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FRITZ MAUTHNER
Selbstdarstellung
Fortsetzung

"Der Ausgangspunkt war immer die sprachliche Kritik des Gottesbegriffes..."

III.

Über die Herkunft des sprachkritischen Gedankens, über seine äußere Abstammung gewissermaßen, habe ich Rechenschaft abgelegt, zuerst in einem offenen Briefe, der (am 2. April 1904) in der  Zukunft  abgedruckt wurde, dann in meinen  Erinnerungen  (S.204ff.) Kein Philosophieprofessor war in der Hauptsache mein Lehrer gewesen, nur etwa der philosophierende Dichter NIETZSCHE und der Positivist ERNST MACH, der damals noch ein Physiker war, noch nicht zu den Philosophen gerechnet wurde. Die beiden andern Männer, denen ich mich verpflichtet fühlte, standen einem akademischen Lehrauftrage noch ferner. Otto Ludwig, der in seinen  Shakespeare-Studien  SCHILLER in Grund und Boden kritisiert hatte, lehrte Verachtung der sogenannten schönen Sprache und Fürst BISMARCK, der handelnde Mensch, lehrte Verachtung des redenden Menschen überhaupt. In dem letzten bezeichneten Stücke meiner  Erinnerungen  mag man nachlesen, wie ich mir ein Menschenalter bewußt war, durch diese vier Männer vom Wortaberglauben befreit worden zu sein, vom metaphysischen Wortaberglauben durch MACH, vom wortabergläubischen Historismus durch NIETZSCHE, von dem Wortaberglauben an die "schöne Sprache" des Dichters durch OTTO LUDWIG, vom politischen und juristischen Wortaberglauben durch den Fürsten BISMARCK.

Dieser Einflüsse bin ich mir später mit Sicherheit bewußt geworden. Es ist aber offenbar, daß der Physiker, der Dichterphilosoph, der Kritiker und der Staatsmann mich nicht so stark hätten beeinflußen können, daß vor allem die Einflüsse sich nicht hätten auf einen Punkt vereinigen können, wenn in mir nicht das vorhanden gewesen wäre, was die Ärzte als Bedingung einer Infektion ansehen: die Disposition. Besäße ich noch jene unbändige erste Fassung meiner Sprachkritik, so wäre es wahrscheinlich möglich herauszuschälen, in welchen Ideen etwa diese Disposition bestanden haben möchte. So bin ich aber auf mein Gedächtnis angewiesen; ich weiß noch genau, daß mein Zorn gegen den Sprachgebrauch am wildesten an zwei Stellen emporschlug: beim Kampfe gegen die Scheinbegriffe und bei der Entdeckung der Ursache der Erfahrung, daß jede Zeit es am herrlichsten weit gebracht zu haben glaubt. Beide Vorstellungen war mir seit früher Jugend so geläufig, daß ich geneigt sein könnte, sie im Scherze meine persönlich angeborenen Ideen zu nennen.

Über meine angeborene Abscheu vor allen Scheinbegriffen darf ich mich kurz fassen, weil es eigentlich gar nicht erst Aufgabe sprachlicher Erkenntniskritik sein sollte, solche Begriffe zu untersuchen; es hätte Sache der werdenden Gemeinsprachen sein müssen, Begriffe nicht zu dulden, die sich nicht legitimieren konnten. Mich plagten diese Skrupel und Zweifel schon beim ersten Religionsunterricht. Die Mutter hatte mir anvertraut, es gäbe keinen Teufel und keine Hexen. Was hatte Gott ontologisch vor dem Teufel und vor den Hexen voraus? Die Beweise für das Dasein Gottes erschienen mir so sehr als Betrügereien, daß ich von da aus Sprachkritik üben lernte an Psychologie und Logik.

Der Ausgangspunkt war immer die sprachliche Kritik des Gottesbegriffes; ich weiß bestimmt, daß noch viel später die Zweifel an substantivischen Begriffen wie  Seele, Wille  usw. damit begannen, daß ich eine Vergleichung mit dem Gottesbegriffe vornahm. Immerhin hatte mich die Frage ungefähr 60 Jahre lang beschäftigt, bevor ich meine Ansichten (1920) in meinem Buche  Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande  niederzulegen begann. Ich glaube aber, daß ich erst viele Jahrzehnte nach den ersten inneren Kämpfen imstande war, meine religiösen Zweifel als eine bloße Abzweigung zu meiner Sprachkritik zu begreifen.

Ein sprachkritisches Erlebnis aber war es schon ganz sicherlich, als mich - etwa in meinem 20. Jahre - auf einem anstrengenden Marsche plötzlich der Sprachschreck überfiel, ein Schrecken über das absurde Ungeheuer der Sprache. Wahrscheinlich ist es mir, daß Verse aus GOETHEs Faust - dessen ersten Teil ich auswendig konnte - meinem Gedankengange zwingend die Richtung gegeben hatten. "Es ist ein groß Ergetzen, zu schauen, wie vor uns ein Weiser Mann gedacht, und wie wir's dann zuletzt so weit gebracht." der Erzphilister Wagner, in Schlafrock und Nachtmütze das Gegenstück zu Faust, glaubt an Wortfetische wie  Herz  und  Geist,  glaubt an die Möglichkeit der Erkenntnis ("Ja, was man so erkennen heißt!" wirft ihm Faust ein), glaubt an einen Fortschritt der Menschheit, besonders der denkenden Menschheit. Immer haben wir es herrlich weit gebracht, nicht nur in den Jahrzehnten, in denen eine nützliche Erfindung oder Entdeckung die Lage eines Volkes oder einer Gruppe ein wenig verbessert hat, nein, auch in solchen Zeiten, die der prüfenden Nachwelt elend rückständig erscheinen müssen. Wie wenn es ein Gipfel der Entwicklung scheinen müßte, so oft Harmonie bestünde zwischen der Kultur eines Volkes und seiner Gemeinsprache? Wie wenn eine solche Harmonie zwischen Kultur und Sprache - von einigen Rebellen abgesehen - in jedem Augenblick bestehen  müsste? 

Mauthnerweg in Meersburg (vom Dornenweg aus)
Mauthnerweg in Meersburg
(vom Dornenweg aus) Oktober 2000
Wie wenn die Sprache zu jeder Zeit gar nichts anderes wäre als das Repitieren des philisterhaften satten Magens? Wie wenn die Aufgabe, die Natur wirklich zu erkennen mit den Mitteln der Sprache, so unlösbar wäre - und aus den gleichen Gründen unlösbar - wie die Quadratur des Zirkels oder wie die Einrichtung eines Perpetuum mobile? Wie wenn die Menschensprache es immer nur mit der Vergangenheit zu tun hätte, niemals mit der Zukunft, wie wenn als eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache nur Sprachgeschichte ermöglichte, niemals aber eine logische Vorhersage? Die Antworten auf alle diese noch unzusammenhängenden Fragen verbanden sich in dem Sprachschreck jenes abendlichen Marsches und dann in der ersten hingewühlten Niederschrift meiner  Kritik der Sprache  zu einem haßerfüllten Todesurteil gegen den Wert aller Sprache.

Materialistisch, sensualistisch war jede Empfindung, aus welcher Sprache allein entstehen konnte; diese wesentlich materialistisch Sprache konnte als Philosophie niemals über den Materialismus hinausführen zu einer adäquaten Erkenntnis der Natur. Vorhersagen - das einzige Ziel materialistischer Wissenschaft - war nur eine instinktive Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie wenn der Schäfer, der die Sonne tausendmal hat aufgehen sehen, die Erwartung hegt, sie werde morgens abermals aufgehen; Vorhersage ist nur wahrscheinlich Erwartung, nicht logische Wahrheit aus sprachlichen Sätzen. Logik in Menschensprache ist immer nur Tautologie, kündet niemals Neues, niemals Künftiges. Mit den Mitteln seiner Sprache kann sich kein einzelner Mensch über das Sprechen oder das Denken seiner eigenen Zeit erheben, es wäre denn eben zu der Vorstellung, daß Sprechen und Denken eines und dasselbe sei, daß Denken nicht mehr wert sei als Sprechen, daß jede einzelne Zeit sich darum mit Recht, mit dem Rechte der Dummheit, auf dem Gipfel aller Zeiten fühle.

Ich möchte so frei sein, die Worte Goethes in Anspruch zu nehmen, die er gebraucht, da er am Ende der "Geschichte der Farbenlehre" seine ersten Versuche beschreibt und seine Entdeckung der vermeinten Wahrheit, dann aber bedächtig hinzufügt: "Doch stand Alles dieses mir ohne Zusammenhang vor der Seele und keineswegs so entschieden, wie ich es hier ausspreche." Die Überzeugung von der erkenntniskritischen Wichtigkeit meines Apercu [geistreiche Bemerkung - wp] muß ebenso stark gewesen sein wie die ganz andere Überzeugung von meiner geistigen Hilflosigkeit, von meiner unbegrenzten Unwissenheit; denn als ich, nur 2 Jahre später, in der Erwartung eines nahen Todes jedes Fachstudium hinwarf und für den vermeintlich kurzen Rest meiner Tage ein freier Schriftsteller wurde, da verstand es sich für mich von selbst, daß meine erste und meine letzte Kraft der Aufspürung und Vertiefung meiner bisher nur geahnten sprachkritischen Ideen gelten sollte. Es hätte eines solchen Vorsatzes nicht bedurft; auch in den beiden Jahren, von meiner Erkrankung bis zu der Verbrennung meiner Niederschrift, widmete ich dem drohend vor mir stehenden Staatsexamen niemals auch nur den dritten Teil meiner Zeit, die meinen philosophischen und meinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten gehörte.

In der langen Zeit eines Bücherwurmlebens, das jetzt für mich begann, war ich sicherlich einer doppelten Gefahr ausgesetzt, durch meine innere Einsamkeit und durch meine äußere Umwelt. Ich darf behaupten, daß ich in dieser doppelten Gefahr nicht umgekommen bin; ich kann aber nicht wissen, wie weit die Einsamkeit meines Autodidaktentums dort, die Umwelt der Journalistik da schädigend meinen Charakter und meine Leistung beeinflußt haben. Weil ich das nicht wissen kann - man hat keine Distanz mehr zu sich selber - darum will ich um so offener darüber sprechen, wie ich diese beiden Gefahren kennen lernte.

Eine wirkliche Gefahr scheint mir heute noch darin zu liegen, und gar nicht versteckt, wenn ein selbstbewußter junger Mensch ein freier Schriftsteller werden will und darum den Beruf eines Journalisten wählt. In gutem Glauben: er meint ja getrost, der Journalist sei ein freier Schriftsteller. Jedenfalls war das meine Meinung, als ich - von meiner Familie nicht eben gedrängt, aber doch moralisch verpflichtet, mir mein Brot selbst zu verdienen - etwa seit meinem 25. Jahre langsam dazu überging, von den Zeitungsaufsätzen zu leben, die ich bis dahin einzig und allein zu meiner Expektorierung (Ausschleimung) und zur Belehrung der Prager geschrieben hatte. Bald wurde ich - wieder von außen - überredet, nach Berlin zu übersiedeln, weil die deutschen Zeitungen in Prag nicht sehr viele Abonnenten, also nicht viele Leser hätten.

Ich muß nun erwähnen, daß ich in Berlin eben 29 Jahre alt wurde, als ich durch meine Parodieen "Nach berühmten Mustern" (1878) plötzlich einen journalistisch überaus geschätzten Namen erhielt und dadurch beinahe das bürgerliche Ziel erreichte, mit Frau und Kind von dem Ertrage meiner Feder leben zu können, wie ein besser gestellter Handarbeiter, in unsäglicher Arbeit. Denn ich machte es mir nicht leicht, am wenigsten mit der Vorarbeit zu meinen kleinen kritischen Aufsätzen; und der stürmische Erfolg meines Parodien-Büchleins hatte den Ehrgeiz in mir geweckt: ich wollte den Ruf eines guten Feuilletonisten, der mir zu gefallen war, nachträglich auch zu verdienen. Und dazu den Ruf eines guten Novellisten; als die Verleger mich zu suchen begonnen hatten, wurden auch einige böhmische Novellen, die noch in Prag unfertig geworden waren, gedruckt und brachten, wie ich mir einbildete, Ehre und leichten Gewinn. Mit der Leichtigkeit des Schaffens hat es beim Journalisten und bei jedem Unterhaltungsschriftsteller meist seine Richtigkeit; mit der Ehre schon darum nicht, weil so ziemlich jeder Beruf seine eigene Standesehre besitzt und diese sich mit der lebhaftesten Verachtung gegen den benachbarten Beruf zu wenden pflegt.

So läßt der Fachgelehrte den Bauer, den Tagelöhner, kurz jeden Handarbeiter eher gelten als den Journalisten. Ich bin noch heute überzeugt von der Berechtigung der Satire, die ich selbst einmal - unter dem Titel "Schmock" - gegen die Laster der Journalisten geschrieben habe; umso freier darf ich es aussprechen, daß diese Stellungnahme der Gelehrten zuviel Selbstgerechtigkeit enthält. Es gibt auch unter den Journalisten (wenn auch seltener als unter den Forschern) Bekenner, Märtyrer ihrer Überzeugung; es gibt auch unter den Wissenschaftlern (wenn auch seltener als unter den Journalisten) gefällige Worthändler, die durch Nachgiebigkeit gegen übergeordnete Mächte rascher emporzukommen suchen. Die meisten Menschen sind eben Menschen. Auch der Vorwurf, der besonders den feuilletonistischen Schriftstellern gemacht wird, daß es sich ihnen nämlich nur um die heitere Form handle und nicht um die ernste Sache, auch dieser Vorwurf sollte nicht verallgemeinert werden; wir kennen immerhin einige tiefsinnige Feuilletonisten und vielzuviele nur geistreiche Professoren. Zwischen den wilden Worthändlern der Zeitungsbörse und den gelehrten Worthändlern der Fachzeitschriften scheint mir die Kluft nicht unüberbrückbar.

Und doch steckt - scheinbar ganz abseits von allen Fragen der Moral und der Gelahrtheit - in dem alltäglichen journalistischen Getriebe eine Nötigung, die den Abscheu der Gelehrten berechtigt sein läßt: die Nötigung zur Fixigkeit. In der Welt der Wirklichkeiten arbeitet mitunter auch der Professor zu schnell, der Journalist zu langsamen. Seinem Ideale aber nähert sich der Forscher, wenn er, unbekümmert um die Zeit, seine Ansicht erst niederschreibt, nachdem er die Untersuchung zu Ende geführt hat, nach wochenlanger, monatelanger, jahrelanger Anstrengung, je nach der Größe der Aufgabe; seinem Ideale nähert sich der Journalist, wenn er wenige Minuten nach dem Empfanf einer politischen Nachricht, eines Kunsteindrucks oder einer Mordsensation seine Ansicht in Worte fassen kann. Die Voraussetzung, daß eine eigene Ansicht immer auch vorhanden sei, mag für den Forscher wie für den Journalisten gleich optimistisch sein; wie für den Richter; immerhin haben die Journalisten, die sich der Kunstkritik widmeten, lange Zeit Kunstrichter geheißen.

Hier scheidet sich jedoch die Arbeitspsychologie des Forschers und die des Journalisten. Der Forscher darf annehmen, daß ganze Geschlechter von Schülern und Nachfolgern sich auf die Gründlichkeit seiner Untersuchungen verlassen werden, daß der Dauer und der Gewissenhaftigkeit seiner Vorarbeit die Dauerbarkeit des Ergebnisses entsprechen werde; der Journalist wird durch die Technik seines Berufes gezwungen, seine Untersuchung auf wenige Minuten oder Stunden zu beschränken, und mag sich damit trösten, daß eine falsche Ansicht gewöhnlich 24 Stunden später korrigiert wird. Daher kommt es auch, daß einem Tagesschriftsteller ein Schnitzer nicht so übel vermerkt wird, wie einem Gelehrten; als einem Professor die entsetzliche Behauptung passierte, es würde immer heißer, je weiter man nach Süden käme, immer heißer bis an den Südpol, da wurde er unmöglich; als ein Berliner Schmock die liebliche Wortfolge niederschrieb "vor coram publico", da waren nur wenige seiner Leser in der Lage zu lachen und er verlor seine Stelle nicht.

Also: so hoch der Mut des seltenen Journalisten anzuschlagen ist, der sich allein den Vorurteilen einer Welt entgegenstellt, journalistische Tätigkeit bleibt dennoch eine ungünstige Vorschule wissenschaftlicher Lebensarbeit. Ich darf aber sagen: bei mir hat philosophische und philologische Bemühung eher den Zeitungsaufsätzen geschadet, als daß ich durch die Leichtigkeit des Berufs mich in der gewissenhaftesten Grundlegung meines Hauptgeschäfts hätte stören lassen.

Bedenklicher erscheint dem Rückschauenden die andere Tatsache, daß ich mir nämlich die nötigen Kenntnisse für die Aufrichtung einer Kritik der Sprache als Autodidakt erwerben mußte. Damals, namentlich in den zwei ersten Jahrzehnten der zeugenlosen Mühen, war ich nicht dieser Meinung, damal jubelte ich mitunter bei dem allzu jugendlichem Gefühle: ich schwöre auf keines Meisters Worte, ich biete den Menschen nur ganz Eigenes. Als ob das möglich wäre.

Jetzt glaube ich zu wissen, wieviele Marter meinem Kopfe und meinen Augen hätte erspart werden können, wenn ich beizeiten einen wissenschaftlichen Berater gefunden hätte. Ganz fruchtlos waren sie freilich nicht, meine Umwege und meine Irrwege; wie es ja nicht der dümmste Plan ist, sich im Gebirge ohne Führer zu versteigen. Ich hatte so ungefähr ein Dutzend Disziplinen zu studieren mir vorgenommen, aus den Quellen, die ich aber zuerst aus Handbüchern genannt bekommen sollte.

Mauthnerweg in Meersburg (Ecke Weinzürn-Straße)
    Mauthnerweg in Meersburg
   - Ecke Weinzürn-Straße (Oktober 2000)
Für die Geschichte der Philosophie lag die Sache einfach genug; ich hatte bald heraus, wer sich schon die Fragen gestellt hatte, denen ich eine Antwort suchte: die Nominalisten des Mittelalters und die großen englischen Philosophen von BACON bis HUME. Daß meine Sprachkenntnisse anfangs nicht ausreichten, machte mir wenig Kummer; ich schaffte mir gure lateinische und englische Wörterbücher an und es ging. Doch die Psychologie, in Logik, in Sprachwissenschaft habe ich tüchtig Lehrgeld zahlen müssen, weil ich allzu gläubig nach den grundlegenden Werken griff und nicht wußte, nicht einmal begreifen wollte, daß JAKOB GRIMM und WILHELM von HUMBOLDT, daß SIGWART und FECHNER vielfach schon überholt waren.

Als mir das endlich zum Bewußtsein kam, stürzte ich mich mit Feuereifer in einen neuen Fehler: jahrelang beschränkte ich meine Sammelwut auf die neuesten Fachzeitschriften für Sprachwissenschaft, für Logik und für Psychologie, bis ich zu dem traurigen Gefühle kam, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Nun erst entschloss ich mich, Sprachwissenschaft, Logik und Psychologie (dazu noch einige naturwissenschaftliche Hilfen) so zu treiben, wie ich bisher schon Philosophie im engeren Sinne getrieben hatte: in geschichtlicher Folge. Das will sagen: ich entschied mich (wohl erst nach einer ungeordneten Arbeit von zehn Jahren) für eine radikale Skepsis gegenüber den letzten oder gegenwärtigen Ergebnissen meiner vielen Disziplinen, begann aber einige Einsicht zu gewinnen in die sprachlichen Brücken und Wege, über die hinweg man im Laufe von Jahrhunderten zu den vermeintlich letzten Ergebnissen gekommen war.

Diese Richtung, die der Skepsis - wenn man nur den Begriff Skepsis richtig verstehen will, im Sinne Humes, nicht im Sinne der unkritischen Griechen - habe ich seitdem festgehalten und darf darum nichts dagegen haben, will ich mich an anderer Stelle zu äußern versuchen: ob wirklich die Skepsis nur eine negative, also untergeordnete oder schädliche Tendenz wissenschaftlicher Arbeit ist? - und ob Hinneigung zur Skepsis wirklich, wie auch mir vorgeworfen wurde, charakteristisch ist für Denker jüdischen Stammes?
LITERATUR - Raymund Schmidt (Hrsg), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924