen Telos, ausgehend. Beide Soziologen haben also jeder teilweise recht; für die Sphären von Erscheinungen, von denen ihre Definitionen abstrahiert worden sind, sind sie zweifelsohne richtig. Wenn wir diese halben Wahrheiten addieren, so erhalten wir die ganze Definition des Normalen, die diesen Begriff, als Adjektiv, einmal vom Naturgesetz, das andere Mal von der Norm ableitet. Das Normale in der Natur denken wir uns also als wirklich existieren, während das gesellschaftlich Normale  ansich  schon von KNIES richtig als "Unding" bezeichnet wurde. Ersteres ist mithin eine "Relativität" des Denkens, wie es SIMMEL treffend bezeichnet, während das gesellschaftlich Normale eine Relativität des Wollens ist (15). Das Denken besitzt aber, wie SIMMEL ausführt, in der Erfahrung ein Kontrollmittel, das dem Gebiet des Willens fehlt; daher müssen alle Versuche, wie etwa der in STAMMLERs "Wirtschaft und Recht", die objektive "Richtigkeit" des Rechts (16) darzutun, fehlschlagen. Die sozialen Normen sind subjektiven Ursprungs und bleiben immer subjektiv, wie sehr auch - um wieder ein Wort des feinen Denkers zu zitieren - die "merkwürdige Kraft des menschlichen Geistes, seine eigenen Inhalte sich als Normen gegenüberzustellen", dieselben objektiviert, gleichsam in die äußere Welt projiziert (17).

Nicht so leicht, wie in der Soziologie, wo die Frage des Normalen direkt erörtert wird, hatten wir es in der Nationalökonomie, wo dieselbe, wie gesagt, meistenteils als erledigt oder selbstverständlich aufgefaßt wurde. Wir hatten also die Aufgabe, den wahren Kern der einzelnen Lehren herauszuschälen, was angesichts deren angeblichen "Strenge", "Wissenschaftlichkeit", "Objektivität" oder "Exaktheit" zuweilen nur mit Not geschehen konnte.  Ansich,  d. h. im eigentlichen Verstand, sind ja die Begriffe der Gesundheit, Harmonie, Proportionalität, Höhe, des Gleichgewichts usw. und vollends mathematische Formeln (wie √ap) und Zahlen (wie die FOURIERs) ganz und gar objektiv. Nun sind aber diese Begriffe, Formeln und Zahlen im übertragenen Sinn mit der ausgesprochenen Absicht gebraucht worden, daß sie auch dem Urteil über die wirtschaftlichen Erscheinungen eine objektive Geltung verschaffen. Daß alle Schulen nach derartigen, von der subjektiven Willkür unabhängigen, starren Dogmen strebten und daß sie alle dabei mehr oder weniger willkürlich verfuhren, glauben wir im ersten Kapitel nachgewiesen zu haben. Wir sahen nämlich, wie die abstrakten Theorien sie gewisse Erscheinungen des Wirtschaftslebens hinweggedacht hatten, wonach sich ihnen "exakte" Gesetze und Formeln ergaben, die für eine Welt  "ohne Störungen"  gelten sollten; wen wundert es, daß sie uns keine oder nur dürftige Erklärungen für die wirklich im Wirtschaftsleben vorkommenden Störungen zu geben vermochten. Viel bestechender scheinen die "naturwissenschaftlichen" Bezeichnungen zu sein, da sie uns durch die Alltagssprache und -Erfahrung nahegelegt werden. Was kann, so scheint es, natürlicher sein, als der Vergleich des Völkerschicksals mit dem Leben des Individuums? Noch ROSCHER hat diese alte Metapher gebraucht und viele seiner Schüler bis auf den heutigen Tag ihm dieselbe nachgeschrieben. Und doch hat bereits JOSIAH TUCKER dagegen Einspruch erhoben. Ähnlich bekämpfte DAVID RICARDO diese Metapher. Nicht besser ist die Vorstellung der wirtschaftlichen "Gesundheit" und "Krankheit" fundiert. Wir sahen, wie dieselben Zustände von den einen als "krank", von anderen dagegen als "gesund" erklärt werden, wobei die einen und die anderen  von ihrem Standpunkt aus  recht hatten. Am zähesten hält sich in verschiedenen Schulen zugleich die Vorstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, obwohl sie auf eine Tautologie (wie bei SAY), auf eine Fiktion (wie bei JAMES MILL) oder bestenfalls auf einen Zirkel hinausläuft. Denn spricht man z. B. von "normalen" Preisen in Fällen, in denen Produktion und Konsumtion oder Angebot und Nachfrage sich die Waage halten, so vergißt man, daß diese letzteren Größen von der Höhe der Preise abhängig sind. So hieß es z. B., die Kartelle seien die einzigen Organe, die berufen sind, das durch Überproduktion gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. In der Kohlenkartell-Enquete sowie in der des "Vereins für Sozialpolitik" hat man aber schon aufgrund der gemachten Erfahrungen diese "normierende" Wirkung der Kartelle in Zweifel gezogen. Man hat ja nicht nur über ihre Preispolitik Klagen geführt, die die inländische Konsumtion zugunsten des Auslandes herabgedrückt hätte, sondern auch die "Stilllegung der Zechen" an die große Glocke gehängt. Es scheint eben, daß man von der Ansicht über die allein heilbringende Tätigkeit der Kartelle abgekommen ist und wieder mehr zu der Auffassung neigt, daß diese auch des staatlichen Mitwirkens zur Herstellung des "Gleichgewichts",  wie es die Allgemeinheit versteht,  bedürfen. Wir sehen also, daß diesen scheinbar "naturwissenschaftlichen" Vorstellungen keine Realität im wirklichen Wirtschaftsleben entspricht: es gibt darin, vom objektiven Standpunkt aus betrachtet, weder Wachstum, noch Gesundheit oder Krankheit und auch kein Gleichgewicht oder irgendwelche Störungen desselben. Ebensowenig kann offenbar von objektiv gerechten, harmonischen, guten, fortschrittlichen usw. Erscheinungen die Rede sein, denn diese Urteile sind schlechthin Wertungen, die wir aufgrund unserer subjektiven Normen, unserer Ideale und dgl. mehr vorzunehmen pflegen. Sie haften also den wirtschaftlichen Erscheinungen nicht an, sondern werden von uns auf sie projiziert. Die naturwissenschaftlichen Analogien, die wir soeben besprochen haben, unterscheiden sich von diesen Werturteilen nur durch die Form; sie sind nichts als  verkappte Werturteile,  als Krücken, mit deren Hilfe man sich über die Unbestimmtheit oder gar Leere, die nach der Beseitigung der ethischen Prämissen in einem angeblich "objektiven" Räsonnement entstehen müßte, hinwegzusetzen pflegte. Kurz, sie sind nur "Worte".

Die sittlichen Maßstäbe werden durch unsere Lust- und Unlustgefühle, durch Temperament, durch Zeitstimmungen - kurz durch lauter subjektive, von unserem Intellekt fast unabhängige, ihn dagegen stark beeinflussende, Agentien bestimmt. Sie entstehen teils bewußt durch Erziehung, Lektüre usw., teils bleiben sie "unter der Schwelle des Bewußtseins". Jedenfalls treten sie, im Gegenteil zu sonstigen psychischen Erscheinungen, so unmittelbar auf, sind je nach Art und Größe der sittlichen Gemeinschaft so "selbstverständlich", daß sie stets als Prämissen angewandt werden, ohne daß wir sie ausdrücklich formulieren (18). Wir sahen, daß die sittlichen Wertmaßstäbe, und nicht die methodologischen Grundsätze, wie man häufig anzunehmen pflegt, die gemeinsame Grundlage der Lehren der einzelnen Schulen bilden. Vielmehr ergab es sich uns, daß auch reine Denkprozesse, wie der der Abstraktion, von sittlichen Werturteilen mitbestimmt werden: was wesentlich, "prävalent" usw. ist - das entscheidet nicht unser Intellekt allein, sondern auch in nicht unbeträchtlichem Maß unser Gefühl und "Takt". Nun zerfallen aber, wie wir gesehen haben, die Autoren in zwei große Gruppen, von denen die einen aufrichtig die ethischen Ideale (der Gerechtigkeit, der Gleichheit usw.) anrufen, die anderen dagegen ihre Urteile als rein wissenschaftliche Erkenntnisse aufgefaßt wissen möchten. Sie verspotten zum Teil jene "Ideologen" und wollen, im Gegensatz zum Subjektivismus derselben, ihre Thesen  zwingend  ("arithmetisch", "positiv", "exakt", "objektiv", "naturwissenschaftlich")  beweisen.  Dieses Bestreben ist durchaus nicht erst mit unserer Wissenschaft aufgekommen; es ist fast ebenso alt, wie das politische Denken überhaupt. Jedesmal, wo man das eigene Urteil dem Bann der subjektiven Willkür entreißen wollte, sah man sich nach solchen "objektiven" Kriterien um. Man berief sich auf die göttliche Vorsehung (CUMBERLAND), auf die natürliche Ordnung der Dinge (HUGO GROTIUS, ROUSSEAU, QUESNAY) oder schließlich auf die Evidenz der mathematischen oder rein logischen Deduktion (HOBBES, PETTY, CONDORCET, QUESNAY, THÜNEN, die "Exakten").

Immer und immer wieder suchte man das Seiende vom Seinsollenden zu trennen und zwar immer wieder dem Wahn verfallen, letzteres aufgrund des ersteren "wissenschaftlich" nachgewiesen zu haben, freilich meistenteils ohne sich davon Rechenschaft zu geben, daß man den Boden des Seienden verlassen hatte. Und es waren gerade die Besten von jeder Schule, bei denen wir diese Jllusion zu konstatieren hatten. Was sie alle voneinander und gar von den "Ideologen" unterscheidet, ist nicht so sehr die erkenntnistheoretische Beschaffenheit ihrer Lehren, wie die  Form,  in der diese ihren literarischen Ausdruck gefunden haben. Dies ist eine Tatsache, der man, wie es scheint, nicht genügend Rechnung getragen hat. Indem man einer unkritischen Überlieferung, die auf jene "Objektivisten" zurückgeht, huldigte, bezeichnete man nämlich gewisse Formen als wissenschaftlich, gleichsam "vollgültig", andere dagegen als hal- oder gar unwissenschaftlich, "utopistisch". Das Kriterium bestand dabei darin, daß alle sich auf ein  "Endziel"  stützenden Ausführungen zur letzten nicht "vollgültigen" Sorte gehören. Und doch übersah man nur allzu häufig, daß sogar der Prototyp der "Utopien", nämlich das tiefe Werk von THOMAS MORUS nicht gar so "utopistisch" war, wie mancher Schematiker es gern hinstellen möchte. Denn gerade MORUS hat seiner Schrift ein kleines Nachwort angehängt, in dem er andeutet, daß er sich über das Verhältnis seiner "Utopie" zur Wirklichkeit keinen Jllusionen hingab. Es will mir fast scheinen, daß nicht wenige der "wissenschaftlichsten" und "exaktesten" Autoren bis auf MARX und SCHMOLLER diesem "Utopisten" in der Einschätzung der Beschaffenheit ihrer Beweisführung nachstehen. Denn alle Genres sind nach dem Wort eines geistreichen Franzosen gleichberechtigt mit Ausnahme des "genre ennuyeux". "Ennuyeux" [langweilig - wp] sind aber in unserem Fall nur diejenigen Autoren, bei denen das Seiende und Seinsollende wirr durcheinander läuft, ohne daß sie selber darüber im Klaren sind, wann das eine und wann das andere das Thema ihrer Ausführungen bildet. Es ist ein leerer Wahn, wenn man das Seinsollende aus unserem Bewußtsein völlig wegstreichen oder es in Seiendes umsetzen, oder davon ableiten will. Ein "Endziel", ein Ideal, eine Norm sind gleichsam optische Gläser, die mit unserem geistigen Auge verwachsen sind und die uns die wirtschaftliche Welt in rosigen oder düsteren Farben, in vergrößerter oder verkleinerter Gestalt sehen lassen, die schließlich den einen das Erstrebenswerte dicht in der Nähe, den anderen dagegen - in die Ferne entrückt zeigen. Da nun diese "Gläser" jedesmal, wo es sich um die Beurteilung der wirtschaftlichen Erscheinungen handelt, nicht abgelegt werden können, ohne durch andere ersetzt zu werden, so müssen die "Ikarusflüge" - um mit GUSTAV COHN zu sprechen - "die immer wieder von starken Persönlichkeiten, lebhaften Temperamenten, neuen Begabungen versucht werden, ... zufolge der Natur des Stoffs nur immer wieder so enden, wie die früheren Versuche" (19), die wir im vorigen Kapitel kennengelernt haben.

Der Untschied des wissenschaftlichen vom ungeordneten, ungeschulten Denken besteht danach allein in der Besinnung des ersteren auf die Angemessenheit dieser oder jener gedanklichen Kategorien für den zu behandelnden Stoff und nicht in der Bevorzugung der einen derselben, etwa der kausalen vor der teleologischen (20).  Wir haben das Problem des wirtschaftlich Normalen als ein in die teleologische Kategorie gehörendes erkannt.  Folgt hieraus, daß es als solches aus der Wissenschaft gestrichen werden soll? Offenbar nicht; es  darf aber nie und nimmer implizit oder explizit dort vorkommen, wo es sich um das Erkennen und Erklären der wirtschaftlichen Wirklichkeit  und  nicht um deren Beurteilung handelt.  Ob das Krisenproblem ohne letztere nicht denkbar ist, wollen wir im folgenden noch kurz erörtern.
LITERATUR Norbert Pinkus, Das Problem des Normalen in der Nationalökonomie, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) Wir werden z. B. sehen, daß den Urteilen über das "Zuviel" von Gütern und Menschen, d. h. den Überproduktions- und Übervölkerungstheorien,  dieselben  Vorstellungen vom "richtigen Maß" des einen und des anderen zugrunde liegen.
    2) So habe ich die Lehren eines MARX ganz besonders eingehend behandelt, da ich sie als ein markantes Beispiel für meine These ansehe.
    3) EUGEN von BERGMANN, Die Wirtschaftskrisen - Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien, Stuttgart 1895
    4) Freilich, BERGMANN hebt selber in seinen "Schlußbetrachtungen", a. a. O., Seite 430, hervor, daß nur darin Übereinstimmung der einzelnen Autoren herrscht, "daß die Krisen als die stärksten Störungen des normalen oder zumindest des gewohnten und gemeinhin erwarteten Ganges des Wirtschaftslebens angesehen werden"; merkwürdigerweise hat er aber hieraus keine Konsequenzen gezogen.
    5) In der "Revue philosophique", Februar 1895; ich zitiere nach dem Abdruck in TARDEs  Études de psychologie sociale,  Paris 1898.
    6) Ich ziehe es vor, diese Krisentheorie in einem Zusammenhang mit TARDEs Erklärung des gesellschaftlich Normalen wiederzugeben, zumal er auch in seiner "Psychologie economique" mehr Soziologe als Nationalökonom gewesen ist.
    7) TARDE ist die deutsche nationalökonomische Literatur größtenteils unbekannt geblieben; sonst würde er doch wissen müssen, daß diese Ansicht schon von DÜHRING ein Menschenalter früher ausgesprochen worden ist.
    8) TARDE ist überhaupt kein konsequenter Denker gewesen; so hat er 1896 in der "Revue philosophique" (Juni) die "Idee des sozialen Organismus" als diskreditiert und für unfruchtbar erklärt; in der im Jahre 1902 verfaßten "Psychologie économique" macht er aber selber ausgiebigen Gebrauch von derselben. Aber in jenem Aufsatz handelte es sich ihm darum, ein gegnerisches soziologisches System, wie im Fall  Durkheim,  zu kritisieren, hier dagegen um die Darstellung des eigenen, wobei er jedes Mittel, also auch die heruntergemachte bilogische Analogie, willkommen hieß; vgl. !Ètudes de psych. soc.", Paris 1898, Seite 120f, wo jener Artikel zum Abdruck gelangte.
    9) Eine dogmengeschichtliche Untersuchung der soziologischen Theorien lag mir offenbar fern.
    10) vgl. hierüber WILHELM LEXIS, Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik, Jena 1903, Seite 182f und 233f.
    11) LEXIS, a. a. O., Seite 176 und 183.
    12) SIGWART, Logik II, Tübingen 1904, Seite 683.
    13) vgl. z. B. die Definition des "Normalalters" bei LEXIS, a. a. O., Seite 87f und 111.
    14) Vgl. hierzu LEXIS, a. a. O., Seite 248; RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896, wo es Seite 423 heißt, "daß die grundlegende unbedingte Einheit und damit Gesetzmäßigkeit der sozialen Bewegungen nicht die Einheit der Naturerkenntnis, sondern die Einheit der sozialen Ziele sein muß"; und Seite 599: "Die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ist die Beobachtung und Befolgung des Endzwecks der menschlichen Gesellschaft".
    15) Vgl. GEORG SIMMEL, Zur Methode der Sozialwissenschaft, Artikel in Schmollers "Jahrbuch", 1896, Bd. 20, Seite 528, und  desselben  "Philosophie des Geldes", Leipzig 1900, Seite 77; letztere Stelle lautet, die Normen seien "nichts als die Arten und Formen der Relativität selbst, die sich zwischen den Einzelheiten der Wirklichkeit, sie gestaltend, entwickeln".
    16) vgl. auch STAMMLER, Die Lehre vom richtigen Recht, Berlin 1902
    17) GEORG SIMMEL, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900, Seite 14.
    18) vgl. AUGUST MESSER, Kants Ethik - eine Einführung in ihre Hauptprobleme und Beiträge zu deren Lösung, Leipzig 1904, Seite 3
    19) GUSTAV COHN, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie, Artikel im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Bd. 20, Tübingen 1905, Seite 476; vgl. dazu MAX WEBER, Die Objektivität der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis, Artikel daselbst, Tübingen 1904, Seite 22 - 87, besonders Seite 25.
    20) Vgl. AUGUST ONCKEN, Geschichte der Nationalökonomie, Leipzig 1902, Seite 11, und besonders Seite 400, wo es heißt: "Der Verzicht auf einen höheren Maßstab, womit man die Dinge mißt, bedeutet einen Verzicht auf jedwedes wissenschaftliche Urteil überhaupt".