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HANS VAIHINGER
Der Atheismusstreit gegen die
Philosophie des Als Ob

und das kantische System

"Beschränkte Unduldsamkeit, hat überall und zu allen Zeiten nicht bloß im Christentum, sondern auch im Judentum und im Islam alle geistige Freiheit unterdrückt und dadurch alle geistige Bewegung in den Religionen zu hemmen versucht und eben dadurch die Religion selbst überall und zu allen Zeiten auf das Gründlichste geschädigt, weil die Religion dadurch zu einem starren System gemacht wird, welches mit Notwendigkeit den Widerwillen und den Haß des geknechteten Geistes hervorruft."


Vorbemerkung

Herr HUGO BUND, dessen Name in der philosophischen und theologischen Literatur früher unbekannt war, hat im Jahr 1913 ein Buch herausgegeben unter dem Titel "Kant als Philosoph des Katholizismus" (358 Seiten, Berin). In einer Besprechung des Werkes heißt es in der "Kölnischen Zeitung": "Paradoxien haben immer etwas Reizvolles. Sie werden insonderheit oft als Buchtitel mit Erfolg angewandt." So hat dann auch die ebenso paradoxe wie windschiefe These von HUGO BUND eine gewisse Beachtung in einem weiteren Kreis gefunden, umso mehr, als ja PAULSEN und KAFTAN (der erstere in einem Aufsatz des vierten Bandes der Kant-Studien, der zweite in einer Berliner Universitätsschrift) KANT als "Philosophen des Protestantismus" in Anspruch genommen hatten, aber das Buch eines Protestanden, der aus Haß gegen KANT und aus Mißverständnis seines Systems den Philosophen aus dem Protestantismus hinaus und dem Katholizismus zuschieben wollte, konnte natürlich weder bei Katholiken noch bei Protestanten eine tiefere Zustimmung finden.

Schon in diesem Buch hatte Herr HUGO BUND die von der "Philosophie des Als Ob" zum ersten Mal in das richtige Licht gestellte, ja erst ans Licht gezogene Als Ob-Betrachung KANTs als "jesuitisch" bezeichnet und gerade, ja hauptsächlich in ihr das hervorstechende Merkmal der Eignung KANTs zum "Philosophen des Katholizismus" gesehen. Herr BUND ließ es auch schon damals nicht an persönlichen Invektiven gegen den Verfasser der "Philosophie des Als Ob" fehlen. Diesen Angriff habe ich in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Philosophie des Als Ob" niedriger gehängt.

Aber Herr HUGO BUND hatte schon ein zweites Werk unter der Feder welches unterdessen im Frühjahr 1915 erschienen ist und den Titel: "Die Naturwissenschaft als Stützpunkt des religiösen Glaubens" (mit einem WOrt zur Kant-Frage). Berlin 1915. In dem vorgedruckten "Wort zur Kant-Frage" hat nun Herr HUGO BUND seine Angriffe auf das kantische System und im Zusammenhang damit auf die Philosophie des Als Ob fortgesetzt. Die Art und Weise, in der er dies getan hat, ist so, daß diese Angriffe ansich weder Beachtung noch Beantwortung verdienen: denn jeder verständige und ruhig urteilende Leser wird die Formlosigkeit und die Maßlosigkeit der Äußerungen des Herrn HUGO BUND als Zeichen seiner inneren Schwäche verstehen und lächelnd über ihn zur Tagesordnung übergehen.

Aber Herr HUGO BUND hat noch etwas übriges getan. Er hat in seinem Angriff Denunziationen gegen die kantische Philosophie, gegen Vertreter verwandter Richtungen und gegen den Verfasser der Philosophie des Als Ob eingewoben und diese Denunziationen könnten doch vielleicht da oder dort schaden, umso mehr, als Herr HUGO BUND Anstrengungen gemacht hat, höhere Instanzen gegen die Vertreter der genannten Richtungen zu mobilisiern. Er möchte offenbar den Atheismusstreit, welcher im Jahr 1799 gegen FICHTE und FORBERG erhoben wurde, in der Gegenwart erneuern und beeilt sich, sich dabei die ruhmreiche und ehrenvolle Rolle des Denunzianten rechtzeitig zu sichern (1).

Um dem Schaden, der dadurch möglicherweise mir und ähnlich denkenden Männern entstehen könnte, vorzubeugen, sehe ich mich veranlaßt, einiges über die neue Schrift des Herrn HUGO BUND zu bemerken.

Daß diese meine kritischen Bemerkungen einen polemischen oder, umd den Sprachreinigern entgegenzukommen, kriegerischen Charakter haben, daran ist Herr HUGO BUND selbst schuld, denn er selbst hat zuerst in einer Zeit des allgemeinen deutschen "Burgfriedens" den Streit angefangen. Sein "Wort zur Kant-Frage" ist während des jetzigen Krieges erschienen und Herr HUGO BUND greift darin außer den ihm verhaßten Katholiken die ihm noch weit verhaßteren Kantianer an, ohne KANT selbst zu verschonen, den er im Gegenteil auch perönlich auf das Häßlichste verunglimpft. Er tut dies in einer Zeit, in welcher gerade KANT und seine Philosophie so vielen unserer tapferen Krieger ein innerer Trost und Halt ist, zu einer Zeit, in welcher gerade die Gegner Deutschlands, welche ihrerseits immer an KANTs Größe festhalten, die Behauptung aufstellen, die Deutschen seien dem Geist KANTs untreu geworden. In einer solchen Zeit also bringt es Herr HUGO BUND über sich, einen Erisapfel zwischen die Deutschen werfen zu wollen.

Ich schließe diese Vorbemerkungen mit einem persönlichen Zusatz. Ein schweres Augenleiden hindert mich völlig am Lesen und am Schreiben, und ich muß mich allem fremder Hilfe bedienen. Das erschwert natürlich außerordentlich die literarische Arbeit. Ich muß daher im Voraus um Entschuldigung bitten für alle etwaigen Mängel, welche sich im Folgenden finden könnten. Auch werde ich, falls Herr HUGO BUND antworten sollte, jedenfalls nicht mehr in der Lage sein, ihm zu entgegnen, ja vielleicht wird die folgende Abhandlung das Letzte sein, was ich öffentlich sagen kann.

* * *

A. Allgemeines

Im Jahr 1911 erschien nun mein Buch "Die Philosophie des Als Ob" - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche), zweite Auflage 1913. In diesem Werk befindet sich ein größerer Abschnitt über KANT, in welchem mit monographischer Ausführlichkeit gezeigt wird, daß die von mir vertretene "Philosophie des Als Ob" schon in gewisser Weise bei KANT sich findet. Zu diesem Zweck wird von mir daselbst das ganze Schrifttum KANTs von dem genannten Gesichtspunkt aus untersucht, und es wird zu zeigen versucht, daß und inwieweit KANT auf die wichtigsten, theoretischen, praktischen und religiösen Begriffe die Als-Ob-Betrachtung angewendet hat. Die Kantforscher waren schon gelegentlich früher auf diesen Gesichtspunkt KANTs gestoßen, sie gingen aber von ganz anderen Voraussetzungen aus und brachten auch das Material nicht vollständig zusammen, so daß sie die Sache ununtersucht am Weg liegen gelassen haben; und so mußte meine Darstellung der kantischen Lehre, welche jedoch im größeren Ganzen meines Buches nur als nachträglicher Anhang auftritt, in den Kreisen der Kantforscher eine gewisse Aufmerksamkeit erregen.

So hat auch Herr HUGO BUND das genannte Werk gelesen. Auch er war, wie er Seite 11 bekennt, "längst auch ganz unabhängig von VAIHINGER schon auf die Als-Ob-Theorie aufmerksam geworden". Aber er hatte ihr noch nicht diejenige Deutung gegeben, die sich bei mir findet, die er aber nunmehr nach der Lektüre meines Werkes als "wohlbegründet", ja als die "allein echte Deutung" anerkennt.

Diese meine Deutung der kantischen Als-Ob-Theorie aber hat er doch nicht richtig verstanden: vor allem aber hat er ihren positiven Wert für das religiöse Vorstellen, Fühlen und Wollen auf das Gründlichste verkannt; denn die Als-Ob-Betrachtung verwandelt die theoretischen, ethischen und religiösen Ideen nicht etwa in leere Einbildungen, sondern stellt im Gegenteil deren Nützlichkeit, Unentbehrlichkeit, ja Notwendigkeit in denkbar stärkstem Maß fest, und macht sie damit unabhängig von allen metaphysischen Spekulationen, indem sie ausschließlich ihren praktischen Hilfswert betont. Während viele theologische Stimmen die "Philosophie des Als Ob" als einen Bundesgenossen gegen den Materialismus und dessen öde und prosaische und philiströse Herabsetzung des Wertes der religiösen Vorstellungen betrachtet, sieht Herr HUGO BUND in der kantischen Als-Ob-Lehre eine große Gefahr für die Religion.

Wie ganz anders denkt hierüber z. B. die Bonner Evangelisch-Theologische Fakultät, welche für das Jahr 1914/15 folgende Preisaufgabe gestellt hat: "Vaihingers Philosophie des Als Ob soll in ihrer Anwendung auf die Objekte der Theologie geprüft und religionstheoretisch gewürdigt werden." Als ich derselben Fakultät zum Dank dafür ein Exemplar meines Werkes für das Bonner Theologische Stif übersandte, schrieb sie mir unter dem 10. Juni 1915:
    "Wir zweifeln nicht, daß Ihr großes Werk, das Sie unseren Stiftlern zugänglich gemacht haben, manchen von ihnen Anregung und Förderung zur Klärung ihrer philosophischen Anschauungen eintragen wird."
Eine solche Auffassung zeugt vom weiten Blick wissenschaftlich gebildeter Theologen, welche aus vielfacher Erfahrung bei sich und bei Anderen wissen, daß gerade die am gefährlichsten erscheinenden philosophischen Theorien zuletzt immer doch wieder die religiösen Überzeugungen nur bei einzelnen schwachen Köpfen erschüttern, aber im Großen und Ganzen nur zur Festigung und Bekräftigung wahrer Religiosität beitragen. Ja, die Geschichte der Philosophie und Theologie lehrt, daß gerade solche Philosophen, welche zuerst von kurzsichtigen Theologen ihrer Zeit als gefährliche Gegner der Religion verfolgt wurden, in späterer Zeit von den theologischen Apologeten als Stütze der Religion erkannt und in den Vordergrund gestellt wurden. Dies gilt z. B. von ARISTOTELES, von CARTESIUS, von MALEBRANCHE, von LEIBNIZ, von CHRISTIAN WOLFF, von KANT, von FICHTE, von HEGEL, von HERBART, von SCHOPENHAUER, ja sogar von NIETZSCHE.

Einen solchen weiten Blick hat Herr HUGO BUND nicht, welcher seit vielen Jahren in einem kleinen Städtchen in kleinbürgerlicher Zurückgezogenheit lebt, und die Welt und die Dinge in der Welt aus der Froschperspektive zu betrachten sich gewöhnt hat. Ein Mann von solcher Geistesart, dessen innere Unklarheit durch die oben gekennzeichneten Widersprüche seines Denkens unwidersprechlich charakterisiert ist, mußte durch die Lektüre der Philosophie des Als Ob aus dem Gleichgewicht gebracht werden, und die schon in den oben angeführten Stellen aus seinem Buch hervortretende kleinliche und nörgelnde Art seines Wesens mußte, unter dem ihn erdrückenden Eindruck der Philosophie des Als Ob, zu blinder Wut gegen KANT, gegen die Kantianer und natürlich vor Allem gegen den Verfassers des Werkes gesteigert werden. Und so ließ er sich zu den Denunziationen hinreißen, die wir jetzt betrachten müssen.


B. Denunziationen
1. Denunziation gegen Kant.

Zum Verständnis dessen, was Herr HUGO BUND gegen KANT sagt, muß zunächst Folgendes vorausgeschickt werden.

Ich habe in meiner 1911 erschienenen "Philosophie des Als Ob" im letzten Teil des Buches auf ca. 100 Seiten aufgrund einer vollständigen Sammlung des Materials eine andere Auffassung der kantischen Lehre zu begründen versucht, als sie bisher üblich war. Die bisher übliche Auffassung der Lehre KANTs von den Ideen (besonders Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) berücksichtigt bei KANT nur diejenigen Stellen, in welchen er die gemäßigte Auffassung vertritt, daß nur die die Vorstellungen, welche sich die Menschen von den Gegenständen jener Ideen machen, Anthropomorphismen sein sollen, daß aber die metaphysische Realität jener Gegenstände unzweifelhaft ist. Ich habe nun eine große Anzahl von Stellen bei KANT zusammengetragen und untersucht, welche mir dafür zu sprechen scheinen, daß bei KANT noch eine radikalere Unterströmung vorhanden ist, durch welche die ontologische Substantialität jener Gegenstände in Frage gestellt wird, wobei jedoch KANT mit aller Energie daran festhält, daß der "praktische Glaube" an jene Gegenstände ein sittliches Gebot für den Menschen ist, der Art, daß er seine Handlungen in strengster Gewissenhaftigkeit so einzurichten hat, als ob jenen "Gegenständen" eine absolute Existenz vindiziert werden muß. Für KANT wäre also demnach Gott weniger ein Substanz- als ein Wertbegriff.

Diese meine Auffassung hat nun den vollen Beifall des Herrn HUGO BUND gefunden. Er findet in dieser Auffassung den "echten Kant" (Seite 19), den "wahren Kant". Er sagt sogar:
    "Denn das steht doch fest, daß jedes Buch, das bisher über Kant geschrieben wurde, und sei es auch noch so gründlich und geistvoll, nach den nunmehr erfolgten Enthüllungen glattweg veraltet ist." (Seite 17)
Auf diese unbedingte Zustimmung des Herrn HUGO BUND zu meiner Auffassung müßte ich eigentlich stolz sein, aber leider geht es mir anstatt dessen, wie jenem athenischen Redner, welcher, als eine Stelle seiner Rede vom Volk ganz besonders bejubelt wurde, spöttisch zu seinen in seiner Nähe sitzenden Freunden sagte: "Welche Dummheit habe ich soeben gesagt?" Die unbedingte Zustimmung eines Hernn HUGO BUND macht mich nicht glücklich, sondern könnte mich eher stutzig machen; die unbedingte Zustimmung eines Herrn HUGO BUND hat für mich umso weniger Wert, als die bisherigen führenden Männer der neukantischen Bewegung sich zu einer solchen Zustimmungsäußerung bis jetzt noch nicht haben bewegen lassen. Ich glaube nicht, daß COHEN oder RIEHL, WINDELBAND oder RICKERT, EUCKEN oder BAUCH, NATORP oder CASSIRER, HERMANN oder TROELTSCH, KÜHNEMANN oder ADICKES, um nur diese zu nennen, meiner Auffassung KANTs zustimmen werden. Natürlich halte ich deshalb doch meine Auffassung für die richtige; aber ich besitze wissenschaftliche Objektivität genug, um andere Auffassungen zu achten.

Die Vorwürfe, welche nun Herr HUGO BUND gegen KANT erhebt, gehen von dem Standpunkt aus, daß jene meine Auffassung KANTs die einzig mögliche und einzig richtige ist. Jene Vorwürfe BUNDs gegen KANT und seine Philosophie sind also schon darum nicht bündig, sondern verfehlen ihr Ziel, oder schießen vielmehr über ihr Ziel hinaus, weil ja gar nicht erwiesen und gar nicht allgemein anerkannt ist, daß meine Auffassung KANTs die allein zulässige ist.

Aber auch, wenn meine Auffassung KANTs die allgemeine Zustimmung finden würde, so würden die Vorwürfe, welche HUGO BUND gegen KANT erhebt, durchaus ungerechtfertigt sein.

Herr HUGO BUND erhebt gegen KANT die heftigsten Vorwürfe. Er behauptet z. B. Seite 26, KANT habe "mit den heiligsten Überzeugungen von Religion und Sittlichkeit ein direkt nichtswürdig frivol gemeines Spiel getrieben". KANT sei nicht der "größte Sohne des Protestantisms", wofür er "von so vielen usnerer ersten Forscher" erklärt wird, sondern er sei im Gegenteil "ein Vertreter des Jesuitismus in seiner schlimmsten Form" (Seite 11). Er wirft KANT eine "Unlauterkeit des Charakters" vor und drückt letzterer gegenüber "Abscheu und Ekel" aus (Seite 38).

Diese maßlosen Vorwürfe gegen KANT erhebt er deshalb, weil KANT mit voller intellektueller Redlichkeit abwechselnd das Pro und Kontra hervorhebt in Bezug auf die Gottesbeweise, und weil er als kritischer Denker offen alles ausspricht, was hierüber zu sagen ist. Als kritischer Denker weist er darauf hin, daß in theoretischer Hinsicht, d. h. vom Standpunkt der Spekulation aus nicht bloß keine entscheidenden Gottesbeweise aufgestellt werden können, sondern daß auch das spekulative Denken über dieses Problem geradezu zum Gegenteil führen kann. Daher spricht er sich schließlich an entscheidenden Orten dafür aus, daß Welt und Leben so zu betrachten sind, als ob sie von einem höheren Wesen geleitet werden und findet darin den "praktischen Glauben an Gott", der sich eben im Handeln der Menschen bewährt.

KANT hat mit diesem Gedanken schwer gerungen, er hat immer aufs Neue wieder diese Gedanken zu begründen und auszudrücken gesucht, und das geschah in einer Terminologie, welche er sich erst neu schaffen mußte, sodaß auch der sprachliche Ausdruck seiner Gedanken oft schwer verständlich geworden ist, und so, daß manche Stellen nicht eindeutig aufzulösen sind.

Es ist eine auf geistiger Blindheit beruhende ungerechte Beurteilung KANTs, wenn nun Herr HUGO BUND aus diesem Sachverhalt auf ein absichtliches "Irreführen" (Seite 35) der Leser durch KANT schließt, und wenn er eben in diesem Sinne dem großen Mann "Jesuitismus" und "frivoles Spiel" vorwirft. Gerade das, das KANTs Größe ausmacht, die Ehrlichkeit seines Denkens, die Tiefgründigkeit seiner Beweisführung, die volle Berücksichtigung des gesamten Pro und Kontra - das hat Herr BUND völlig verkannt. Er macht aus KANTs Vorzügen mit verwerflichem "frivolen Spiel" und mit einer geradezu tendenziösen Verdrehung lauter Mängel. Daß KANT mit den Problemen ehrlich gerungen hat, daß er in diesem Ringen allen Seiten der schwierigen Weltprobleme und Lebensfragen gerecht zu werden versuchte, daß er in immer neuen Ansätzen und von den verschiedensten Angriffspunkten aus die Schwierigkeiten zu überwinden suchte, daß er seine Leser an diesem Ringen um diese Probleme teilnehmen läßt, daß er nicht mit starrer Einseitigkeit nur eine Linie verfolgt, sondern die ganze Fülle und Vielseitigkeit der Probleme aufdeckt, daß er nicht dogmatisch dekretiert, sondern suchend und untersuchend vorgeht - alle diese Vorzüge KANTs sind für BUND nur Gelegenheiten, über den großen Mann mit wüstem Geschrei in blinder Wut herzufallen. Ob das nun als absichtliche Methode der Verdrehung, oder als geistige Impotenz gegenüber wirklicher Größe aufzufassen ist - das Resultat ist dasselbe: traurige Verkennung eines Führers der deutschen Nation.

Da Herr HUGO BUND es liebt, diejenigen, die er nicht versteht und insbesondere KANT selbst des "Jesuitismus" zu bezichtigen, so wollen wir nun einmal den Spieß umdrehen und ihn daran erinnern, wie einige jesuitische Schriftsteller sich zum dem Versuch erniedrigt haben, große Männer des deutschen Volkes, einen LUTHER, einen GOETHE, herabzusetzen und dem deutschen Volk zu verekeln, indem sie nach der von HUGO BUND so trefflich nachgeahmten bekannten Methode verfahren, Alles im Leben und Denken dieser Männer aus Licht in Schatten zu verwandeln (ein Verfahren, das, nebenbei bemerkt, wahrhaft fromme Katholiken durchaus nicht billigen).

Wie es jenen Dunkelmännern nicht gelungen ist, dem deutschen Volk seinen LUTHER und seinen GOETHE aus dem Herzen zu reißen, so wird es auch unserem Verdunkelungskünstler nicht gelingen, der deutschen Nation ihren KANT zu verekeln; und sicher wird das deutsche Volk nicht die Mahnung des HUGO BUND befolgen (Seite 40) den 200sten Geburtstag KANTs im Jahr 1924 nur "in der Stille zu begehen. Wie sich auch bis dahin die Kantforschung über den Sinn der kantischen Als-Ob-Lehre geeinigt oder auch nicht geeinigt haben mag - sicher wird auch dieser Tag von der Wissenschaft wie vom Volk feierlich begangen werden, und sicher wird auch das Preußische Unterrichtsministerium sich an dieser Feier beteiligen, obgleich es dem Herrn HUGO BUND schon nicht recht ist, daß dasselbe den 100-jährigen Todestag KANTs in Königsberg im Jahr 1904 mitgefeiert hat.


2. Denunziation gegen Dr. theol. Steinmann

"Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend Böses muß gebären" - und so ist es auch ganz natürlich und konsequent, daß Herr HUGO BUND die Denunziation gegen KANT ausdehnt auf die Kantianer, oder zumindest auf solche, die er dafür hält. Als Opfer auf dem Alter der "Wahrheit", d. h. dessen, was Herr HUGO BUND dafür ausgibt, hat er sich nun den in seiner Nähe wohnenden Dozenten am Herrnhuterischen Predigerseminar in Gnadenfeld, Dr. theol. STEINMANN, den Herausgeber der bekannten Zeitschrift "Religion und Geisteskultur" ausersehen. Wie schon oben angeführt wurde, wirft der diesem und seiner Zeitschrift vor, daß sie einen Unterschied machen zwischen dem "kindlichen und naiven Volksglauben" an die traditionellen Dogmen einerseits und einer geistigen "Bildungsreligion" unter dem Einfluß der kantischen Philosophie andererseits.

Herr HUGO BUND vergißt oder verschweigt ganz, daß dieser Unterschied nicht neu ist, und daß, wie in allen Religionen, so auch im Christentum dieser Unterschied immer gemacht worden ist. Die Kirchengeschichte und die Dogmengeschichte lehren, daß von je her in der Geschichte der christlichen Religion dieser Unterschied eine Rolle gespielt hat und naturgemäß spielen mußte, da nun eben einmal zwischen der mehr phantasiemäßigen Volksvorstellung und der mehr geistigen Auffassung wissenschaftlich gebildeter Männer nicht bloß in der Religion, sondern auch in allen anderen Lebens- und Wissensgebieten ein Unterschied ist. Davon sieht Herr BUND ganz ab, obgleich er, als studierter Theologe, das alles wissen müßte.

Herr BUND begnügt sich aber nicht mit jenem allgemeinen Vorwurf gegen STEINMANN, sondern er sucht durch die Ausführungen in seinem Buch (Seite 27-33) direkt die amtliche Stellung des Genannten in gehässigster Weise zu untergraben. So sagt er Seite 32:
    "Wer an die Dogmen seiner Kirche nicht mehr mit aufrichtigem Herzen glauben kann, der soll sich offen und ehrlich von ihr lösen."

    "Wer aber im Verband einer kirchlichen Gemeinschaft bleibt, ja sogar als ihr Diener oder Lehrer ihr seine soziale Stellung im Leben verdankt, und dann gleichwohl ihre dogmatische Grundlage anzutasten oder auch nur umzubiegen wagt, weil es angeblich die Wissenschaft so fordert - von dem kann ich es, für meine Person zumindest, schlechterdings nicht begreifen, wie er das mit seinem Gewissen in Einklang bringen kann."
Diese Sätze sind der Kanon jener beschränkten Unduldsamkeit, welche überall und zu allen Zeiten nicht bloß im Christentum, sondern auch im Judentum und im Islam alle geistige Freiheit unterdrückt hat, welche dadurch alle geistige Bewegung in den Religionen zu hemmen versuchte und welche eben dadurch die Religion selbst überall und zu allen Zeiten auf das Gründlichste geschädigt hat, weil die Religion dadurch zu einem starren System gemacht wird, welches mit Notwendigkeit den Widerwillen und den Haß des geknechteten Geistes hervorruft. Darum haben auch überall und zu allen Zeiten einsichtige Fürsten und umsichtige Regierungen jener Unduldsamkeit einen Damm entgegengesetzt und haben mit weiser Verteilung der das menschliche Leben bestimmenden Kräfte sowohl den kindlich naiven Volksglauben, als auch die freiere Geistesreligion gefördert. Überall und zu allen Zeiten haben es weise Regenten und Regierungen verstanden oder zumindest danach gestrebt, diese beiden Richtungen der Religion, die konservativere und die liberalere, im Gleichgewicht zu erhalten, um einerseits das Erstarren der Religion im Buchstaben der Dogmen zu verhüten, und um andererseits die freiere Richtung stets wieder an die Realitäten des Lebens zu erinnern, welche sie in ihrem Flug zu leicht zu übersehen geneigt ist.

Herr HUGO BUND versteht nichts von dieser weisen Fürsorge, er ruft nach "Gewaltmitteln" und hetzt die Herrnhuter-Gemeinde-Verwaltung gegen Dr. theol. STEINMANN mit folgenden Worten auf (Seite 32):
    "Die Generalsynode der Herrnhuter Brüderkirche hat in ihrer Eigenschaft zugleich auch als oberste Behörde der deutschen Bruderunität darüber zu bestimmen, welcher Art und in welchen Grenzen am theologischen Seminar ein wissenschaftlich theologischer Betrieb stattfinden soll, wenn Dr. theol. Steinmann solchergestalt als Dozent an eben diesem theologischen Seminar damit, implizit zumindest, seine eigenen theologischen Anschauungen geradezu mit offiziellem Charakter zu umkleiden imstande ist, so wird die in ihrer Synode vertretene Brüderkirche sich einer Theologie gegenüber, wie sie in Steinmanns Zeitschrift schon bei dem Gegensatz von Kirchenvolk und Anhängern der Bildungsreligion angelangt ist, über kurz oder lang wohl nur noch glatt vor die Alternative gestellt sehen, entweder für eine andere theologische Richtung zu sorgen, oder das Werk eines Zinzendorf und Spangenberg in Zukunft nur noch als gewesen hinzustellen."
Das ist eine Denunziation in pessima forma [der übelsten Art - wp]. So haben die Ketzerverfolger immer gesprochen: das haben, mutatis mutandis [in vergleichbaren Verhältnissen - wp], schon ein KONRAD von MARBURG, schon ein TORQUEMADA gesagt und gewollt. Herr HUGO BUND fordert die Herrnhuter Synode mit diesen dürren Worten auf, den gefährlichen Dr. theol. STEINMANN abzusetzen und zu verjagen. Das wird sich aber die Brüder-Unität doch wohl zehnmal überlegen: sie wird sich daran erinnern, daß sie im Jahre 1787 den jungen SCHLEIERMACHER aus ihrem Kreis ausgeschlossen hat, den Mann, welcher der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts sein Gepräge aufgdrückt hat, den Mann, welcher eine Leuchte der Universität Berlin wurde, den Mann, welcher zu den Klassikern nicht nur der Theologie, sondern auch der Philosophie gehört, den Mann, welcher mit größter geistiger Freiheit ein frommes Gemüt verbunden hat. Wenn heute die Brüdergemeinde eine wissenschaftliche Bedeutung besitzt, so verdankt sie dies eben dem Wirken von STEINMANN, welcher im Geist und der Frömmigkeit eines SCHLEIERMACHER in Gnadenfeld Theologie lehrt, und zugleich durch seine Zeitschrift "Religion und Geisteskultur" die theologische und philosophische Wissenschaft befruchtet, und in weiteren Kreisen die Verbindung gründlicher Wissenschaftlichkeit mit lebenswarmer Religiosität fördert.

Was nun aber das Schönste ist, das ist Folgendes: jene Denunziation gegen STEINMANN geht ausgerechnet von einem Mann aus, welcher, wie wir oben gesehen haben, dem kühnen und freien Wort von LAGARDE zustimmt:
    "Schleiermacher hat einst Rede über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern gerichtet; jetzt gälte es, Reden für die Religion an die Ungebildeten unter ihren Freunden zu halten, da diese Freunde der Religion mehr schaden als alle Verächter." (Seite 5)
Jene "ungebildeten Freunde der Religion" sind eben diejenigen, welche an den "härtesten Vorstellungen des religiösen Glaubens" (Seite 5) buchstäblich festhalten. An dieser Stelle huldigt also der Verfasser dem schönen und edlen Prinzip: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" - und eben dasselbe schöne und edle Prinzip verleugnet Herr HUGO BUND in der Motivierung seiner unschönen und unedlen Denunziation gegen STEINMANN:


3. Denunziation gegen den Verfasser
der Philosophie des Als Ob.

Herr HUGO BUND gießt nun natürlich auch über mich selbst und gerade erst recht über micht die volle Schale seines Zorns aus. Der Guß ist aber völlig vorbeigegangen. Um zu erklären, wie es kommt, daß die auf mich geschleuderte Bombe, um zu einem anderen Bild überzugehen, ein bloßer Blindgänger ist, muß ich etwas weiter ausholen.

Meine "Philosophie des Als Ob" erschien in erster Auflage im Jahr 1911. Schon im Mai 1913 erschien die zweite Auflage. Diese enthält eine ganz neue Vorrede, welche zum Verständnis meines Buches, besonders seiner Entstehung, einiges Wesentliche bringt. Insbesondere habe ich darin die Gründe geschildert, welche mich veranlaßten, oder mich vielmehr gezwungen haben, mein Werk, das seinem ersten Hauptteil nach schon im Winter 1876/77 entstanden war, über ein Menschenalter liegen zu lassen. Ich habe diese Gründe ausführlich und eingehend entwickelt, weil naturgemäß von verschiedenen Seiten her die Frage an mich gestellt wurde, warum ich die Herausgabe des Buches so lange hinausgeschoben habe.

Herr HUGO BUND, welcher seine Schrift, in welcher er mich so scharf angreift, im Februar 1915 veröffentlicht hat, hätte also Zeit genug gehabt, sich diese zweite Auflage meines Werkes anzusehen. Es ist eine sträfliche Nachlässigkeit, daß er dies nicht getan hat. Er mußte, ehe er seinen Angriff auf mich publizierte, sich erkundigen, ob nicht eine neue Auflage des Werkes erschienen ist; er mußte sich diese neue Auflage ansehen, da er sich sagen konnte, daß in dieser neuen Auflage höchst wahrscheinlich auch eine neue Vorrede enthalten sein wird; und er mußte diese durchlesen, da es sich ebenfalls sagen konnte, daß naturgemäß in einer solchen Vorrede wohl auch persönliche Aufschlüsse zu finden sein könnten.

Hätte Herr HUGO BUND dies getan, so hätte er es sich und der literarischen Welt ersparen können, mich mit Vorwürfen zu überhäufen, welche schon durch jene neue Vorrede erledigt sind. Denn in dieser habe ich die Gründe offen dargelegt, welche mich zur langen Hinausschiebung der Veröffentlichung meines Werkes gezwungen haben, die er mir eben zum sittlichen Vorwurf macht; denn er findet darin einen Mangel an Mut, Opportunitätsrücksichten und eine direkte Irreführung der wissenschaftlichen Welt, indem ich dieser den "wahren Kant" ein Menschenalter lang vorenthalten habe, usw.

Die wahren Gründe der langen Verzögerung der Drucklegung meines Werkes sind vielmehr: eine ungünstige Veränderung meiner äußeren Lage im Jahr 1879, die Notwendigkeit, eine lohnende Arbeit zu übernehmen, die dadurch entstandene schwere Arbeit an meinem KANT-Kommentar (I und II), eine mehrjährige Störung meiner Gesundheit, anderweitige äußere Störungen der Arbeitsruhe, unerwartet große Arbeit durch die Begründung der "Kant-Studien", allmählich zunehmende Augenschwäche, und endlich, eine starke Inanspruchnahme durch die Begründung der Kantgesellschaft.

Als ich im Frühjahr 1879, durch äußere Verhältnisse gezwungen, die Arbeit an meiner Philosophie des Als Ob (wie ich sie später genannt habe), sistieren mußte, war mir dies ein großer Kummer. Man wird bei der Lektüre des ersten Teils meines Buches, welchen ich damals im ersten Entwurf fertig hatte, doch wohl auch jetzt noch den Eindruck gewinnen, daß ein Mann, welcher mit einem solchen "Sturm und Drang" eine neue Richtung eingeschlagen hat, nicht der nötige Mut fehlt. Ich habe mir im Gegenteil schon damals durch offenes und rückhaltloses Aussprechen meiner Meinung Gegner genug gemacht. Aber jene erwähnte Änderung meiner äußeren Lage verhinderte mich, meinem Werk damals die wissenschaftlich reife Form und es zum Druck fertig zu machen, da dazu eine völlige Umgestaltung des Manuskripts notwendig gewesen wäre. Die force majeure [höhere Gewalt - wp] der Verhältnisse zwang mich ganz einfach, wenn ich nicht verhungern wollte, eine andere Arbeit vorzunehmen und jenes Manuskript bis auf bessere Zeiten liegen zu lassen.

Jeder, der die Vorrede der zweiten Auflage meines Buches liest, wird, wenn er Erfahrung in wissenschaftlicher Tätigkeit und Bekanntschaft mit dem auftreibenden akademischen Beruf hat, es ohne weiteres verstehen, daß man ein Manuskript liegen läßt, dessen wissenschaftliche Form dem Verfasser selbst nicht genügt. Wie es nun gekommen ist, daß ich das Werk dann trotzdem noch im späteren Lebensalter veröffentlicht habe, ohne ihm die abschließende wissenschaftliche Reife geben zu können, das erzählt eben jene Vorrede.

Was mir nun Herr HUGO BUND besonders zum Vorwurf macht, ist, daß ich, wie er sagt, der wissenschaftlichen Welt den "wahren Kant" ein Menschenalter lang vorenthalten habe, sodaß die Wissenschaft jahrzehntelang durch meine Schuld "irregeführt worden" ist. Dazu habe ich Folgendes zu bemerken.

Erstens: Der Abschnitt über KANT bildet einen Teil meines Buches, welcher, wenn er auch nur ein angehängter historischer Teil ist, doch andererseits einen integrierenden Bestandteil meines Werkes ausmacht. Ich hätte mein Werk verstümmelt, wenn ich den Abschnitt über KANT herausgenommen und etwa selbständig publiziert hätte. Andererseits wären die Ausführungen über KANTs Als-Ob-Betrachtung ohne die vorhergehenden systematischen Teile, in denen ich meine eigene Als-Ob-Theorie entwickelt habe, ohne denjenigen wissenschaftlichen Untergrund geblieben, durch den sie allein voll verstanden werden können.

Zweitens: Ich habe die Hauptresultate meiner KANT-Auffassung schon viele Jahre vor dem Erscheinen meines Buches, schon 1899 in einem kleinen Aufsatz in der "Philosophical Review", sodann 1900 in einer größeren Abhandlung zu SIGWARTs 70. Geburtstag, also an sehr auffallender Stelle veröffentlicht. Diese beiden Tatsachen kennt auch Herr BUND, hat aber übersehen, daß ich noch an einem dritten vielgelesenen Ort sehr laut und vernehmlich meine KANT-Auffassung mitgeteilt habe, nämlich in den Kant-Studien im Jahr 1902 (Bd. VII, Seite 110-117). Auch habe ich persönlich keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um diejenigen, die es überhaupt hören wollten, auf diesen Punkt aufmerksam zu machen.

Drittens: Herr HUGO BUND rechnet es mir als großes Unrecht an, daß ich die "Enthüllungen" (diesen Ausdruck gebraucht er mit Vorliebe) über KANTs Als-Ob-Lehre nicht früher gemacht habe, daß ich das "entscheidende Material" (Seite 41), "das gesamte und volle Material" nicht "der Forschung zur Verfügung gestellt habe". Wer nicht mit den Verhältnissen vertraut ist, muß aus diesen Ausdrücken des Herrn HUGO BUND schließen, daß mir Material zugänglich gewesen ist, das für Andere unzugänglich geblieben war und das ich also ein Menschenalter lang der Forschung einfach vorenthalten habe. Aber alle Stellen aus KANT, auf welche ich mich berufe, stammen aus den gedruckten Werken KANTs, welche in mehreren Gesamtausgaben und vielen Einzeldrucken in unzähligen Exemplaren in Deutschland und im Ausland längst verbreitet und allgemein bekannt waren. Ich habe nicht eine einzige Stelle aus KANT beigebracht, welche nicht jeder Student im ersten Semester auf der kleinsten Universitätsbibliothek hätte bequem lesen können. Unzählige haben ja die großen und kleinen Schriften KANTs "mit heißem Bemühen" durchstudiert, gerade in den letzten 30-40 Jahren. Zahllose Schriften und Aufsätze sind über KANT verfaßt worden von Männern, welche zu diesem Zweck die sämtlichen Schriften KANTs durchstudieren mußten, und auch wirklich durchstudiert haben. Alle diese haben das "gesamte und volle Material", haben das "entscheidende Material" nicht bloß in den Händen, sondern vor den Augen gehabt, und sie haben es nicht bloß vor den Augen gehabt, sondern auch mit ihrem Geist aufgefaßt, haben diese Stellen zitiert und kommentiert - also, was hatte ich denn Neues zu geben, was nicht Alle schon hatten? Material nicht, entscheidendes Material absolut nicht.

Viertens: Was ich nun geben konnte, und gegeben habe, ist nur eine neue Deutung altbekannter Stellen, eine neue Auffassung und Auslegung solcher Stellen, welche schon von hundert und aberhundert anderen Gelehrten gelesen und besprochen waren. Ich kann hier nur nochmals wiederholen, was ich schon oben darüber gesagt habe: meine spezifische Auffassung jener Stellen ist eine persönliche, bisher durchaus noch nicht allgemein anerkannte. Keiner der bekannten Kantforscher (mit Ausnahme des bisher unbekannten Herrn HUGO BUND) hat mir seine volle Zustimmung ausgedrückt. Herr HUGO BUND führt seine Leser vollständig in die Irre, wenn er meine Auffassung der kantischen Als-Ob-Lehre mit Vorliebe als "Enthüllung" bezeichnet. Wäre sie das und würde meine Darstellung ein bisher ganz unbekanntes Material offenbaren, so müßten ja alle Kantforscher mir ohne Weiteres zustimmen. Natürlich macht mich persönlich dieser Mangel an allgemeiner Zustimmung seitens der bisherigen renommierten Kant-Fachleute nicht im Mindesten in meiner Auffassung irre; aber ich mußte diese Dinge anführen und ausführen, um zu verhindern, daß nicht Herrn HUGO BUNDs laienhafte Darstellung bei solchen Glauben findet, welche nicht mit der Kant-Forschung näher vertraut sind.

Fünftens: Einen besonderen Vorwurf macht mir Herr HUGO BUND noch daraus, daß ich nicht auf FORBERG früher hingewiesen habe, welcher schon in den Jahren 1799 und 1800 die kantische Als-Ob-Lehre ebenso aufgefaßt hat wie ich. Ich habe meine Auffassung der kantischen Als-Ob-Lehre selbst garnicht den Schriften FORBERGs entnommen, sondern habe erst, nachdem ich durch ein gründlicheres Studium KANTs meine, von KANT unabhängige Als-Ob-Lehre eben bei KANT selbst zum Teil bestätigt gefunden habe, dann erst die ähnliche KANT-Auffassung FORBERGs bemerkt. Daß ich zur 100. Wiederkehr des Erscheinens der Schriften FORBERGs 1899 nicht selbst etwas geschrieben habe, sondern RICKERT aufforderte, in den Kant-Studien einen Aufsatz darüber zu schreiben, geschah ebenfalls aus meinem Mangel an Zeit und Kraft; aber Herr HUGO BUND rechnet auch dies mir als Verbrechen an. Übrigens war und ist für micht die Berufung auf FORBERG nur ein nebensächliches Kapitel meines Buches. FORBERG ist für mich keine Autorität, sondern eine Kuriosität. Nebenbei bemerkt, rechnet es Herr HUGO BUND auch den bisherigen Kantgelehrten zum Verbrechen an, daß sie sich nicht mit FORBERG näher beschäftigt haben; aber diejenigen, die es getan haben, (und es werden wohl nicht Wenige sein) haben natürlich bald herausgefunden, daß FORBERGs Auffassung der kantischen Als-Ob-Lehre nicht einheitlich sondern widerspruchsvoll ist, wie ich das ja in meinem Buch hinlänglich gezeigt habe. Eben deshalb hätte eine vorheriger Hinweis auf FORBERG durch mich keinen Zweck gehabt. So entspringt auch der Vorwurf BUNDs in dieser Hinsicht seiner unzulänglichen Kenntnis und Auffassung der Sachlage, aber trotzdem spricht der Mann "im Namen aller echten Wissenschaft" (Seite 12).

Sechstens: Einen besonderen Vorwurf macht mir Herr HUGO BUND (Seite 16) ferner daraus, daß ich durch die Verzögerung der Publikation meines Buches verschuldet haben soll, daß PAULSEN und KAFTAN ihre Schriften über "Kant als Philosoph des Protestantismus" und außerdem PAULSEN sein Kant-Buch so veröffentlicht haben, wie sie es getan haben. Hätten sie nämlich, so argumentiert Herr BUND, durch mich "das entscheidende Material" in die Hand bekommen, so hätten sie ihre Schriften gar nicht, oder zumindest ganz anders schreiben müssen, und so wäre insbesondere die irreführende Darstellung der Schriften von PAULSEN und KAFTAN vermieden worden, KANT sei ein Freund der alten Metaphysik und sei speziell der "Philosoph des Protestantismus". Herr HUGO BUND hat offenbar keine Ahnung davon, welch schwere und beleidigende Anklage er mit diesen Worten gegen PAULSEN und KAFTAN erhebt, als hätten diese beiden bedeutenden Männer die Werke KANTs, über die sie geschrieben haben, weder vollständig noch gründlich studiert. Ich habe ja, wie ich schon oben bemerkte, keine einzige, bisher unbekannte oder ungedruckte Stelle KANTs in meinem Buch mitgeteilt, ich habe nur altbekannte und viel zitierte Stellen KANTs aus den überall zugänglichen gedruckten Schriften KANTs anders beleuchtet und anders gedeutet als bisher. Wie diese meine spezifische Ausdeutung auch jetzt noch nicht die allgemeine Anerkennung aller Kantforscher gefunden hat, so hätten auch PAULSEN und KAFTAN sich durch meine Auffassung jener Stellen in ihrer eigenen Stellungnahme sicher nicht beirren lassen, wie ich mich umgekehrt natürlich ebenfalls nicht dadurch beirren lassen, daß Andere meine Auffassung nicht teilen. Natürlich bleibe ich selbst nach wie vor auf meinem Standpunkt unerschütterlich stehen und habe die feste Überzeugung, daß meine Auffassung jener Stellen die einzig richtige ist; aber ich bin duldsam gegen abweichende Auffassungen.

Siebentens: Weiterhin wirft mir Herr HUGO BUND vor, daß ich "es auf mich genommen habe"
    "von der Stiftung der Kant-Gesellschaft völlig abgesehen, in den Kant-Studien eine ganz neue Zeitschrift zu gründen, die sich in den Dienst nicht des von Vaihinger als solchen bezeichneten wahren, sondern des falschen, nicht des echten, sondern des Schul-Kant und damit, da der traditionelle Kant ja allerdings neben dem radikalen einherläuft, der Schul-Kant aber doch nicht der volle und ganze Kant ist, zumindest gesagt, doch eben auch nicht in den Dienst der ganzen und völlig uneingeschränkten Wahrheit stellt." (Seite 12, 13).
Herr HUGO BUND, obgleich er "im Namen aller echten Wissenschaft" spricht, keine richtige Vorstellung von der Aufgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift von der Art der "Kant-Studien". Diese sollten durchaus nicht dazu da sein, das Organ einer bestimmten, besonderen Richtung der Kantforschung zu werden, sondern sie sollten im Gegenteil der Kantforschung überhaupt dienen, und Jedem geöffnet sein, welcher überhaupt nach wissenschaftlicher Methode sich mit KANT beschäftigt. Hätte ich die Kant-Studien dazu benutzt, meine besondere persönliche Auffassung von KANT zu vertreten, so hätte ich ja nicht der Wissenschaft überhaupt gedient, sondern mir selbst. Daß übrigens auch gelegentlich meine eigene persönliche Auffassung KANTs in der Zeitschrift vertreten habe, wurde schon oben bemerkt. Auch wenn ich Zeit und Kraft dazu gehabt hätte, so hätte ich die Zeitschrift nicht dazu mißbraucht, um nur gerade meine persönliche Kant-Auffassung zu propagieren. Die Zeitschrift ist vielmehr jeder Richtung geöffnet. Wenn ich auch meine eigene Kant-Auffassung für die einzig richtige halte, so habe ich doch kein Recht, den "echten Kant" in ihr zu predigen, umso weniger, als ich doch wußte, daß andere namhafte Kantforscher mir durchaus nicht zustimmen würden, daß gerade meine Auffassung allein den "echten Kant" widerspiegelt. Andere Kant-Forscher, wie z. B. PAULSEN, sind eben der Meinung, daß diejenigen Stellen KANTs, auf welche ich mich gerade stütze, vorübergehende Tastversuche oder vielleicht sogar Entgleisungen des großen Mannes sind, und daß der "echte Kant" gerade umgekehrt in denjenigen Stellen zu suchen ist, in welchen er seine alte Liebe zur Metaphysik mehr oder weniger deutlich zu erkennen gibt. Übrigens bekennt ja Herr HUGO BUND, daß er selbst längst, ehe er mein Buch kennen gelernt hat, sich über die als Als-Ob-Stellen bei KANT Gedanken gemacht hat, und daß er schon vor mir zu einer ähnlichen Auffassung wie ich gelangt ist. Warum hat er denn dann nicht eine Arbeit darüber veröffentlicht? Warum hat er geschwiegen? Was es bei ihm ein Mangel an Mut, wie er mir einen solchen vorwirft? Oder war es nicht vielmehr der Umstand, daß er über die Sache nicht zu einer ihn befriedigenden Auffassung gekommen ist? Er schwieg also ebenso wie ich, aus einem formellen Grund: er, weil seine Auslegung ihn nicht befriedigt hat, ich, weil die Form meiner Darstellung in meinem Werk mir nicht genügte.

Achtens: Endlich wirft Herr HUGO BUND mir mit dem Brustton sittlicher Entrüstung vor, ich hätte aus Mangel an Mut mein Werk nicht früher veröffentlicht, sondern erst, nach meinem eigenen Geständnis, die günstigste Zeit dafür abgewartet, bis es zu einer Zeit erscheinen konnte, wo ihn erst das richtige Verständnis entgegengebracht werden konnte.

Nehmen wir an, diese Darstellung wäre historisch richtig, so läge darin noch kein Verbrechen, denn es gibt Beispiele genug aus der Geschichte der Wissenschaft, daß Gelehrte die Veröffentlichung ihrer Werke aus solchen Gründen hinausgeschoben haben. Ich könnte mich auf DESCARTES und SPINOZA berufen, und ich brauche nur an die bekannte Tatsache zu erinnern, daß KOPERNIKUS sein Werk 30 Jahre lang im Pult zurückbehalten hat, weil die Zeit für das Werk noch nicht gekommen war. Aber die Sache liegt bei mir tatsächlich ganz anders. Ich habe, wie schon bemerkt, in der Vorrede zur zweiten Auflage meines Buches die Gründe der Verzögerung aufgezählt. Der Hauptgrund, auf den ich hier nochmals hinweisen muß, ist der Umstand, daß das Manuskript des Werkes noch nicht druckfertig war; und meinen eigenen wissenschaftlichen Anforderungen an materielle und formelle Vollendung absolut nicht entsprochen hat. Zu einer Umgestaltung des Werkes fehlten mir aus den schon mitgeteilten Gründen Zeit und Kraft. Das ist der Grund, weshalb ich das Werk zu einem opus postumum bestimmt hatte. Erst das Erscheinen und die Verbreitung der Werke NIETZSCHEs gab mir dann, wie ich in der Einleitung (Seite X) schon mitgeteilt habe, den Anstoß, mein Werk doch noch zu Lebzeiten herauszugeben: denn die durch NIETZSCHE geschaffene Umstimmung bot nun die Möglichkeit, daß das Werk trotz seiner Unfertigkeit Anerkennung finden konnte, umsomehr als ja auch NIETZSCHEs Publikationen selbst, zumindest die späteren, trotz ihrer nicht völligen literarischen Ausreifung, gut aufgenommen wurden. Darum wies ich auch schon in der Vorrede zur ersten Auflage (Seite VI) auf die "Unvollkommenheit" des Werkes hin; in der Vorrede zur zweiten Auflage habe ich das weiter ausgeführt. Diese hat aber Herr HUGO BUND nicht benützt, obgleich er dazu Zeit genug gehabt hätte.

Aber auch wenn er diese zweite Auflage aus irgendwelchen Gründen sich nicht hätte verschaffen können vor der Abfassung seines Angriffes auf mich, so hätten schon die Mitteilungen der ersten Auflage genügen können und sollen, ihn von diesem Angriff auf mich abzuhalten, wenn dieser eben nicht aus Übelwollen hervorgegangen wäre. Er hätte sich selbst sagen müssen, daß ein Mann, der ein so umfangreiches und inhaltlich umfassendes Werk, wie die Philosophie des Als Ob geschrieben hat, daß ein Mann, welcher auch schon vor der Veröffentlichung dieses Werkes sich durch wissenschaftliche Arbeiten so bekannt gemacht hat, wie das bei mir der Fall war, der sein ganzes Leben der Wissenschaft gewidmet hat, doch wohl auch eben als Gelehrter rein ideelle Motive hat. Er hätte sich vielleicht sogar sagen können, daß es für einen solchen Mann ein schwerer jahrelanger Kummer gewesen sein muß, daß er ein Werk nicht zur Vollendung bringen konnte, durch welches er hoffen konnte, nicht bloß als Kantforscher, sondern auch als Systematiker in der Geschichte der Philosophie weiter zu leben.

Das allgemeine Wohlwollen, welches man von jedem Menschen verlangen kann und insbesondere von einem so frommen Mann, als welcher Herr BUND sich uns vorstellt, hätte ihn dazu befähigen müssen, auch ohne Kenntnis der Vorrede der zweiten Auflage die betreffenden kürzeren Stellen der ersten Auflage nicht in malam partem [zu meinen Ungunsten - wp], ja in pessimam partem [das Schlimmste - wp] auszulegen.

Ein anderes Beispiel mag Herrn BUND lehren, wie das gemeint ist, ein Beispiel, das sich auf Herrn BUND selbst bezieht. Das Buch, welches die heftigen Angriffe gegen mich erhebt, ist unter dem Namen Dr. "Hugo Bund" erschienen; aber der wirkliche Verfasser trägt den Namen Dr. HUGO OTCZIPKA. Wie kommt Herr Dr. HUGO OTCZIPKA in Cosel in Oberschlesien dazu, sein Buch unter einer falschen Flagge zu veröffentlichen? Wenn er auch seinen wahren Namen bei der privaten Versendung seines Buches an Einzelne diesen genannt hat, wie kommt er dazu, vor der großen Öffentlichkeit sich zu verbergen? Ein Übelwollender könnte hier leicht allerlei schlechte Motive dem Verfasser unterschieben; als erfahrender Mann, der Welt und Leben kennt, sage ich mir einfach: der Verfasser wird wohl private zwingende Gründe zu diesem Verfahren gehabt haben, welchen nachzuforschen ich keine Veranlassung habe, da ich keinen Grund habe, anzunehmen, daß ihn dabei unedle Motive geleitet haben. So hätte auch Herr HUGO BUND mir gegenüber von vornherein verfahren müssen: das ist allgemeine Menschenpflicht.


Der erste Druck dieser Abhandlung erschien im 1. Heft des XXI. Bandes der "Kant-Studien", welches als Festheft zum 70. Geburtstag RUDOLF EUCKENs herausgegeben wurde. Der ursprüngliche Titel lautete: "Die Philosophie des Als Ob und das kantische System gegenüber einem Erneuerer des Atheismusstreits". Aus bibliographischen und buchhändlerisch-technischen Gründen mußte dieser Titel in den jetzigen umgeändert werden.

Nach dem Erscheinen jenes Festheftes hat mir Herr HUGO BUND die Mitteilung zukommen lassen, er habe am Schluß seines Buches eine Anmerkung hinzugefügt, an deren Ende er seinen wahren Namen nebst Wohnort vermerkt hat. Das ist, wie mir jetzt durch meine Vorlesering bestätigt wird, richtig, aber ändert nichts an der Tatsache, daß der Verfasser auf dem Titel seines Buches einen anderen Namen genannt hat. Das ist ein literarisch ganz ungewöhnliches Verfahren, das mir bisher in meiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen ist. Wenn ein Verfasser einen so sonderbaren und unlogischen Weg einschlägt, zuerst auf dem Titel seinen wahren Namen zu verleugnen, und doch hinterher am Ende desselben Buches seinen wahren Namen anzugeben, und zwar an einer nicht leicht bemerkbaren Stelle, so muß er eben auch die Folge davon tragen, daß man das Buch nur unter seinem falschen Namen kennt. Herr HUGO BUND hat freilich dabei die Voraussetzung gemacht, daß Jeder, der sein Buch in die Hand nimmt und darin zu lesen anfängt, die Lektüre bis zuletzt fortsetzen wird bis zur Schlußbemerkung. Dies ist schon unter gewöhnlichen Verhältnissen eine unzutreffende Voraussetzung, welche aber bei einem solchen Buch gar zu seltsam ist: denn die meisten Leser werden schon von der haßerfüllten Vorrede genug haben, und auch wer weiter liest, wird sich nur mit Mühe durch die langstieligen Sätzes des Verfassers hindurcharbeiten, sodaß sich gar mancher es ersparen wird, die Schlußbemerkung zu lesen.

In der "Vorbemerkung" habe ich darauf hingewiesen, daß Herr HUGO BUND durch seinen Angriff auf KANT, auf STEINMANN und auf mich, in unschöner Weise den allgemeinen "Burgfrieden" gebrochen hat, welcher seit dem Ausbruch des Weltkrieges zwischen allen politischen, sozialen, wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Parteien als selbstverständlich gilt. Hiergegen beruft sich Herr HUGO BUND in der oben erwähnten Mitteilung darauf, daß er in der erwähnten Schlußanmerkung berichtet hat, sein Buch sei schon vor Ausbruch des Krieges nicht bloß geschrieben, sondern auch schon in den Druck gegeben worden, aber er macht gleichzeitig die Mitteilung, daß gerade die Vorrede, das "Wort zur Kantfrage", bei Ausbruch des Krieges noch nicht ausgedruckt gewesen ist, daß er vielmehr noch einen auf den Krieg bezüglichen Passus eingeschoben hat. Wenn also die ganze Vorrede überhaupt noch nicht ausgedruckt war (vielleicht auch noch nichteinmal gesetzt), so hätte Herr HUGO BUND diese Vorrede unterdrücken können und müssen und hätte dann deren Veröffentlichung auf eine spätere Zeit verschieben können und sollen. Dies wäre umso leichter gewesen, als ja diese ganze Vorrede bzw. das "Wort zur Kantfrage" mit dem eigentlichen Thema seines Buches überhaupt ganz und gar nichts zu schaffen hat, vielmehr demselben ganz unorganisch vorangestellt worden ist. Aber freilich hätten dann die durchaus banalen Ausführungen des Herrn BUND über "die Naturwissenschaft als Stützpunkt des religiösen Glaubens" kaum Beachtung gefunden: aber Beschimpfungen und Denunziationen, wie die Vorrede sie so reichlich enthält, haben ja immer das Ergebnis, daß die große Menge aufmerksam zuhorcht. So war es schon zu Zeit des alten THERSITES.
LITERATUR - Hans Vaihinger, Der Atheismusstreit gegen die Philosophie des Als Ob und das kantische System, Berlin 1919
    Anmerkungen
    1) Der "Atheismusstreit" hat sich an der Universität Jena abgespielt. Für den an dieser Hochschule seit über 40 Jahren tätigen Jubilar, welchem diese Abhandlung gewidmet ist, mag sie vielleicht eine engere Beziehung zu seiner Person und zu seinem Amt gewinnen.