p-4p-4ra-1ra-2Th. KehrH. PragerTh. ElsenhansA. Steenbergen    
 
HENRI BERGSON
Zeit und Freiheit
[Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen]
[1/2]

"Der Zweck der Kunst liegt darin, die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf solche Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit überzuführen, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen."

"Das Bewußtsein, das gewohnt ist, räumlich zu denken und was es denkt, sich selber vorzusprechen, bezeichnet das Gefühl mit einem einzigen Wort und lokalisiert die Anstrengung genau an dem bestimmten Punkt, wo sie einen Nutzeffekt ergibt: es nimmt dann eine stets sich selbst gleichbleibende Anstrengung wahr, die an der ihr seinerseits angewiesenen Stelle anwächst und ein Gefühl, das, da es seinen Namen nicht ändert, nur stärker wird, ohne seine Natur zu ändern."

"Es gibt nichts Gemeinsames zwischen übereinander legbaren Größen von Empfindungen. Es scheint nur so, als ob die intensivere Empfingung die Empfindung von geringerer Stärke in sich enthält, wenn sie in unseren Augen die Gestalt einer Größe annimmt."


Vorwort

Wir drücken uns notwendig durch Worte aus und wir denken fast immer räumlich. Mit anderen Worten, die Sprache zwingt uns, unter unseren Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen, wie zwischen den materiellen Gegenständen. Diese Assimilation ist im praktischen Leben von Nutzen und in der Mehrzahl der Wissenschaften notwendig. Es ließe sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische Probleme bieten, daher kommen, daß man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, im Raum nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch beenden ließe, daß man von den allzu groben Bildern abstrahiert, um die er sich abspielt. Wenn eine unberechtigte Übersetzung des Unausgedehnten in Ausgedehntes, der Qualität in Quantität ins Innere der aufgeworfenen Frage selbst die Widerspruch hineinträgt, ist des dann zu verwundern, daß sich der Widerspruch in den Lösungen, die man ihr gibt, wiederfindet?

Wir haben unter den Problemen das gewählt, das der Metaphysik und Psychologie gemeinsam ist: das Freiheitsproblem. Wir versuchen nachzuweisen, daß jede Erörterung zwischen den Deterministen und ihren Gegnern eine vorangegangene Vermenung der Dauer mit der Ausdehnung, der Sukzession mit der Gleichzeitigkeit, der Qualität mit der Quantität in sich begreift: Mit der Aufhebung dieser Vermengung würden aber vielleicht die Einwände gegen die Freiheit, ihre Defintionen und in gewissem Sinn das Problem der Freiheit selbst verschwinden. Dieser Nachweis ist der Gegenstand des dritten Teils unserer Arbeit; die beiden ersten Kapitel, in denen die Begriffe der Intensität und der Dauer einer Untersuchung unterzogen werden, sollen dem dem dritten Kapitel als Einführung dienen.



I. Von der Intensität
der psychologischen Zustände

Man nimmt gewöhnlich an, daß die Bewußtseinszustände: Empfindungen, Gefühle, Affekte und Willensanstrengungen zu- und abnehmen können; einige versichern uns sogar, daß eine Empfindung 2, 3, 4 mal so intensiv genannt werden kann als eine andere Empfindung von gleicher Natur. Wir werden diese letztere Behauptung, die die These der Psychophysik ist, später untersuchen; selbst die Gegner der Psychophysik aber sehen nichts Unrichtes darin, von einer Empfindung zu sprechen, die intensiver ist als eine andere Empfindung, von einer Willensanstrengung, die größer ist als eine andere Willensanstrengung, und auf diese Weise zwischen rein inneren Zuständen quantitative Unterscheidungen aufzustellen. Der gemeine Verstand erklärt sich übrigens ohne die geringste Bedenklichkeit über diesen Punkt: man sagt, es sei einem mehr oder weniger warm, man sei mehr oder weniger betrübt, und diese Unterscheidung von mehr oder weniger nimmt niemanden Wunder. auch wenn man sie ins Gebiet subjektiver Tatsachen und unausgedehnter Dinge hinein fortsetzt. Hier liegt indessen ein sehr dunkler Punkt und ein Problem von größerer Tragweite als man sich allgemein vorstellt.

Wenn man behauptet, eine Zahl oder ein Körper sei größer als ein anderer, weiß man allerdings sehr wohl, wovon man spricht; denn in beiden Fällen ist von ungleichen Räumen die Rede, wie wir später im Einzelnen ausführen werden, und man nennt größer den Raum, der den andern enthält. Wie aber sollte eine intensivere Empfindung eine solche von geringerer Intensität enthalten können? Wird man uns etwa erwidern wollen, die letztere sei in ersterer inbegriffen, die Empfindung der höheren Intensität werden nur unter der Bedingung zu erreichen sein, daß zuvor Intensitätsgrade derselben Empfindung durchlaufen worden sind, und daß es sich also auch hier wieder in gewissem Sinn um das Verhältnis zwischen einem Enthaltenden und Enthaltenen handelt? Diese Auffassung von der intensiven Größe scheint die des gemeinen Verstandes zu sein; man kann sie aber nicht zum Rang einer philosophischen Erklärung erheben, ohne geradezu einen Zirkelschluß zu begehen. Es ist nämlich unbestreitbar, daß eine Zahl mehr ist als eine andere, wenn sie in der natürlichen Zahlenreihe ihren Platz nach ihr hat; man hat aber die Zahlen in anwachsender Reihenfolge anordnen können, eben weil zwischen ihnen Beziehungen von Enthaltendem und Enthaltenem bestehen, und weil man sich imstande fühlt, genau zu erklären, in welchem Sinn die eine größer ist als die andere. Die Frage ist dann, zu wissen, wie es uns denn gelingt, eine derartige Reihe mit intensiven Größen zu bilden, die ja nicht aus Dingen bestehen, die aufeinander gelegt werden können, und woran wir dann erkennen, daß die Glieder dieser Reihe z. B. anwachsen statt abzunehmen; und das läuft allemal auf die Frage hinaus, weshalb eine intensive Größe einer extensiven vergleichbar ist.

Es hieße der Schwierigkeit nur aus dem Weg gehen, wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, zwei Arten von Quantität unterscheiden wollte, die eine extensiv und meßbar, die andere intensiv und einer eigentlichen Messung nicht zugänglich, dabei aber doch so beschaffen, daß man von ihr trotzdem noch sagen kann, sie sei größer oder kleiner als eine andere Intensität. Denn es wird damit anerkannt, daß diese beiden Formen von Größen etwas Gemeinsames haben, da man sie ja beide Größen nennt und in gleicher Weise anwachsen und abnehmen läßt. Was aber könnte es, vom Gesichtspunkt der Größe aus, zwischen dem Extensiven und dem Intensiven, dem Ausgedehnten und Unausgedehnten Gemeinschaftliches geben? Nennt man die größere Quantität im ersteren Fall die, die die andere enthält, weshalb spricht man auch dann noch von Quantitat und Größe, wenn weder eine Enthaltendes noch ein Enthaltenes mehr vorhanden ist? Wenn eine Quantität wachsen und abnehmen kann, wenn man bei ihr das  weniger  sozusagen im Schoß des  mehr  erblickt, ist sie dann nicht eben deswegen teilbar, ausgedehnt? Und liegt dann nicht ein Widerspruch vor, wenn wir von inextensiver Quantität reden? Dennoch kommt der gemeine Verstand mit den Philosophen darin überein, ein rein Intensives zur Größe zu machen, genau wie ein Ausgehntes. Und nicht nur gebrauchen wir dasselbe Wort, sondern wir empfinden auch einen analogen Eindruck in beiden Fällen, ob wir nun an ein größeres Intensives denken oder ob es sich um ein größeres Ausgedehntes handelt; die Bezeichnungen "größer" und "kleiner" rufen jedenfalls in beiden Fällen dieselbe Vorstellung hervor. Fragen wir uns nun, worin diese Vorstellung besteht, so liefert uns das Bewußtsein abermals das Bild von einem Enthaltenden und einem Enthaltenen. Wir stellen uns z. B. eine größere Intensität der Willensanstrengung wie eine größere Länge eines zusammengerollten Drahtes, wie eine Sprungfeder vor, die einen größeren Raum einnehmen wird, wenn ihre Spannung nachläßt. In der Vorstellung eines Intensiven und selbst in dem Wort, das sie wiedergibt, liegt das Bild einer gegenwärtigen Zusammenziehung und folglich einer künftigen Ausweitung, das Bild einer virtuellen Ausgedehntheit, wenn man so sagen könnte, eines zusammengepreßten Raumes. Wir müssen also glauben, daß wir das Intensive ins Extensive übersetzen und daß die Vergleichung zweier intensiver Größen sich vollzieht oder zumindest ausgedrückt wird durch die verworrene Anschauung von einer Beziehung zwischen zwei Ausdehnungen. Schwierigkeiten scheint aber die genauere Bestimmung der Natur dieser Operation zu bereiten.

Die Lösung, die sich ohne weiteres anbietet, wenn man erst einmal auf diesem Weg weiterdenkt, würde die sein, daß man die Intensität einer Empfindung oder irgendeines Zustandes des Ich durch die Zahl oder Größe der objektiven und somit meßbaren Ursachen definiert, die sie hervorgerufen haben. Es ist nicht zu bestreiten, daß eine intensivere Lichtempfindung die ist, die man durch eine größere Anzahl von Lichtquellen erhalten hat oder erhalten würde, wobei man sich diese als aus gleicher Entfernung wirkend und untereinander identisch zu denken hätte. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber sprechen wir ein Urteil über die Intensität der Wirkung aus, ohne auch nur die Natur der Ursache zu kennen, geschweige denn ihre Größe; oft sogar führt uns die Intensität der Wirkung dazu, aufs Geratewohl eine Hypothese über die Zahl und Natur der Ursachen zu bilden und dadurch eine Berichtigung des Urteils unserer Sinne herbeizuführen, die sie uns zuerst als unbedeutend dargestellt hatten. Umsonst wird man dagegen geltend machen, daß wir in diesem Fall den gegenwärtigen Zustand des Ich mit irgendeinem früheren Zustand vergleichen, wo gleichzeitig mit dem Erleben der Wirkung die Ursache als Ganzes wahrgenommen wurde. In einer sehr großen Anzahl von Fällen verfahren wir allerdings auf diese Weise; aber man erklärt damit nicht die Intensitätsunterschiede, die wir zwischen den tiefer gelegenen psychologischen Vorgängen aufstellen, die aus uns selbst hervorgehen und keine äußeren Ursachen mehr haben. Andererseits sprechen wir uns gerade dann am zuversichtlichsten über die Intensität eines psychischen Zustandes aus, wenn der subjektive Aspekt des Phänomens allein unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, oder wenn die äußere Ursache, woran wir ihn geknüpft denken, sich nicht eigentlich als meßbar erweist. So erscheint es uns als selbstverständlich, daß man beim Ziehen eines Zahns einen intensiveren Schmerz empfindet als beim Ausreißen eines Haares; der Künstler weiß über allen Zweifel, daß das Gemälde eines Meisters ihm ein intensiveres Vergnügen gewährt als ein Ladenschild; und man braucht nicht erst von Kohäsionskräften [innerer Zusammenhalt eines Stoffes durch Molekularkräfte - wp] gehört zu haben, um behaupten zu können, daß es weniger Anstrengung kostet, eine Stahlklinge zu biegen als einen Eisenstab zu krümmen. So wird also der Vergleich zweier Intensitäten größtenteils ohne die geringste Rechenschaft über die Zahl der Ursachen, die Art ihres Wirkens und ihre Ausdehnung vollzogen.

Es bliebe hier allerdings noch eine subtilere Hypothese derselben Art möglich. Es ist bekannt, daß die mechanistischen und hauptsächlich die kinetischen [bewegungs- | wp] Theorien darauf hinausgehen, die uns wahrnehmbaren und fühlbaren Eigenschaften der Körper durch genau bestimmte Bewegungen ihrer elementaren Teile zu erklären, und einige sehen schon den Zeitpunkt voraus, wo die intensiven Unterschied der Qualitäten, d. h. unserer Empfindungen sich auf extensive Unterschiede zwischen den Veränderungen werden zurückführen lassen, die dahinter stattfinden. Vielleicht dürfte es nun zulässig sein zu behaupten, daß wir, ohne diese Theorien zu kennen, sie dunkel ahnen, daß wir hinter einem intensiveren Ton eine umfangreichere Vibration vermuten, die sich ins Innerste des vom Reiz getroffenen Teils fortpflanzt, und daß wir auf diese sehr genaue, wenn auch verworren wahrgenommene mathematische Beziehung anspielen, wenn wir von einem Ton sagen, er habe eine höhere Intensität. Aber auch ohne so weit zu gehen, könne man wohl als Prinzip aufstellen, daß jeder Bewußtseinszustand einem gewissen Reizzustand der Moleküle und Atome der Gehirnsubstanz entspricht, und daß die Intensität einer Empfindung für den Umfang, die Verwicklung und die Ausdehnung der Molekularbewegung das Maß abgibt. Diese letztere Hypothese ist mindestens ebenso wahrscheinlich wie die erstere, aber sie taugt ebensowenig zur Lösung des Problems. Denn es ist zwar möglich, daß die Intensität einer Empfindung auf eine mehr oder weniger bedeutende Leistung hinweist, die sich in unserem Organismus vollzogen hat; im Bewußtsein gegeben ist uns aber nur die Empfindung, nicht die mechanische Leistung. Wir urteilen ja über die mehr oder weniger große Menge der geleisteten Arbeit erst aufgrund der Intensität der Empfindung: die Intensität bleibt also, dem Anschein nach zumindest, eine unmittelbare Eigenschaft der Empfindung. Und immer taucht dieselbe Frage auf; weshalb sagen wir von einer höheren Intensität, sie sei größer? Weshalb denken wir an eine größere Quantität oder einen größeren Raum?

Vielleicht liegt die Schwierigkeit des Problems hauptsächlich darin, daß wir Intensitäten verschiedenster Natur, wie z. B. die Intensität eines Gefühls und die einer Empfindung oder einer Willensanstrengung mit demselben Namen belegen und in derselben Weise vorstellen. Die Willensanstrengung wird von einer Muskelempfindung begleitet und die Empfindungen selbst sind an gewisse physische Bedingungen geknüpft, die wahrscheinlich auf die Bewertung ihres Intensitätsgrades Einfluß haben: es sind das Phänomene, die sich auf der Oberfläche des Bewußtseins zutragen, und die sich allemal, wie wir später sehen werden, mit der Wahrnehmung einer Bewegung oder eines äußeren Gegenstandes assoziieren. Gewisse Zustände der Seele jedoch scheinen uns, ob mit Recht oder mit Unrecht, sich selbst zu genügen: so die hohe Freude, der tiefe Kummer, die Leidenschaften des reflektierenden Gemüts, die ästhetischen Affekte. Die reine Intensität muß sich in diesen einfachen Fällen leicht abgrenzen lassen, wo keinerlei extensives Element mit hineinzuspielen scheint. In der Tat werden wir sehen, daß sie sich hier auf eine gewisse Qualität oder Schattierung zurückführen läßt, deren Tönung sich einer mehr oder weniger beträchtlichen Menge psychischen Zustände mitteilt, oder, wenn man will, auf eine größere oder kleinere Zahl einfacher Zustände, die die fundamentale Erregung durchdringen.

Es ist z. B. ein dunkles Verlangen allmählich zu einer tiefen Leidenschaft geworden. Man wird sich überzeugen können, daß die geringe Intensität dieses Wunsches zunächst darin bestand, daß er uns isoliert und gleichsam dem ganzen übrigen Innenleben fremd erschienen war. Doch allmählich hat der Wunsch eine immer größere Zahl psychischer Elemente durchdrungen, indem er ihnen sozusagen seine eigene Farbe verlieh; und nun scheint sich allen Dingen gegenüber unser Standpunkt verwandelt zu haben. Wird man etwa nicht eine tiefe Leidenschaft, wenn sie einmal entstanden ist, daran gewahr, daß die gleichen Dinge auf einen nicht mehr denselben Eindruck machen? All unsere Empfindungen, alle Vorstellungen erscheinen durch sie wie neu; es ist, als erlebten wir eine zweite Kindheit. Analoges widerfährt uns bei gewissen Träumen, wo unsere Einbildung uns nur ganz gewöhnliches vorführt und wo dennoch ein gewisser noch nie dagewesener Klang durch die Traumbilder hindurchtönt. Je weiter man eben in die Tiefen des Bewußtseins hinabdringt, desto weniger hat man das Recht, die psychologischen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, die sich nebeneinander aufreihen ließen. Wenn man sagt, ein Gegenstand nimmt einen großen Raum in der Seele ein, oder sogar, er nimmt sie ganz und gar ein, so darf man darunter nur verstehen, daß sein Bild die Tönung Tausender von Wahrnehmungen und Erinnerungen modifiziert hat, und daß es sie in diesem Sinn durchdringt, ohne doch selber darin zum Vorschein zu kommen. Diese ganz dynamische Vorstellungsart aber widerstrebt dem reflektierenden Bewußtsein, weil dieses die scharfen Unterscheidungen, die sich ohne weiteres auf Worte bringen lassen, bevorzugt, und die Dinge liebt, die bestimmte Umrisse haben, wie die, die wir im Raum erblicken. Es wird daher annehmen, daß ein bestimmtes Begehren sukzessive Größengrade durchlaufen hat, während sich alles Übrige gleichgeblieben ist: als könnte noch von Größe gesprochen werden, wo weder Mannigfaltigkeit ist noch Raum! Und wie wir das reflektierende Bewußtsein dabei beobachten können, daß es die zahlreicheren Muskelkontraktionen, die sich an der Körperoberfläche vollziehen, auf einen gegebenen Punkt des Organismus konzentriert, um daraus eine Willensanstrengung von anwachsender Intensität zu machen, so wird es auch in der Gestalt eines anschwellenden Begehrens die progressiven Modifikationen abgesondert kristallisieren lassen, die in der verworrenen Masse der gleichzeitig vorhandenen psychischen Vorgänge stattgefunden haben. Es liegt aber hier in Wahrheit mehr eine Qualitäts- als eine Größenveränderung vor.

Was aus der Hoffnung eine so intensive Lustempfindung macht, ist, daß die Zukunft, die wir uns nach Belieben ausmalen können, uns zur selben Zeit in einer Menge von gleich ansprechenden, gleich möglichen Gestaltungen vorschwebt. Auch wenn sich die erwünschteste unter ihnen verwirklicht, müssen wir eben doch die andern aufgeben, und haben dann viel verloren. Die  Vorstellung  der Zukunft, die eine Unendlichkeit von Möglichkeiten in ihrem Schoß birgt, ist also fruchtbarer als die Zukunft selbst, und so kommt es, daß der Hoffnung ein größerer Reiz beiwohnt als dem Besitz, der Traum anziehender ist als die Wirklichkeit.

Versuchen wir uns klarzumachen, worin die wachsende Intensität einer Freude oder einer Betrübnis besteht, und zwar in den Ausnahmefällen, wo kein physisches Symptom dabei mitspielt. Die innere Freude ist ebensowenig wie die Leidenschaft eine isolierte psychologische Tatsache, die zuerst an einem besonderen Ort der Seele anzutreffen wäre und sodann allmählich mehr Raum einnimmt. Auf ihrer niedersten Stufe kommt sie annähernd einer Einstellung unserer Bewußtseinszustände in der Richtung auf die Zukunft gleich. Alsdann beginnen unsere Vorstellungen und Empfindungen, wie wenn diese Anziehung ihre Eigengewicht vermindert hätte, in einem schnelleren Tempo aufeinander zu folgen; auch unsere Bewegungen erfordern nicht mehr dieselbe Anstrengung. Schließlich, wenn die Freude den höchsten Grad erreicht hat, erhalten unsere Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder eine völlig unbestimmbare Qualität, die etwa mit Wärme oder mit Licht vergleichbar wäre, und die so neu ist, daß wir in gewissen Augenblicken, wenn wir auf uns selbst zurückschauen, fast Verwunderung darüber empfinden, daß wir existieren. So gibt es mehrere charakteristische Formen der reinen inneren Freude, lauter sukzessive Etappen, die qualitativen Modifikationen der Masse unserer psychologischen Zustände entsprechen. Doch ist die Zahl der Zustände, die jede dieser Modifikationen erreicht, mehr oder weniger beträchtlich, und wenn wir sie auch nicht ausdrücklich zählen, so wissen wir gleichwohl, ob unsere Freude z. B. alle unsere Tageseindrücke durchdringt, oder ob einige davon unberührt bleiben. Wir errichten auf diese Weise Teilpunkte im Intervall zwischen zwei sukzessiven Formen der Freude, und dieses gradweise Vorrücken von einer zu andern ist der Grund, weshalb sie uns ihrerseits wie Intensitäten ein und desselben Gefühls erscheinen, das einer Größenveränderung unterworfen ist. Es wäre nicht schwer darzulegen, daß die verschiedenen Grade der Traurigkeit ebenfalls qualitativen Veränderungen entsprechen. Die Betrübnis ist anfänglich nichts weiter als eine Einstellung auf die Vergangenheit, eine Verarmung unserer Empfindungen und Vorstellungen, als ob jede von ihnen nun ganz in dem Wenigen aufgeht, was sie zu geben hat, als ob uns irgendwie die Zukunft verschlossen wäre. Und zuletzt folgt ein Eindruck von Niedergeschlagenheit, der uns die Sehnsucht zum Nichtsein erregt und bewirkt, daß jede neue Ungunst des Schicksals uns zu einem weiteren Beweis für die Aussichtslosigkeit des Kampfes wird und uns so eine bittere Genugtuung bereitet.

Die ästhetischen Gefühle geben uns noch auffallendere Beispiele für dieses progressive Hinzukommen neuer Elemente, die in der fundamentalen Gemütserregung sichtbar werden, und deren Größe zu vermehren scheinen, obwohl sie lediglich ihre Natur modifizieren. Betrachten wir das aller einfachste, das Gefühl von Anmut. Zunächst ist es nur die Wahrnehmung einer gewissen Ungezwungenheit, einer gewissen Leichtigkeit in den äußeren Bewegungen. Da nun die leichten Bewegungen die sind, die einander vorbereiten, finden wir schließlich eine höhere Ungezwungenheit in den Bewegungen, die sich voraussehen lassen, in den gegenwärtigen Gebarungen, die bereits die Andeutung der künftigen Gebarungen enthalten und sie gewissermaßen präformieren. Wenn ruckweise Bewegungen der Anmut entbehren, so erklärt sich dies daraus, daß jede sich hier selbst genügt und die folgenden nicht ankündigt. Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt dies daher, daß die gekrümmte Linie jeden Augenblick die Richtung ändert, wobei aber jede neue Richtung in der vorangehenden bereits angekündigt wird. Die Wahrnehmung einer Leichtigkeit in der Bewegung fließt somit hier in eins zusammen mit der Lust daran, den Zeitablauf irgendwie zu hemmen und die Zukunft schon im gegenwärtigen in der Hand zu halten. Ein drittes Element stellt sich dann ein, wenn die anmutigen Bewegungen einem Rhythmus gehorchen und von Musik begleitet werden. In diesem Fall nämlich lassen uns Rhythmus und Takt, indem sie uns die Bewegungen des Künstlers noch sicherer vorauszusehen gestatten, daran glauben, daß wir selbst sie beherrschen. Da wir beinahe die Haltung erraten, die er einnehmen wird, scheint es, als ob er, wenn er sie wirklich einnimmt, uns gehorcht; die Regelmäßigkeit des Rhythmus stellt zwischen uns und ihm eine Art Verbindung her, und die periodischen Wiederholungen des Taktes sind gleichsam unsichtbare Drähte, durch die wir diese imaginäre Puppe in Bewegung setzen. Und wenn sie einen Augenblick innehält, ist unsere ungeduldig gewordene Hand genötigt, eine Geste zu machen, als wollte sie sie antreiben, als wollte sie sie wieder in jene Bewegung zurückversetzen, deren Rhythmus unser Gedanke und unser Wille geworden ist. Es geht somit in das Gefühl von Anmut eine Art physische Sympathie ein, und wenn man den Zauber dieser Sympathie analysiert, wird man sich überzeugen, daß diese ihrerseits wegen ihrer Verwandtschaft mit der geistigen Sympathie gefällt, deren Vorstellung sie einem auf unmerkliche Weise suggeriert. Dieses letztere Element, in das die andern einmünden, nachdem sie es gewissermaßen angekündigt hatten, erklärt die unwiderstehliche Anziehungskraft der Anmut; man würde die Lust nicht begreifen können, die sie uns verursacht, wenn sie weiter nichts wäre als eine Ersparnis an Anstrengung, wie SPENCER meint (1). Die Wahrheit ist vielmehr, daß wir aus allem, was große Anmut besitzt, abgesehen von der Leichtigkeit, die auf Beweglichkeit hinweist, die Andeutung einer möglichen uns entgegenkommenden Bewegung, einer virtuellen oder sogar bereits im Keim vorhandenen Sympathie herauszulesen glauben. Diese bewegliche Sympathie, die da immer im Begriff steht, sich hinzugeben, macht das wahre Wesen der höheren Anmut aus. So lösen sich also die anwachsenden Intensitäten des ästhetischen Gefühls in eine Menge verschiedenartiger Gefühle auf, von denen jedes einzelne vom vorangehenden bereits angekündigt und in ihm sichtbar wird, umd dieses sodann definitiv hint sich zurücktreten zu lassen. Diesen qualitativen Fortschritt deuten wir im Sinne einer Größenveränderung, weil wir das Einfache lieben, und weil unsere Sprache nicht dazu angetan ist, die Subtilitäten der psychologischen Zergliederung wiederzugeben.

Um zu begreifen, wie das Gefühl des Schönen selbst einer Abstufung fähig ist, müßte man es einer sorgfältigen Analyse unterziehen. Vielleicht ist die Schwierigkeit, die man bei seiner Definition empfindet, insbesondere darauf zurückzuführen, daß man die Naturschönheiten als den Schönheiten der Kunst voraufgehend ansieht: die Verfahrensweisen der Kunst wären dann nur die Mittel, wodurch der Künstler das Schöne ausdrückt, und das Wesen des Schönen bliebe im Dunkeln. Man könnte aber wohl die Frage stellen, ob die Natur nicht gerade durch das glückliche Zusammentreffen mit gewissen Verfahrensweisen unserer Kunst schön ist und ob die Kunst nicht in einem gewissen Sinn der Natur vorhergeht. Will man auch nicht so weit gehen, so scheint es doch den Regeln einer gesunden Methode entsprechender zu sein, das Schöne zunächst in den Werken zu studieren, wo es durch eine bewußte Bemühung hervorgebracht worden ist, und dann in unmerklichen Übergängen von der Kunst zur Natur zurückzugehen, die auf ihre Weise Künstlerin ist. Indem man sich auf diesen Standpunkt stellt, wird man, glauben wir, gewahr werden, daß der Zweck der Kunst darin liegt, die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf diese Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit zu überführen, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen. In den Verfahrensweisen der Kunst werden wir in abgeschwächter Form, verfeinert und gewissermaßen vergeistigt, die Verfahrensweisen wiederfinden, durch die gewöhnlich der hypnotische Zustand erzielt wird. - So unterbrechen in der Musik Rhythmus und Takt den normalen Lauf unserer Vorstellungen und Empfindungen, indem sie unsere Aufmerksamkeit veranlassen, zwischen festen Punkten zu pendeln, und sie bemächtigen sich unser mit einer solchen Kraft, daß die Nachahmung einer schluchzenden Stimme, so diskret sie nur irgendwie sein mag, schon genügt, uns in eine tief traurige Stimmung zu versetzen. Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die der Natur, so kommt das daher, daß die Natur es dabei bewenden läßt, Gefühle auszudrücken, während die Musik sie uns suggeriert. Wie erklärt sich der Zauber der Dichtkunst? Der Dichter ist ein Mensch, bei dem sich die Gefühle in Bildern entwickeln, und diese wieder zu rhythmischen Worten, die sie ausdrücken sollen. Indem wir diese Bilder an unserem Auge vorüberziehen sehen, erleben wir unsererseits das Gefühl, das sozusagen ihr emotionales Äquivalent war; doch diese Bilder würden sich für uns ohne die regelmäßigen Bewegungen des Rhythmus nicht im gleichen Grad zur Wirklichkeit verdichten; durch ihn eingewiegt und eingeschläfert gerät unsere Seele in einen Zustand traumhaften Vergessens ihrer selbst, in dem sie nur noch mit dem Dichter denkt und fühlt. Die plastischen Künste erzielen eine Wirkung derselben Art durch den Stillstand, den sie mit einem Mal ins Leben bringen, und den eine Vermittlung physischer Natur auf die Aufmerksamkeit des Betrachtenden überträgt. Wenn die Werke der antiken Bildhauerkunst flüchtige Affekte ausdrücken, die jene Gebilde nur leichthin streifen wie ein Hauch, so teilt dafür die blasse Unbewegtheit des Steins dem zum Ausdruck gebrachten Gefühl und der angefangenen Bewegung ein nicht näher zu bestimmendes Endgültiges und Ewiges mit, worin unser Denken aufgeht und woran sich unser Wille verliert. In der Baukunst triftt man inmitten jener das Gemüt ergreifenden Unbewegtheit selbst gewisse Wirkungen an, die dem Rhythmus verwandt sind. Die Symmetrie der Formen, die eine ununterbrochene Wiederholung desselben architektonischen Motivs, lassen unser Wahrnehmungsvermögen vom Gleichen zum Gleichen sich hin und her bewegen und drängen jene unausgesetzten Veränderungen zurück, die uns im täglichen Leben ohne Unterlaß das Bewußtsein unserer Persönlichkeit aufnötigen: eine wenn auch nur andeutende Hinweisung auf eine Idee genügt dann, unsere ganze Seele mit ihr zu erfüllen. So hat es die Kunst eigentlich mehr darauf abgesehen, uns einen Eindruck von den Gefühlen zu geben als diesen einen Ausdruck; sie suggeriert sie uns und legt keinen Wert darauf, die Natur nachzuahmen, falls sie noch wirksamere Mittel findet. Die Natur verfährt wie die Kunst suggestiv, sie verfügt aber nicht über den Rhythmus. Sie ersetzt ihn durch jene lange Kameradschaft, die gemeinschaftlich erfahrene Einflüsse zwischen ihr und uns gestiftet haben, und die uns bei der geringsten Andeutung eines Gefühls mit ihr mitfühlen läßt, nicht anders als wie ein wiederholt Hypnotisierter den Gebärden des Magnetiseurs Folge leistet. Und diese Sympathie stellt sich ganz besonders ein, wenn uns die Natur ebenmäßig geformte Wesen vor Augen stellt, so daß unsere Aufmerksamkeit sich in gleicher Weise auf alle Teile der Gestalt ausbreitet ohne von irgendeinem Teil vornehmlich gefesselt zu werden: wenn unser Wahrnehmungsvermögen durch diese Art von harmonischem Verhältnis eingewiegt wird, wird jedes Hindernis für den freien Aufschwung des Gefühls aufgehoben und das Gefühl wartet ja nur immer auf die Beseitigung des Hindernisses, um alsbald in sympathische Erregung zu geraten. - Aus dieser Analyse ergibt sich, daß das Gefühl des Schönen kein Gefühl eigener Art ist, sondern daß jedes von uns erlebte Gefühl einen ästhetischen Charakter annehmen kann, vorausgesetzt, daß es suggeriert und nicht äußerlich verursacht worden ist. Hieraus läßt sich nun begreifen, wieso die ästhetische Gemütserregung Grade von Intensität wie auch Grade der Erhebung zuzulassen scheint. Bald unterbricht nämlich das suggerierte Gefühl nur notdürftig das dichte Gewebe der psychologischen Vorgänge, die unsere Geschichte ausmachen, bald lenkt es unsere Aufmerksamkeit von ihnen ab, ohne sie jedoch gänzlich unserem Gesichtskreis zu entrücken; bald tritt es schließlich an ihre Stelle, nimmt uns völlig ein und bemächtigt sich unserer ganzen Seele. Es gibt also unterscheidbare Phasen im Verlauf eines ästhetischen Gefühls ebenso wie im hypnotischen Zustand; und diese Phasen entsprechen weniger Variationen des Grades als Unterschieden des Zustands oder der Natur. Doch der Vorzug eines Kunstwerks ist weniger nach der Stärke bemessen, mit der das suggerierte Gefühl uns überwältigt, als nach dem Inhaltsreichtum des Gefühls selbst. Mit anderen Worten: wir unterscheiden neben den Graden der Intensität instinktiv Grade der Tiefe oder der Erhebung. Analysieren wir diesen letzteren Begriff, so finden wir, daß die Gefühle und Gedanken, die uns vom Künstler suggeriert werden, einen mehr oder weniger beträchtlichen Teil seiner Geschichte zusammenfassend zum Ausdruck bringen. Wenn die Kunst, die nur Empfindungen gibt, als eine untergeordnete gilt, so kommt das daher, daß durch Analyse selten in einer Empfindung etwas anderes zu entdecken ist als eben diese Empfindung. Die Mehrzahl der Gemütsbewegungen jedoch sind mit unzähligen Empfindungen, Gefühlen oder Vorstellungen geschwängert, die sie durchdringen; jede davon ist somit in ihrer Art etwas Einziges, Undefinierbares, und es scheint, als müsse man das Leben dessen, der sie empfand, wiederleben, um sie in ihrer vollen Ursprünglichkeit fassen zu können. Dennoch hat es der Künstler darauf abgesehen, uns mit diesem so reichhaltigen, so persönlichen, so neuen Affekt bekannt zu machen und uns erleben zu lassen, was er uns begreiflich zu machen nicht imstande wäre. Er wird also unter den äußeren Kundgebungen seines Gefühls die festhalten, die unser Leib wenn auch nur flüchtig im Augenblick der Wahrnehmung nachahmt, so daß uns der Künstler mit einem Mal in den undefinierbaren psychologischen Zustand hineinversetzt, der jene Kundgebungen hervorgerufen hatte. So wird die Schranke beseitigt, die Zeit und Raum zwischen seinem und unserem Bewußtsein gezogen hatten; und je ideenreicher, je gehaltvoller an Empfindung und Affekten das Gefühl ist, in dessen Bannkreis er uns einführt, desto mehr Tiefe oder Erhebung wird das dargestellte Schöne besitzen. Die sukzessiven Intensitäten des ästhetischen Gefühls entsprechen somit Zustandsänderungen in uns und die Grade der Tiefe der größeren oder kleineren Anzahl elementarer psychischer Vorgänge, die wir in der fundamentalen Emotion verworren unterscheiden.

Die moralischen Gefühle lassen sich einer Untersuchung gleicher Art unterziehen. Betrachten wir beispielsweise das Mitleid. Es besteht zunächst darin, daß man sich in Gedanken an die Stelle der andern versetzt, ihr Leid erleidet. Wäre es aber nichts als dieses, wie behauptet worden ist, so würde es uns eher anweisen, die Unglücklichen zu meiden als ihnen beizustehen, denn das Leiden erregt in uns naturgemäß Widerwillen. Es ist möglich, daß dieses Gefühl des Widerwillens dem Mitleid zugrunde liegt; doch es kommt alsbald ein neues Element hinzu, ein Bedürfnis, unseresgleichen zu helfen und ihr Leid zu lindern. Werden wir nun mit LAROCHEFOUCAULD sagen, diesen angebliche Sympathie sei Berechnung,  eine  schlaue Voraussicht künftiger Übel?" Es mag sein, daß die Furcht tatsächlich auch noch in das Mitgefühl eingeht, das uns beim Anblick des Leidens unseres Nächsten befällt; doch sind das immer nur untergeordnete Formen des Mitleids. Das wahre Mitleid besteht darin, daß man das Leid eher wünscht als fürchtet. Es ist ein flüchtiger Wunsch, dessen Verwirklichung man kaum begehren würde und dem man doch wider Willen in sich aufkommen läßt, gleich als ob die Natur irgendeine große Ungerechtigkeit begeht und es gilt, jeden Verdacht des Einverständnisses mit ihr zu beseitigen. Das Wesen des Mitleids ist also ein Bedürfnis nach Demütigung, ein Aufschwung der Seele, sich herabzulassen. Dieser schmerzliche Aufschwung hat übrigens seinen Reiz, da es uns in unserer eigenen Wertschätzung erhöht und bewirkt, daß wir uns über jene sinnlichen Güter erhaben fühlen, von denen sich unser Denken in diesem Augenblick abwendet. Die anwachsende Intensität des Mitleids besteht somit in einem qualitativen Forschritt, in einem Übergang vom Widerwillen zur Furcht, von dieser zur Sympathie und von der Sympathie selbst zur Demut.

Wir wollen diese Analyse nicht weiter fortsetzen. Die psychischen Zustände, deren Intensität wir soeben definiert haben, sind in der Tiefe des Gemüts vor sich gehende Zustände, die mit ihrer äußeren Verursachung keineswegs so solidarisch zu sein noch auch die Perzeption einer Muskelkontraktion in sich zu schließen scheinen. Sie sind jedoch selten. Es gibt kaum eine Leidenschaft oder einen Wunsch, eine Freude oder einen Kummer, der nicht von physischen Symptomen begleitet wäre; und wo solche Symptome sich einstellen, da leisten sie uns wahrscheinlich bei der Bewertung der Intensitätsgrade irgendwie Dienste. Was die eigentlichen Empfindungen anbetrifft, so sind sie offensichtlich an ihre äußere Ursache gebunden, und wenn sich auch die Intensität der Empfindung nicht durch die Größe ihrer Ursache definieren läßt, so besteht doch zweifellos eine Beziehung zwischen diesen beiden. In einigen seiner Kundgebungen scheint sich sogar das Bewußtsein nach außen auszubreiten, als wenn die Intensität sich ins Ausgedehnte fortentwickeln würde: so z. B. bei der Muskelanstrengung. Fassen wir das letztere Phänomen sofort ins Auge: wir versetzen uns dadurch mit einem Mal ans entgegengesetzte Ende der Reihe der psychologischen Tatsachen.

Wenn es irgendein Phänomen gibt, das sich dem Bewußtsein unmittelbar in der Form der Quantität oder wenigstens der Größe darzubieten scheint, so ist dies jedenfalls die Muskelanstrengung. Es scheint, als ob die psychische Kraft, die in der Seele eingesperrt ist, wie die Winde in der Höhle des  Äolus , dort nur auf den Augenblick wartet, wo sie hervorbrechen kann; der Wille nun sei dieser Kraft zum Wächter gesetzt und öffne ihr gelegentlich einen Ausgang, indem er den Verbrauch nach dem gewünschten Erfolg einrichtet. Wenn man genauer zusieht, wird man sogar sehen, daß diese ziemlich grobe Auffassung der Willensanstrengung bei unserem Glauben an intensive Größen eine bedeutende Rolle spielt. Da die Muskelkraft, die sich im Raum entfaltet und sich in meßbaren Erscheinungen kundgibt, uns den Eindruck macht, als habe sie vor ihrer Kundgebung bereits existiert, nur mit geringerem Volumen und sozusagen im komprimierten Zustand, so finden wir weiter kein Bedenken darin, dieses Volumen immer kleiner werden zu lassen, und wir glauben schließlich zu begreifen, wie ein rein psychischer Zustand, der keinen Raum einnimmt, dennoch eine Größe haben kann. Die Wissenschaft hat übrigens die Neigung, die Täuschung des gemeinen Verstandes in diesem Punkt zu bekräftigen. BAIN sagt uns z. B., daß "die Sensibilität, die die Muskelbewegung begleitet, mit dem zentrifugalen Strom der Nervenkraft zusammenfällt." Das Bewußtsein würde demnach die Verausgabung der Nervenkraft selbst apperzipieren können. WILHELM WUNDT spricht gleichfalls von einer Empfindung zentralen Ursprungs, die die Willens-Innervation [Nervenimpulse - wp] der Muskeln begleitet und zitiert als Beispiel den Paralytiker [motorisch Gelähmter - wp], "der eine sehr bestimmte Empfindung hat von der Kraft, die er aufwendet, um sein Bein zu heben, obgleich es unbewegt bleibt." (2) Die meisten Forscher schließen sich dieser Ansicht an, die in der positiven Wissenschaft unumstößlich dastünde, hätte nicht vor einigen Jahren WILLIAM JAMES die Aufmerksamkeit der Physiologen auf gewisse Phänomene gelenkt, die bisher wenig beachtet wurden und doch sehr beachtenswert sind.

Wenn sich ein Paralytiker bemüht, ein unbewegliches Glied zu heben, führt er diese Bewegung allerdings nicht aus, aber er führt dafür, ob er will oder nicht, eine andere aus. Irgendeine Bewegung wird irgendwo vollzogen: wäre es nicht der Fall, so käme es zu keiner Empfindung von Anstrengung (3). Schon VULPIAN hatte darauf aufmerksam gemacht, daß wenn man einen einseitig Gelähmten auffordert, auf der gelähmten Seite eine Faust zu machen, er unbewußt diesen Akt mit der gesunden Hand ausführt. FERRIER führt ein noch merkwürdigeres Phänomen an (4). Man strecke den Arm aus, indem man den Zeigefinger leicht zurückbiegt, wie wenn man auf den Hahn einer Pistole drücken wollte: man kann dabei den Finger unbewegt lassen, keinen Muskel der Hand zusammenziehen, keinerlei sichtbare Bewegung machen und dennoch fühlen, daß Energie verbraucht wird. Doch wird man bei näherem Zusehen gewahr, daß diese Empfindung einer Anstrengung zusammenfällt mit der Fixierung der Brustmuskeln, daß die Stimmritze geschlossen gehalten, und daß die Muskulatur der Atmungsorgane aktiv kontrahiert wird. Sobald die Atmung wieder den normalen Verlauf nimmt, schwindet das Bewußtsein von der Anstrengung, sofern man nicht etwa wirklich den Finger bewegt. Diese Tatsachen scheinen bereits darauf hinzuweisen, daß wir uns nicht einer Kraftverausgabung, sondern der daraus resultierenden Muskelbewegung bewußt werden. Das Neue bei WILLIAM JAMES besteht darin, daß er diese Hypothese an Beispielen erhärtet hat, die sich dazu ganz und gar nicht zu eignen scheinen. Wenn z. B. der äußere gerade Muskel des rechten Auges gelähmt ist, bemüht sich der Kranke umsonst, das Auge nach rechts zu drehen; jedoch scheinen sich ihm die Gegenstände schnell in der Richtung nach rechts zu bewegen, und da der Willensakt zu keinem Erfolg geführt hat, muß, so sagte HELMHOLTZ (5), die Willensanstrengung selbst sich dem Bewußtsein kundgegeben haben. Man hat aber, entgegnet JAMES, nicht in Anschlag gebracht, was sich unterdessen am anderen Auge zuträgt: dieses bleibt während der Experimente zugedeckt; es bewegt sich aber trotzdem, und es ist unschwer, sich davon zu überzeugen. Diese Bewegung des linken Auges, die das Bewußtsein wahrnimmt, liefert uns die Empfindung der Anstrengung, während sie uns zu gleicher Zeit zum Glauben veranlaßt, die vom rechten Auge wahrgenommenen Gegenstände hätten sich bewegt. Diese und andere analoge Beobachtungen führen nun nach WILLIAM JAMES zu der Behauptung, daß das Gefühl der Anstrengung zentripetal und nicht zentrifugal ist. Wir werden uns einer Kraft nicht bewußt, die wie etwa dem Organismus mitteilten: unser Gefühl einer Verausgabung von Muskelenergie "ist eine komplexe, aus den zuleitenden Nerven herrührende Empfindung, die von den kontrahierten Muskeln, den gespannten Sehnen, den festgekrümmten Gelenken, der fixierten Brust, der geschlossenen Stimmritze, den zusammengezogenen Brauen, den zusammengepreßten Kinnladen", kurz von allen peripheren Teilen ausgeht, in denen die Anstrengung eine Modifikation bewirkt.

Wir haben keine Veranlassung, in diesem Streit Stellung zu nehmen. Auch ist die uns zunächst interessierende Frage nicht die, zu wissen, ob das Gefühl der Anstrengung vom Zentrum oder der Peripherie ausgeht, sondern worin eigentlich unsere Perzeption ihrer Intensität besteht. Nun genügt es aber, sich selbst aufmerksam zu beobachten, um in diesem letzteren Punkt zu einem Schluß zu gelangen, den WILLIAM JAMES zwar nicht formuliert hat, der uns jedoch mit dem Geist seiner Lehre völlig im Einklang zu sein scheint. Wir behaupten, daß in dem Maße wie uns eine gegebene Anstrengung den Eindruck des Anwachsens macht, die Zahl der sich sympathetisch kontrahierenden Muskeln zunimmt, und daß das scheinbare Bewußtsein von einer höheren Intensität der Anstrengung an einem gegebenen Punkt des Organismus sich in Wirklichkeit auf die Perzeption einer größeren Oberfläche des Leibes reduziert, die an dem Vorgang beteiligt ist.

Man versuche z. B. die Faust "immer fester" zu ballen. Es wird der Schein entstehen, als ob die Empfindung einer Anstrengung, die völlig in der Hand lokalisiert ist, nacheinander wachsende Größen durchläuft. In Wirklichkeit empfindet die Hand immer dasselbe. Nur hat die ursprünglich dort allein lokalisierte Empfindung den Arm mit ergriffen, ist bis zur Schulter aufgestiegen; schließlich steift sich auch der andere Arm, die Beine desgleichen, der Atem stockt; der ganze Körper wird empfunden. Doch gibt man sich von diesen begleitenden Bewegungen nur dann eine klare Rechenschaft, wenn man darauf aufmerksam gemacht worden ist; bis dahin glaubt man es mit einem einzigen Bewußtseinszustand zu tun zu haben, dessen Größe sich änderte. Preßt man die Lippen immer fester aufeinander, so glaubt man an dieser Stelle ein und dieselbe Empfindung in verstärktem Maße zu bekommen; auch hier wird man bei genauerem Zusehen gewahr werden, daß diese Empfindung identisch bleibt, aber daß gewisse Gesichts- und Kopfmuskeln und schließlich die Muskulatur des ganzen Körpers an dem Vorgang teilgenommen haben. Man empfindet dieses allmähliche Umsichgreifen, dieses Größerwerden der Oberfläche, das wirklich und tatsächlich eine Quantitätsveränderung darstellt; da man aber hauptsächlich an die zusammengepreßten Lippen denkt, lokalisiert man das Anwachsen der Empfindung an dieser Stelle, und macht aus der psychischen Kraft, die sich dort auswirkte, eine Größe, obgleich sie keine Ausdehnung besaß. Man beobachte sorgfältig einen Menschen, der immer schwerere Gewichte hebt: die Muskelkontraktion greift allmählich auf den gesamten Körper über; die besondere Empfindung aber, die im Arm wahrgenommen wird, der Arbeit leistet, bleibt lange Zeit konstant, und ändert sich nur qualitativ, indem die Schwere in einem gewissen Zeitpunkt zur Müdigkeit und diese zum Schmerz wird. Trotzdem wird sich der Ausübende einbilden, das Bewußtsein eines stetigen Anwachsens der psychischen Kraft zu haben, die dem Arm zufließt. Er wird seinen Irrtum erst erkennen, wenn er darauf aufmerksam gemacht wird, so sehr ist er geneigt, einen gegebenen psychologischen Zustand nach den ihn begleitenden bewußten Bewegungen zu messen! Wir glauben, man wird aus diesen und vielen anderen Fällen derselben Art folgenden Schluß ziehen: Unser Bewußtsein von einem Anwachsen der Muskelanstrengung reduziert sich auf die doppelte Perzeption einer größeren Anzahl peripherischer Empfindungen und einer qualitativen Veränderung, die in einigen von ihnen stattgefunden hat.

Hiermit sind wir also darauf geführt, die Intensität einer an der Oberfläche der Seele verlaufenden Anstrengung in gleicher Weise wie die eines in der Tiefe des Gemüts vor sich gehenden Gefühls zu definieren. In beiden Fällen liegt ein qualitativer Fortschritt und eine verworren wahrgenommene wachsende Komplexität vor. Doch das Bewußtsein, das da gewohnt ist, räumlich zu denken und was es denkt, sich selber vorzusprechen, bezeichnet das Gefühl mit einem einzigen Wort und lokalisiert die Anstrengung genau an dem bestimmten Punkt, wo sie einen Nutzeffekt ergibt: es nimmt dann eine stets sich selbst gleichbleibende Anstrengung wahr, die an der ihr seinerseits angewiesenen Stelle anwächst und ein Gefühl, das, da es seinen Namen nicht ändert, nur stärker wird, ohne seine Natur zu ändern. Es ist wahrscheinlich, daß wir diese Täuschung des Bewußtseins in den Zwischenzuständen zwischen den an der Oberfläche der Seele verlaufenden Anstrengungen und den in der Tiefe des Gemüts vor sich gehenden Gefühlen wieder antreffen werden. Eine große Anzahl psychologischer Zustände wird tatsächlich von Muskelkontraktionen und peripheren Empfindungen begleitet. Diese oberflächlichen Elemente werden bald durch eine rein theoretische Idee, bald durch eine praktisch orientierte Vorstellung miteinander zusammengefaßt. Im ersteren Fall liegt eine intellektuelle Anstrengung oder Aufmerksamkeit vor; im zweiten ereignen sich Affekte, die man heftige oder akute nennen könnte, Zorn, Schrecken und gewisse Arten der Freude, des Schmerzes, der Leidenschaft und des Begehrens. Zeigen wir nun in Kürze, daß dieselbe Definitioni der Intensität auch auf diese Zwischenzustände anwendbar ist.

Die Aufmerksamkeit ist nicht ein rein physiologisches Phänomen; doch ist nicht zu leugnen, daß Bewegungen sie begleiten. Diese sind weder Ursache noch Resultat des Phänomens; sie gehören zu ihm, sie drücken es im Ausgehnten aus, wie das RIBOT in so bemerkenswerter Weise gezeigt hat (6). Schon FECHNER führte das in einem Sinnesorgan stattfindende Gefühl der Anstrengung bei der Aufmerksamkeit auf das Muskelgefühl zurück, "das hervorgerufen wird, indem durch eine Art Reflextätigkeit die Muskeln in Bewegung gesetzt werden, die mit den verschiedenen Sinnesorganen in Verbindung stehen." Er hatte jene ganz bestimmte Empfindung von Spannung und Zusammenziehung der Kopfhaut beobachtet, den Druck von außen nach innen am ganzen Schädel, den man erleidet, wenn man eine starke Anstrengung macht, sich auf etwas zu besinnen. RIBOT hat die charakteristischen Bewegungen der willkürlichen Aufmerksamkeit einer genaueren Untersuchung unterzogen: "Die Aufmerksamkeit", sagt er, "zieht den Stirnmuskel zusammen, dieser Muskel zieht die Brauen an, hebt sie und erzeugt die waagrechten Stirnfalten ... In extremen Fällen öffnet sich der Mund weit. Bei Kindern und vielen Erwachsenen bewirkt die lebhafte Aufmerksamkeit ein Vorstrecken der Lippen, eine Art Maulen." Gewiß, es wird immer in die willkürliche Aufmerksamkeit ein rein psychischer Faktor eingehen, wäre es auch nur die durch den Willen bewirkte Ausschließung all der Vorstellungen, die mit der ins Auge gefaßten nichts zu tun haben. Wenn aber diese Ausschließung einmal geschehen ist, glauben wir noch das Bewußtsein einer zunehmenden Spannung der Seele, einer anwachsenden immateriellen Anstrengung zu haben. Man analysiere diesen Eindruck und man wird darin nichts anderes finden, als das Gefühl einer Muskelkontraktion, die sich über eine immer größere Oberfläche verbreitet oder ihre Natur verändert, indem die Spannung in Druck, Müdigkeit, Schmerz übergeht.

Nun erblicken wir aber keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Anstrengung der Aufmerksamkeit und dem, was eine Anstrengung der seelischen Spannung genannt werden könnte: heftiges Verlangen, entfesselter Zorn, leidenschaftliche Liebe, wilder Haß. Jeder dieser Zustände ließe sich, glauben wir, auf ein System von Muskelkontraktionen zurückführen, die durch eine Vorstellung zusammengefaßt werden: bei der Aufmerksamkeit die mehr oder weniger reflektierte Vorstellung des Erkennens: bei der Emotion dagegen die unreflektierte Vorstellung des Handelns. Die Intensität dieser heftigen Emotionen braucht also nichts anderes zu sein, als die begleitende Muskelspannung. DARWIN hat in bemerkenswerter Weise die physiologischen Symptome der Wut geschildert:
    "der Puls ist beschleunigt: das Gesicht rötet sich oder wird leichenblaß; der Atem geht schwer; die Brust hebt sich; die bebenden Nasenflügel erweitern sich. Oft zittert der ganze Leib. Die Stimme verändert sich; die Zähne werden zusammengepreßt oder gegeneinander gerieben, und das Muskelsystem ist gewöhnlich zu einem gewalttätigen, fast wahnwitzigen Akt aufgereizt ... die Gebärden stellen mehr oder weniger vollständig die Tätigkeit des Schlagens oder des Ringens mit dem Gegner dar." (7)
Wir wollen nicht so weit gehen mit WILLIAM JAMES (8) zu behaupten, daß der Wutaffekt sich auf die Summe dieser Organempfindungen zurückführen läßt: immer wird in den Affekt des Zorns ein unreduzierbares psychisches Element eingehen, wäre es auch nur die Vorstellung des Schlagens oder Ringens, von der DARWIN spricht, eine Vorstellung, die so vielen verschiedenen Bewegungen eine gemeinsame Richtung aufzwingt. Wenn aber diese Vorstellung die Richtung eines emotionalen Zustands und die Orientierung der begleitenden Bewegungen beherrscht, so ist, glauben wir, die zunehmende Intensität des Zustands selbst nichts anderes als die immer tiefer gehende Reizung des Organismus, eine Reizung, die vom Bewußtsein mühelos an der Zahl und der Ausdehnung der in Mitleidenschaft gezogenen Oberflächen gemessen wird. Umsonst wird man dagegen anführen, es gebe zurückgehaltene und daher umso intensivere Wutanfälle. Dort nämlich, wo der Gemütsbewegung freier Lauf gelassen wird, hält sich das Bewußtsein nicht bei den Einzelheiten der begleitenden Bewegungen auf: es hält sich dagegen dabei auf und konzentriert sich auf sie, wenn es sie zu verbergen trachtet. Wenn man schließlich jede Spur von organischer Reizung, jedes leiseste Wollen einer Muskelkontraktion ausschaltet, so bleibt vom Zorn nur mehr eine Vorstellung übrig, oder es kann ihm, sollte man noch immer eine Emotion darin erblicken wollen, jedenfalls keine Intensität zugeschrieben werden.

"Ein intensiver Schrecken" sagt HERBERT SPENCER (9), "drückt sich durch Schreie, Anstrengungen, sich zu verstecken oder zu entweichen, Herzklopfen und Zittern aus." Wir gehen noch weiter und behaupten, daß diese Bewegungen zum Schrecken selbst gehören: durch sie wird der Schrecken zu einer Emotion, die verschiedene Intensitätsgrade durchlaufen kann. Man unterdrücke sie vollständig und es wird der mehr oder weniger intensive Schrecken einer Vorstellung des Schreckens, der lediglich intellektuellen Vergegenwärtigung einer zu fliehenden Gefahr den Platz räumen. Es gibt auch ein Akutwerden des Affekts der Freude, des Schmerzes, des Begehrens, der Abneigung und selbst der Scham, das sich aus den Bewegungen infolge einer automatischen Reaktion erklären ließe, die der Organismus einleitet und das Bewußtsein perzipiert. "Die Liebe", sagt DARWIN, "macht das Herz schlagen, beschleunigt die Atmung und rötet das Gesicht." (10) Die Abneigung gibt sich kund durch Bewegungen des Ekels, die man unbewußt wiederholt, wenn man an den ekelerregenden Gegenstand denkt. Man errötet, man krampft unwillkürlich die Finger zusammen, wenn man Scham empfindet, wäre es auch nur im Rückblick auf Vergangenes. Die Heftigkeit dieser Emotionen bemißt sich nach der Zahl und der Natur der peripherischen Empfindungen, die sie begleiten. Allmählich und in dem Maße, wie der emotionale Zustand an Heftigkeit verliert, während er an Vertiefung gewinnt, werden dann die peripherischen Empfindungen inneren Elementen das Feld räumen: nicht mehr unsere äußeren Bewegungen, sondern unsere Vorstellungen, Erinnerungen, überhaupt unsere Bewußtseinszustände werden sich dann in größerer oder geringerer Zahl in einer bestimmten Richtung orientieren. Es besteht also hinsichtlich der Intensität kein wesentlicher Unterschied zwischen den in der Tiefe des Gemüts sich ereignenden Gefühlen, von denen zu Anfang der Untersuchung die Rede war, und den heftigen oder gewaltsamen Emotionen, die wir soeben haben an uns vorüberziehen lassen. Wenn man sagt, die Liebe, das Begehren, der Haß nehmen an Heftigkeit zu, so heißt das soviel wie: sie projizieren sich nach außen, strahlen nach der Oberfläche aus, den inneren Elementen substituieren sich peripherische Empfindungen: aber, ob nun diese Gefühle oberflächlich oder tief, heftig oder reflektiert sind, ihre Intensität besteht jedenfalls immer in der Mannigfaltigkeit der einfachen Zustände, die das Bewußtsein verworren darin zu entdecken vermag.

Wir haben uns bisher auf Gefühle und Anstrengungen beschränkt, auf Zustände also, die komplex sind und deren Intensität nicht unbedingt von einer äußeren Ursache abhängig ist. Worin besteht nun aber die Größe der Empfindungen, die uns doch als einfache Zustände erscheinen? Die Intensität dieser Empfindungen variiert wie die äußere Ursache, als deren Äquivalent im Bewußtsein sie gelten sollen: wie erklärt sich das Eindringen des quantitativen in eine inextensive und diesmal unteilbare Wirkung? Um diese Frage zu beantworten, ist zuvor zu unterscheiden zwischen den sogenannten affektiven und den vorstellungsmäßigen Empfindungen. Sicherlich finden stufenweise Übergänge von den einen zu den andern statt; ohne Zweifel geht ein affektives Element in die Mehrzahl unserer einfachen Vorstellungen ein. Aber nichts steht im Weg, dieses Element herauszugreifen und eine gesonderte Untersuchung darüber anzustellen, worin die Intensität einer affektiven Empfindung, einer Lust oder eines Schmerzes, besteht.
LITERATUR - Hernri Bergson, Zeit und Freiheit, Jena 1911
    Anmerkungen
    1) HERBERT SPENCER, Essays, Bd. II, Seite 313
    2) WILLIAM WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie, sechste Auflage, Bd. II, Seite 31.
    3) WILLIAM JAMES, Le sentiment de l'effort (Critique philosophique 1880, Bd. II)
    4) DAVID FERRIER, The functions of the brain, zweite Auflage, London 1886, Seite 386, 387.
    5) HERMANN HELMHOLTZ, Handbuch der physiologischen Optik, Seite 600f.
    6) THEODULE RIBOT, Le mécanisme de l'attention, Paris 1888
    7) CHARLES DARWIN, The expression of the emotions in man and animals, London 1872, Seite 74.
    8) WILLIAM JAMES, What is an emotion? Mind 1884, Seite 189
    9) HERBERT SPENCER, Principles of psychology, Bd. I, Seite 482.
    10) DARWIN, The expression of emotions, a. a. O., Seite 78, 79.