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HELMUT ARNTZEN
Sprachdenken und Sprachkritik
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"... daß die hier vertretenen Ansichten der Strömung der öffentlichen Meinung entgegen laufen..."

Geschichte des Sprachproblems

Zwischen 1760 und 1830 werden in Deutschland Problem und Bedeutung der Sprache für den Aufbau und die Erkenntnis der Wirklichkeit zum erstenmal intensiv begriffen: bei philosophischen Außenseitern wie HAMANN, HERDER und HUMBOLDT. Wenn bis dahin die Sprache als Sprache nie ein zentrales Thema gewesen war, so hängt das damit zusammen, daß jenseits der Frage nach der Stellung und Bedeutung der Sprache im Dreieck Begriff - Phänomen - Sprache, jenseits der Frage von willkürlichen oder notwendigen Zeichen das semantische Substrat der Sprache als durchweg gesichert gelten konnte.

Ob dieses semantische Substrat die Welt der Idee, die Welt als Schöpfung oder der Kosmos der Erscheinungen war, es gab ein solches vorweg gesichertes Substrat als das primär Wichtige, und es gab eine gesicherte Relation der Sprache zu diesem Substrat, wie immer die Qualität der Sprache in dieser Relation bestimmt wurde. Die Pole dieser Qualitätsbestimmung sind etwa zu sehen in der mittelalterlichen Variante des Gedankens einer engsten Relation von "Sache" und Zeichen, wie sie seit dem Nominalismus zunehmend behauptet wird.

Aber erst mit dem Beginn der modernen Erkenntniskritik, mit der sich durchsetzenden Dominanz des Subjektivitätsprinzips wird Sprache zum zentralen Problem, das freilich noch bei IMMANUEL KANT kaum geahnt wird. Denn noch KANT verhält sich so, als sei Sprache gesichert in ihrer Relation zu einem semantischen Substrat, obwohl er doch gerade dieses Substrat problematisiert und an die Bedingungen menschlichen Erkennens gebunden hatte. Er begreift nicht die Sprachlichkeit dieser Bedingungen: der reinen Anschauungsformen und der Kategorien.

Dieses Nichtbegreifen wird im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als ein Nichtbegreifenwollen verstanden werden müssen. Wissenschaft als Positivismus, welcher die Identifizierung bis heute dominiert, sucht im schieren "Da" des Faktischen ein Unbezweifelbares zu retten, das als solches, als Bedeutungsloses ein semantisches Substrat freilich nicht sein kann und durch das die Relation von Sprache und Sache so sekundär zu werden scheint, daß die positiven Wissenschaften lange Zeit geradezu ihre Unsprachlichkeit behaupteten. Erst LUDWIG WITTGENSTEIN sieht die Notwendigkeit, aber auch die Aporie (Unmöglichkeit eine Frage zu lösen) dieser Relation und sucht sie in seinem Tractatus logico-philosophicus zu lösen.

Wir erkennen also nicht nur eine durch Tradition verursachte Blindheit der Philosophie um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gegenüber dem Sprachproblem, sondern auch eine durch das Interesse an einem Unbezweifelbaren begreifliche Verdrängung des Sprachproblems in der Erkenntnistheorie und in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts.

So ist es nicht verwunderlich, daß während des 19. Jahrhunderts eine auf das Wesentliche zielende Rezeption des deutschen Sprachdenkens in der akademischen Philosophie und in den positiven Wissenschaften kaum stattfindet. Denn dieses Sprachdenken hatte ja zu begreifen begonnen, daß Erkenntnistheorie und Wissenschaft zu denken seien von der Sprache als natürlicher Sprache und als konkretem Sprechen her, insofern alles Anschauen, Wahrnehmen, Erkennen und Begreifen durchaus sprachlich seien. Und diese Sicht läuft einer Erkenntnistheorie wie einer wissenschaftlichen Erkenntnis, die sich als metasprachlich behaupten wollen, stracks zuwider.

Offenkundig ist der Grund für die Verdrängung dieser Sicht die Furcht, auf der einen Seite die aus der philosophischen Tradition entwickelten Erkenntniskategorien, auf der anderen Seite die positiven Daten als letzte Gewißheiten zu verlieren. Und in der Tat kann sich allmählich und gewissermaßen subkutan (unter der Haut) herausbildende Sprachreflexion des 19. Jahrhunderts gelesen werden als Sprachkritik, die die vom Idealismus etablierten Erkenntnistheorien und die positivistisch bestätigten Einzelwissenschaften mehr und mehr in ihren Grundbeständen tangiert.

Dabei werden durchaus Vermittlungsversuche gemacht, die freilich von vornherein fragwürdig sind. Die radikalsten sprachkritischen Ansätze aber sind einig darin,daß sie die Abhängigkeit der Erkenntnistheorien wie der Wissenschaften von der Sprache sehen; doch sind sie uneinig in der Qualifizierung der Sprache selbst.

WILHELM von HUMBOLDT hatte in seiner Einleitung in das Kawi-Werk von Poesie und Prosa als den "Entwicklungsbahnen der Intellektualität selbst" gesprochen. Poesie sah er als "in ihrem wahren Wesen von Musik unzertrennlich" an, Prosa habe sich dagegen "ausschließlich der Sprache anvertraut". Und er postuliert "geistvolle Prosa" als das Erscheinen der Sprache, in dem sich "die ganze lebendige Entstehung des Gedankens, das Ringen des Geistes mit seinem Gegenstande zeichnet". "Wo dieser es erlaubt, gestaltet sich der Gedanke wie eine freie, unmittelbare Eingebung und ahmt auf dem Gebiete der Wahrheit die selbstständige Schönheit der Dichtung nach".

Dieses Postulat nach einer Synthesis von Erkenntnis und Dichtung in der Sprache als Prosa ist dem Zeitalter bereits weitgehend unverständlich, das sich am Ideal einer die Sachen als Tatsachen transportierenden Mitteilungssprache orientiert.

In der verdienstvollen Sammlung von H.-J. CLOEREN und S.J. SCHMIDT Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert sind im ersten Band u.a. Texte von OTTO FRIEDRICH GRUPPE abgedruckt, den der Herausgeber als HEGEL-Gegner neben KARL MARX und SÖREN KIERKEGAARD stellt und dem er eine Initialbedeutung für den logischen Positivismus zuschreibt. Die Texte stammen zu einem Teil schon aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der Zeit also, in der auch HUMBOLDTs Einleitung in das Kawi-Werk Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues erschien.

Es ist erstaunlich, daß GRUPPEs Philosophie offenbar ganz vergessen wurde. Denn GRUPPE ist als konservativer Journalist und preußischer Ministerialbeamter alles andere als ein sozialer Außenseiter seiner Zeit, und er ist als Philosoph gerade um die Vermittlung von Sprache und positiven Wissenschaften bemüht. Allein daß diese Vermittlung in seiner Zeit noch nicht als ein erkenntnistheoretisches Desiderat begriffen wurde, mag das Vergessen GRUPPEs erklären.

GRUPPE sieht einerseits die Bindung des Denkens an die Sprache als notwendige, er begreift das Problematische der Kantschen Erkenntnisvermögen, die bei genauerer Analyse sämtlich im Sprachvermögen hätten konvergieren (zusammenlaufen) müssen. Andererseits postuliert er die Naturwissenschaften, die den Sprachgebrauch zu regulieren hätten, als quasi außersprachlich. So stellt er Sprache, in der sich "der Act des Denkens", neben die "empirische Naturwissenschaft", in der sich "das Resultat unseres Denkens" abspiegele.

Und wiewohl er sich auch gegen AUGUSTE COMTEs "philosophie positive" wendet, behauptet er doch selbst als positiv die "Erkenntnis von der Unerschütterlichkeit der Grundtatsache dessen was die natürliche Anschauung uns bietet: es gibt keine andere Wirklichkeit als die uns vorliegende". Damit nimmt GRUPPE in der Tat Thesen vorweg, die dem Sprachskeptzismus FRITZ MAUTHNERs Halt verleihen und auch Grundlage eines logischen Empirismus werden sollten, der bis heute dominiert.


Nietzsche

In den späten siebziger Jahren meldet sich in FRIEDRICH NIETZSCHEs Philosophie eine Sprachkritik, die entschieden jeder Vermittlung von Sprache und Wissenschaft absagt. In einem der ersten Aphorismen von NIETZSCHEs erstem Werk des Umbruchs Menschliches, Allzumenschliches wird die Sprache selbst als "vermeintliche Wissenschaft" disqualifiziert. Der Mensch habe geglaubt, "in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben". Er fährt fort: "Sehr nachträglich - jetzt erst - dämmert es den Menschen auf, daß sie einen ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben." Aber es sei "zu spät", und zwar "glücklicherweise", die "Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig" zu machen.

Von diesem Aphorismus sagt FRITZ MAUTHNER, daß er "fast" einen seiner "Grundgedanken" ausspreche. Hier ist sicher einer der ersten Texte moderner Sprachkritik als Sprachskepsis. Aber in NIETZSCHEs Desillusionsdenken ist die Sprache nur ein Scheinwert neben anderen, obwohl er die Umwertung aller Werte von der Einsicht des zitierten Aphorismus her auf Sprachkritik hätte gründen können. Die Umwertung der Sprache als eines illusionären Erkenntniswerts vollzieht sich im Lob der Rhetorik und des Stils, die nicht auf Wahrheit, sondern auf Wirkung zu befragen seien.

So rühmt sich NIETZSCHE in der Epoche der Prosa als "Erfinder des Dithryambus" (überschwengliches Gedicht). Aber auch die Prosa selbst soll sich an der "Lehre vom besten Stile" orientieren, durch die der "Ausdruck zu finden (sei), vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt". NIETZSCHEs Plädoyer für Rhetorik unterbricht die Tendenz auf eine Prosa, in der sich Sachgehalt und individueller Ausdruck vermitteln, wie sich das in HUMBOLDTs Bemerkungen zur Prosa andeutete.

Trotz ZARATHUSTRAs Warnung vor den Dichtern, die "zuviel lügen" und schon damit auf Rhetorik festgelegt sind, wird NIETZSCHE zum Propagator eines selbstzweckhaft -artistischen Stils, dessen tägliches Erscheinen schon zu seiner Zeit die Produkte des gewandten Journalismus sind oder es doch wenig später sein werden. Daß er trotz seines Lobs der Rhetorik als "permanente(n) blinde(n) Lärm, der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt", charakterisiert hatte, ist eines der Paradoxe, die für NIETZSCHEs Denken geradezu konstituierend sind und die vielleicht in dem Paradox gipfeln, das in der Gleichzeitigkeit der Verwerfung aller Wahrheiten als Illusion und des Insistierens auf Wahrheit als Desillusionisierung besteht.

Schon in dem Aufsatz von 1873 Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zeigt sich dieses Paradox, in dem eine Aporie steckt, im Zusammenhang mit dem Sprachproblem. In aller Radikalität entdeckt NIETZSCHE das Illusionäre aller Erkenntnis, alles Strebens nach Wahrheit, insofern sie aus ganz und gar anthropomorphen, nämlich sprachlichen Setzungen bestehe. Wenn er auch Sprache - in einer Anlehnung an KANT - auf die Zeit- Raumvorstellung als Urformen menschlichen Vorstellen gründet und die Begriffsarbeit der Sprache von der der Wissenschaft ablösen läßt, so sind das nur leichte Inkonsequenzen innerhalb der Einsicht in die Sprachabhängikeit allen Denkens, die für NIETZSCHE den von der skeptizistischen Sprachkritik der folgenden Zeit nachgesprochenen Satz impliziert, daß "wir nichts wissen können", weil nichts "wahr an sich", wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen" sei.

NIETZSCHE bietet "das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben", das "real" zu nehmen sei, schon hier als Ausweg an. Doch sollen seine Sätze vom Protoillusionären der Sprache in bezug auf Erkenntnis und Wahrheit ja selbst wahre Sätze sein. Die Aporie des Skeptizismus meldet sich, die für die Sprachkritik der kommenden Jahrzehnte grundlegend sein wird. Immerhin läßt NIETZSCHE an einer Stelle die Ahnung von dieser Aporie selbst zu, wenn er von einem bestimmten Anthropomorphismus als Ausweis unserer Unfähigkeit, das "Wesen der Dinge" zu erkennen, spricht, und dann fortfährt:
"(...) wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß der (anthropomorphe Gegensatz von Individuum und Gattung) ihm (dem Wesen der Dinge) nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil".

Mauthner

NIETZSCHEs Winke und Andeutungen zur Sprachkritik wurden von FRITZ MAUTHNER zu einem Kompendium erweitert, das er Beiträge zu einer Kritik der Sprache nannte und das 1901 und 1902 in drei Bänden erschien. MAUTHNERs Buch ist eine der grundlegenden Arbeiten zur Sprachkritik in diesem Jahrhundert; sie hat nachweislich auf viele Autoren eingewirkt aber sie ist dennoch eher verschwiegen worden, als sei es unangenehm, sich auf sie zu beziehen. Das hat wahrscheinlich nur zu einem geringen Teil etwas damit zu tun, daß MAUTHNER, wie er selbst sagt, "kein Fachmann" ist.

Wichtiger war wohl, daß man weder als Philosoph noch als Wissenschaftler bereit war, alle Konsequenzen des MAUTHNERschen Ansatzes mitzuvollziehen, gerade weil MAUTHNER von der kommunen Erkenntnisvoraussetzung der DESCARTESchen Zweiteilung von res cogitans und res extensa ausgeht. In Lehrbuchbreite und mit enzyklopädischer Belesenheit, oft auch ins Plaudern gleitend, deutet MAUTHNER die wichtigsten zeitgenössischen Erkenntnistendenzen als lediglich undurchschaute immanente sprachliche Bewegungen und konstatiert gleich zu Anfang,

"daß Welterkenntnis durch die Sprache unmöglich sei, daß eine Wissenschaft von der Welt nicht sei, daß Sprache ein untaugliches Werkzeug sei für die Erkenntnis".
In der Tradition von Empirismus und Sensualismus stehend, erkennt MAUTHNER nur die menschlichen Sinne als mit der Außenwelt korrespondierend an; doch seien es "Zufallssinne" insofern uns durch sie nur ein zufälliger Ausschnitt der ganzen Realität vermittelt werde. Die Sprache aber leiste nichts anderes, als die Wahrnehmung dieser "Zufallssinne" zu erinnern und diese Erinnerung metaphorisch auf alle Vorstellung zu übertragen. Dies zeige, daß Sprache keinerlei Erkenntnisqualität, wohl aber künstlerische, poetische Qualität habe. Nur die Technik enthebt MAUTHNER als unsprachliche Verstandesleistung der Sprach- als Erkenntnisqualität.

Niemand vor MAUTHNER hatte einen solchen kritischen Sprachuniversalismus vertreten und das Sprachproblem damit zum einzigen und generellen Erkenntnisproblem erklärt.

Die Funktion sieht er außer in deren poetischen Möglichkeiten, die für ihn offenbar fern aller Erkenntnis, und zwar nicht nur methodischer Erkenntnis sind, in der Kommunikation, die aber ausdrücklich als bloßes "Geräusch" qualifiziert wird und so die moderne Kommunikationstheorie auf das pessimistischste einleitet. MAUTHNERs Beobachtungen über die Wortkunstleistung der Sprache sind im wesentlichen orientiert an der Mehrdeutigkeit und vor allem an der Metaphorizität aller Sprachen als natürlicher Sprachen. Zum metaphorischen Charakter der Sprache überhaupt hat MAUTHNER sehr Perspektivenreiches im zweiten Band seiner Beiträge gesagt. Aber in diesem Zusammenhang kann ich nur auf die grundsätzliche Problematik MAUTHNERs eingehen, die in den Aporien liegt, die aus einem erkenntnispraktischen Dualismus und aus einem erkenntnistheoretischen Skeptizismus hervorgehen.

Denn trotz seines kritischen Sprachuniversalismus hält MAUTHNER an einer Subjekt-Objekt -Relation als Wirklichkeitskonstituens in einem noch vorkantischen Sinn fest. "Unser Weltbild" hätte "da draußen irgend eine Ursache", die eben in den Sinneseindrücken experimentell erwiesen wäre. Daß aber ausgerechnet die Sinneseindrücke vor- oder außersprachlich sein sollen, daß wir ihrer gar außersprachlich versichert werden, ist eine Setzung, die mit MAUTHNERs Sprachuniversalismus nicht korrespondiert. Diese Setzung problematisiert MAUTHNER selbst nicht; so als benötige er angesichts des behaupteten universellen Trugs der Sprache doch noch diese letzte Gewißheit eines von der Sprache nicht tangierten Sinnlichen, eines unmittelbar Gegebenen.

Wohl aber problematisiert MAUTHNER den eigenen Erkenntnisskeptizismus, und zwar von Anfang an. Er will "seine Welt von der Tyrannei der Sprache ... erlösen", weiß aber, daß der Gegenstand seiner Untersuchung mit dem Mittel der Untersuchung identisch ist, das doch Erkenntnis nicht zuläßt. Diese Aporie glaubt er einerseits auf naive Weise lösen zu können, nämlich durch größere Exaktheit, obwohl ja Sprache als solche erkenntnisuntauglich ist; andererseits sieht er die Lösung durchaus paradox bzw. literarisch, denn er stellt sie in einer Metapher vor, die sich übrigens bei WITTGENSTEIN wiederfindet, der sie wahrscheinlich von MAUTHNER übernommen hat.

Es ist die Metapher von der Leiter der Sprache, deren Sprossen vernichtet werden müssen, indem man sie betrete. Doch ist eben das Zertrümmern schon immer identisch mit einem neuen Zimmern von Sprossen. Denn das Ergebnis des Buches ist ja nicht die Negation der Sprache als Erkenntnismodus, sondern die Erkenntnis aus und in Sprache von der erkenntnisunfähigen Sprache.

Trotz dieser Aporien ist MAUTHNERs Sprachkritik, wie gesagt, von großer Wirkung, ja sie ist im logischen Positivismus und in der ihm verpflichteten Linguistik derart aufgehoben worden, daß diese die semantische Seite der Sprache zugunsten einer bedeutungsfreien Struktur gänzlich vernachlässigten oder lediglich als Moment des kommunikativen Akts noch zuließen. Doch wiederholte sich hier die Aporie des Skeptizismus in leichter Variante: die aus der Indolenz (Gleichgültigkeit) gegenüber der Wahrheitsfrage konstruierten Sprachbegriffe sollen ja wiederum wahr sein.


Tendenz zur Mystik

Aber bezeichnender noch für die Epoche ist das an MAUTHNERs Werk, worauf es zielt und worin es mit anderen, zum Teil gegensätzlichen Tendenzen des Sprachdenkens um die Jahrhundertwende konvergiert: nämlich Mystik. MAUTHNER zitiert gegen Ende seines Werks MEISTER ECKHART mit Apologien des Schweigens als der mystischen Antisprache.

GUSTAV LANDAUER, der MAUTHNERs Werk propagierte, schrieb in einem kleinen Buch Skepsis und Mystik ausdrücklich, MAUTHNERs Buch sei "der Wegbereiter für neue Mystik und für neue starke Aktion".

Die "neue starke Aktion", gewendete Mystik sozusagen, begegnet LANDAUER dort, wo er als Repräsentant eines anarchosozialistischen Aktionismus gesehen werden kann.

"Neue Mystik" in MAUTHNERs Sinn findet sich auf die Formel gebracht am Ende von WITTGENSTEINs Tractatus, wenngleich das, worüber zu schweigen sei, da man nicht davon sprechen könne, für MAUTHNER im Gegensatz zu WITTGENSTEIN alles wäre.

LANDAUER weist in seinem kleinen Buch, also 1903, bereits auf ein "Manifest" hin, das kurz vorher erschienen war und in dem Sprachskepsis und eine daraus resultierende Mystik des Schweigens geradezu populär gemacht wurde: auf HUGO von HOFMANNSTHALs immer wieder zitierten Brief des Lord Chandos, 1902. Daß LANDAUER annimmt, der Brief sei nicht ohne Kenntnis der Sprachkritik MAUTHNERs geschrieben worden, ist durchaus gerechtfertigt.

Die Wirkung des Briefes ist wohl vor allem daraus zu verstehen, daß HOFMANNSTHAL das Thema der Sprachkritik durch die Form des fiktiven Briefs zu einem existentiellen machte. Er gab damit ein Identifizierungsmuster, das dem Bedürfnis der skeptizistischen Intelligenz um die Jahrhundertwende entgegenkam. Doch gab er auf eine Weise, die gestattete, Thema und Problem der Sprachkritik sofort zu einem überhistorischen zu stilisieren, auch die Möglichkeit, von ganz Offenkundigem abzulenken. Aber dieser sprachontologische Aspekt kann nicht verständlich machen, warum das Sprachthema gleichzeitig sowohl unter radikal skeptizistischen als auch unter erkenntnisutopischen Aspekten erscheint.


Müller

Der in Oxford lehrende Deutsche FRIEDRICH MAX MÜLLER hatte 1888 in Leipzig ein Buch mit dem Titel Das Denken im Lichte der Sprache erscheinen lassen. MÜLLER, wohl schon seit den späten zwanziger Jahren vergessen, wird von den Autoren der Jahrhundertwende, die sich mit unserem Thema beschäftigen, durchweg als bekannt eingeführt. MÜLLER selbst allerdings sagt zu Anfang seines Buches, daß "die Gegenstände, von denen es (sein Buch) handelt, (...) gegenwärtig in der Öffentlichkeit keine Sympathie (erregen), weder in England, noch auch dem Kontinente", und daß "die darin vertretenen Ansichten (...) der Strömung der öffentlichen Meinung entgegen" laufen.

Aber das bezieht sich wohl mehr auf die damals schon schwindende Problemblindheit bzw. Problemverdrängung des Positivismus und eines reflexionslosen Empirismus gegenüber der Sprache als auf den beginnenden Sprachskeptizismus. MÜLLER geht von der Identität von Vernunft und Sprache und damit von Denken und Sprache aus, wie das schon HAMANN getan hatte. Für ihn bedeutete das im Gegensatz zu MAUTHNER aber nicht die Hinfälligkeit aller denkerischen Bemühungen a priori, sondern vielmehr die Wiedergewinnung des Logos-Begriffs, den er ausdrücklich wieder in die Sprache der Philosophie eingeführt wissen will auf einem empirisch-induktiven Wege.

Er postuliert konsequent die "Sprache (als) die wahrhafte Geschichte des menschlichen Geistes", die er als "einen beständigen Protest neuer Gedanken und neuer Sprache gegen alte Gedanken und alte Sprache" sieht. Damit wird schon deutlich, daß es MÜLLER nicht um einen statischen Sprachmonismus, sondern um Sprachdialekt geht.

Wichtig ist auch, daß MÜLLER bei seiner Gleichung Denken-Sprache nicht eine vorsprachliche sinnliche Wahrnehmung annimmt, wie das MAUTHNER tut, sondern in Aufnahme und Überwindung der berühmten KLEISTschen Brillenmetapher, die er übrigens zitiert, ohne allerdings den Autor zu nennen, bemerkt: "(...) die Sprache bildet in Wahrheit unsere wirklichen Augen".

Auch bei MÜLLER haben wir, sehr deutlich im Rekurs auf den Logos-Begriff, einen mystischen Zug, aber im Sinne HEGELs, der Mystik und Spekulation wesentlich ineins sieht. Das bedeutet, daß das Sprachproblem jenseits des Skeptizismus, der, mag ihn noch so sehr sublimieren, immer wieder in Aporien führen muß, nur dann sinnvoll angegangen werden kann, wenn es nicht auf bloße linguistische Beschreibung reduziert wird.
LITERATUR - H. Arntzen in Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur - eine Sozialgeschichte, Bd. 8, Reinbek 1982
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