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FRANZ BRENTANO
Die vier Phasen der Philosophie
und ihr augenblicklicher Stand

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"Das erste Stadium des Verfalls wird jedesmal eingeleitet durch eine Schwächung oder Fälschung des wissenschaftlichen Interesses. Irgendwelche praktische Motive werden nunmehr vornehmlich für die Forschung bestimmend. Infolge davon wird sie nicht mehr gleich streng und gewissenhaft betrieben. Es fehlt den Gedanken an Kraft und Tiefe, und wenn statt der Tiefe eine gewisse größere Breite gewonnen wird, und weitere Kreise an den popularisierten Lehren einer philosophischen Sekte teilnehmen, so ist dies doch für den Verlust der eigentlich wissenschaftlichen Energie kein wahrer Ersatz."

"In der Epoche der vorherrschenden Skepsis hat sich die unwissenschaftlich gewordene Wissenschaft des Vertrauens unwürdig gemacht; es wird ihr versagt. Ja weitergehend wird nun überhaupt dem Verstand die Fähigkeit zu irgendeiner sicheren Erkenntnis abgesprochen, oder doch dieselbe auf die kümmerlichsten Überreste beschränkt."

"Die Wahrheits- und Weisheitsliebe entartete nun in pure Rechthaberei. Alle Beobachtung und gewissenhafte Berücksichtigung widerstrebender Tatsachen trat zurück. Durch eine spitzfindige, ja ins Sinnlose gehende Unterscheiderei wurde jeder noch so wohlbegründete Einspruch dialektisch scheintot gemacht. Duns Scotus erfand sogar zu den zwei althergebrachten Weisen der Unterscheidung, der realen und begrifflichen, eine dritte, die er formale nannte, die kleiner als die erste, größer als die zweite sein sollte, bei der sich schlechterdings nichts Klares denken, mit der sich aber umso leichter in Worten herumstreiten läßt."


Vorwort

Was ich hier biete, ist ein am 28. November 1894 vor der "Literarischen Gesellschaft in Wien" gehaltener Vortrag.

Man hatte mich ersucht, mit Rücksicht auf ein Werk, das der Verein herausgegeben hat, vor der Versammlung zu sprechen; und in der Tat wird, wer das Buch "Der grundlose Optimismus" von HIERONYMUS LORM gelesen hat, für keines seiner wesentlichen Momente die Kritik vermissen. Wen es aber unbekannt ist, dem wird der Vortrag darum nicht minder verständlich sein. Sein Inhalt steht für sich selbst.

Die vornehmsten philosophischen Interessen der Gegenwart werden in dem Vortrag berührt. Seine Auffassung der Geschichte der Philosophie mag manchen als neu befremden; mir selbst steht sie seit Jahren fest und wurde auch seit mehr als zwei Jahrzehnten, wie von mir, so von einigen Schülern den akademischen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zugrunde gelegt. Daß sie Vorurteilen begegnen, und daß diese vielleicht zu mächtig sein werden, um beim ersten Anprall zu weichen, darüber ergebe ich mich keiner Täuschung. Immerhin hoffe ich von den vorgeführten Tatsachen und Erwägungen, daß sie bei dem, welcher denkend folgt, nicht ohne Eindruck bleiben können.

Ich habe mich bemüht, dem Verständnis möglichst jede Schwierigkeit zu nehmen. Kurze Noten, am Schluß beigefügt, verfolgen unter anderem die Absicht, dem mit der Geschichte weniger Vertrauten die chronologische Ordnung sichtbar zu machen.

Im Übrigen sei noch bemerkt, daß man mich durchaus mißverstehen würde, wenn man glaubte, ich wolle jenen epochemachenden Denkern, die ich nicht als wahre Förderer der Philosophie verehren kann, deshalb etwas von ihrer ungewöhnlich hohen Begabung absprechen. In seinem Urteil über den wissenschaftlichen Wert von HEGELs System bin ich mit SCHOPENHAUER einig; in seiner Verachtung der geistigen Kraft des Mannes kann ich ihm unmöglich beipflichten. So möge man dann insbesondere auch da, wo ich von KANT handle, meine wahre Meinung über diesen außerordentlichen Geist nicht verkennen. Seine Leistungen für die Naturwissenschaft, ähnlich wie die eines PROKLUS für die Mathematik, bleiben von dem über sein philosophisches System Gesagten ohnehin ganz unberührt.



Hochgeehrte Versammlung!

1. HIERONYMUS LORM hat in seiner Schrift "der grundlose Optimismus" (1) uns ein Buch geschenkt, das die vornehmsten philosophischen Fragen behandelt. Die Literarische Gesellschaft in Wien hat es verlegt und wünscht heute, daß ich mit Bezug darauf vor Ihnen spreche.

Nun hat ein vereinzelter philosophischer Vortrag - wenn man nicht unter lauter eigentlichen Fachmänners sich befindet - immer etwas Mißliches. Man isoliert, was tatsächlich durch mannigfache Beziehungen mit anderem verknüpft ist. Was das allgemeine Interesse am lebhaftesten erweckt, ist nicht, was der allgemeinen Einsicht am Besten zugänglich gemacht wird. Denn das, offenbar, sind die elementaren Fragen. Aber hier ist die Betrachtung unscheinbar und trocken; man ahnt zunächst gar nicht, wie sie in entfernter Wirkung an das Erhabenste rühren, und, wenn man bei ihnen verweilt, so würde man dem schlimmsten der Übel verfallen, man würde langweilig werden. Diesmal hatte ich auch gar nicht die Möglichkeit zu einem solchen einfachsten Gegenstand zu greifen; durch die Rücksicht auf das Werk von LORM war das Gebiet, aus dem ich das Thema zu wählen hatte, mir in gewisser Weise abgegrenzt.

Trotz alledem habe ich Ihrem Ruf Folge geleistet. Indem die Literarische Gesellschaft ein ernstes philosophisches Werk veröfffentlicht, gibt sie kräftig schön gegen diejenigen Zeugnis, welche die Teilnahme für Philosophie in weiteren Kreisen für erloschen erklären (2). Es ist dies eine Tat, die Anerkennung und Dank verdient (3).

2. Das Buch von LORM besitzt hohe Vorzüge. Der großherzige Sinn des Verfassers lebt in seinem Werk, und es ist reich, teils an geistvoll anregenden, teils an schneidig scharfsinnigen Bemerkungen. Denn auch auf die Kritik anderer geht LORM ein und verweilt viel bei der Würdigung sowohl der Tageserscheinungen, als der geschichtlichen Entwicklung, die zu den heutigen philosophischen Zuständen geführt hat.

Seinen eigenen Aufstellungen fehlt es nicht an Originalität. Eher möchte man sagen, daß das allzustarre Hervortreten subjektiver Eigentümlichkeit ihre Allgemeinbedeutung in Frage stellt. Zugleich aber erweist sich LORM doch wesentlich als echtes Kind seiner Zeit. Schon die Wahl des Themas deutet auf die pessimistischen Tagesströmungen hin. Und ebenso lebt in diesem Verfasser die hohe Ehrfurcht vor KANT, die für unsere Zeit charakteristisch ist; ja dies auch mit der jetzt gemeinüblichen Unterscheidung: die "Kritik der reinen Vernunft" wird hochgefeiert, sie gilt LORM als der gesicherte Ausgangspunkt aller künftigen Forschung; die Kritik der "praktischen Vernunft" dagegen wird als gänzlich unhaltbar und "brüchig" verworfen.

Indem nun LORM, wie erwähnt, sich viel bemüht, Licht über die philosophische Gegenwart und ihre Vorgeschichte zu verbreiten, finde ich mich veranlaßt, dieses auch meinerseits zu versuchen. Und es scheint mir dies ratsamer als ein Eingehen in jene eigentümlichen Stimmungen, die LORM als "grundlosen Optimismus" bezeichnet hat; sagt er doch selbst am Schluß des Buches: "Nur Einzelnen ... sind diese Betrachtungen gewidmet; sie wenden sich nicht an Korporationen, nicht an die Kollektivvernunft von Vereinen" (4) - also offenbar auch nicht an die Kollektivvernunft des Literarischen Vereins in Wien selbst, der das Werk verlegt.

3. Die Geschichte der Philosophie ist eine Geschichte wissenschaftlicher Bestrebungen, und hat darum in gewissen Beziehungen Ähnlichkeit mit der Geschichte anderer Wissenschaften. In anderen Beziehungen aber zeigt sie sich von ihr verschieden und mehr der Geschichte schöner Künste analog. Während andere Wissenschaften, solange sie überhaupt betrieben werden, einen stetigen Fortschritt aufweisen, der nur einmal durch eine Zeit des Stillstandes unterbrochen wird, zeigt die Philosophie, wie die schöne Kunst, neben den Zeiten aufsteigender Entwicklung Zeiten der Dekadenz, die oft nicht minder reich, ja reicher an epochemachenden Erscheinungen sind als die Zeiten gesunder Fruchtbarkeit. Dabei findet sich eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wie bei der schönen Kunst verschiedene Perioden in Entwicklung und Verfall ihr Gemeinsames und Analoges aufweisen, so verläuft die Geschichte der drei großen Perioden, welche die abendländische philosophische Forschung unterscheiden läßt, in wesentlich analoger Weise.

In der Periode des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Zusammenbruch von HEGELs Geistesherrschaft lassen sich je vier Stadien unterscheiden, die bei aller Verschiedenheit sich doch innerlichst verwandt sind und zwar so, daß für den, der einmal darauf aufmerksam geworden ist, die Ähnlichkeit unverkennbar ist. Kulturpsychologische Erwägungen einfachster Art machen auch diese merkwürdige Übereinstimmung vollkommen begreiflich.

Die erste Phase, die ich meine, umfaß die ganze aufsteigende Entwicklung. Ihr Beginn ist immer durch ein doppeltes charakterisiert:

einmal durch ein lebendiges und reines theoretisches Interesse - durch das Staunen, sagten mit Recht schon PLATON und ARISTOTELES sind die Menschen zuerst zu philosophischen Forschungen getrieben worden -; dann durch eine wesentlich naturgemäße, wenn auch gewiß noch mannigfacher Ausbildung bedürftige Methode. Mit ihrer Hilfe entwickelt sich die Wissenschaft, teils indem sich die Hypothesen vervollkommnen, teils indem sich die Untersuchung ausdehnt und neue Fragen in Angriff nimmt.

Die zweite Phase ist die, welche das erste Stadium des Verfalls bildet. Dieser wird jedesmal eingeleitet durch eine Schwächung oder Fälschung des wissenschaftlichen Interesses. Irgendwelche praktische Motive werden nunmehr vornehmlich für die Forschung bestimmend. Infolge davon wird sie nicht mehr gleich streng und gewissenhaft betrieben. Es fehlt den Gedanken an Kraft und Tiefe, und wenn statt der Tiefe eine gewisse größere Breite gewonnen wird, und weitere Kreise an den popularisierten Lehren einer philosophischen Sekte teilnehmen, so ist dies doch für den Verlust der eigentlich wissenschaftlichen Energie kein wahrer Ersatz.

Bei einem derart verschlechterten Zustand kommt es nun zu einer Art geistiger Revolution, die das zweite Stadium des Verfalls bildet. Es ist die Epoche der vorherrschenden Skepsis. Die unwissenschaftlich gewordene Wissenschaft hat sich des Vertrauens unwürdig gemacht; es wird ihr versagt. Ja weitergehend wird nun überhaupt dem Verstand die Fähigkeit zu irgendeiner sicheren Erkenntnis abgesprochen, oder doch dieselbe auf die kümmerlichsten Überreste beschränkt.

Aber die Skepsis ist nicht etwas, was das menschliche Begehren befriedigt. "Alle Menschen" sagt ARISTOTELES, "streben von Natur nach dem Wissen." Das natürliche Verlangen nach Wahrheit, von der Skepsis in seinem Lauf gehemmt, bricht sich gewaltsam Bahn. Mit krankhaft gesteigertem Eifer kehrt man zum Aufbau philosophischer Dogmen zurück. Zu den natürlichen Mitteln, mit welchen die erste Phase gearbeitet hat, erdichtet man sich ganz unnatürliche Erkenntnisweisen, Prinzipien, die ohne alle Einsicht sind, geniale unmittelbar intuitive Kräfte, mystische Steigerungen des intellektuellen Lebens, und bald schwelgt man im vermeintlichen Besitz der erhabensten, alles menschliche Vermögen weit übersteigenden Wahrheiten.

Hiermit ist das Äußerste des Verfalls gegeben. Der Gegensatz zu dem Zustand, der zur ersten gedeihlichen Forschung geführt hat, ist der ausgesprochenste. Man meint, alles zu wissen, und weiß nichts; denn man weiß nicht einmal das eine, was man bei Beginn der Periode gewußt und schmerzlich sehnend gefühlt hatte, - nämlich, daß man nichts weiß.

4. Blicken wir zunächst auf die Periode des Altertums, um zu sehen, wie ihr Verlauf der ebenen gegebenen Schilderung wirklich entspricht.

Die griechische Philosophie hob an mit der ionischen Naturphilosophie. Es ist ganz deutlich, wie das Staunen aüber die Rätsel der Welt hier den regsten Wissenstrieb entzündete. ANAXAGORAS, einer der größen unter den Ioniern, vernachlässigt die Verwaltung seiner Güter und verzichtet, da die Verwandten ihn deswegen schelten, leichten Herzens auf sein ganzes Vermögen, um sich frei der Forschung hinzugeben. Auch von seiner politisch bevorzugten Stellung als Aristokrat will er keinen Gebrauch machen. Er lehnt es auf das entschiedenste ab, sich der Verwaltung seiner Vaterstadt anzunehmen. "Der Himmel", sagt er, "ist mein Vaterland, und die Betrachtung der Gestirne ist meine Bestimmung."

Und, wie ein lebendiges und rein theoretisches Interesse, so besitzen diese ältesten Hellenen auch eine naturgemäße Methode. Es mag dies wundernehmen, indem viele - und auch COMTE hat das Vorurteil begünstigt, - heute die Meinung hegen, daß die Menschen zunächst ganz sach- und naturwidrige vorgegangen und erst sehr spät auf eine entsprechendere Forschungsweise verfallen sind. Aber bei der Kindheit der Menschheit war es ähnlich, wie bei der Kindheit des Einzelnen. LAVOISIER (5) macht darauf aufmerksam, wir rasch unsere Kinder von Entdeckung zu Entdeckung fortschreiten, von der Natur selbst den richtigen Weg zur Erforschung geführt. Wer das neue, von BILLROTH (6) hochbewunderte Werk von THEODOR GOMPERZ (7) über die griechischen Denker zur Hand nimmt, mag sich anschaulich davon überzeugen, daß ich dem Verfahren der alten Ionier eine nicht unverdiente Anerkennung gezollt habe.

Mit einem solchen Interesse und einer solchen Methode arbeitet sich nun die griechische Philosophie empor. Die Hypothesen vertiefen sich; die Fragen vervielfältigen und verflechten sich, und es kommt schließlich zum Aufbau weitumfassender Lehrsysteme. Nach dreihundert Jahren (8) ist bereits ein wissenschaftlich so bedeutendes Werk wie die Philosophie des ARISTOTELES möglich geworden.

Dieser aber war dann auch die letzte große Erscheinung des aufsteigenden Stadiums der antiken Philosophie; alsbald nach ihm beginnt das erste Stadium des Verfalls, und zwar ganz deutlich in der Weise, daß das theoretische Interesse einem praktischen Interesse weicht.

5. Das ganze griechische Leben war damals in einem Zustand der Auflösung. Der Glaube an die Volksreligion war dahin, und auch die Autorität der altüberlieferten staatlichen Einrichtungen war gebrochen. Nicht aus einem theoretischen Bedürfnis, sondern vor allem in praktischer Beziehung wurde die Philosophie als Nothelferin angerufen.

Die Stoa (9) und der Epikureismus (10) mit ihrem einseitig praktischen Charakter sind die beiden Schulen, welche dieses erste Stadium des Verfalls im Altertum vertreten. In beiden Systemen unterschied man drei Teile der Lehre; eine Ethik, Logik und Physik. Aber Logik und Physik führten eine kläglich herabgedrückte Existenz als Dienerinnen der Ethik, wobei zugleich diese selbst in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung gesunken ist; sehr natürlich, weil ohne ein tieferes Studium der menschlichen Natur weder über ihre Aufgabe noch über die Wege zu deren Erfüllung Klarheit zu gewinnen ist.

Verlor die Schule an Tiefe, so nahm sie dafür an Breite zu. Die Anhänger des EPIKUR waren ungleich zahlreicher, als die Schüler des PLATON oder ARISTOTELES gewesen. Und wenn keinen, der seine Lehre wissenschaftlich, so hat doch EPIKUR unter seinen Anhängern einen genialen Dichter (11) gefunden, wie er weder den Platonismus, noch auch, wenn man nicht die späte Zeit der Göttlichen Komödie einbezieht, die peripatetische Philosophie jemals verherrlicht hat.

6. Es folgt darauf das zweite Stadium des Verfalls, das der Skepsis. In zweifacher Form tritt sie in der Geschichte des Altertums auf. Die mildere ist die der Neueren Akademie (12), die überall nur Wahrscheinlichkeit, in keiner Frage also jene Sicherheit für erreichbar erklärt, welche definitiv die Möglichkeit des Irrtums ausschließt. Die strengere Form ist die des Pyrrhonismus. PHYRRO, nach dem sich die Schule nennt, hatte schon zur Zeit ALEXANDERs des Großen gelebt, aber zunächst mehr Befremden erweckt, als Beifall geerntet. Anders wurde es in der späteren Zeit, als der Dogmatismus der Stoiker und Epikureer abzuwirtschaften begann. AENESIDEMUS (13), AGRIPPA (14), SEXTUS EMPIRICUS (15), die bedeutendsten Männer der Richtung, gehörten dieser Epoche an.

Neben den milderen und strengeren Skeptikern sind auch noch die Eklektiker zu nennen. Indem diese es sich erlaubt haben, von den verschiedenen Schulen aufzunehmen und zurückzuweisen, was ihnen beliebte, vermochten sie selbst zu keiner festen Überzeugung zu gelangen. CICERO, der vornehmste unter den Eklektikern (16), fühlt sich darum ausgesprochenermaßen den Skeptikern der neueren Akademie wesentlich verwandt.

Bedenkt man, wie in der späteren Zeit des Epikureismus und Stoizismus auch in diese Schulen mehr und mehr ein Eklektizismus eindrang, so erkennt man, wie in Wahrheit damals alle Philosophie von einer gewissen skeptischen Stimmung angekränkelt war. Die weitesten Kreise der Gesellschaft waren davon ergriffen. Wenn Jesus, vor PILATUS stehend, ihm erklärt, er sei in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, so entgegnet dieser ihm skeptisch mit der Frage: "Wahrheit, was ist Wahrheit?"

7. Aber auch bei dieser Skepsis ist es im Altertum nicht geblieben. Es erfolgte vielmehr die gewaltigste Reaktion, die man sich nur denken kann. Die judaisierenden Platoniker (17), die Neupythagoreer (18) gehörten ihr, und hiermit dem dritten Stadium des Verfalls der antiken Philosophie an. Die weitaus bedeutendste Erscheinung dieser Klasse ist aber der Neuplatonismus, der in der Welt des Intelligiblen schwärmt und schwelgt. AMMONIUS SAKKAS (19), PLOTIN (20), PORPHYRIUS (21), JAMBLICHUS (22), PROKLUS (23) und viele andere waren gefeierte, ja vergötterte Schulhäupter. Für die mangelnde Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Natur wurde von PROKLUS und anderen die künstlich-willkürlich gebildete Regelmäßigkeit eines triadischen Systems als Surrogat [behelfsmäßiger Ersatz - wp] verwendet.

Soviel mag zur Bewährung unseres Gesetzes von den vier Phasen der Philosophie bezüglich des Altertums genügen.

8. Wenden wir uns zum Mittelalter.

Wir finden hier deutlich dasselbe Schauspiel. Die germanisch aufgemischten Völker des Abendlandes, ebenso wie die Araber, zeigen sich alsbald vom regsten Wissenstrieb ergriffen. Und sofort wird auch herausgefunden, welcher unter den alten Denkern für sie der wahre Meister des Wissens werden kann. Mit einer staunenswerten Vollkommenheit eignen sich die Scholastiker in relativ kurzer Zeit (24) das durch die Unkenntnis des Griechischen so wentlich erschwerte Verständnis des ARISTOTELES an. Weder ALEXANDER von Aphrodisias noch SIMPLICIUS hatte ihn auch nur entfernt so vollkommen als der große Lehrer des 13. Jahrhunderts, THOMAS von AQUIN (25), verstanden. Das wäre ohne eine gewisse kongeniale [geistig ebenbürtig - wp] Denkweise unmöglich gewesen; und diese hat dann auch THOMAS, sowohl in anderen Stücken, als insbesondere in der in politischer Philosophie so fortgeschrittenen, berühmten Schrift "De regime principium" bewährt. Welche weiteren Fortschritte durfte man da nicht erhoffen?

9. Aber siehe da! - unmittelbar nach THOMAS beginnt für die mittelalterliche Philosophie der Verfall. Es ist deutlich zu erkennen, daß eine Schwächung und Fälschung des reinen wissenschaftlichen Interesses zu ihm geführt hat.

Die vorzüglichsten Träger der philosophischen Wissenschaft im Mittelalter waren die beiden großen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner. Beide hatten angesehene Lehrer hervorgebracht; doch durch ALBERTUS MAGNUS und THOMAS von AQUIN hatte schließlich der Dominikanerorden alle Leistungen der Franziskaner in den Schatten gestellt. Das erregte bei diesen eine nicht geringe Eifersucht. Und so wurde dann, da in DUNS SCOTUS (26) den Fransziskanern ein energischer und fruchtbarer Schriftsteller erwachsen war, dieser von ihnen als Führer auf den Schild erhoben. Jeder Franziskaner wurde auf seine Lehre, wie alsbald dann auch jeder Dominikaner auf die des THOMAS verpflichtet. Die Wahrheits- und Weisheitsliebe entartete nun in pure Rechthaberei. Alle Beobachtung und gewissenhafte Berücksichtigung widerstrebender Tatsachen trat zurück. Durch eine spitzfindige, ja ins Sinnlose gehende Distinguiererei [Unterscheiderei - wp] wurde jede noch so wohlbegründete Objektion [Einspruch - wp] dialektisch scheintot gemacht. DUNS SCOTUS erfand sogar zu den zwei althergebrachten Weisen der Distinktion [Unterscheidung - wp], der realen und begrifflichen, eine dritte, die er formale nannte, die kleiner als die erste, größer als die zweite sein sollte, bei der sich schlechterdings nichts Klares denken, mit der sich aber umso leichter in Worten herumstreiten läßt. (27)

Die Disputiersuch wuchs ins Ungeheuerliche. Der Scotist FRANZ von MAIRONIS führte in Paris den großen actus Sorbonnicus ein (28), eine wahrhaft grausame Menschenschinderei, worin sich ein armer Disputar volle zwölf Stunden lang (eine kleine Mittagspause ausgenommen) gegen jeden, der seinen dialektischen Fehdehandschuh aufhebt, verteidigen mußte. Wenn die Scholastik noch heute wegen ihrer unfruchtbaren Subtilitäten verrufen ist, so verdankt sie es dieser Epoche, die wir die scotistische nennen können.
LITERATUR - Franz Brentano, Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand, Stuttgart 1895
    Anmerkungen
    1) Hieronymus Lorm (= Heinrich Landesmann), "Der grundlose Optimismus" - ein Buch der Betrachtung, Wien 1894.
    2) § 3 der Statuten sagt: "Die Gesellschaft veröffentlicht Werke der schönen Literatur und wissenschaftliche Arbeiten von allgemeinem Interesse." Unter den im ersten Jahr ihres Bestandes (1894) von der Gesellschaft verlegten Werken gehören drei der schönen Literatur, eines der Wissenschaft an, und dieses ist die philosophische Schrift, von der wir sprechen.
    3) Im Vortrag folgten hier die Worte: "Auch ich habe vielleicht nicht wieder Gelegenheit, zu meinen lieben Wienern, die mich vor zwanzig Jahren freundlich aufgenommen und mir seitdem tausend Gutes erwiesen haben, zu sprechen. Meine Wirksamkeit an der Universität wurde unter dem Ministerium Taaffe in intoleranter Weise verkümmert, und unter dem Ministerium Hohenwart - ich meine natürlich das Ministerium Windischgräz, das unter Hohenwarts Einfluß gebildet worden ist - hat sich die Lage noch ungleich übler gestaltet. Herr von Madeyski hat mir auf die Bemerkung, die unter einem Ministerium durch langjährige Dienste erworbenen Ansprüche könntem beim Wechsel der Ministerien nicht erlöschen, erklärt, daß er diese Ansicht nicht zu teilen vermag. So sehne ich mich begreiflicherweise lebendig danach, eine freiheitlichere Luft zu atmen. Und mein Vortrag mag darum heute wie ein Abschiedsmahl betrachtet werden, wo ich zum letztenmal mit meinen Wiener Freunden vereinigt schmause." Diese Worte, von der Versammlung mit starrem Schweigen aufgenommen, haben dann in der Öffentlichkeit eine mächtige Bewegung hervorgerufen. Ich selbst sah mich schließlich veranlaßt, sie in einer Reihe von Artikeln der "Neuen Freien Presse" (vom 2., 5., 8., 15. und 18. Dezember 1894) unter Darlegung der gegebenen Mißstände zu kommentieren. Da diese Verhältnisse mit dem Thema des Vortrags nichts zu tun haben, so habe ich die Angabe dieses Motivs beim Druck eliminiert. Wenn ich ihr hier, in der Anmerkung, eine Stelle anweise, so geschieht es, damit nicht einer, der den Vortrag gehört hat, durch das Weglassen befremdet oder vielleicht gar zu der Meinung geführt wird, ich glaube selbst, damals etwas Ungehöriges gesagt zu haben.
    4) a. a. O. Seite 328.
    5) Lavoisier, Traité élémentaire de chimie, Paris 1789, Teil 1: Discours préliminaire, Paris 1789, Seite VIII.
    6) In einem in der "Neuen Freien Presse" am 11. Februar 1894 mitgeteilten Brief.
    7) Theodor Gomperz, Griechische Denker - eine Geschichte der antiken Philosophie, Leipzig 1894.
    8) Von Thales (geboren um 640 v. Chr.) bis Aristoteles (gestorben 322 v. Chr.)
    9) Von Zeno um 380 v. Chr. begründet, erhielt die stoische Lehre durch Chrysippus (282 - 209 v. Chr.) ihre vorzügliche Ausbildung.
    10) Epikurs Leben fällt in die Jahre 341 - 270 v. Chr.
    11) Titus Lucretius Carus (= Lukrez) 95 - 52 v. Chr.
    12) Karneades, der Stifter der neueren oder dritten Akademie, lebte 214 - 129 v. Chr. in Athen.
    13) Aenesidemus lehrte zu Alexandrien um die Zeit von Christi Geburt.
    14) Für Agrippa können wir nur ungenau die Zeit bestimmen. Er fällt jedenfalls zwischen Aenesidemus und Sextus Empiricus.
    15) Sextus Empiricus blühte um 200 v. Chr.
    16) Marcus Tullius Cicero, 106 - 43 v. Chr.
    17) Philo der Jude lebte zu Alexandria bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.
    18) Von den vorzüglichsten Vertretern des Neupythagoreismus lebten Apollonius von Tyana und Moderatus aus Gades unter Nero, Nikomachus aus Gerasa vor der Zeit der Antoninen.
    19) Ammonius Sakkas etwa 175 - 250 v. Chr.
    20) Plotinus 205 - 270 v. Chr.
    21) Porphyrius 233 bis ungefähr 304 n. Chr.
    22) Jamblichus starb unter Konstantin dem Großen.
    23) Proklus, 411 - 485 n. Chr.
    24) Alexander von Hales, der erste Scholastiker, der die gesamte Lehre des Aristoteles kennt (früher hatte man nur logische Schriften besessen), starb 1245.
    25) Thomas von Aquin, 1227 - 1274.
    26) Johannes Duns Scotus, 1274 - 1308.
    27) Was real, was begrifflich verschieden ist, läßt sich leicht verstehen. Was auch immer ist, und wobei mit Recht geleugnet werden kann, daß eines das andere ist, das ist real verschieden. Was immer aber ist, und wovon mit Recht geleugnet werden kann, daß der Begriff des einen der Begriff des anderen ist, das ist begrifflich verschieden. Zwei menschliche Individuen sind real verschieden. Ein Musiker und ein Maler sind begrifflich verschieden. - - - Man erkennt daraufhin leicht, daß, was begrifflich verschieden ist, real eins sein kann; ein Musiker z. B. ist vielleicht zugleich ein Maler. Aber ebenso ist ersichtlich, daß, was real verschieden ist, begrifflich ein sein kann; wie z. B. Bismarck und Caprivi als Staatsmänner unter denselben Begriff fallen. Und deshalb ist es durchaus unpassend, die reale Distinktion der begrifflichen Gegenüber als die größere zu bezeichnen; keine schließt die andere ein, sie sind vielmehr völlig disparat. Umso mehr ist es absurd, wenn man zwischen beiden eine "formale" Distinktion, als eine von mittlerer Größe, einschieben will. - - - Scotus machte von seiner formalen Distinktion auf die vornehmsten Geheimnisse der Theologie Anwendung. Die drei göttlichen Personen z. B. sollten nicht real, aber auch nicht bloß begrifflich, sondern formal voneinander verschieden sein. Da sich, wie gesagt, die formale Distinktion nicht wahrhaft verständlich machen läßt, so war auch bei solchen Behauptungen ein Widerspruch gegen die orthodoxe Lehre nicht wohl nachweisbar.
    28) Franz von Maironis, mit dem Ehrentitel magister abstractionum, starb 1325. Die Einführung des großen Sorbonnischen Aktes, einer im Sommer allwöchentlichen Disputation, worin, wie gesagt, der Disputant einen ganzen Tag (von morgens 6 Uhr bis abends 6 Uhr) sich mit jedem beliebigen dialektischen Kämpen herumschlagen mußte, fällt in das Jahr 1315.