p-4G. HeymansA. SpirC. ÜberhorstHerbart     
 
ERICH JAENSCH
Von den psychologischen Grundlagen
unseres Weltbildes


"Die Elemente des Dingbegriffs werden uns nicht erst durch die Erfahrung geliefert, sondern durch eine Reihe auf ein Ziel hin zusammenwirkender Regulierungsvorrichtungen unserer elementaren Wahrnehmungsvorgänge. Entferne ich ein Objekt vom Auge, so behält es seine Größe trotz der Änderung des Netzhautbildes nicht darum bei, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß es seine Größe beibehält, sondern vielmehr darum, weil es der Wahrnehmungsmechanismus unmittelbar mit sich bringt, daß ich den Gegenstand trotz verschiedener Entfernung immer annähernd in der gleichen Größe sehe. Besäße der Mechanismus unserer Raumwahrnehmung diese Eigenschaft nicht, so wären wir überhaupt nicht in der Lage, die von der empiristischen Abbildtheorie unterstellte  Erfahrung zu machen."

Wie ernsthaft sich auch der Autor einer Untersuchung über das Wahrnehmungsproblem zu prüfen hat, ob seine Arbeit in keinem Punkt die nötige Sorgsamkeit vermissen läßt, die  eine  Frage braucht ihn wohl nicht zu beruhigen, ob der Gegenstand seiner Untersuchung der aufgewendeten Mühe auch würdig ist. Aus der Überzeugung heraus, daß wirkliche oder vermeintliche Erkenntnis mit der Wahrnehmung anhebt, haben Denker der verschiedensten Zeit und der verschiedensten Richtung dem Wahrnehmungsproblem eingehende Untersuchungen gewidmet.

Allein wissenschaftliche Probleme empfehlen sich der Bearbeitung nicht so sehr durch die Patina des Alters, welche sie etwa umkleidet, als vielmehr durch den Umstand, daß die wissenschaftliche Lage der jeweiligen Gegenwart zu ihrer Bearbeitung aufzufordern scheint. In der Gegenwart nicht weniger wie in früheren Zeiten sieht sich die Philosophie nicht selten genötigt, im Interesse der Ästhetik, Erkenntnislehre und Naturphilosophie, ja im Interesse noch prinzipiellerer Probleme der Weltanschauung, mit Fragen und Ansprüchen an die Lehre von der Wahrnehmung heranzutreten. Doch diese Disziplin scheint, wenngleich dank genialer Forscherarbeit zur Höhe und Reife entwickelt, zu den prinzipielleren Aufgaben der Psychologie, geschweige zu den eben genannten philosophischen Disziplinen, keine engere Beziehung zu besitzen. Wie nun aber, wenn die Weiterbeschreitung des bereits geebneten Weges ergäbe, daß jene Beziehung doch besteht? - Aus den Tatsachen, über die das vorliegende Werk berichtet, erhellt sich die innige und unzertrennliche Verkettung, welche zwischen der Raumpsychologie einerseits, der Lehre von der Aufmerksamkeit und dem Interesse andererseits besteht, sodaß man sich fast versucht fühlen könnte, die Psychologie des Raumes als ein Spezialgebiet der letztgenannten Disziplinen anzusehen. Rückt die Raumpsychologie in den Kreis der zentralen psychologischen Disziplinen ein, so kann es nicht wunder nehmen, daß sie auch an Ästhetik und Erkenntnislehre wieder engeren Anschluß gewinnt. All das versucht die vorliegende Arbeit auszuführen,  angedeutet  wird darin, daß unsere Disziplin noch mit prinzipielleren Fragen verknüpft zu sein scheint. - Empfiehlt sich somit die Lehre von der Wahrnehmung schon durch die Weite der Perspektive, welche sie zu eröffnen verheißt, so kommt hierzu als besonders wertvoll der Umstand, daß sie bei ihrem Weg den festen und sicheren Boden nicht zu verlassen genötigt ist. Auch endet dieser Weg nicht, wie es sonst zuweilen bei prinzipiellen Problemen der Fall ist, so schnell an einer unübersteigbaren Schranke, und es ist nicht abzusehen, zu welchen Ausblicken er noch geleitet. Kaum hervorgehoben zu werden braucht, daß die gegenwärtige Arbeit wichtige Punkte späteren Untersuchungen überlassen muß.


EINLEITUNG
Die Forderung der wiederholten Rückkehr
zu den Fundamentalversuchen

Alle Gesetzeswissenschaften haben die Aufgabe, für mehr oder weniger ausgedehnte Tatsachenkreise den zusammenfassenden Ausdruck zu liefern. Die Einzeltatsache gilt erst dann als "begriffen", wenn ihre Zurückführung auf das Gesetz gelungen ist. Die Spezialgesetze wiederum, auf welche die erste und weniger eindringliche Bearbeitung der Tatsachen führt, werden im eigentlichen Sinn "begriffen" erst dann, wenn sie als einfache Folgerungen aus Gesetzen von noch größerer Allgemeinheit erkannt sind. Daher pflegt in den Darstellungen einer Gesetzeswissenschaft die logische und mathematische Verknüpfung der Einzelgesetze einen umso breiteren Raum einzunehmen, je weiter die betreffende Wissenschaft fortgeschritten ist.

Die Psychologie ist von diesem Zustand logischer Vollendung weit entfernt. FECHNER zwar, dessen Ideale doch an den exakten Wissenschaften orientiert waren, glaubte, daß die experimentelle Psychologie nach der Errichtung eigener Laboratorien in kurzer Zeit vollendet sein wird. Uns Heutigen gibt diese Reminiszenz Anlaß zu etwas kleinlauten Betrachtungen über die Tatsache, daß die bahnbrechenden Forscher die Größe des noch zurückzulegenden Weges in hohem Maß zu unterschätzen pflegen. ARISTOTELES hielt, eben an der Schwelle einer wissenschaftlichen Kultur stehend, die Vollendung menschlicher Wissenschaft überhaupt für nahe bevorstehend.

Unter den psychologischen Disziplinen scheint es die Raumpsychologie zu sein, welche den exakten Wissenschaften relativ am nächsten steht. Schon eine rein äußerliche Betrachtung von Arbeiten dieses Forschungsgebietes lehrt, daß hier die logische und mathematische Deduktion, ja selbst die Formel, eine in der Psychologie ungewöhnlich große Rolle spielt. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, welche Bedeutung HELMHOLTZ und HERING dem Horopterproblem und seiner eingehenden geometrischen Behandlung zuschreiben, um zu erkennen, daß hier eine Behandlungsweise vorliegt, welche vom Vorgehen der exakten Wissenschaften nicht erheblich abweicht. Indem man Objekte von möglichst einfacher räumlicher Konfiguration betrachtet, gelangt man durch raumpsychologische "Fundamentalversuche" zur Kenntnis der funktionellen Abhängigkeitsverhältnisse, welche zwischen den räumlichen Beziehungen der Außenwelt einerseits und den Beziehungen der Wahrnehmungselemente andererseits bestehen. Aufgrund dieser an  einfachen  Objekten gewonnenen Abhängigkeitsgesetze zwischen den räumlichen Elementen der Außenwelt einerseits und den Wahrnehmungselementen andererseits läßt sich vielfach durch mathematische, besonders geometrische Betrachtungen ermitteln, wie sich ein Objekt von  komplizierterer  räumlicher Beschaffenheit für die Wahrnehmung darstellen muß. Werden dann die an einem komplizierteren Objekt hervortretenden Wahrnehmungsphänomene wirklich Gegenstand der Beobachtung, so kann die Deduktion aus den Fundamentalversuchen als eine "Erklärung" der beobachteten Erscheinungen angesehen werden.

Allein die Anerkennung der mannigfaltigen Beziehungen und Ähnlichkeiten zwischen Raumpsychologie und physikalischer Wissenschaft darf nicht zur Außerachtlassung von gewissen tiefgreifenden  Unterschieden  führen. In der Raumpsychologie ist nämlich, wie in den meisten Gebieten der Psychologie überhaupt eine Forderung maßgebend, deren Befolgung in der Physik sinnlos wäre, in der Psychologie hingegen oft gerade zu den tiefdringendsten Erkenntnissen führt. Ich möchte diese Forderung als "die Forderung der wiederholten Rückkehr zu den Fundamentalversuchen bezeichnen. Wenn man heute GILBERTs "De magnete" aus dem Jahr 1600 aufschlägt und die dort beschriebenen Versuche nachmacht, so wird bei diesem Verfahren eine Förderung der Elektrizitätslehre schwerlich herauskommen. In der Psychologie hingegen führt manchmal der geradlinige Aufstiegt von Einfachsten zum Komplizierteren von einem gewissen Zeitpunkt an nicht mehr erheblich weiter, während dann die plötzliche Umkehr des Weges, die Rückkehr zum scheinbar Einfachsten, die erwünschte Aufklärung bringt.

Wenn wir in der Raumpsychologie nicht in der gewünschten Weise vorwärts kommen, so liegt das vielleicht daran, daß uns das Vorbild der Physik beim Ausbau der Disziplin zu ausschließlich vorgeschwebt hat, daß wir uns jetzt zu ausschließlich damit beschäftigen, die Folgerungen aus den "Fundamentalversuchen" in immer kompliziertere Verzweigungen zu verfolgen. In dieser Weise vollzieht sich ja eben der Fortschritt der physikalischen Forschung. Da die Raumpsychologie aber eine  psychologische  Disziplin ist, so wird von vornherein zu erwarten sein, daß bei ihrem Aufbau ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden sind, wie auf anderen Gebieten der psychologischen Forschung. Als allgemein zugestanden darf nun aber gelten, daß auf dem Gebiet des höheren Seelenlebens schon die  bloße Beschreibung  der Beobachtungsphänomene auf eigentümliche Schwierigkeiten stößt. Die sogenannte deskriptive oder empirische Psychologie sucht ja im wesentlichen in der Weise fortzuschreiten, daß sie die betreffenden Erlebnisse ästhetischer, logischer, ethischer, religiöser Art, immer genauer zu beschreiben trachtet. Die Beschreibung der Beobachtungsphänomene pflegt erst allmählich eine  vollständige  zu werden. Das gilt aber nicht nur von den komplexeren, sondern auch von den elementaren seelischen Erlebnissen. Das Achten auf alle Einzelheiten des Erlebnisses bei anscheinend so einfachen Vorgängen, wie es das Anhören einer tönenden Stimmgabel oder die Größenvergleichung zweier Strecken darstellt, kann zu wichtigen psychologischen Einsichten führen.

Sollte die Uneinigkeit in der Lehre von der Tiefenwahrnehmung etwa daher rühren, daß das Tiefenproblem bisher zu wenig von dem eben skizzierten psychologischen Standpunkt behandelt worden ist, so wird es sich zunächst empfehlen, diesen Standpunkt gegenüber den Versuchen  allereinfachster Art  zur Geltung zu bringen. Wir wollen darum mit der experimentellen und beobachtenden Analyse der einfachsten und längst bekannten "Fundamentalversuche" beginnen.

Nachdem wir uns für die  Art  unseres Vorgehens einen Plan entworfen haben, müssen wir noch über den  Gegenstand  unserer zuerst vorzunehmenden Untersuchung einigen; d. h. aber nach dem eben Ausgeführten: wir müssen uns fragen, welche Versuche in der Lehre von der Tiefenwahrnehmung als "Fundamentalversuche" anzusehen sind und hier - mutatis mutandis [mit den entsprechenden Änderungen - wp]- etwa eine annähernd ähnliche Rolle spielen, wie die "Fundamentalversuche" der Elektrizitätslehre auf dem betreffenden Gebiet.

Schon eine oberflächliche historische Orientierung über den Stand des Problems reicht zur Beantwortung der eben aufgestellten Frage aus. Nachdem HERING in seinen "Beiträgen zur Physiologie" die Lehre vom Raumsinn zum ersten Mal in systematischer Weise behandelt und damit den Grund zu dieser Disziplin gelegt hatte, schenkte HERMANN von HELMHOLTZ' Meisterschaft der Welt ein Werk, welches durch die Vielseitigkeit des experimentellen Materials und durch die logische Strenge des Aufbaus jederzeit als eines der edelsten Vorbilder experimentell-psychologischer Forschungsweise gelten wird. Aber die Ehrfurcht vor dem großen Toten darf uns nicht daran hindern, zuzugeben, daß in jenem dritten Abschnitt des "Handbuchs der physiologischen Optik", welcher den Wahrnehmungen gewidmet ist, vieles - vielleicht das meiste - von neuem aufgebaut werden muß.

In der Raumtheorie HERINGs, wie sie in den grundlegenden "Beiträgen" und in der in MÜLLERs Archiv erschienenen Darstellung niedergelegt ist, war dem binokularen Sehen und insbesondere der Querdisparation oder binokularen Parallaxe eine grundwesentliche Rolle für das Tiefensehen zugeschrieben worden. Es läßt sich heute kaum wegleugnen, daß HELMHOLTZ die Bedeutung des binokularen Sehens nicht hoch genug eingeschätzt hat. Für seine empiristische Raumtheorie ist das binokulare Sehen kein grundwesentlicher Faktor des Tiefensehens, sondern es ist nur  ein  Faktor neben zahlreichen anderen, mehr oder weniger gleich berechtigten und gleich einflußreichen. Bei einem von HELMHOLTZ in diesem Zusammenhang angestellten Versuch, durch den er nachzuweisen suchte, daß der Tiefeneindruck trotz Gleichheit der binokularen Parallaxe je nach dem Konvergenzzustand der Augenachsen verschieden ist, konnte HILDEBRAND (1) für das Versuchsergebnis eine physikalische Fehlerquelle verantwortlich machen. Aber auch, wenn man von derartigen vereinzelten Irrtümern des Meisters absieht, ist nicht zu verkennen, daß die experimentelle Untersuchung des binokularen Sehens, des zweifellos belangvollsten Faktors, bei HELMHOLTZ nicht unerhebliche Lücken aufwies. EWALD HERING hat dann, auf seine grundlegenden Arbeiten zurückgreifend, dem binokularen Sehen von neuem seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Er schuf für dieses Untersuchungsgebiet ein Instrumentarium von hoher Präzision, dessen sich die Späteren mit Dankbarkeit bedient haben und bedienen. Mit Hilfe dieses Instrumentariums wurde das binokulare Sehen, der unstreitig wichtigste Faktor der Tiefenwahrnehmung, von HERING und seinen Schülern - in grundlegenden Arbeiten besonders von HILLEBRAND - auf das Eingehendste untersucht. Auch wenn der mehr äußerliche Umstand nicht vorläge, daß fast alle neueren Gesamtdarstellungen der Lehre von der Tiefenwahrnehmung diese Disziplin auf dem Grund der erwähnten Untersuchungen aufbauen, auch dann könnte es dem mit dem Gegenstand einigermaßen Vertrauten nicht entgehen, daß in den von der HERINGschen Schule mit dem "Haploskop" angestellten Versuchen die eigentlichen "Fundamentalversuche" in der Lehre von der Tiefenwahrnehmung zu erblicken sind. Wir werden darum mit der Analyse des einfachsten dieser Versuche anfangen müssen, und wir können, nachdem wir uns über Methode und Gegenstand geeinigt haben, unsere eigene Untersuchung beginnen.


Anwendung der raumpsychologischen Untersuchung
auf einzelne Probleme aus der Lehre von den
psychologischen Grundlagen unseres Weltbildes


§ 1.

CHRISTOPH SIGWART beginnt in seiner bedeutenden "Logik" die Analyse des Dingbegriffs folgendermaßen (2):
    "Beginnen wir also beim Nächstliegenden, bei dem, was ganz unzweifelhaft von jedermann als  Ding  bezeichnet wird ..., so läßt sich unschwer durch eine Analyse dessen, was wir damit bezeichnen und durch Weglassung der Differenzen der uns vorschwebenden Beispiele feststellen, daß wir damit zunächst ein Vorgestelltes meinen, daß, zuerst Gegenstand der Wahrnehmung und weiterhin der reproduzierenden Erinnerung, vor allem als  e i n e räumlich abgegrenzte, in der Zeit dauernde Gestalt sich uns darstellt.  (Ein Blitz, ein Schuß, ein Geruch sind uns keine  Dinge  in demselben sinn wie ein Stein oder ein Stück Holz.) Besinnen wir uns, was uns zuerst bestimmt irgendein Wahrgenommenes als ein Ding zu betrachten, so ist es die  Unveränderlichkeit  seiner Gestalt; räumliche Abgrenzung wie Dauer einer Gestalt aber kommt uns dann besonders leicht zu Bewußtsein, wenn diese in der  Bewegung  sich von anderen loslöst und an verschiedenen Orten des Raums als dieselbe erscheint."
Ergänzend ist wohl noch hinzuzufügen, daß wir den Dingen nicht nur bestimmte Gestalten, sondern auch bestimmte Farben zuschreiben: der Kreide die weiße, dem Schwefel die gelbe, der Kohle die schwarze Farbe. Die Farbe ist uns ein wesentliches Attribut, eine ständige Eigenschaft dieser Dinge. Diese Tatsache muß eigentlich überraschen.
    "Das Papier eines Buches sehen wir bei jeder zum Lesen bequemen Beleuchtung weiß und die Buchstaben schwarz, ebenso morgens, wie mittags oder abends, und egal ob wir bei blauem oder grauem Himmel oder unter dem grünen Laubdach eines Waldes, ob wie bei Tageslicht, Gaslicht, elektrischem Bogen- oder Glühlicht lesen. Die meisten bemerken selbst große Verschiedenheiten in der Beleuchtung erst dann, wenn dieselben nebeneinander oder rasch nacheinander zur Wirkung kommen." (3)

    "Hering  hat das Intensitätsverhältnis bestimmt, welches bei Tagesbeleuchtung zwischen dem vom  weißen  Papier und dem von den  schwarzen  Buchstaben einer guten Druckschrift zurückgeworfenen Licht besteht und dasselbe günstigenfalls beiläufig auf  15:1  gefunden. Dies bedeutet also, daß von der Flächeneinheit des unbedruckten Grundes nur 15 mal soviel Licht zurückgeworfen wurde als von der Flächeneinheit der Buchstaben. Andererseits verglich ich einige Male die Intensität der Beleuchtung meines Arbeitstisches am frühen Morgen, wenn dieselbe zum ganz bequemen Lesen eben zureichend war, mit der Beleuchtung desselben Tisches am Mittag eines hellen Tages bei weißwolkigem Himmel und fand das Verhältnis beiläufig  1:50.  Somit waren bei der Mittagsbeleuchtung die schwarzen Buchstaben etwa dreimal heller als bei der Morgenbeleuchtung das weiße Papier, und die Lichtstärke des letzteren betrug des Morgens etwa ⅓ der Lichtstärke, welche die Buchstaben des Mittags hatten. Trotz alledem aber erschienen bei der einen und bei der anderen Beleuchtung die Buchstaben schwarz und das Papier weiß. Wäre die Farbe oder wie man hier auch sagen kann, die Helligkeit des Papiers und die Dunkelheit der Buchstaben nicht innerhalb weiter Grenzen unabhängig von der Stärke der Beleuchtung, so hätten mir dieselben Buchstaben, welche ich des Morgens schwarz sah, des Mittags weiß und sogar noch viel heller erscheinen müssen als des Morgens das weiße Papier, oder es hätte mir umgekehrt  weiße  Papier des Morgens tiefer schwarz erscheinen müssen als des Mittags die Buchstaben."
Durch einen schönen Versuch zeigt HERING dann weiter, daß für unser Auge ein bei Tagesbeleuchtung blau erscheinendes Papier auch bei Gasbeleuchtung  blau  bleiben kann, obwohl es jetzt ein Strahlengemisch zurückwirft, welches wie bei Tag auch nicht entfernt blau, sondern vielmehr braun sehen. HERING führt diese annähernd verwirklichte Farbenkonstanz der Sehdinge auf das Zusammenwirken mehrerer, im einzelnen genauer angebbarer  Regulierungsvorrichtungen oder Selbsterneuerungen  des äußeren und inneren Auges zurück. (4)

Gesetzt auch den Fall, daß manches an den sinnespsychologischen Aufstellungen EWALD HERINGs im einzelnen der Korrektur bedürfen mag, es ist trotzdem für jeden, der sich in das Werk dieses Forscher einzuleben versucht hat, gewiß, daß diesem Werk ein bleibender und als wahrhaft philosophisch zu bezeichnender Gedanke zugrunde liegt. Erblickt OTTO LIEBMANN den Kerngedanken der von KANT begründeten Umwälzung unserer philosophischen Ansichten "lakonisch ausgesprochen, in der fundamentalen, aber "spät gewonnenen Einsicht, daß der Mensch alles schlechthin nur im Medium des menschlichen Bewußtseins erkennt", (5) so ist zu sagen, daß mit der Durchführung dieses Gedankens auch auf psychologischem Gebiet nur erst in sporadischer Form Ernst gemacht worden ist. (6) Nur zu sehr beherrscht uns alle noch die Vorstellung, daß das Psychische eine Art von Kopie oder Photographie einer transzendenten Wirklichkeit ist.

In seinen oben teilweise skizzierten Ausführungen über die Gedächtnisfarben wendet sich HERING mit Entschiedenheit gegen die Auffassung, welche diesen Kreis von Erscheinungen ausschließlich auf die "Erfahrung" zurückführen möchte. Wir könnten jene "Erfahrungen" gar nicht machen, wenn nicht von Anfang an die erwähnten Regulierungsvorrichtungen und Selbststeuerungen tätig wären. Die Regulierungsvorrichtungen  ermöglichen es uns erst,  jene Erfahrungen zu machen.
    "Wenn wir z. B. den unbedruckten Saum eines im Hintergrund des Zimmers hängenden Kupferstichs nicht dunkelgrau, sondern weiß sehen, obwohl seine Lichtstärke vielleicht kleiner ist als diejenige eines in der Nähe des Fensters befindlichen und uns dunkelgrau erscheinenden Papiers, und wenn wir also imstande sind, die mit der Entfernung vom Fenster zunehmende Schattigkeit oder Abnahme der Beleuchtungsstärke bei der Art unseres Sehens gleichsam miteinzurechnen, so könnte man meinen, daß wir auch imstande sind, die im Laufe eines Tages eintretenden Zu- oder Abnahmen der Gesamtbeleuchtung miteinzurechnen und die  wirklichen  Farben der Dinge danach abzuschätzen ..."

    "Da wir jedoch nur aufgrund der Farben, in welchen wir die Dinge sehen, zur Kenntnis der Beleuchtungsintensität als des angeblichen Maßstabes unserer Abschätzungen kommen könnten, andererseits aber eben diese Farben erst das Ergebnis dieser Abschätzungen sein sollen, so bewegt sich die soeben geschilderte Auffassung in einem unfruchtbaren Zirkel."

    Daß die Art, in welcher wir die Außendinge sehen, in zuweilen überwältigender Weise durch unsere Erfahrung mitbestimmt wird, ist freilich richtig; aber  man darf nicht diejenigen angeborenen Funktionen des Sehorgans, aufgrund deren diese Erfahrungen erst erworben worden sind, selbst wieder als ein Produkt der Erfahrung hinstellen.  Das tut man aber ..., wenn man insbesondere die auf der Simultananpassung beruhenden Tatsachen aus einem erworbenen, auf unbewußten Schlüssen und Urteilen beruhenden  psychologischen  Anpassungsvermögen zu erklären versucht."
Die Grundlagen der SIGWARTschen Analyse des Dingbegriffs bedürfen, abgesehen von dem soeben gemachten, die Gedächtnisfarben betreffenden Zusatz einer Fortführung und Ergänzung nach unten hin, insofern als noch die Frage der Beantwortung harrt: Wie kommen wir eigentlich dazu, den Objekten eine Unveränderlichkeit der Gestalt zuzuschreiben? Ein Quadrat sieht doch, wie MACH mit Recht hervorgehoben hat, ganz anders aus, je nachdem es auf einer seiner Ecken oder auf einer seiner Seiten steht. Entferne ich einen Gegenstand vom Auge, so ändert sich die Netzhautbildgröße proportional der Entfernung; sie bleibt demnach keineswegs konstant. Wie kommen wir also zum Grundelement des Dingbegriffs, welches von SIGWART in zutreffender Weise gekennzeichnet wird? Welcher Art sind die Vorgänge, die es bewirken, daß ich dieser Buchseite eine unveränderliche Gestalt auch dann zuschreibe, wenn ich das Blatt vom Auge entferne oder wenn ich es drehe und dadurch bewirke, daß die Buchstaben nun ganz anders aussehen?

Die Antwort auf diese Frage ist ganz analog derjenigen, welche HERING für die Gedächtnisfarben gibt. Denken wir uns die Grundlagen der oben reproduzierten Analyse des natürlichen Dingbegriffs durch die Einbeziehung der Gedächtnisfarben ergänzt, so können wir sagen: Die Elemente des Dingbegriffs werden uns nicht erst durch die "Erfahrung" geliefert, sondern durch eine Reihe auf ein Ziel hin zusammenwirkender Regulierungsvorrichtungen unserer elementaren Wahrnehmungsvorgänge. Entferne ich ein Objekt vom Auge, so behält es seine Größe trotz der Änderung des Netzhautbildes  nicht darum bei, weil ich die "Erfahrung" gemacht habe, daß es seine Größe beibehält, sondern vielmehr darum, weil es der Wahrnehmungsmechanismus unmittelbar mit sich bringt, daß ich den Gegenstand trotz verschiedener Entfernung immer annähernd in der gleichen Größe sehe.  Besäße der Mechanismus unserer Raumwahrnehmung diese Eigenschaft nicht,  so wären wir überhaupt nicht in der Lage, die von der empiristischen Abbildtheorie supponierte  [unterstellte - wp]  "Erfahrung" zu machen. 

Die Überzeugung, daß ein Objekt seine Gestalt nicht ändert, wenn wir es, ohne seine Entfernung vom Auge zu ändern, drehen, gründet sich gleichfalls auf den elementaren Wahrnehmungsmechanismus; und zwar sind, wie wir sogleich sehen werden, an dieser Stelle die Befunde von WILLIAM STERN "Über verlagerte Raumformen" (7) heranzuziehen. Der Begriff der Unveränderlichkeit der Gestalt - sowohl bei der Entfernung wie bei der Drehung - und damit ein Grundelement des Dingbegriffs, kommt nicht einmal im eigentlichen Sinn durch "Regulierungsmechanismen" zustande; es verhält sich gar nicht so, daß der Wahrnehmungsprozeß zunächst nach einer anderen Richtung tendiert und daß er dann durch einen zweiten, (Regulierungs-)Mechanismus in andere Bahnen geleitet wird; vielmehr ist der Begriff der Konstanz der Gestalt in den elementaren Wahrnehmungsfunktionen bereits  präformiert,  so daß uns dieselben Funktionen, welche uns die Wahrnehmung der Größe und der Gestalt vermitteln, den Begriff der Größenkonstanz bei verschiedener Entfernung und den Begriff der Konstanz der Gestalt bei Drehung schon  mit  vermitteln. -

Ein Komplex von Objekten erscheint, wie wir sahen, relativ klein, wenn wir den Komplex simultan überschauen, relativ groß, wenn wir den Komplex mit der Aufmerksamkeit durchwandern. Die Richtung unserer Interessen bringt es nun mit Notwendigkeit mit sich, daß wir gegenüber nahen Objekten die erste, gegenüber fernen Objekten die zweite Verhaltensweise einschlagen. Dieselben Funktionen, welche uns die Größenwahrnehmung überhaupt vermitteln, vermitteln uns also auch, in Verbindung mit der eben erwähnten Aufmerksamkeitsgesetzmäßigkeit - d. h. in Verbindung mit dem  Aubert-Försterschen Gesetz - die Wahrnehmung der Größenkonstanz bei verschiedener Entfernung.
    Die für das Geschäft des Erkennens insbesondere für die Identifikation der Objekte außerordentlich  zweckmäßige  Veranstaltung, daß wir ein Objekt trotz wechselnder Entfernung annähernd in gleicher Größe sehen, ist weder darwinistisch noch lamarkistisch zu deuten, sondern eben nur ein Ergebnis der unmittelbaren (präformierten?) psychischen Mechanik aufzufassen. Wir haben die Faktoren aufgewiesen, von denen die Größenwahrnehmung wesentlich bestimmt wird. Wie sich aus den Prämissen der Schluß ergibt, so ergab sich, daß die Faktorn, die zur Größenwahrnehmung  überhaupt  führen, in Verbindung mit gewissen elementaren Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeit zum Phänomen der approximativen Größenkonstanz führen müssen. Das komplexe Phänomen der Größenkonstanz ist in den elementaren psychischen Funktionen schon eingeschlossen, in ähnlicher Weise wie der Schluß in den Prämissen oder wie der Fall der Kugel im Fallgesetz. Wir kamen also mit einer echten, restlos kausalen Erklärung aus. Im vorliegenden Spezialproblem hätte es also gar keinen Sinn, jene eminent zweckmäßige Veranstaltung erst als eine zu den elementaren Funktionen durch Variation und Auslese oder durch Anpassung  neu hinzugekommene  Funktion anzusehen. Im Fall der sogleich zu behandelnden Konstanz der Gestalt gilt das gleiche. - Das schwierige Problem der Teleologie kann hier nicht aufgerollt, geschweige denn zum Austrag gebracht werden; doch teilen wir die prinzipielle Überzeugung Liebmanns:

      "Die alte Vexierfrage, ob der Eichenbaum früher dagewesen ist oder die Eichel, bleibt immer noch unentschieden; und - (was das Schlimmste ist!) - sie repräsentiert nicht, wie  Epimenides,  der Kreter sagt, alle Kreter seien Lügner, etc. ein dialektisch-sophistisches Schikanenspiel, sondern ein höchst reelles und ernsthaftes, wissenschaftlich durchaus berechtigtes Problem." (8)
Ist somit die Größenkonstanz in den elementaren Funktionen der Wahrnehmung bereits präformiert, so gilt das Gleiche für die Konstanz der Gestalt bei der Drehung. Die bereits erwähnten Versuche von STERN haben dargetan, daß Kinder eine dem Erwachsenen exorbitant erscheinende Indifferenz gegenüber der Raumlage an den Tag legen. Läßt man Kindern eine Schriftprobe oder eine figürliche Darstellung nachzeichnen, so erhält man nicht selten eine Wiedergabe, die um irgendeinen Winkel gegenüber der Vorlage gedreht oder zu ihr in einer Richtung symmetrisch erscheint. Für den Erwachsenen sieht die Kopie zunächst ganz anders aus als die Vorlage, während sie sofort als korrekt genannt wird, wenn man die Kopie dreht oder spiegelt. Wie beim Kopieren, so zeigt sich diese Indifferenz gegenüber der Raumlage auch beim  Erkennen  von Formen. Von einem Kind heißt es z. B.:
    "Er beschaut mit großer Freude Bilder, und dabei macht es ihm nicht viel aus, die Bilder verkehrt zu sehen; er ruft ein umgekehrtes Pferd ebenso "grgr" wie ein richtig gesehenes."
Ein anderes Kind liest Spiegelschrift genauso schnellt wie rechtsläufige Schrift.

Bei der Erklärung der Erscheinung der verlagerten Raumformen müssen wir von den rudimentären Fällen von verlagerten Raumformen ausgehen, welche sich auch noch beim Erwachsenen finden. Halte ich eine Zeichnung schräg und vertiefe ich mich mit der Aufmerksamkeit ganz in den Inhalt der Zeichnung, indem ich meine Aufmerksamkeit von der Umgebung ablenke, so fällt der Eindruck, daß sich die Zeichnung in einer abnormen Lage befindet, nicht selten dauernd, zumindest aber in den Momenten scharfer Aufmerksamkeitskonzentration auf den Inhalt des Bildes hinweg. Ich sehe die Zeichnung dann ebenso, wie wenn sie sich in normaler Lage befände. Einer meiner Hörer, der sich viel mit astronomischen Beobachtungen beschäftigt, erzählt mir, er habe beim Blick in ein umkehrendes Fernrohr meist gar nicht den Eindruck, die Dinge verkehrt zu sehen.

Eine wichtige Handhabe zur Erklärung der verlagerten Raumformen liefert uns besonders das Kovariantenphänomen [Täuschung in der Wahrnehmung von Raum und Tiefe - wp]; denn erstens  ist  dieses Phänomen eine verlagerte Raumform, welche sich auch beim Erwachsenen zeigt, und zweitens konnte dieses Phänomen im Zusammenhang unserer Untersuchung aufgeklärt werden. Wenn sich der Anblick eines Fadenprismas beim Zurückschieben eines Seitenfadens so darstellt, als ob das Objekt nicht vom tatsächlichen Standort  o1 sondern vom Standort  o2  aus betrachtet würde, so zeigt sich hier eine ganz ähnliche Indifferenz gegenüber der Raumlage. Diese Indifferenz hatte ihren Grund darin, daß erstens die Tiefenwerte Strecken, scheinbare Größen sind, die von einer bestimmten Koordinatenebene aus gerechnet werden, und daß zweitens diese Koordinatenebene beim Erwachsenen zwar in der Regel die Kernfläche (K) ist, aber auch durch eine  innerhalb der Figur selbst gelegene Ebene  repräsentiert sein kann. Die Strecken in der Figur werden also gar nicht  immer  von einer fest mit dem  Körper  des Beobachtenden verbundenen Ebene  K  (der Kernfläche) aus, sondern auch unter gewissen Umständen von einer  in der Figur selbst  gelegenen Ebene als Koordinaten gerechnet.

Nun vermochen wir aber im Lauf unserer Untersuchung eine weitgehene "psychologische Homogenität der drei Dimensionen des Sehraums" wahrscheinlich zu machen; es ist darum schon von vornherein zu vermuten, daß Fälle, die dem Kovariantenphänomen entsprechen, auch in den beiden ersten Dimensionen vorkommen werden. Dieser dem Kovariantenphänomen analoge Fall ist in STERNs "verlagerten Raumformen" gegeben. Folgende Erklärung scheint nach dem eben Ausgeührten im höchsten Maß wahrscheinlich. Das Kind  sieht  trotz der Verdrehung tatsächlich  darum  immer dieselbe Figur, weil alles Strecken von einer  in der Figur selbst  befindlichen Koordinatenauchse, nicht aber von einer mit seinem  Körper  fest verbundenen Koordinatenachse aus rechnet. Es ist mehr als ein Vergleich, sondern es trifft den Sachverhalt  im eigentlichen Sinne,  wenn wir sagen, eine Kurve besitzt, wenn sie im Raum verschoben wird, beim Kind immer dieselbe, beim Erwachsenen hingegen eine mit der Verschiebung von Moment zu Moment anders werdende Gleichung darum, weil die Gleichung vom Kind auf  ein mit der Figur fest verbundenes,  vom Erwachsenen hingegen vorwiegend auf  ein mit dem Körper fest verbundenes  Koordinatensystem bezogen wird.

Die Tatsache nun, daß ein Individuum, dessen Sehen noch nicht voll ausgebildet ist, dazu neigt, die Abstände von einer  innerhalb  der Objekte befindlichen Koordinatenachse aus zu rechnen, während der Erwachsene diese Abstände im allgemeinen auf eine außerhalb des gerade gesehenen Gegenstandes befindliche Koordinatenachse bezieht, dürfte wahrscheinlich mit einer Eigentümlichkeit zusammenhängen, welche das Gesichtsfeld bei noch unentwickeltem Sehen aufweist. Eine ähnliche Indifferenz gegenüber der Raumlage, wie sie sich in den verlagerten Raumformen ausdrückt, kommt nämlich auch in pathologischen Fällen vor, in denen die durch eine "Seelenlähmung des Schauens" hervorgerufene hochgradige Gesichtsfeldeinengung im Vordergrund des Krankheitsbildes steht (9). Andererseits aber erweckt auch UHTHOFFs operierter Blindgeborener den Eindruck, "als wenn sein Gesichtsfeld hochgradig eingeengt wäre," und ganz ähnlich verhält sich der Operierte RAEHLMANNs (Zeitschrift für Psychologie, Bd. 2, Seite 91). Es ist ohne weiteres verständlich, daß der simultan überschaute Bezirk eine gewisse Weite besitzen muß, wenn die Abstände als Koordinaten auf eine  außerhalb  des gerade angesehenen Gegenstandes befindliche Koordinatenachse bezogen werden sollen.

Zu dieser Auffassung stimmt aufs Beste die Tatsache, daß die  Versenkung der Aufmerksamkeit  in das betrachtete Objekt und die Abstraktion von der Umgebung eine Voraussetzung und Vorbedingung darstellt, welche erfüllt sein muß, wenn die oben geschilderten rudimentären Fälle von verlagerter Raumform beim Erwachsenen auftreten sollen. In den Augenblicken, in welchen sich die Aufmerksamkeit ins Objekt versenkt und von der Umgebung abstrahiert, verhält sich der normale Erwachsene ähnlich wie ein Individuum mit eingeengtem Gesichtsfeld. Auch für das deutliche Zustandekommen des Kovariantenphänomens war die Versenkung der Aufmerksamkeit in die Ebene der Seitenfäden ein Erfordernis.

Die Frage, wie es kommt, daß wir den Dingen jene "Unveränderlichkeit der Gestalt" zuschreiben, welche, wie SIGWART mit Recht hervorhebt, das Grundelement des Dingbegriffs darstellt, klärt sich jetzt in einfacher Weise auf. Weil alles räumliche Sehen darauf beruth, daß wir Abstände sehen und diese Abstände auf Koordinatenachsen beziehen, und weil diese Koordinatenachsen beim Kind innerhalb der Sehdinge selbst liegen, darum liefert das bei gleichbleibender Entfernung im Raum Verlagerte ursprünglich überhaupt identische Gesichtswahrnehmungen. Die Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Gestalt bei einer Bewegung im Raum, welche so in durchsichtiger Weise hervorgerufen wird, bleibt auch dann noch bestehen, wenn mit fortschreitender Entwicklung die Identität des Wahrnehmungsinhaltes bei einer Verlagerung aufhört.
    Werden vom Kind die Strecken auf immer andere und andere Koordinatensysteme bezogen - nämlich jeweils auf ein Koordinatensystem, welches im Inneren des gerade vorgelegten Objekts liegt, - so findet in dem Maße, in dem der Reichtum der gestifteten Assoziationen zunimmt, eine immer weitergehende  Vereinheitlichung  des Koordinatensystems statt.

      "Wo immer ich bin, sei es in einer fremden Stadt, sei es, daß ich in der Eisenbahn nach einer durchfahrenen Nacht erwache, stets habe ich eine bestimmte Empfindung (es trifft dieses Wort am besten den subjektiven Eindruck) von der Richtung, in der ich sitze, in der sich die wahrgenommenen Gegenstände befinden usw., bezogen auf die Richtung der mir bekannten Gegenstände, z. B. auf die Front der mir bekannten Häuser, Straßen, auch in Bezug auf die Weltgegenden, deren Lage gegen diese bekannten Objekte ich ja kenne. Ich werde nie auch nur einen Moment zögern, wenn ich etwa angeben soll, in welcher Ebene die Front eines mir bekannten Hauses in einer fernen Stadt liegt, denn jedes Erinnerungsbild eines körperlichen konkreten Objektes enthält für mich die Richtungen in ganz unzweideutiger Weise. Dabei kann ich mich über die Richtungen irren, ich kann den Irrtum erkennen, doch bleibt für meine  Empfindung  die Sache beim alten. Es ist das für mich so, wie es für den Menschen, der  Zenons  Paradoxon nicht widerlegen kann, sein muß; er hat den Beweis gehört, daß es keine Bewegung gibt, der Anblick eines fliegenden Vogels aber ruft den alten Eindruck hervor." (10)

    So werden schließlich die Himmelsrichtungen des Koordinatensystems, auf welche der gebildete Erwachsene die Strecken beziehen  kann,  freilich nicht beziehen  muß.  Denn nur bei einer bestimmten Einstellungsweise der Aufmerksamkeit, welche dadurch ausgezeichnet ist, daß ein sehr großer Komplex nicht nur des jeweils Gesehenen, sondern auch des damit Assoziierten simultan überschaut wird, tritt die Beziehung auf jenes umfassende Koordinatensystem auf. Beobachte ich zum Zweck psychologischer Versuche Fäden, so beziehe ich die Tiefenstrecken im allgemeinen auf die jeweilige Kernfläche und keineswegs auf die Weltrichtungen. Die Einstellungsweise meiner Aufmerksamkeit ist eben hier von ganz anderer Art wie z. B. dann, wenn ich mit der Eisenbahn fahre, wobei im letzteren Fall meine Aufmerksamkeit über einen sehr viel größeren, sozusagen geographischen Komplex verteilt ist. Auf Eisenbahnfahrten tritt daher besonders leicht die von  Sigmund Exner  beschriebene Erscheinung auf, daß eine uns ganz vertraute Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert erscheint, wenn man z. B. infolge einer übersehenen Biegung der Bahnlinie das Koordinatensystem der Windrose nicht, wie sonst, richtig, sondern falsch in den Raum einträgt, so daß alle gesehenen Strecken andere Werte, z. B., wenn es sich um eine Verlagerung des Koordinatensystems um 180° handelt, das entgegengesetzte Vorzeichen bei gleichem absoluten Betrag erhalten (11).
Der Begriff von der bei einer Drehung und Entfernung konstant bleibenden Gestalt ist also in den elementaren Wahrnehmungsfunktionen begründet. Weit entfernt, daß wir jene Wahrnehmungsfunktionen im Sinne der empiristischen Abbildtheorie auf  "Erfahrungen"  über das Konstantbleiben der Größe und Gestalt zurückführen dürfen, haben wir vielmehr anzunehmen, daß wir gar nicht in der Lage sein würden jene Erfahrungen zu machen, wenn die elementaren Wahrnehmungsmechanismen nicht in der angegebenen Weise funktionieren würden (12)

Die Elemente des Dingbegriffs sind also in den Wahrnehmungsfunktionen bereits präformiert. Die Teilfunktionen der Wahrnehmung konvergieren von ganz verschiedenen Seiten her auf den natürlichen Begriff des einheitlichen Dings bzw. der Substanz, der dann auch den Ausgangspunkt unserer wissenschaftlichen Begriffsbildung darstellt.

Haben sich unter dem Einfluß jener ursprünglichen Mechanismen die Erfahrungen über das Konstantbleiben der Größe und Gestalt einmal gebildet, so werden freilich jene Erfahrungen - ganz ähnlich wie es HERING für die Gedächtnisfarben annimmt - ihrerseits wieder auf die Wahrnehmungen zurückwirken können. An mehreren Stellen unserer Untersuchung hatte es aber den Anschein, daß Erfahrungen auf die Raumwahrnehmung oft (oder immer?) nur indirekt und nur insofern einwirken, als sie gewisse Verhaltensweise der Aufmerksamkeit auslösen, an die dann das Auftreten des betreffenden Raumerlebnisses unmittelbar und ein für allemal geknüpft ist.
LITERATUR - Erich Jaensch, Über die Wahrnehmung des Raumes, Zeitschrift für Psychologie, Ergänzungsband 6, Leipzig 1911
    Anmerkungen
    1) FRANZ HILLEBRAND, Über die Stabilität der Raumwerte auf der Netzhaut, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 5, Seite 1.
    2) Ich zitiere nach Bd. 2 der zweiten Auflage (Freiburg 1893, Seite 116).
    3) EWALD HERING, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn, in GRAEFE-SAEMISCHs "Handbuch der Augenheilkunde"; 1. Teil, 12. Kapitel, Leipzig 1905, Seite 14
    4) Im weitesten Sinne, d. h. unter Einrechnung der nervösen Funktionen, die dem Sehakt dienen.
    5) OTTO LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen, Bd. I, Straßburg 1899, Seite IV.
    6) Es ist wohl überflüssig, ausdrücklich hervorzuheben, daß die nachfolgenden Erörterungen nicht etwa eine Art von Kant-Interpretation oder Kant-Kommentar darstellen wollen. Überdies handelt es sich hier nicht um eine transzendental-philosophische, sondern um eine naturphilosophische Untersuchung.
    7) Zeitschrift für angewandte Psychologie, Bd. 2, 1909, Seite 412.
    8) OTTO LIEBMANN, Zur Analyse der Wirklichkeit, vierte Auflage, 1911, Seite 317.
    9) Vgl. Ergänzungsband IV, Abschnitt II, Kapitel 2
    10) SIGMUND EXNER, Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinung, Bd. 1, Leipzig und Wien 1894, Seite 236.
    11) Exner, a. a. O., Seite 237: "So fuhr ich vor vielen Jahren von Gmunden nach Wien. Wo die Zweigbahn bei Lambach in die Hauptlinie Salzburg-Linz einmündet, macht sie eine Biegung, so daß die Lokomotive gegen Salzburg gerichtet, auf der Station anhält. Diese Biegung hatte ich nicht bemerkt, auch nicht gekannt (im letzteren Fall wäre es mir wohl möglich gewesen, mich in die richtige Anschauung hineinzuarbeiten), so daß ich glaubte, die Lokomotive sei nach Linz gerichtet. Als sich der Zug nun wieder in Bewegung setzte, so war es meinem Eindruck nach in der Richtung nach Salzburg, welche Richtung ich nun nicht mehr los wurde. Alle mir sonst wohlbekannten Stationen der Strecke waren mir fremd, denn sie lagen auf der anderen Seite des Bahnkörpers. In Wien angekommen, erkannte ich den Bahnhof nicht, es war mir nicht möglich, mir ihn um 180° gedreht, so vorzustellen, daß ich mit dieser Vorstellung hantieren konnte. Einzelne Teile konnte ich mir wohl rekonstruieren, ich konnte mir sagen, da ich um 180° gedreht bin, so muß dieses Portal das mir längst bekannte sein usw. Es ist eine verzweifelte Stimmung, in die man da kommt, denn man ist hilflos wie ein Kind und macht sich leicht lächerlich. Wäre ich nicht in der Gesellschaft meines Bruders gewesen, ich hätte kaum den Weg nach Hause gefunden. Auf dem Kutscherbock eines Omnibus fuhr ich durch lauter mir gänzlich fremde Straßen, in denen ich sonst fast jedes Haus kannte, ja ich stand vor meinem Wohnhaus und der Spuk war immer noch nicht weg. - - - Erst als ich in den Hof desselben eintrat, da war plötzlich, wie mit einem Ruck, alles beim alten. Nun konnte ich durch das Haustor zurückgehen und sah die Straße, wie ich sie vor Wochen das letztemal gesehen hatte - daß sie dieselbe ist, die ich vor einigen Sekunden sah, wußte ich zwar, aber nur so, wie man von der Richtigkeit eines mathematischen Lehrsatzes überzeugt sein kann, wenn man seinen Beweis nicht versteht."
    12) Es ist auch nicht angängig, die Wahrnehmung des Konstantbleibens der Größe etwa auf Erfahrungen von seiten des Tastsinns zurückzuführen. Der Tastsinn stellt ein recht unzuverlässiges Größenkriterium dar. Beim aktiven Tasten gründen wir unser Urteil im wesentlichen auf die Zeitdauer der ausgeführten Bewegungen (JAENSCH, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 41). Es muß als fraglich bezeichnet werden, ob es eine Größenschätzung, die sich direkt auf den Tastsinn und nicht auf damit verknüpfte andere Kriterien (Zeitdauer und hinzu assoziierte Gesichtsvorstellungen) gründet, überhaupt gibt.