F. BitzerH. SchüsslerTh. ZieglerF. A. LangeG. Adler | ||||
Die sittliche Frage eine soziale Frage [1/3]
I. Diese Aufgabe hat zwei Seiten. Sie geht auf die Gesetze des Denkens und die Gesetze des Handelns. Beide aber haben ihre einheitliche Grundlage in der Einheit des Bewußtseins. Diese Einheit, welche objektiv betrachtet den widerspruchslsen Zusammenhang von Welt und Leben bedeutet, tritt psychologisch in uns als derjenige Trieb in Erscheinung, welcher theoretisch den Weltzusammenhang in einer widerspruchslosen Einheit zu begreifen, praktisch die Welt unseres Handelns als widerspruchslosen Zusammenhang zu gestalten sucht. Bei beiden Bestrebungen stößt die Philosophie unentrinnbar auf reale Gewalten, mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat; die bereits in den Köpfen der Zeitgenossen lebendigen Weltanschauungen und die das Handeln derselben bedingenden sittlichen Ordnungen und sittlichen Überzeugungen. Hier wartet ihrer eine doppelte Tätigkeit. Die Kräfte, welche sie tatsächlich im Leben wirksam findet, müssen sie immer und immer wieder zu erneuter Selbstkritik spornen, damit sie die Lücken der eignen theoretischen Aufstellungen finde und ausfülle. Denn unbeleuchtet vom Licht vergeht die Pflanze, verliert sich der Geist in leeres Spintisieren. Hat die Philosophie aber ernsthaft und gewissenhaft diese Arbeit an sich selber vollbracht, dann braucht sich auch die Mächte, die ihr im realen Leben entgegenstehen, nicht zu scheuen: sie muß heraustreten und ihre Ergebnisse fruchtbar machen für die Welt. Keiner Wissenschaft ziemt es so wenig als ihr, asiatischen Herrschern gleich sich im Palaste zu verschließen und nur Auserwählten das offene Antlitz zu zeigen. Sie gehört der Welt und die Welt gehört ihr, in kommenden Zeiten wie bisher. Denn man glaube nicht, daß die Welt je der Philosophie entbehrt habe und je ihrer entraten könne. Solange Menschen menschlich dachten und menschlich handelten, schufen sie sich Weltanschauung und Regeln des Tuns. Wir brauchen des Tages nicht zu warten, der nach des Dichters ironischem Wort erst nach Absetzung von Hunger und Liebe die Philosophie auf den Herrscherthron stellt. Die Philosophie hat stets trotz Hunger und Liebe geherrscht. Sie hat freilich Hunger und Liebe als höchst maßgebende Bestandteile ihrem System einzugliedern gewußt: und so haben sie ihr die Herrschaft nicht bestritten. Wenn freilich diese im Volk lebendige Philosophie zumeist ganz anders aussieht als die Philosophie, welche sich wissenschaftlicherer Methoden rühmt, so handelt es sich für letztere doch keineswegs darum, das Dasein der ersteren zu verkennen und sich weltentrückt in dunkle Systeme zu vergraben. Darum vielmehr handelt es sich, daß die geläutertere Philosophie zu jener hinabsteige, um auf sie reinigend und umgestaltend einzuwirken und sie allmählich wissenschaftlichen Grundsätzen näher zu bringen. Nur in dem Maße, als sie dies tut, als sie die in der Welt vorhandenen Kräfte erkennt und aufnimmt, erfüllt sie ihr höchstes Ideal, der geistigen und sittlichen Entwicklung der Menschheit klärend und helfend zur Seite zu stehen. Versäumt sie dies, geht sie wie die antike Philosophie nach dem peloponnesischen Krieg in divergenter Richtung mit der Entwicklung des öffentlichen Lebens auf eigenen Bahnen weiter, so wird sie eine wenig fruchtbare Schulphilosophie bleiben und höchstens späteren, besseren Zeiten schätzbare Materialien überliefern. In der Gegenwart scheint die Divergenz zwischen dem wissenschaftlichen und dem im Volke lebendigen Denken wieder mehr und mehr einer Annäherung Platz zu machen. Einerseits befreit sich das Bewußtsein des Volkes immer mehr von stumpfer kritikloser Annahme dogmatischer Kirchenphilosophie, andererseits aber tritt auch die wissenschaftliche Philosophie in immer weiterem Maße aus dem engen Rahmen scholastischer Systeme heraus und sucht, befruchtet von den immer gesicherteren Ergebnissen der Einzelwissenschaften, auf nüchtern wissenschaftlichem Weg die Natur unseres Geisteslebens zu ergründen. So vermag sie es mehr und mehr den Weg auch zum Geist des Volkes zu finden und dieses echterer wissenschaftlicher Betrachtung von Welt und Leben geneigt zu machen. Freilich ist es heute auf theoretischem Gebiet wesentlich die materialistische Philosophie, welche in ausgedehntem Maße Einfluß auf die Zeitgenossen ausübt. In den arbeitenden Klassen dringt sie immer weiter vor und auch in den sogenannten höheren Klassen ist sie weit verbreitet. Man liebt hier allerdings von einer rückläufigen Bewegung zu reden. Indessen das dürfte doch mehr äußerlicher Schein sein. Häufig stehen dabei Rücksichten im Hintergrund, die mit Wahrhaftigkeit der Überzeugung wenig genug zu tun haben. Für den Philosophen ist es mit Erlaub jedenfalls unzulässig über die Ausbreitung des Materialismus zu klagen und seine Befähigung zur Philosophie durch Schelten auf denselben dartun zu wollen. Wohl mag ihm der Materialismus nicht als endgültiges System der Wahrheit erscheinen. Soweit dieser nich Maxime der empirischen Forschung bleibt, sondern die letzten Rätsel von Welt und Leben gelöst zu haben vorgibt, ist er gewiß ebenso einseitig als der dogmatische Dualismus. Dennoch muß man mit F. A. LANGE zugeben, daß er, wenn auch die niederste, doch auch die vergleichsweise festeste Stufe wissenschaftlicher Philosophie ist; daß er im Vergleich mit den zur Unmündigkeit erziehenden Volksphilosophien einen ungeheuren Fortschritt darstellt und dem Verständnis der materiellen Erscheinungen weit faßbarere und geeignetere Prinzipien darbietet als jene. Wenn man auch zugeben muß, daß er verschiedene geistige Erscheinungen nicht erklären kann, so ist es doch mindestens überflüssig darüber zu jammern, daß er die edelsten Schätze der Gemütswelt zerstöre. Daß die Gefühle heute erkranken und unsicher führen, ja oft zu verschwinden scheinen, darin ist nicht der Materialismus, daran sind die kranken und unsicheren Lebensverhältnisse der Gegenwart schuld und bei Herstellung besserer Ordnungen des Lebens werden sich kräftige Blüten des Gemüts weieder einstellen, ohne daß man sie künstlich zu züchten sucht. Vor allem aber ist der materialistische Gedankenkreis ein Boden, auf dem eine wissenschaftlich allseitigere Weltanschauung, wenn deren Zeit gekommen ist, weit leichter und sicherer Wurzel zu schlagen vermag, als auf dem Boden irgendeines Dogmas. Denn das Dogma ruht auf Autorität und wider die einmal festgewurzelte Autorität ist mit Gründen nicht aufzukommen. Der Materialismus aber hat wenigstens den guten Willen auf Gründe zu hören und tut dies in weitem Umfang auch wirklich. Er kann sich einer wissenschaftlichen Weiterentwicklung niemals gewalttätig entgegenstemmen und besseren Gründen, welche eine vorgeschrittene Philosophie erzeugt, nicht verschließen. Auf praktischem Gebiet vollzieht sich unter unseren Augen eine ganz analoge Entwicklung, wie sie der Materialismus auf theoretischem Gebiet darstellt. In engstem Zusammenhang mit der Umwandlung der Weltanschauung steht eine Umwandlung in den sittlichen Vorstellungen des Volkes. Die Anschauung, daß die sittlichen Gebote autoritativ von oben her gegeben seien, verliert immer mehr an Boden. Den alten Normen des Handelns entschwindet der Nimbus in den Augen des Volkes, die ganze sittliche Grundlage, auf welcher die Vergangenheit gebaut hatte, gerät ins Wanken. Ein Weltuntergangsdämon scheint heute wie zur Zeit des absterbenden Römerreiches an der Arbeit zu sein. Allein, wie mitten im Zersetzungsprozeß der alten Welt ein neues sittliches Prinzip erstand, so ist auch heute durch alle trübe Gährung hindurch das Werden einer neuen sittlichen Grundanschauung bemerkbar. Wie damals drängt von unten her ein neues Lebensideal zum Licht, hebt die Menschen über das Einerlei des mechanischen Tageslebens, über den Egoismus empor, erfüllt sie mit bergeversetzendem Glauben und scheint sich mit derselben alles fortreissenden Wucht durchsetzen zu wollen, wie voreinst das christliche Ideal. In diesem war die treibende Macht der Glaube, daß Gott den Menschen ein Reich des Friedens und der Liebe zu schaffen beschlossen habe; heute leitet der Gedanke, daß die Menschen durch eigene Kraft auf menschlichem Boden ein Reich der Gerechtigkeit für alle zu gründen vermögen. Beide Gedanken stehen sich zur Zeit in größter Schärfe gegenüber. Diejenigen, welche die berufenen Vertreter des Christentums zu sein sich rühmen, befehden mit seltenen Ausnahmen voll glühenden Eifers die Bekenner des neuen Ideals und diese ihrerseits rücken verachtungsvoll von einer Kirche ab, welche nach ihrer Überzeugung das Gottesreich der Liebe als Waffe gegen die Forderungen menschlicher Gerechtigkeit gebraucht. Wie tief dieser Gegensatz ist, kann das Wort eines nicht der sozialistischen Partei zugehörigen Arbeiters zeigen. GUSTAV BUHR sagt in seinen "Gedanken eines Arbeiters über Gott und die Welt":
"Wo Liebe und Freundschaft vorangeht, da ist das Gefolge die alte Welt". "Die Liebe wäre nicht diese, wenn ihre höchste Betätigung nicht in der Einheit läge und die Wahrheit wäre diese nicht, wenn ihre höchste Betätigung nich in der Allheit läge; und nur deshalb kann es geschehen, daß nach einer tausendjährigen Aera der Liebe viele Millionen Mneschen auf den Schauplatz treten und entschlossen fordern, daß ihne das wird, was die Liebe nicht gab ... das Wohlergehen aller." Dieses Streben bezeichnet die Sozialdemokratie freilich selber als revolutionär, aber sie versteht dies nicht so, als könne der neue Zustand nur durch ein völliges Aufdenkopfstellen des gegebenen hervorgebracht werden. Im Gegenteil, sie beweist seine Möglichkeit aus den historischen Entwicklungsbedingungen des heutigen Zustandes. Denn innerhalb desselben erblickt sie bereits allenthalben Tendenzen, die auf den Sozialismus hindrängen. Es wird durch Technik und Kapitalmacht ein Arbeitszweig nach dem andern dem Kleinbetrieb entrissen; die Großbetriebe selber konzentrieren sich durch Vernichtung der schwächeren und nehmen dermaßen an Umfang zu, daß die Kraft des Einzelnen nicht mehr ausreicht, die ungeheure Maschinerie zu überblicken. Und so wird innerhalb derselben bereits ein gewisses Analogon sozialistischer Ordnung notwendig. Die sozialistischen Betriebe brauchte der Sozialismus also nicht erst zu schaffen; er hätte sie einfach zu übernehmen, seinen Zwecken gemäß zu verbinden und die verhältnismäßig immer unbedeutender und machtloser werdenden Kleingewerbe ihnen anzubilden. Dafür daß diese Übernahme notwendig werde, sorge ebenfalls die industrielle Entwicklung selber. Die Großkapitalisten zeigten sich einerseits immer unfähiger, die inneren Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen, andererseits könnten sie beim wachsenden Konkurrenzkampf der Nationen nicht einmal mehr Absatzgebiete im Ausland für die im Inland unverkäufliche Produktenmasse finden. Sie treibe damit immer rapider einem Zustand entgegen, wo die Inkongruenz zwischen der erstaunlichen Produktion und der noch weit größeren Produktionsmöglichkeit und der wachsenden Unmöglichkeit für das Volk Arbeit und Kaufkraft für jene Produkte zu gewinnen, zu durchaus unhaltbaren Verhältnissen führe. Dies werde zur Übernahme der Betriebe durch die Gesellschaft zwingen, die diese dann nicht mehr für Spekulation und Plusmacherei, sondern für das Wohl der Gesellschaft selber verwenden werde. Diesen Zustand in die Wirklichkeit einzuführen aber werde selbstverständlich nicht das Werk der Kapitalisten, sondern derer sein, welche die Unerträglichkeit des kapitalistischen Systems am schärfsten empfinden, der Arbeiterklasse. Diese werde sich der Leitung der Produktion bemächtigen und diese im genannten Sinne ordnen. Die Arbeiterklasse sei aber, sagt der Sozialismus, in der Tat imstande, dieses ungeheure Werk zu vollbringen, denn sie habe sich in ihren jahrzehntelangen Kämpfen mit dem Kapitalismus derart geschult, organisiert und politisch erprobt, daß sie im gegebenen Fall auch jener größere Aufgabe, vor der alle Übrigen ratlos stehen, bewältigen werde. Man dürfe dabei nicht vergessen, daß die heutige Arbeiterschaft keineswegs dem Proletariat des alten Rom verglichen werden dürfe. Dieses seie in durch die Vertreibung vom eigenen Boden und Bearbeitung desselben durch Sklaven für die Produktion im Wesentlichen überflüssig gewordener Volksbestandteil gewesen, der sich in die Hauptstädte zog, durch Brot und Spiele ernähren ließ und Stimme wie Faus dem ehrgeizigen Machthaber zur Verfügung stellte, der es zu fesseln verstand. Das heutige Proletariat aber sei ein unentbehrlicher Faktor der Produktion selber, werde sich dessen immer mehr bewußt und darum nicht weniger geneigt, den Interessen fremder Gewalthaber zum Schaden seine eigenen Lebensinteresses dienstbar zu sein. Ihm falle darum die historische Aufgabe zu, in nicht allzuferner Zeit eine Weltwende herbeizuführen und die Menschheit materiell, geistig und sittlich auf eine neue vollkommenere Stufe emporzuheben. Dies dürfen die wesentlichen Gesichtspunkte sein, die dem Verständnis des Sozialismus zugrunde gelegt werden müssen. Aus ihnen erklärt sich das Dasein des Sozialismus und ihnen muß man folgen, wenn man ihn einer Kritik in sozialer und sittlicher Beziehung unterwerfen will. Man wird aber stets gänzlich gehlgehen, wenn man in kritischer Hinsicht mit der Frage beginnt: Was wollen die Sozialdemokraten? und wenn man weiterhin aus ihren vermeintlichen "Wünschen und Bestrebungen" Einzelnes herausnimmt, das mit den eigenen Wünschen des Kritikers übereinstimmt und das Übrige verwirft. Nur aus dem Verständnis der gegenwärtigen Entwicklung heraus und der in ihr liegenden Tendenzen zur Weiterentwicklung kann ein befriedigendes Urteil erwachsen. Wer mit den Zukunftsplänen beginnt, der wird weder über den Grund oder Ungrund der rosigen Zukunftsschilderungen BEBELs und BELLAMYs noch über die Hiebe E. RICHTERs, die eine selbstgeschaffene Karikatur zerfleischen, ein Urteil haben, das über den Bereich des subjektiven Wünschens hinausgeht. Ebensowenig dürfen wir mit einem vorgefaßten ethischen System an die sittliche Beurteilung des Sozialismus herantreten, dasselbe an ihn als Maßstab anlegen und ein jüngstes Gericht abhalten. Denn das wäre erstens ungerecht und somit durchaus nicht sittlich, zweitens nutzlos. Ungerecht wäre es, weil zwar die Prinzipien des Sittlichen, d. h. das Prinzip der Ordnung in seiner allgemeinsten Gestalt überall besteht, wo menschliche Gemeinschaften bestehen, dagegen die bestimmten sittlichen Ordnungen von der jeweiligen Gesamtentwicklung des Lebens einer Gemeinschaft abhängig sind. Den Moralkodex einer entwickelteren Gesellschaft den Handlungen eines in ursprünglicheren Verhältnissen lebenden Menschen anzulegen, muß ebenso verwerflich sein, wie das Umgekehrte. Wir haben hier die doppelte Aufgabe: erstens zu vergleichen, wie sich die verschiedenen Lebensordnungen selber zueinander verhalten, d. h. ob sie einfacher oder entwickelter sind und ob die verschiedenen Lebensgebiete innerhalb derselben vollkommene oder unvollkommener miteinander in Einklang gebracht sind, zweitens aber, ob und wie weit gegebene Individuen in ihren Gesinnungen und Kundgebungen sich den daraus fließenden Moralvorschriften unterordneten oder nicht, hinter ihrer Zeit zurückblieben oder ihr vorauseilten. Hiermit spaltet sich die Ethik in zwei Seiten. Es entsteht erstens die Frage, ob die gegebene Gemeinschaftsordnung selber gut, d. h. nach Maßgabe der gegebenen Verhältnisse harmonisch geordnet, eine Ordnung für alle Gemeinschaftsglieder ist und dann erst ensteht die Frage, ober der Einzelne selber gut ist, d. h. ob er sich dem Prinzip einer nach seinen Einsichten vollkommenen Ordnung aus freiem Willen unterwirft. Diese beiden Seiten der sittlichen Betrachtung werden naturgemäß bei ihrer Bearbeitung zu zwei getrennten Teilen der Ethik, deren erster von den sittlichen Ordnungen, deren zweiter erst von den Verpflichtungen der Individuen handelt. Die Sozialethik oder die Lehre von den sittlichen Ordnungen muß der Individualethik oder der Lehre von der persönlichen Sittlichkeit zugrunde liegen. Freilich pflegen diese beiden Seiten in der Ethik auch heute noch nicht recht gewürdigt zu werden. Hat doch selbst KANT, so nahe er dem an einzelnen Stellen, z. seiner Besprechung von PLATOs Staat (Kritik der reinen Vernunft, KEHRBACH, Seite 276 kommt, in seinem kategorische Imperativ eine Forderung nur an das Subjekt gestellt, seine Handlungen den Prinzipien einer allgemeinene Gesetzgebung gemäß einzurichten und nicht bedacht, daß diese Forderungen nur soweit zu verwirklichen ist, als die allgemeine Gesetzgebung selbst dem Prinzip der Orndung entspricht. Und in neueren Ethiken, besonders solchen, die mit psychologisch-historischen Entwicklung des sittlichen Bewußtseins beginnen, findet man teils einseitige Hervorkehrung subjektiver oder sozialer Gesichtspunkte, theils kritiklose Vermischung beider. Wollen wir nun unter ethischen Gesichtspunkten die soziale Frage, bzw. die sozialistischen Anschauungen kritisch betrachten, so ist die genannte Unterscheidung doppelt notwendig. Denn der Sozialismus betont, wie gezeigt, gerade die sozialethische Seite und zwar zuweilen mit einer Einseitigkeit, daß es scheinen könnte, als kenne er bloß eine Wirkung der Gesellschaftordnung auf die Individuen, halte aber dafür, daß die Sittlichkeit der Individuen uneingeschränkt ein Ausfluß ihrer materiellen Lebenslage sei. Dies ist scheinbar richtig, in Wahrheit aber durchaus falsch. Gerade mit seinem Streben aus der gegenwärtigen sittlichen Ordnung in eine andere, nach sozialistischer Überzeugung bessere zu gelangen, erweist der Sozialismus seine Überzeugung, daß die Menschen sich über das Gegebene hinausschwingen und ein Besseres erstreben können. Er bewiese schon hierdurch, wenn nicht ausdrückliche Zeugnisse sozialistischer Schriftsteller hinzukämen (2), daß die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung des Sozialismus keineswegs auf Leugnung der geistigen und sittlichen Impulse nur dann allgemein und gestaltungskräft werden können, wenn sie aus der Natur der ökonomischen Lebensbedingungen erwachsen. Damit sagt der Sozialismus durchaus nichts Neues. SCHILLER z. B. in seinem "Eleusischen Fest", im Spaziergang zeigt ebenso, daß die geistige Kultur auf dem Unterbau der ökonomischen Verhältnisse ruht. Allein weil man dies längst Gesagte nicht durchdachte und nicht in seine Konsequenzen verfolgte, weil man den Heroen der Menschheit nur allzuoft zutraut, sie hätten nicht etwa auf ökonomisch vorbereitetem Boden die zeitgemäße praktische Folgerung gezogen, sondern gleichsam frei und leicht wie aus dem Nichts heraus eine rein geistig "reif" gewordene Welt umgestaltet: deshalb hat die sogenannte materialistische Weltanschauung dennoch den Wert einer neuen Entdeckung. Und wenn sie hier und da überspannt wird, so ist dies daraus zu erklären, daß man, wie immer in Perioden des Kampfes, über das Gemeinsame und selbstverständlich Erscheinende schweigt, aber den Gegensatz umso stärker hervorkehrt. Richtig ist jedenfalls das, daß die ökonomische Ordnung der grundlegende Faktor für die sittliche Ordnung und damit für die Sittlichkeit der Massen ist. Wir können sogar noch weiter gehen und zugeben, daß die sittlichen und rechtlichen Anschauungen nicht bloß von der wirtschaftlichen Ordnung im allgemeinen, sondern auch in überaus hohem Maße von der Klassenlage der Einzelnen bestimmt werden. Ein Blick auf die Anschauungen der Zeitgenossen lehrt dies zur Evidenz. Es ist doch kein Zufall, daß in so weitem Umfang gerade die industrielle Arbeiterschaft von den Lehren des Sozialismus erfaßt worden ist und sie mit einer Energie vertritt, wie nur eine die ganze Seele erfüllende Religion vertreten werden kann. Nicht die vielgenannte Aufstachelung der Begehrlichkeit unverständiger Massen hat diese Wirkung erzielt, denn es sind durchschnittlich nicht die dümmsten, schlechtesten und nicht die schlechtgestellten Arbeiter, welche dem Sozialismus anhängen; es ist eher die Intelligenz der Arbeiterschaft. Nein, die Klassenlage im allgemeinen, die enge Beziehung der industriellen Arbeiter zur modernen Produktion läßt sie die Wirkung derselben schärfer empfinden und klarer erfassen, als diejenigen, welche noch nicht oder nicht völlig von deren Bedingungen beherrscht werden. Eben aus diesem Grund sind die oft weit schwerer gedrückten Arbeiter der Hausindustrie, die Tagelöhner auf den noch nicht industriell bewirtschafteten Gütern, die Arbeiter in mehr handwerksmäßigen Fabrikationszweigen dem Sozialismus weniger zugänglich. |