p-4p-4ra-1ra-2Th. KehrTh. ElsenhansA. SteenbergenJ. JeansF. Mauthner    
 
HENRI BERGSON
Zeit und Freiheit
[Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen]
[2/2]

"In dem Maß, wie eine Empfindung ihren affektiven Charakter verliert, um in den Zustand der Vorstellung überzugehen, haben die Reaktionsbewegungen die sie unsererseits hervorrief, die Tendenz zu erlöschen; aber dafür gewahren wir das äußere Objekt, das die Ursache von ihr ist, oder, wenn wir es nicht gewahren, so haben wir es bereits wahrgenommen und denken jetzt nur mehr daran. Nun ist diese Ursache extensiv und folglich meßbar: eine Erfahrung, die wir jeden Augenblick machen, die mit dem ersten Aufleuchten unseres Bewußtseins begonnen hat und während unserer gesamten Existenz unausgesetzt fortdauert, lehrt uns, daß eine bestimmte Schattierung der Empfindung einer bestimmten Abstufung des Reizes entspricht. Wir assoziieren demnach mit einer gewissen Qualität der Wirkung die Vorstellung einer gewissen Quantität der Ursache; und zuletzt verlegen wir, wie es bei allen erworbenen Perzeptionen der Fall ist, die Vorstellung in die Empfindung, die Quantität der Ursache in die Qualität der Wirkung. In demselben Augenblick wird die Intensität, die bis dahin nur eine gewisse Schattierung oder Qualität der Empfindung war, zu einer Größe."

"Je mehr unsere Kenntnisse zunehmen, je mehr wir hinter dem Intensiven das Extensive und hinter der Qualität die Quantität gewahr werden, desto mehr sind wir geneigt, das erste Moment in das zweite zu verlegen und unsere Empfindungen wie Größen zu behandeln. Die Physik, die gerade die Aufgabe hat, die äußere Ursache unserer inneren Zustände der Berechnung zu unterwerfen, gibt sich so wenig wie möglich mit diesen Zuständen selbst ab: sie wirft sie unausgesetzt und geflissentlich mit ihrer Ursache zusammen. Sie bestärkt also in dieser Hinsicht die irrtümliche Ansicht des gemeinen Verstandes und treibt sie sogar auf die Spitze."


Vorwort

Vielleicht liegt die Schwierigkeit dieses letzteren Problems hauptsächlich daran, daß man im affektiven Zustand nichts anderes erblicken will, als den bewußten Ausdruck eines organischen Reizes oder die innere Reaktion auf eine äußere Ursache. Man macht die Beobachtung, daß gewöhnlich einer größeren Reizung der Nerven eine intensivere Empfindung entspricht; indessen, da diese Reizungen, insofern sie Bewegungen sind, unbewußt erfolgen, weil sie ja im Bewußtsein unter dem Aspekt einer ihnen unähnlichen Empfindung auftreten, ist nicht einzusehen, wie sie der Empfindung von ihrer eigenen Größe etwas sollten mitteilen können. Denn, wir wiederholen, es gibt nichts Gemeinsames zwischen übereinander legbaren Größen, wie es etwa die Vibrationsamplituden sind, und Empfindungen, die keinen Raum einnehmen. Wenn es uns scheint, daß die intensivere Empfindung die Empfindung von geringerer Stärke in sich enthält, wenn sie in unseren Augen die Gestalt einer Größe annimmt, ebenso wie die organische Reizung selbst eine Größe ist, so erklärt sich das wahrscheinlich daraus, daß sie etwas vom physischen Reiz beibehält, dem sie entspricht. Und sie behält nichts davon bei, wenn sie nur die bewußte Übersetzung einer Molekularbewegung ist; denn eben weil diese Bewegung sich in die Freude- oder Schmerzempfindung übersetzt, bleibt sie, als Molekularbewegung, unbewußt.

Man kann nun aber die Frage aufwerfen, ob Lust und Schmerz, statt lediglich auszudrücken, was sich soeben im Organismus zugetragen hat oder zuträgt, wie gewöhnlich angenommen wird, nicht etwa auch ankündigen, was erfolgen wird, was dort einzutreten im Begriff ist. Es scheint allerdings recht wenig wahrscheinlich zu sein, daß die Natur, die so gründlich utilitaristisch ist, hier dem Bewußtsein die ausschließlich wissenschaftliche Aufgabe zugewiesen hat, uns über Vergangenheit und Gegenwart Auskunft zu erteilen, die doch nicht mehr von uns abhängen. Ferner wäre hervorzuheben, daß man in unmerklichen Abstufungen von den automatischen Bewegungen zu den freien aufsteigt, und daß sich diese letzteren hauptsächlich dadurch von den ersteren unterscheiden, daß sie zwischen der äußeren Handlung, die sie veranlaßt, und der beabsichtigten Reaktion, die daraufhin erfolgt, die Einschaltung einer affektiven Empfindung aufweisen. Man könnte sich sehr wohl denken, daß alle unsere Handlungen automatisch wären, und übrigens kennt man organische Wesen der verschiedensten Art, bei denen ein äußerer Reiz eine bestimmte Reaktion erzeugt, ohne daß es dabei zu einem vermittelnden Dazwischentreten des Bewußtseins käme. Wenn bei einigen bevorzugten Wesen Lust und Schmerz auftreten, so geschieht es daher wahrscheinlich zu dem Zweck, um ihrerseits einen Widerstand gegen die automatische Reaktion zu schaffen, die andernfalls eintreten würde; die Empfindung ist entweder unerklärlich oder sie ist ein Anfang der Freiheit. Wie aber vermöchte sie uns in den Stand zu setzen, der Reaktion entgegenzuwirken, die sich vorbereitet, wenn sie uns deren Natur nicht durch irgendein bestimmtes Zeichen verraten würde? Und worin sonst könnte dieses Zeichen bestehen, als im Entwurf und sozusagen in der Präformation der folgenden automatischen Bewegungen unmittelbar in der aufgenommenen Empfindung selbst? Der affektive Zustand hat also nicht bloß den Reizungen, Bewegungen oder physischen Phänomenen zu entsprechen, die stattgefunden haben, sondern obendrein und hauptsächlich denen, die in Vorbereitung sind, die erst zum Dasein gelangen wollen.

Zwar ist zunächst nicht recht einzusehen, wieso diese Hypothese das Problem vereinfachen könnte. Denn wir suchen das was ein physisches Phänomen und ein Bewußtseinszustand unter dem Gesichtspunkt der Größe gemeinsam haben, und es scheint als werde die Schwierigkeit nur umgekehrt, wenn man den gegenwärtigen Bewußtseinszustand zu einem Hinweis auf die kommende Reaktion macht, statt zur psychischen Übersetzung des vergangenen Reizes. Die beiden Hypothesen unterscheiden sich aber beträchtlich. Denn die molekularen Reize, von denen soeben die Rede war, sind notwendig unbewußt, da ja von diesen Bewegungen als solchen in den Empfindungen, die ihre Übersetzung sind, nichts fortbestehen kann. Doch die automatischen Bewegungen, die die Tendenz haben, dem Reiz zu folgen und als seine natürliche Fortsetzung gelten können, sind wahrscheinlich als Bewegungen bewußt; andernfalls wäre die Empfindung selbst, der die Rolle zufällt, uns zu einer Wahl zwischen jener automatischen Reaktion und anderen möglichen Bewegungen zu bestimmen, nicht zu erklären. Die Intensität der affektiven Empfindungen wäre also nichts als unser Bewußtsein von den unwillkürlichen Bewegungen, die in jenen Zuständen ihren Ursprung nehmen, sich dort irgendwie im Voraus einzeichnen und ihren freien Lauf nehmen würden, wenn die Natur uns zu Automaten gemacht hätte statt zu bewußten Wesen.

Ist diese Schlußfolgerung begründet, so darf ein Schmerz von zunehmender Intensität nicht mit dem Ton einer Skala verglichen werden, der immer stärker wird, sondern eher mit einer Symphonie, bei der sich eine wachsende Zahl von Instrumenten zu Gehör bringt. Im Innern der charakteristischen Empfindung, die für alle anderen den Grundton abgibt, fühlt das Bewußtsein, eine mehr oder weniger beträchtliche Mannigfaltigkeit von Empfindungen, die von verschiedenen Punkten der Peripherie ausgehen, Muskelkontraktionen und organische Bewegungen aller Art: das Konzert dieser elementaren psychischen Zustände drückt die neuen Bedürfnisse des Organismus aus angesichts der ihm angesonnenen neuen Situation. Mit anderen Worten, wir taxieren die Intensität eines Schmerzes nach dem Interesse, das ein mehr oder weniger großer Teil des Organismus daran zu nehmen sich veranlaßt sieht. RICHET (11) hat beobachtet, daß man seine Schmerzempfindung umso bestimmter lokalisiert, je schwächer der Schmerz ist: wird er stärker, so bezieht man ihn auf das ganze in Mitleidenschaft gezogene Glied. Und er schließt mit der Bemerkung, daß "der Schmerz in dem Maß weiter ausstrahlt, wie er an Intensität zunimmt." (12) Wir meinen, dieser Satz muß umgekehrt und gerade die Intensität des Schmerzes durch die Zahl und Ausdehnung der in Mitleidenschaft gezogenen und im Angesicht des Bewußtseins reagierenden Körperteile definiert werden. Um sich davon zu überzeugen, wird es genügen, die bemerkenswerte Schilderung zu lesen, die derselbe Verfasser vom Ekel gibt.
    "Wenn der Reiz schwach ist, kommt es zu keinem Übelsein und zu keinem Erbrechen ... Wird er stärker, so beschränkt er sich nicht auf den Lungen- und Magennerv, sondern strahlt weiter aus und erstreckt sich beinahe auf das gesamte System des Organismus. Das Gesicht wird blaß, die glatten Hautmuskeln ziehen sich zusammen, die Haut bedeckt sich mit kaltem Schweiß, der Herzschlag setzt aus. Mit einem Wort: es liegt eine allgemeine organische Störung vor, als Folge der Reizung des verlängerten Marks, und diese Störung ist der extremste Ausdruck des Ekels." (13)
Ist sie aber nichts anderes als der Ausdruck davon? Worin sonst soll denn die allgemeine Empfindung des Ekels bestehen, als in der Summe dieser elementaren Empfindungen? Und was anders ist hier unter zunehmender Intensität zu verstehen, als die immer weiter wachsende Zahl von Empfindungen, die zu den bereits apperzipierten Empfindungen hinzukommen? DARWIN hat ein packendes Bild der auf einen sich steigernden Schmerz folgenden Reaktionen gezeichnet:
    "Er treibt das Tier an, immer gewaltsamere und verschiedenartigere Anstrengungen zu machen, um der den Schmerz bewirkenden Ursache zu entkommen ... Bei intensiver Schmerzempfindung wird der Mund stark kontrahiert, die Lippen krampfen sich zusammen und die Zähne werden gegeneinander gepreßt. Bald sind die Augen weit geöffnet, bald ziehen sich die Brauen fest zusammen; der Körper ist in Schweiß gebadet; Blutzirkulation und Atmung verändern sich." (14)
Ist es nicht eben diese Kontrakion der beteiligten Muskeln, an der wir die Intensität des Schmerzes messen? Analysiert man die Vorstellung, die man sich von einer als extrem bezeichneten Schmerzempfindung macht, so versteht man doch wohl darunter, daß sie unerträglich ist, d. h., daß sie den Organismus zu den allerverschiedensten Tätigkeiten reizt, um ihr zu entkommen. Man begreift zwar, daß ein Nerv einen Schmerz übertragen kann, der von jeder automatischen Reaktion unabhängig ist: man begreift auch, daß mehr oder weniger starke Reize diesen Nerv verschieden beeinflussen. Aber diese Unterschiede der Empfindung würden von unserem Bewußtsein niemals als quantitative gedeutet werden, wenn man nicht die mehr oder weniger ausgedehnten, mehr oder weniger einschneidenden Reaktionen damit in Verbindung brächte, die sie zu begleiten pflegen. Ohne diese nachträglich eintretenden Reaktionen wäre die Intensität des Schmerzes eine Qualität und keine Größe.

Um mehrere Lustempfindungen untereinander zu vergleichen steht uns kein anderes Mittel zur Verfügung. Was ist eine größere Lustempfindung anderes als eine bevorzugte Lust? Und was kann unsere Bevorzugung anderes sein, als eine gewisse Disposition unserer Organe, die bewirkt, daß, während zwei Lustempfindungen sich gleichzeitig unserem Gemüt anbieten, unser Körper sich der einen mehr geneigt zeigt? Man analysiere diese Neigung selbst und man wird unzählige kleine Bewegungen finden, die in den beteiligten Organen beginnen und sich dort und sogar in den übrigen Teilen des Leibes präformieren, gleich als ob der Organismus der vorgestellten Lust entgegen gehen würde. Man gebraucht keine Metapher, wenn man die Neigung als Bewegung definiert. Angesichts mehrerer vom Verstand aufgefaßter Lustempfindungen orientiert sich unser Körper spontan, wie durch eine Reflextätigkeit in der Richtung auf eine unter ihnen. Von uns hängt es ab, eine Hemmung herbeizuführen; doch die Anziehungskraft der Lust ist nichts anderes, als diese begonnene Bewegung, und die Heftigkeit der Lust selbst während des Genusses liegt in der  vis inertia [Kraft der Trägheit - wp] des Organismus, der in ihr versinkt und jede andere Empfindung zurückweist. Ohne diese  vis inertiae,  die uns durch das Widerstreben gegenüber ablenkenden Einflüssen bewußt wird, wäre die Lust wiederum ein Zustand und keine Größe. Im Geistigen wie im Physischen dient die Attraktion mehr zur Erklärung der Bewegung, als zu ihrer Erzeugung.

Wir haben die affektiven Empfindungen gesondert untersucht. Richten wir nunmehr unser Augenmerk darauf, daß auch viele vorstellungsmäßige Empfindungen einen affektiven Charakter haben und auf diese Weise eine Reaktion unsererseits hervorrufen, die wir bei der Einschätzung ihrer Intensität in Anrechnung bringen! Eine beträchtliche Lichtvermehrung übersetzt sich für uns durch eine charakteristische Empfindung, die noch kein Schmerz ist, die aber Analogien mit dem Geblendetsein aufweist. In dem Maße, wie die Amplitude einer Klangvibration zunimmt, kommt es uns vor, als wenn unser Kopf, dann unser Leib vibrieren oder eine Erschütterung erfahren würde. Gewisse vorstellungsmäßige Empfindungen, die des Geschmacks, des Geruchs und der Temperatur, haben sogar beständig einen angenehmen oder unangenehmen Charakter. Zwischen mehr oder weniger bitteren Geschmäcken wird man schwerlich andere als qualitative Unterschiede ausfindig machen können; sie sind wie die Tönungen ein und derselben Farbe. Doch diese Qualitätsdifferenzen werden sogleich als Quantitätsdifferenzen gedeutet wegen ihres affektiven Charakters und der mehr oder weniger ausgesprochenen Reaktionsbewegungen, ob aus Lust oder Unlust, die sie uns suggerieren. Überdies kann, selbst wenn die Empfindung rein vorstellungsmäßig bleibt, ihre äußere Ursache einen gewissen Stärke- oder Schwächegrad nicht überschreiten, ohne unsererseits Bewegungen hervorzurufen, die uns dazu dienen, sie zu messen. Bald müssen wir nämlich eine Anstrengung machen, um eine solche Empfindung wahrzunehmen, wie wenn sie sich verbergen wollte; bald dringt sie umgekehrt auf uns ein, drängt sich uns auf und nimmt uns derartig in Beschlag, daß wir aller Anstrengung bedürfen, uns von ihr zu befreien und uns zu behaupten. Im ersteren Fall nennt man die Empfindung wenig intensiv und im letzteren sehr intensiv. So z. B. spannen wir, um einen Ton in der Ferne wahrzunehmen, um einen sogenannten schwachen Geruch oder ein schwaches Licht zu unterscheiden, unsere Aktivität an, wir "sind aufmerksam". Und Geruch und Licht erscheinen uns in diesem Fall eben deshalb als schwach, weil sie unserer Anstrengung bedürfen, um an Stärke zu gewinnen. Umgekehrt erkennen wir die Empfindung extremer Intensität an den unwiderstehlichen automatischen Reaktionsbewegungen, die sie in uns hervorruft, oder an der Widerstandslosigkeit, zu der sie uns niederwirft. Ein Kanonenschuß, der an unserem Ohr abgefeuert wird, ein blendendes Licht, das plötzlich aufleuchtet, nehmen uns einen Augenblick lang das Bewußtsein unseres Selbst, und bei einem dazu disponierten Menschen kann dieser Zustand sogar längere Zeit andauern. Man muß hinzufügen, daß wir sogar auf dem Gebiet der sogenannten mittleren Intensitäten, in Fällen also, wo wir der vorstellungsmäßigen Empfindung völlig gewachsen sind, ihre Wichtigkeit oft dadurch erkennen, daß wir sie mit einer anderen vergleichen, die sie verdrängt, oder indem wir die Hartnäckigkeit beachten, mit der sie sich immer wieder einstellt. So erscheint das Ticken einer Uhr nachts tonstärker, weil es ohne weiteren Widerstand ein beinahe empfindungs- und vorstellungsleeres Bewußtsein in Beschlag nimmt. Ausländer, die untereinander eine uns unverständliche Sprache reden, machen auf uns den Eindruck, als sprächen sie sehr laut, weil ihre Worte, die in unserem Geist keine Vorstellungen wachrufen, mitten in einer Art intellektueller Bewußtlosigkeit an unser Ohr dringen und wie das Ticken einer Uhr zur Nachtzeit unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Jedoch berühren wir mit diesen sogenannten mittleren Empfindungen schon eine Reihe psychischer Zustände, deren Intensität eine neue Bedeutung haben muß. Denn meistenteils reagiert der Organismus soviel wie gar nicht, jedenfalls nicht in deutlich wahrnehmbarer Weise und gleichwohl machen wir eine Tonhöhe, eine Lichtintensität, einen Sättigungsgrad der Farbe zu einer Größe. Zweifellos verspricht uns die genaue Beobachtung dessen, was sich im ganzen Umkreis des Organismus vollzieht, wenn wir diesen oder jenen Ton hören, diese oder jene Farbe sehen, noch allerhand Überraschungen: hat uns doch CHARLES FÉRÉ gezeigt, daß jede Empfindung von einer Steigerung der Muskelkraft begleitet ist, die sich durch einen Dynamometer messen läßt (15). Wie dem aber auch sei, diese Steigerung fällt dem Bewußtsein nicht auf, und wenn man an die Genauigkeit denkt, mit der Töne und Farben, ja sogar Gewichte und Wärmegrade unterschieden werden, wird man leicht erraten können, daß hier ein neues Element der Einschätzung mit ins Spiel kommen muß. Die Natur dieses Elements ist übrigens leicht zu bestimmen.

In dem Maß nämlich, wie eine Empfindung ihren affektiven Charakter verliert, um in den Zustand der Vorstellung überzugehen, haben die Reaktionsbewegungen die sie unsererseits hervorrief, die Tendenz zu erlöschen; aber dafür gewahren wir das äußere Objekt, das die Ursache von ihr ist, oder, wenn wir es nicht gewahren, so haben wir es bereits wahrgenommen und denken jetzt nur mehr daran. Nun ist diese Ursache extensiv und folglich meßbar: eine Erfahrung, die wir jeden Augenblick machen, die mit dem ersten Aufleuchten unseres Bewußtseins begonnen hat und während unserer gesamten Existenz unausgesetzt fortdauert, lehrt uns, daß eine bestimmte Schattierung der Empfindung einer bestimmten Abstufung des Reizes entspricht. Wir assoziieren demnach mit einer gewissen Qualität der Wirkung die Vorstellung einer gewissen Quantität der Ursache; und zuletzt verlegen wir, wie es bei allen erworbenen Perzeptionen der Fall ist, die Vorstellung in die Empfindung, die Quantität der Ursache in die Qualität der Wirkung. In demselben Augenblick wird die Intensität, die bis dahin nur eine gewisse Schattierung oder Qualität der Empfindung war, zu einer Größe. Man kann sich dieses Fortschritts leicht vergewissern, wenn man z. B. in die rechte Hand eine Stecknadel nimmt uns sich damit immer tiefer in die linke Hand sticht. Zuerst wird etwas wie ein Kitzeln empfunden. darauf eine Berührung, der ein Stich folgt, sodann ein auf einen Punkt lokalisierter Schmerz und schließlich eine Ausstrahlung des Schmerzes in die umgebende Zone. Je mehr man darüber nachdenkt, umso deutlicher wird man einsehen, daß man es hier mit lauter verschiedenen qualitativen Empfindungen zu tun hat, mit lauter Varianten derselben Art. Dennoch redete man eben noch von ein und derselben Empfindung, die immer weiter um sich greift, von einem immer intensiveren Stich. Man lokalisierte eben, ohne darauf zu achten, in der Empfindung der gestochenen linken Hand die progressive Anstrengung der den Stich ausführenden Rechten. Man verlegte also die Ursache in die Wirkung und deutete ohne es zu wissen die Qualität in Quantität, die Intensität in Größe um. Es ist leicht einzusehen, daß die Intensität jeder vorstellungsmäßigen Empfindung auf dieselbe Art und Weise zu verstehen ist.

Die Tonempfindungen liefern uns sehr deutliche Gradabstufungen der Intensität. Wir haben bereits gesagt, daß man den affektiven Charakter dieser Empfindungen und die von der Gesamtheit des Organismus empfangene Erschütterung in Betracht ziehen muß. Wir haben nachgewiesen, daß ein sehr intensiver Ton ein solcher ist, der unsere ganze Aufmerksamkeit fesselt und alle andern verdrängt. Man abstrahiere aber von jener Erschütterung, jener deutlich charakterisierten Vibration, die man zuweilen im Kopf oder sogar am ganzen Körper verspürt; man abstrahiere von der gegenseitigen Konkurrenz gleichzeitiger Töne: was bleibt dann noch übrig außer einer undefinierbaren Qualität des vernommenen Tones? Nur wird diese Qualität alsbald in Quantität umgedeutet, da man sie ja ungezählte Male selbst erzielt hat, indem man z. B. auf einen Gegenstand schlug und dadurch ein bestimmtes Quantum von Anstrengung leistete. Man weiß auch, bis zu welchem Grad man seine Stimme anschwellen lassen müßte, um einen analogen Ton hervorzubringen, und die Vorstellung von dieser Anstrengung stellt sich in dem Augenblick ein, wo man die Tonintensität zur Größe macht. WUNDT (16) hat auf die ganz besonderen Verbindungen der Stimmnervenfasern und Gehörsnervenfasern aufmerksam gemacht, die sich im Gehirn des Menschen vollziehen. Und ist doch gesagt worden, daß hören zu sich selbst sprechen heißt. Gewisse Neuropathen können einem Gespräch nicht beiwohnen, ohne die Lippen zu bewegen; das ist nur eine Steigerung dessen, was bei uns Allen geschieht. Ließe sich das Ausdrucksvermögen oder vielmehr die Suggestionskraft der Musik begreifen, wenn man nicht zugäbe, daß wir innerlich die gehörten Töne wiederholen, so daß wir uns in den psychologischen Zustand hinein- und zurückversetzen, aus dem sie hervorgegangen sind, in einen ursprünglichen Zustand also, der sich nicht näher bestimmen läßt, den uns aber die vom ganzen Körper angenommenen Bewegungen suggerieren?

Wenn wir von der Intensität eines Tones mittlerer Stärke reden wie von einer Größe, spielen wir demnach vor allem auf die größere oder geringere Anstrengung an, die wir zu leisten hätten, wenn wir uns dieselbe Gehörsempfindung wieder schaffen wollten. Neben der Intensität unterscheiden wir jedoch noch eine andere charakteristische Eigenschaft des Tons, die Höhe. Sind nun die Höhenunterschiede, wie unser Ohr sie wahrnimmt, quantitative Unterschiede? Wir geben zu, daß ein höherer Ton das Bild einer höheren räumlichen Lage hervorruft. Aber folgt etwa daraus, daß die Noten der Tonleiter, als Gehörsempfindungen betrachtet, sich anders als der Qualität nach unterscheiden? Vergessen wir, was wir in der Physik gelernt haben, und prüfen wir sorgfältig die Vorstellung, die wir von einer höheren oder tieferen Note haben, so denken wir doch wohl ganz einfach an die geringere oder größere Anstrengung, die der Spannmuskel der Stimmbänder leisten mußte, um diese Note seinerseits hervorzubringen. Da die Anstrengung, durch die Stimme von einer Note zur nächsten übergeht, diskontinuierlich ist, stellen wir uns diese sukzessiven Noten wie Punkte im Raum vor, die man einen nach dem andern in Einzelsprüngen erreicht, indem man dabei jedesmal ein leeres Intervall überschreitet: und das eben ist der Grund, weswegen wir zwischen die Noten der Tonleiter Intervalle setzen. Es fragt sich allerdings noch, weshalb die Linie, auf der wir sie stufenweise aufbauen, vertikal und nicht vielmehr horizontal ist, und weshalb wir sagen, daß der Ton in einigen Fällen steigt und in anderen fällt. Es ist unbestreitbar, daß uns die hohen Töne Resonanzwirkungen im Kopf und die tiefen solche im Brustkorb zu erzeugen scheinen: diese Wahrnehmung, mag sie nun auf Wirklichkeit oder auf Einbildung beruhen, hat zweifellos dazu beigetragen, daß wir die Intervalle vertikal zählen. Auch ist zu erwähnen, daß, je mehr bei der Bruststimme die Spannung der Stimmbänder zunimmt, der ungeübte Sänger die beteiligte Körperoberfläche sich umso mehr ausdehnen läßt, denn eben aus diesem Grund empfindet er die Anstrengung als eine intensivere. Und da er die Luft von unten nach oben ausatmet, wird er dem Ton dieselbe Richtung zuschreiben, die der Luftzug einschlägt; die Mittätigkeit eines größeren Teils seines ganzen Körpers mit den Stimmmuskeln wird also durch eine Bewegung von unten nach oben zum Ausdruck gelangen. Wir sagen alsdann, die Note sei höher, weil der Körper eine Anstrengung macht, gleich als wollte er einen Gegenstand erreichen, der im Raum höher gelegen ist. Auf diese Art hat sich die Gewohnheit eingebürgert, jeder Note der Tonleiter eine Höhe zuzuweisen, und von dem Tag an, wo der Physiker sie durch die Zahl der ihr innerhalb einer gegebenen Zeit entsprechenden Vibrationen definieren konnte, haben wir nicht mehr gezögert zu sagen, daß unser Ohr unmittelbar Quantitätsunterschiede wahrnimmt. Der Ton aber bliebe reine Qualität, wenn wir die Muskelanstrengung, die ihn hervorrufen soll, oder die Vibration, die ihn erklärt, nicht in ihn hineintrügen.

Die neuesten Experimente von BLIX, GOLDSCHEIDER und DONALDSON (17) haben gezeigt, daß Kälte und Wärme nicht von denselben Punkten der Körperoberfläche empfunden werden. Die Physiologie ist daher jetzt geneigt, zwischen den Empfindungen von Wärme und Kälte einen Unterschied der Natur und nicht mehr bloß des Grades aufzustellen. Doch die psychologische Beobachtung geht noch weiter; ein aufmerksames Bewußtsein würde nämlich leicht spezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen Empfindungen von Wärme antreffen, wie auch zwischen den Empfindungen von Kälte. Eine intensivere Wärme ist wirklich eine andere Wärme. Wir nennen sie intensiver, weil wir ungezählte Male dieselbe Veränderung erfahren haben, wenn wir uns einer Wärmequelle näherten, oder wenn ein größerer Teil der Körperoberfläche ihrem Eindruck ausgesetzt war. Zudem werden Wärme- und Kälteempfindungen sehr schnell affektiv, und rufen dann unsererseits mehr oder weniger ausgesprochene Reaktionen hervor, je nach Maßgabe der äußeren Ursache: und natürlich machen wir dann analoge quantitative Unterschiede zwischen den Empfindungen, die den unterschiedlichen Stärkegraden dieser Ursache entsprechen. Wir wollen nicht weiter hierauf eingehen; jeder befrage sich sorgfältig über diesen Punkt, indem er alles, was die vergangene Erfahrung ihn über die Ursache der Empfindung gelehrt hat, in seinem Gedächtnis auslöscht und sich der Empfindung als solcher unmittelbar gegenüberstellt. Das Ergebnis dieser Prüfung erscheint uns nicht zweifelhaft: man wird sich alsbald überzeugen, daß die Größeneigenschaft der vorstellungsmäßigen Empfindung daher kommt, daß man die Ursache in die Wirkung verlegt, und daß die Intensität des affektiven Elements daraus entspringt, daß man in die Empfindung die mehr oder weniger bedeutenden Reaktionsbewegungen einbezieht, in die der äußere Reiz sich fortsetzt. Dieselbe Untersuchung möchten wir für die Druck- und selbst Gewichtsempfindungen angestellt wissen. Sagt man, ein auf die Hand ausgeübter Druck werde immer stärker, so sehe man zu, ob dabei nicht etwa vorgestellt wird, daß die Berührung zum Druck, dieser zum Schmerz geworden ist, und daß der Schmerz wieder, nachdem er mehrere Phasen durchlaufen, sich der Umgebung mitgeteilt hat. Man beachte außerdem und insbesondere, ob man nicht die immer intensiver d. h. ausgedehnter werdende, widerstrebende Kraftanstrengung mit einbezogen hat, die dem äußeren Druck entgegengesetzt wird. Wenn der Psychophysiker ein schwereres Gewicht hebt, so nimmt er, wie er behauptet, ein Anwachsen der Empfindung wahr. Man prüfe nun, ob dieses Anwachsen der Empfindung nicht vielmehr eine Empfindung des Anwachsens genannt werden muß. Die ganze Frage dreht sich um diesen Punkt; denn im ersteren Fall wäre die Empfindung eine Quantität, wie ihre äußere Ursache, im zweiten eine Qualität, die für die Größe ihrer Ursache stellvertretend geworden ist. Die Unterscheidung von schwer und leicht könnte wohl als ebenso rückständig und als ebenso naiv erscheinen, wie die zwischen warm und kalt. Aber gerade die Naivität dieser Unterscheidung macht sie zu einer psychologischen Tatsächlichkeit. Das Schwere und das Leichte bedeuten für unser Bewußtsein nicht nur verschiedene Gattungen, sondern die Grade der Leichtigkeit und Schwere sind ihrerseits wieder Arten dieser beiden Gattungen. Dabei ist hinzuzufügen, daß der Qualitätsunterschied sich hier spontan in einen Qualitätsunterschied übersetzt, wegen der mehr oder weniger ausgedehnten Kraftanstrengung, die der Körper aufbietet, um ein gegebenes Gewicht empor zu heben. Man kann jedermann leicht davon überzeugen, wenn man ihn auffordert, einen Korb empor zu heben, von dem man ihm sagt, er sei mit Eisenzeug angefüllt, während er tatsächlich leer ist. Er wird das Gleichgewicht zu verlieren meinen, wenn er ihn anfaßt, als hätten entferntere Muskeln sich im Voraus für die Arbeitsleistung bereitgehalten und erführen nun eine plötzliche Enttäuschung. Hauptsächlich die Zahl und die Natur dieser sympathetischen Kraftanstrengungen, die sich an verschiedenen Stellen des Organismus vollziehen, geben den Maßstab ab für die Empfindung der Schwere an einem gegebenen Punkt; und diese Empfindung wäre nichts anderes, als eine Qualität, führte man nicht auf diese Weise die Vorstellung einer Größe ein. Was übrigens die Täuschung in diesem Punkt bestärkt, ist die eingewurzelte Gewohnheit, an die unmittelbare Perzeption einer homogenen Bewegung im homogenen Raum zu glauben. Wenn ich mit dem Arm ein leichtes Gewicht hebe, während der ganze übrige Körper unbewegt bleibt, habe ich eine Reihe von Muskelempfindungen, deren jede ihr "Lokalzeichen", ihre eigene Nuance hat; diese Reihe nun deutet das Bewußtsein im Sinn einer kontinuierlichen Bewegung im Raum. Wenn ich sodann ein schwereres Gewicht mit gleicher Geschwindigkeit auf dieselbe Höhe hebe, durchlaufe ich eine neue Serie von Muskelempfindungen, deren jede vom korrespondierenden Glied der vorangegangenen Reihe unterschieden ist, wovon ich mich bei genauem Zusehen mühelos überzeugen kann. Da ich aber auch diese neue Serie wieder im Sinne einer kontinuierlichen Bewegung deute, und da diese Bewegung dieselbe Richtung, dieselbe Dauer und Geschwindigkeit hat wie die vorangehende, so muß mein Bewußtsein notgedrungen den Unterschied zwischen der zweiten und ersten Empfindungsreihe anderswo lokalisieren, als in der Bewegung selbst. Es verlegt alsdann diese Differenz ans Ende des Arms, der die Bewegung ausführt; es redet sich ein, daß die Bewegungsempfindung in beiden Fällen die gleiche war, während die Gewichtsempfindung verschiedene Größen aufwies. Bewegung und Gewicht sind aber Unterscheidungen des reflektierenden Bewußtseins: das unmittelbare Bewußtsein hat gewissermaßen die Empfindung einer schwerwiegenden Bewegung, und diese Empfindung selbst löst sich bei der Analyse in eine Reihe von Muskelempfindungen auf, deren jede durch ihre Nuance den Ort ihres Vollzugs und durch ihre Färbung die Größe des gehobenen Gewichts repräsentiert.

Werden wir nun die Intensität des Lichts Quantität nennen, oder werden wir sie wie eine Qualität behandeln? Man hat vielleicht der Menge der sehr verschiedenen Elemente nicht genügend Beachtung geschenkt, die im täglichen Leben dazu beitragen, uns über die Natur der Lichtquelle zu unterrichten. Wir wissen längst, daß ein solches Licht entfernt oder am Erlöschen ist, wenn wir Mühe damit haben, uns die Umrisse und Einzelheiten der Gegenstände klar zu machen. Und ebenso hat die Erfahrung uns gezeigt, daß jene affektive Empfindung, die wir in gewissen Fällen als Vorspiel des Geblendetseins erleiden, einer höheren Kraft der Ursache beizumessen ist. Je nachdem man die Zahl der Lichtquellen vermehrt oder vermindert, heben sich die Kanten der Körper nicht in der gleichen Weise ab und ebensowenig die Schatten die sie werfen. Wir glauben jedoch, daß den Veränderungen in der Färbung, die farbige Flächen, selbst die reinen Farben des Spektrums unter dem Einfluß eines schwächeren oder helleren Lichts erleiden, eine noch größere Bedeutung zugeschrieben werden muß. In dem Maße, wie die Lichtquelle näher rückt, fällt Violett ins Bläuliche, geht Grün in Weißlichgelb und Rot in Hellgelb über. Umgekehrt geht Ultramarinblau in Violett und Gelb in Grün über, wenn sich das Licht entfernt; schließlich nähern sich rot, grün und violett dem Weißlichgelben. Diese Färbungsveränderungen sind seit einiger Zeit von Physikern beobachtet worden (18); was aber, nach unserer Meinung, ganz anders ins Gewicht fällt, ist, daß die meisten Menschen sie gar nicht beachten, es sei denn, daß sie eine besondere Aufmerksamkeit anwenden oder darauf hingewiesen werden. Entschlossen wie wir sind, die Qualitätsveränderungen als Quantitätsveränderungen zu deuten, stellen wir sofort als Prinzip auf, daß jeder Gegenstand seine eigene bestimmte und unveränderliche Farbe hat. Und wenn die Färbung der Gegenstände sich an Gelb oder Blau annähert, behaupten wir, statt zu sagen, daß wir ihre Farbe unter der Einwirkung eines Anwachsens oder einer Verminderung der Belichtung sich ändern sehen, daß diese Farbe die gleiche bleibe, daß aber unsere Empfindung der Lichtintensität zu- oder abnimmt. Abermals substituieren wir also dem von unserem Bewußtsein empfangenen qualitativen Eindruck die vom Verstand gelieferte quantitative Deutung. HELMHOLTZ hat auf ein Deutungsphänomen gleicher Art, ur ein noch verwickelteres hingewiesen:
    "Wenn man", sagt er, "aus zwei Spektralfarben Weiß zusammensetzt und die Intensitäten der zwei chromatischen Lichter im selben Verhältnis vermehrt oder vermindert, dergestalt, daß die Proportionen der Mischung gleichbleiben, so bleibt die resultierende Farbe dieselbe, obgleich das Verhältnis der Stärke der Empfindungen eine wesentliche Veränderung erfährt ... Das kommt daher, daß das Sonnenlicht, das wir am Tag als das normale Weiß betrachten, selbst analoge Modifikationen in seiner Nuance erleidet, wenn die Lichtintensität variiert." (19)
Freilich, wenn wir auch oft die Variationen der Lichtquelle nach den relativen Veränderungen der Färbung der uns umgebenden Objekte beurteilen, so trifft dies doch nicht mehr in den einfachen Fällen zu, wo ein einzelner Gegenstand, z. B. eine weiße Oberfläche sukzessiv verschiedene Belichtungsgrade durchläuft. Auf diesen letzten Punkt müssen wir besonderes Gewicht legen. Die Physik spricht nämlich von Intensitätsgraden des Lichts wie von wirklichen Größen: mißt sie sie denn nicht mit dem Photometer? Der Psychophysiker geht noch weiter: er behauptet, unser Auge schätze selbst die Lichtintensitäten ab. Es sind zunächst von DELBOEUF (20), sodann von LEHMANN und NEIGLICK (21) Experimente angestellt worden, um eine psychophysische Formel zur direkten Messung unserer Lichtempfindungen zu gewinnen. Das Resultat dieser Experimente wollen wir nicht bestreiten, auch nicht den Wert des photometrischen Verfahrens; alles aber hängt von der Deutung ab, die man dafür gibt.

Man betrachte aufmerksam ein Blatt Papier, das z. B. durch vier Kerzen beleuchtet ist und lösche nacheinander eine, zwei, drei davon aus. Man wird sagen, die Fläche bleibt weiß und ihre Helligkeit verringert sich. Man weiß ja allerdings, daß man eine Kerze ausgelöscht hat; oder weiß man es nicht, so hat man oft genug eine analoge Veränderung des Aussehens einer weißen Fläche beobachtet, wenn man die Beleuchtung verringert. Man abstrahiere jedoch von seinen Erinnerungen und Sprachgewohnheiten: was man wirklich bemerkt hat, ist nicht eine Beleuchtungsveränderung der weißen Fläche, sondern ein Schicht von Schatten, die im Augenblick des Auslöschens der Kerze über diese Fläche hingeglitten ist. Dieser Schatten ist für das Bewußtsein eine Realität so gut wie das Licht. Nannte man die ursprüngliche Fläche in all ihrer Helligkeit weiß, so verlangt das jetzt Gesehene einen anderen Namen; denn es ist etwas Anderes: es wäre, könnte man sich so ausdrücken, eine neue Nuance von Weiß. Ist es noch nötig, das übrige zu sagen? Durch unsere vergangene Erfahrung und auch durch die physikalischen Theorien sind wir gewöhnt, Schwarz als ein Fehlen oder zumindest als ein Minimum von Lichtempfindung und die sukzessiven Nuancen von Grau als abnehmende Intensitäten des weißen Lichts anzusehen. Nun, Schwarz ist für unser Bewußtsein so real wie Weiß, und die abnehmenden Intensitäten des weißen Lichts, das eine gegebene Fläche beleuchtet, wären für ein unvoreingenommenes Bewußtsein lauter verschiedene Nuancen, etwa analog den verschiedenen Farben des Spektrums. Dies wird dadurch bewiesen, daß die Veränderung in der Empfindung nicht kontinuierlich ist wie die der äußeren Ursache, daß das Licht eine Zeitlang zu- und abnehmen kann, ohne daß uns die Beleuchtung der weißen Fläche zu wechseln scheint: sie wird nämlich nur dann zu wechseln scheinen, wenn die Vermehrung oder Verminderung des äußeren Lichts ausreicht, eine neue Qualität zu erzeugen. Die Helligkeitsvariationen einer gegebenen Farbe würden sich also - abgesehen von den affektiven Empfindungen, von denen oben die Rede war - auf qualitative Veränderungen reduzieren, hätten wir nicht die Gewohnheit angenommen, die Ursache in die Wirkung zu verlegen und unseren unbefangenen Eindrücken zu substituieren, was uns Experiment und Wissenschaft lehren. Dasselbe würde von den Sättigungsgraden gelten. Wenn nämlich die verschiedenen Intensitäten einer Farbe ebensovielen verschiedenen Schattierungen zwischen dieser Farbe und dem Schwarzen entsprechen, so sind die Sättigungsgrade wie vermittelnde Schattierungen zwischen eben derselben Farbe und dem reinen Weiß. Wir würden also sagen, jede Farbe kann unter einem doppelten Aspekt betrachtet werden, nämlich vom Standpunkt des Schwarzen wie des Weißen. Das Schwarze verhielte sich zur Intensität wie das Weiße zur Sättigung.

Jetzt wird der Sinn der photometrischen Experimente begreiflich geworden sein. Eine in gewisser Entfernung eines Blatts Papier aufgestellte Kerze erleuchtet es in einer bestimmten Weise: Man verdoppelt die Entfernung und konstatiert dabei, daß vier Kerzen nötig sind, um dieselbe Empfindung zu erzielen. Hieraus wird der Schluß gezogen, daß, wenn man die Entfernung verdoppelt hätte, ohne die Intensität der Lichtquelle zu vermehren, der Beleuchtungseffekt viermal weniger beträchtlich gewesen wäre. Es liegt jedoch auf der Hand, daß es sich hier um die physikalische Wirkung und nicht um die psychologische handelt. Man kann nämlich nicht sagen, wir hätten zwei Empfindungen untereinander verglichen: wir haben uns eine einzelne Empfindung nutzbar gemacht, um zwei verschiedene Lichtquellen untereinander zu vergleichen, deren zweite das vierfache des ersten, aber zweimal so weit entfernt ist als sie. Mit einem Wort, der Physiker läßt niemals Empfindungen auftreten, die das Doppelte und Dreifache voneinander wären, sondern nur identische Empfindungen, die zwischen zwei dann eine Gleichsetzung untereinander zulassenden physikalischen Quantitäten die Vermittlungsrolle zu übernehmen haben. Die Lichtempfindung spielt hier die Rolle jener unbekannten Hilfskonstruktionen, wie sie der Mathematiker in seine Rechnungen einführt, um sie im Endresultat wieder verschwinden zu lassen.

Etwas ganz anderes ist das Objekt des Psychophysikers: er studiert die Lichtempfindung als solche und behauptet, sie zu messen. Bald wird er zu einer Integration unendlich kleiner Unterschiede fortschreiten, wie nach der Methode FECHNERs; bald wird er eine Empfindung mit einer anderen Empfindung direkt vergleichen. Diese letztere Methode, die PLATEAU und DELBOEUF zu verdanken ist, unterscheidet sich von der FECHNERschen weit weniger als man bisher glaubte; da sie aber in einem noch spezielleren Maß die Lichtempfindungen angeht, wollen wir uns zunächst mit ihr beschäftigen. DELBOEUF stellt einen Beobachter drei konzentrischen Ringen von variabler Helligkeit gegenüber. Eine sinnreiche Vorrichtung ermöglicht, jeden dieser Ringe sämtliche zwischen Weiß und Schwarz liegende Schattierungen durchlaufen zu lassen. Setzen wir den Fall, an zwei Ringen seien gleichzeitig zwei graue Töne hervorgerufen und unverändert erhalten worden; wir werden sie z. B.  A  und  B  nennen. DELBOEUF läßt nun die Tönung  C  des dritten Ringes eine Veränderung erfahren und sich vom Beobachter dagen, ob ihm in einem bestimmten Augenblick die graue Tönung  B  von den andern beiden gleichweit entfernt vorkommt. Tatsächlich kommt ein Augenblick, wo der Beobachter den Unterschied  A B  als dem Unterschied  B C  gleich erklärt, so daß man nach DELBOEUF eine Stufenleiter von Lichtintensitäten konstruieren könnte, nach der man von jeder Empfindung durch empfindbare gleiche Unterschiede zur nächsten übergehen würde: unsere Empfindungen würden demnach aneinander meßbar sein. Wir wollen DELBOEUF nicht bis in die Schlußfolgerungen begleiten, die er aus diesen interessanten Experimenten gezogen hat: die wesentliche Frage, die einzige unseres Erachtens, ist die, ob ein Unterschied  A B,  der aus den Elementen  A  und  B  besteht, wirklich einem Unterschied  B C  gleich ist, der anders zusammengesetzt ist. Wenn erst einmal festgestellt wäre, daß zwei Empfindungen gleich sein können ohne identisch zu sein, dann stünde die Psychophysik auf festem Boden. Diese Gleichheit ber scheint uns anfechtbar: in der Tat ist es leicht zu erklären, wieso eine Empfindung von Lichtintensität von zwei anderen gleich weit entfernt genannt werden kann.

Nehmen wir vorübergehend an, die Intensitätsvariationen einer Lichtquelle hätten sich seit unserer Geburt unserem Bewußtsein durch die sukzessive Wahrnemung der verschiedenen Farben des Spektrums kundgegeben. Es besteht kein Zweifel, daß uns in diesem Fall jene Farben genau wie die Noten einer Tonskala, wie die mehr oder weniger hohen Stufen einer Leiter, mit einem Wort wie Größen vorkommen würden. Andererseits würden wir jeder dieser Farben leicht ihren Platz in der Reihe anweisen können. Während nämlich die extensive Ursache in kontinuierlicher Weise variiert, verändert sich die Farbenempfindung in diskontinuierlicher Weise, indem sie von einer Nuance in eine andere Nuance übergeht. So zahlreicht auch die Nuancen zwischen zwei Farben  A  und  B  sein mögen, man wird sie in Gedanken immer zumindest im Groben zählen und sich vergewissern können, ob diese Zahl ungefähr der Zahl der Nuancen gleich ist, die  B  von einer anderen Farbe  C  trennen. In diesem letzteren Fall wird man sagen,  B  sei von  A  und von  C  gleichweit entfernt, der Unterschied sei beiderseits derselbe. Es wäre dies aber immer nur eine bequeme Deutungsweise: denn obwohl die Zahl der Zwischennuancen auf beiden Seiten gleich ist, und man von der einen zur andern ruckweise übergeht, wissen wir doch nicht, ob diese Rucke Größen, auch nicht, ob sie gleiche Größen sind: man müßte uns vor allen Dingen nachweisen können, daß die zur Messung benutzten Zwischennuancen sich gewissermaßen im Innern des gemessenen Gegenstands wiederfinden lassen. Ist dies nicht der Fall, dann kann eine Empfindung nur metaphorisch als von zwei anderen gleich weit entfernt bezeichnet werden.

Will man uns zugestehen, was wir oben von den Lichtintensitäten sagten, so wird man sich nun überzeugen, daß die uns von DELBOEUF zur Beobachtung dargebotenen verschiedenen grauen Töne, was unser Bewußtsein anlangt, Farben völlig analog sind, und daß, wenn wir einen grauen Ton für von zwei anderen grauen Tönen gleichweit entfernt erklären, dies im selben Sinne geschieht, in dem wir sagen könnten, daß z. B. Orange von Grün und Rot gleichweit entfernt ist. Der Unterschied wäre bloß der, daß in unserer ganzen bisherigen Erfahrung die Sukzession der grauen Töne stattgefunden hat und zwar bei der Gelegenheit einer progressiven Vermehrung oder Verminderung der Beleuchtung. Daher kommt es, daß wir bei den Unterschieden in den Helligkeitsgraden tun, was bei den Unterschieden der Färbung zu tun wir uns nicht einfallen lassen: wir machen Qualitätsveränderungen zu Größenvariationen. Die Messung läßt sich überdies mühelos vollziehen, weil die sukzessiven Schattierungen des Grauen, die durch eine kontinuierliche Verminderung der Belichtung herbeigeführt werden, als Qualitäten diskontinuierlich sind, und weil wir annähernd die hauptsächlichsten Zwischenstufen zählen können, welche zwei unter ihnen voneinander trennen. Der Unterschied  A B  wird somit dann als dem Unterschied  B C  gleich erklärt, wenn unsere vom Gedächtnis unterstützte Einbildungskraft beiderseits dieselbe Zahl von Ruhepunkten dazwischen einschiebt. Diese Abschätzung muß übrigens außerordentlich grob ausfallen, und es läßt sich voraussehen, daß sie je nach den Individuen beträchtliche Verschiedenheiten aufweisen wird. Besonders wird man erwarten müssen, daß die Unsicherheiten und Abweichungen in der Abschätzung umsomehr hervortreten werden, je mehr der Helligkeitsunterschied zwischen den Ringen  A  und  B  gesteigert wird; denn es wird eine immer fühlbarere Anstrengung erfordert werden, um die Zahl der eingeschalteten Töne abzuschätzen. Gerade das ist aber der Fall, und man wird sich unschwer davon überzeugen, wenn man einen Blick auf die von DELBOEUF hergestellten zwei Tafeln wirft (22). In dem Maße, wie er die Helligkeitsdifferenz zwischen dem äußeren und mittleren Ring anwachsen läßt, vermehrt sich die Abweichung zwischen den Ziffern, auf die sich der Reihe nach ein und derselbe oder verschiedene Beobachter festlegen, nahezu in kontinuierlicher Weise, von  3  auf  94,  von  5  auf  73,  von  10  auf  25,  von  7  auf  40  Grad. Lassen wir aber diese Abweichungen beiseite; nehmen wir an, die Beobachter würden mit sich selbst und untereinander bestimmen durchaus übereinstimmen: wäre damit festgestellt, daß die Gegensätze  A B  und  B C  gleich sind? Man müßte dazu erst bewiesen haben, daß zwei sukzessive Elementar-Unterschiede gleiche Quantitäten sind, und wir wissen doch nur, daß sie sukzessiv sind. Man müßte ferner bewiesen haben, daß in einem gegebenen grauen Ton sich die Tönungen tieferen Grades wiederfinden, durch die unsere Einbildungskraft zum Zweck der Abschätzung der objektiven Intensität der Lichtquelle hindurchgegangen ist. Mit einem Wort, die Psychophysik DELBOEUFs setzt ein theoretisches Postulat von höchster Wichtigkeit voraus, das sich unter dem Schein von Experimenten vergebens verbirgt, und das wir folgendermaßen formulieren möchten:
    "Wenn man die objektive Quantität des Lichtes stetig anwachsen läßt, sind die Unterschiede zwischen den sukzessiv erhaltenen grauen Tönen, Unterschiede, von denen jeder einzelne das geringste wahrgenommenene Anwachsen eines physischen Reizes zum Ausdruck bringt, unter sich gleiche Größen. Und überdies kann man eine jede beliebige einzelne von den erzielten Empfindungen der Summe der Unterschiede gleichsetzen, die von der Empfindung = Null an gerechnet die vorangegangenen Empfindungen voneinander trennen."
Nun, dies ist genau das Postulat der FECHNERschen Psychophysik. [...]

Jede Psychophysik ist schon durch ihren Ursprung dazu verurteilt, sich im Kreis zu drehen; denn das theoretische Postulat, worauf sie ruht, zwingt sie, nach einer experimentellen Bestätigung dafür zu suchen und sie kann eine experimentelle Bestätigung nicht finden, wenn man ihr nicht zuvor das Postulat zugestanden hat. Es gibt eben keinen Berührungspunkt zwischen dem Unausgedehten und dem Ausgedehnten, zwischen Qualität und Quantität. Eines läßt sich zwar durch das andere auslegen, eines zum Äquivalent des andern machen; doch früher oder später, zu Anfang oder am Ende, wird man anerkennen müssen, daß diese Gleichsetzung rein konventionellen Charakters ist. In Wahrheit hat die Psychophysik nur eine, dem gemeinen Verstand geläufige Auffassung präzise formuliert und bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt. Da wir eigentlich mehr sprechen als denken, da auch die äußeren Gegenstände, die uns allen gemeinsam sind, für uns mehr bedeuten, als die von uns erlebten subjektiven Zustände, haben wir allen Grund, diese Zustände zu objektivieren, indem wir soweit wie möglich die Vorstellung ihrer äußeren Ursache in sie hineintragen. Und je mehr unsere Kenntnisse zunehmen, je mehr wir hinter dem Intensiven das Extensive und hinter der Qualität die Quantität gewahr werden, desto mehr sind wir geneigt, das erste Moment in das zweite zu verlegen und unsere Empfindungen wie Größen zu behandeln. Die Physik, die gerade die Aufgabe hat, die äußere Ursache unserer inneren Zustände der Berechnung zu unterwerfen, gibt sich so wenig wie möglich mit diesen Zuständen selbst ab: sie wirft sie unausgesetzt und geflissentlich mit ihrer Ursache zusammen. Sie bestärkt also in dieser Hinsicht die irrtümliche Ansicht des gemeinen Verstandes und treibt sie sogar auf die Spitze. Der Zeitpunkt konnte daher nicht ausbleiben, wo die Wissenschaft, gewöhnt wie sie ist an die Vermengung von Qualität und Quantität, Empfindung und Reiz, beide in gleicher Weise zu messen unternehmen würde; dies war die Aufgabe, die sich die Psychophysik gestellt hat. Den Mut zu diesem kühnen Unterfangen hatten FECHNER gerade seine Gegner eingegeben, die Philosophen nämlich, die von intensiven Größen reden, während sie zugleich die psychischen Zustände für nicht meßbar erklären. In der Tat, wenn man zugibt, daß eine Empfindung stärker sein kann als eine andere und daß diese Ungleichheit in den Empfindungen selbst liegt, ohne jegliche Abhängigkeit von Ideenassoziationen, oder von irgendeiner mehr oder weniger bewußten zahlenmäßigen oder räumlichen Erwägung, so ist es natürlich, wissen zu wollen, um wieviel die erste Empfindung die zweite übertrifft, und zwischen ihren Intensitäten ein quantitatives Verhältnis aufzustellen. Es nützt nichts, wenn man, wie öfters seitens der Gegner der Psychophysik geschieht, erwidert, alles Messen enthalte ein Übereinanderlegen und zwischen Intensitäten, die ja keine Dinge sind, die man übereinander legen könne, sei das Aufsuchen eines zahlenmäßigen Verhältnisses unstatthaft. Man müßte nämlich dann erklären, weshalb man  eine  Empfindung intensiver nennt, als eine andere, und wieso man Sachen als größer oder kleiner bezeichnen darf, die - was man soeben hat zugestehen müsse - Beziehungen wie die zwischen Enthaltendem und Enthaltenem nicht zulassen. Wenn man, um jede derartige Frage abzuschneiden, zwei Arten von Quantität unterscheidet, die eine intensiv und nur das mehr oder weniger zulassend, die andere extensiv und meßbar, so ist man dicht daran, FECHNER und den Psychophysikern beizupflichten. Denn sobald man einer Sache die Fähigkeit zuschreibt, zu wachsen und abzunehmen, erscheint es natürliche genug, zu fragen, um wieviel sie abnimmt und um wieviel sie zunimmt. Und daraus, daß eine derartige Messung nicht direkt möglich erscheint, folgt noch nicht, daß die Wissenschaft nicht durch ein indirektes Verfahren dahin gelangen könnte, sei es nun durch eine Integration unendlich kleiner Elemente nach FECHNERs Vorschlag, sei es auf irgendeinem anderen Umweg. Entweder also ist die Empfindung eine reine Qualität, oder wenn sie eine Größe ist, muß man den Versuch machen, sie zu messen.

Um das Vorangegangene zusammenzufassen, werden wir sagen, die Vorstellung der Intensität stelle sich unter einem doppelten Aspekt dar, je nachdem die für eine äußere Ursache repräsentativen Zustände des Bewußtseins oder die Zustände, die sich selbst genügen, der Untersuchung unterzogen werden. Im ersteren Fall besteht die Perzeption der Intensität in einer bestimmten Abschätzung der Größe der Ursache mittels einer bestimmten Qualität der Wirkung: es handelt sich hier, um mit den Schotten zu reden, um eine erworbene Perzeption. Im andern Fall nennen wir Intensität die mehr oder weniger beträchtliche Mannigfaltigkeit einfacher psychischer Vorgänge, die wir als dem fundamentalen Zustand innewohnend dunkel empfinden; hier hätten wir keine erworbene Perzeption, sondern eine verworrene. Übrigens durchdringen sich meistens diese beiden Bedeutungen des Wortes; denn die einfacheren Tatsachen, die eine Emotion oder eine Willensanstrengung in sich schließen, sind meistenteils vorstellungsmäßig und die Mehrzahl der vorstellungsmäßigen Bewußtseinszustände umfassen, da sie gleichzeitig auch affektiver Natur sind, ihrerseits wieder eine Mannigfaltigkeit elementarer psychischer Tatsachen. Die Vorstellung der Intensität liegt also am Vereinigungspunkt zweier Strömungen, deren eine uns von außen her die Vorstellung extensiver Größe vermittelt, während die andere aus den Tiefen des Bewußtseins das Bild einer inneren Mannigfaltigkeit an die Oberfläche emporträgt. Es bleibt noch übrig, sich darüber aufzuklären, worin das letztere Bild besteht, ob es eins ist mit dem Bild der Zahl oder ob es sich wesentlich davon unterscheidet. Im folgenden Kapitel werden wir die Bewußtseinszustände nicht mehr voneinander isoliert betrachten, sondern in ihrern konkreten Mannigfaltigkeit, wie sie in der reinen Dauer ablaufen. Und wie wir uns die Frage vorlegten, was aus der Intensität einer vorstellungsmäßigen Empfindung würde, wenn wir die Vorstellung der äußeren Ursache nicht hineintrügen, so werden wir nun zu untersuchen haben, was aus der Mannigfaltigkeit unserer inneren Zustände wird, welche Form die Dauer annimmt, wenn vom Raum, in dem sie sich entfaltet, abstrahiert wird. Diese zweite Frage ist weitaus wichtiger als die erste. Wenn sich nämlich die Vermengung von Qualität und Quantität auf jede Bewußtseinstatsache für sich genommen beschränkt, würde sie, wie wir gesehen haben, eher Dunkelheiten erzeugen als eigentliche Probleme schaffen. Wenn sie aber auf die ganze Reihe unserer psychologischen Zustände übergreift, indem sie in unsere Auffassung von der Dauer den Raum einführt, dann vergiftet sie unsere Begriffe von der äußeren und inneren Veränderung, von der Bewegung und der Freiheit an der Quelle. Hieraus sind die Sophismen der Eleaten, hieraus ist das Problem der freien Willensbestimmung entstanden. Uns wird hauptsächlich der zweite Punkt beschäftigen; aber anstatt uns an der Lösung der Frage zu versuchen, werden wir die Täuschung derer aufzeigen, die sie stellen.
LITERATUR - Hernri Bergson, Zeit und Freiheit, Jena 1911
    Anmerkungen
    11) CHARLES RICHET, L'homme et l'intelligence, Seite 36
    12) RICHET, a. a. O., Seite 37
    13) RICHET, a. a. O., Seite 43
    14) DARWIN, Expression of emotions, a. a. O., Seite 69, 70, 72.
    15) CHARLES FÉRÉ, Sensation et mouvement, Paris 1887
    16) WUNDT, Physiologische Psychologie, Bd. 1, 1908, Seite 364f.
    17) HENRY HERBERT DONALDSON, On the temparature sense, Mind 1885
    18) OGDEN ROOD, Théorie scientifique des couleurs, Paris 1883, Seite 38 der  Bibliothéque scientifique internationale,  Seite 154-159.
    19) HELMHOLTZ, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867, Seite 319
    20) JOSEPH DELBOEUF, Éléments de psychophysique, Paris 1886.
    21) HJALMAR NEIGLICK, Bericht über seine Experimente in der  Revue philosophique,  Bd. 1, Seite 71, Bd. 2, Seite 180
    22) DELBOEUF, Éléments etc. a. a. O., Seite 61 und 69