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FRITZ MAUTHNER
Ähnlichkeit und Sprache
I -26

"Unsere ganze Klassifikation der Natur, also unsere ganze Sprache ist begründet auf das wechselnde Spiel von Ähnlichkeiten, von denen wir fast niemals wissen, ob sie zufällige oder ererbte Ähnlichkeiten sind."

Der alte griechische Satz, der in seiner lateinischen Übersetzung  Similia similibus cognoscuntur  (Ähnliches wird durch Ähnliches erkannt) unzähligemal wiederholt worden ist, ist in seiner ursprünglichen Bedeutung (der Stoffgleichheit von Seele und Außenwelt) für unsere Psychologie sinnlos geworden. Vielleicht ziehen wir aus seiner knappen Form Nutzen, wenn wir die Meinung der neueren Erkenntnistheorie etwa so ausdrücken: Ähnlichkeit empfinden nennen wir erkennen, wobei der Skeptiker noch hinzufügen wird: Ähnlichkeit empfinden nennen wir irrtümlich erkennen. Denn all unser vermeintliches Erkennen ist vergleichendes Klassifizieren, wie wir ja sogar die einfachsten Empfindungsdaten unserer Zufallssinne als Klassifikationen kennen gelernt haben. Da wir nun alle menschliche Tätigkeit, also auch das vergleichende Klassifizieren des Gedächtnisses (der Sprache), auf irgend ein Lustgefühl oder ein Interesse zurückzuführen suchen, so ist es nett, daß uns auch da eine ebenso alte Redensart zu Hilfe kommt.

 Similis simili gaudet,  das Ähnliche freut sich des Ähnlichen. Fassen wir den Gedanken streng in der Anwendung auf das Denken, so müssen wir beachten, daß die Freude ähnlicher Tiere oder Menschen, z.B. in der Geschlechtsvermischung, gegenseitig sein kann, daß aber in der Aufeinanderfolge von Sinneseindrücken immer nur der folgende etwas wie ein Lustgefühl in Bezug auf den vorangehenden hervorrufen kann. Im Wiedererkennen ist ein Gefühlston des Interesses. Wir begreifen danach, daß der Organismus, von der Amöbe bis zum Menschen, ein Interesse daran hat, Ereignisse jeder Art, die komplizierten Gesichtszüge eines Freundes so gut wie die regelmäßigen Stöße von Wärmeschwingungen vergleichend zu klassifizieren, zu benennen, und so zu dem zu gelangen, was wir Welterkenntnis nennen, was aber immer nur Empfindung von Ähnlichkeiten ist.

Seltsam ist es dabei, daß das deutsche Wort "ähnlich" neueren Ursprungs ist. Vielleicht ist es (was ich nicht nachweisen kann) eine Übersetzung von  similis,  das von  semel  herstammt, "einlich". (Das französische  ressembler, ressemblant,  geht auf similare oder simulare = ähnlich machen zurück; eine Anknüpfung des deutschen Wortes ist aber weder an die lateinische noch an die italienische Form belegt.) Vielleicht ist es aber doch, wie einmal vermutet worden ist, ein verdorbenes "analogon", volksetymologisch mit  Ahn  in Zusammenhang gebracht, wo denn freilich in dem Worte "ähnlich" schon der Grund aller Ähnlichkeit mit hineingeheimnist wäre. Die Bedeutungsgeschichte des Wortes wird noch schwieriger, wenn man erwägt, daß  similis  einst durch "gleich" übersetzt wurde, daß im Althochdeutschen "gelîh" für "ähnlich" überwiegt und mundartlich wohl ein "einlich" für gleich noch heute vorkommt. Etymologisch ist "gleich" = einen ähnlichen Körper, eine ähnliche Gestalt habend (ge-Leiche). Ich versage es mir, näher auf eine andere Analogie, Ähnlichkeit, Gleichheit einzugehen. Das berühmte indische Maya findet sich nämlich, soweit meine Kenntnisse eine solche kleine Entdeckung zulassen, häufig (wie ich schon vorher einmal kurz angedeutet habe) als Endsilbe, genau wie like (Gestalt) als -  lich.  (vijnanamaya Atman =erkenntnisartiges, wissentliches Selbst; manomaya Brahman=etwa gemütliches Wissen). Es ist also Maya, was Ähnlichkeit vorgaukelt. Ich bin unsicher, weil der Gedanke fast zu geistreich ist.

Die Ähnlichkeit dürfte noch einmal die wichtigste Rolle in der Psychologie spielen. Vielleicht hat man die Ähnlichkeit bisher instinktiv darum vernachlässigt, weil man sonst zu früh hätte einsehen müssen, wie tief unser logisches oder sprachliches Wissen unter unseren wissenschaftlichen Ansprüchen stehe, wie weit entfernt unsere Begriffsbildung von mathematischer Genauigkeit sei; denn unsere Sprachbegriffe beruhen auf Ähnlichkeit, die mathematischen Formeln auf Gleichheit.

Die Ähnlichkeit ist entscheidend für uns, wenn sich Vorstellungen in unserem Gedächtnis zu Begriffen verbinden. So wie auch daß schärfste Malerauge das Gesicht nicht im Gedächtnis behält, das es nur eine kurze Zeit gesehen hat, so wie also alle Gesichtsvorstellungen Lücken haben, so wie wir beim Anhören eines Vortrags nur ungefähr an unser Ohr schlagen hören, was den Mund des Redners verläßt, so wie wir uns die ungefähren Gehörseindrücke nach ähnlichen Erinnerungen ergänzen (und viel öfter, als wir glauben, falsch ergänzen), so decken sich ähnliche Vorstellungen allmählich unklar zu Begriffen. Wenn wir zahlreiche und recht ähnliche Bilder derselben Blume schließlich als Begriff  Anemone  zusammenfassen, und wenn wir die unähnlichen anderen Blumen schließlich nach zufälligen oder natürlichen Gesichtspunkten als Begriff  Blume  zusammenfassen, so ist hier wie dort ganz volkstümlich und unwissenschaftlich die Ähnlichkeit entscheidend. Unsere ganze Klassifikation der Natur, also unsere ganze Sprache ist begründet auf das wechselnde Spiel von Ähnlichkeiten, von denen wir fast niemals wissen, ob sie zufällige oder ererbte Ähnlichkeiten sind. So wenig ein fest umschriebenes Erbrecht sich auf das lustige Spiel von Ähnlichkeiten gründen ließe, wonach dann diejenigen die Erben eines Mannes würden, die ihm nach dem Urteil des Stadtklatsches ähnlich sehen, ebensowenig kann also aus der volkstümlichen Sprache eine richtige Naturanschauung, eine natürliche Entwicklungsgeschichte herausgezogen werden.

Dabei möchte ich aber behaupten, daß diese bloße Ähnlichkeit, d.h. die wissenschaftliche oder mathematische Unvergleichlichkeit der Dinge erst unser Sprechen oder Denken möglich gemacht hat, daß also erst die Lücken unserer Vorstellungen, die Fehler unserer Sinneswerkzeuge unsere Sprache gebildet haben. Es ist also ganz was anderes, wenn ich mit verzweifeltem Lachen alle Ähnlichkeit auf das kranke Wesen der armen Sprache zurückführe, und ganz was anderes, wenn ein Schüler von WUNDT (Philos. Stud. V, 8. 135) alles Wiedererkennen ein Wiedererkennen durch Namen sein läßt; wie es nicht dasselbige ist, ob ich die Götter bloße Namen nenne oder ob ein Kabbalist mit Hilfe der Götternamen Wunder verrichten will. Würde unser Gehirn von Natur auch nur annähernd so genau arbeiten wie Mikroskop, Präzisionsthermometer, Chronometer und andere menschliche Werkzeuge, würden wir von jedem Einzelding ein so scharfes Bild auffassen und im Gedächtnis behalten, dann wäre die begriffliche Sprache vielleicht unmöglich. Es wäre uns dann einfach versagt, den Begriff  Anemone  zu bilden; die einzelnen Anemonen wären einander zu unähnlich.

Vielleicht sehen Insekten so scharf und können darum im Denken keine Fortschritte machen. Im Ernst, die ganze Begriffsbildung der Sprache wäre nicht möglich, wenn wir nicht unter lauter lückenhaften Bildern umhertappten, eben wegen der Lückenhaftigkeit die Ähnlichkeit überschätzten und so aus der Not eine Tugend machten. Je weniger wir von etwas wissen, desto leichter werden wir von Ähnlichkeiten "frappiert". Wir können, wenn wir nicht Fachleute sind, gleichfarbige Pferde oder Schafe kaum unterscheiden; wir halten Individuen eines asiatischen oder afrikanischen Volksstammes untereinander für weit ähnlicher als uns. Alle Neger, alle Chinesen sind - für uns einander zum Verwechseln ähnlich, gleich. Der Germane findet alle Juden einander ähnlich. Darum ist es für den Zeichner so leicht, das typische Bild eines Chinesen, eines Negers - für uns - zu schaffen. Eines Engländers, eines Deutschen für den Franzosen. Ich habe sogar einmal die Wirkung von Wissen und Unwissenheit an meinem Hunde Wolf beobachtet. Wolf betritt mit mir einen Raum, in dem lebensgroße plastische Bilder einer Katze und eines Hundes aufgestellt waren. Wolf knurrt die Katze an; weil er sie weniger kennt, läßt er sich täuschen, verwechselt Bild und Natur, sie sind ihm gleich; den Hund kennt er besser, er läßt sich nicht täuschen.

So gebrauchen wir überhaupt Ähnlichkeitsbilder oder Worte umso leichter, je unwissender wir sind. So ist also die menschliche Sprache eine Folge davon, daß die menschlichen Sinne nicht scharf sind. Es ist nicht der einzige Fall, wo gerade die Lücken oder Löcher in unserem Wissen ihm dienlich sind; besäße die schützende Haut keine Poren, so wäre sie dem Organismus tödlich. Ein geübter Leser wird zu seinem Behagen von Druckfehlern nicht gestört, weil sein Auge die Zeilen nur à peu près (fast) überfliegt und das Gehirn sich die Lücken nach ungefähren Ähnlichkeiten ergänzt; der Korrektor wird umsoweniger auf den Inhalt achten, als er die Druckfehler sieht.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906