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HEINRICH RICKERT
Geschichtsphilosophie
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Einleitung
I. Die Logik der Geschichtswissenschaft
II. Die Prinzipien des historischen Lebens
III. Universalgeschichte


"Der Historismus, der sich so positiv dünkt, erweist sich als eine Form des Relativismus und Skeptizismus und kann, konsequent zu Ende gedacht, nur zum vollständigen  Nihilismus  führen. Er macht als Weltanschauung die vollkommene Prinzipienlosigkeit zum Prinzip ist daher von der Geschichtsphilosophie auf das entschiedendste zu bekämpfen."

"Das systematische und zugleich wertende Wesen der philosophischen Behandlung des historischen Universums kann nur dort unklar bleiben, wo man, wie so oft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert nicht zu unterscheiden vermag oder wegen des herrschenden Mißtrauens gegen wissenschaftliche Wertbegründung die Werturteile nur versteckt auszusprechen wagt, um den Anschein einer rein betrachtenden, wertfreien Behandlung hervorzurufen. Das Aufspüren der Werturteile und der Nachweis ihrer prinzipiellen Unentbehrlichkeit wird wegen der heute weit verbreiteten Unklarheit und Verschwommenheit auf diesem Gebiet eine umso dringendere Aufgabe der Philosophie."

"Den Griechen war, wenn auch nicht der Begriff der Geschichte überhaupt, so doch der des historischen Universums fremd. Erst durch das  Christentum  wurde der Gedanke an eine "Weltgeschichte" im strengen Sinne des Wortes möglich. Entscheidend ist dabei die Vorstellung von der  Einheit  des  Menschengeschlechts.  Sie erscheint der Hauptsache nach hergestellt durch die Beziehung der verschiedenen Teile der Menschheit auf Gott. Denn alle Völker sollen Gott suchen und dadurch wird das Menschengeschlecht in seiner einmaligen Entwicklung zur Idee eines geschlossenen Ganzen."

"Wo es sich um die letzten Grundlagen unseres philosophischen Denkens handelt, ging diese Wendung von Kant aus, den man heute wunderlicherweise durch den Darwinismus glaubt widerlegen zu können und zwar ging die Wendung aus von der ganz eigenartigen Leistung, die in der Verknüpfung der erkenntnistheoretischen mit den ethischen Problemen steckt."

III.

Die Geschichtsphilosophie
als Universalgeschichte

Jetzt können wir uns schließlich den Problemen der dritten Disziplin zuwenden, die auf den Namen der Geschichtsphilosohie Anspruch erhebt. Sie will im Gegensatz zu den historischen Spezialwissenschaften eine  allgemeine Geschichte  geben, das heißt die historische "Welt" oder das historische Universum darstellen. Wie soll sie dieses Ziel erreichen? Besteht ihre Aufgabe etwa darin, die spezialwissenschaftlichen Darstellungen zu einem Ganzen zusammenzufassen und wenn auf diesem Weg ein wirklich geschlossenes Ganzes nicht zu gewinnen ist, die Lücken, welche die spezialwissenschaftliche Forschung in der Universalgeschichte noch läßt, mit mehr oder weniger hypothetischen Gebilden auszufüllen? Bloße Zusammenfassung kann als selbständige wissenschaftliche Arbeit gelten und der Versuch dort Vermutungen aufzustellen, wo die Einsicht der Spezialforscher zu wirklich begründeten Annahmen nicht mehr ausreicht, müßte den Spott aller Historiker herausfordern. Eine solche Geschichtsphilosophie ist schon deswegen zumindest überflüssig, weil ja von den Historikern selbst Universalgeschichte geschrieben wird. So gewiß also die Philosophie überhaupt, nachdem jedes besondere Gebiet der Wirklichkeit von einer Spezialwissenschaft keine selbständigen Aufgaben mehr hat, die sich auf die empirische Welt beziehen, so gewiß kann eine Gesamterkenntnis des geschichtlichen Ganzen, die sich nur dadurch von den spezialwissenschaftlichen Untersuchungen unterscheidet, daß sie sich nicht auf einen Teil beschränkt, keine Aufgabe der Geschichtsphilosophie mehr sein. Nicht nur die Darstellung geschichtlicher Sondergebiete, sondern auch die Universalgeschichte muß als  historische  Wissenschaft ausschließlich den hier allein kompetenten Historikern überlassen werden, ebenso wie über das Sein der Natur, im allgemeinen wie im besonderen, nur die Männer der empirischen Forschung etwas wissenschaftlich feststellen dürfen. Die Philosophie würde sich lächerlich machen, wenn sie glaube, hier mehr als jene leisten zu können.

Aber damit ist die Frage nach einer philosophischen Behandlung des von der Gesamtheit der empirischen Geschichtswissenschaften dargestellten Stoffes noch nicht entschieden. Auch wenn nicht nur die Formen, sondern zugleich der Inhalt des historischen Ganzen in Betracht kommt, hat die Philosophie ihm gegenüber eine Aufgabe, die von keiner empirischen Geschichtswissenschaft in Angriff genommen werden kann und gerade der Umstand, daß Universalgeschichte von Historikern rein historische geschrieben wird, vermag zur Bestimmung dieser philosophischen Aufgabe zu dienen. Versuchen wir daher, aufgrund der Einsicht in das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zunächst den Begriff einer  empirischen  Darstellung der Universalgeschichte klar zu machen und dann zu sehen, welche Fragen, die die Historiker als Historiker nicht beantworten können, für die Philosophie noch übrig bleiben.

Die "Weltgeschichte", wie sie zum Beispiel RANKE geschrieben hat, unterscheidet sich von der Art nach durch nichts von seinen Darstellungen besonderer Objekte und so hat ihr Verfasser es auch gewollt. Er war ja, wie DOVE berichtet, der Überzeugung, daß "zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden könne als Universalgeschichte" und jedenfalls ist ihm die "Weltgeschichte" als seiner spezialwissenschaftlichen Arbeit ohne Hinzufügung eines neuen Prinzipes herausgewachsen. Wichtig ist dabei für uns vor allem, zu sehen, was RANKE als Historiker unter der historischen "Welt", unter dem Ganzen versteht, das er behandelt. Er sagt einmal, der Drang nach Erkenntnis werde von der Überzeugung, daß ihm nichts Menschliches fremd und fern sei, zur Umfassung des ganzen Kreises aller Jahrhgunderte und Reiche fortgerissen. Aber tatsächlich ist er weit davon entfernt,  alle  Jahrhunderte und  alle  Reiche in seiner Weltgeschichte zu behandeln und er würde dies auch dann nicht getan haben, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sein Werk zum Abschluß zu bringen. Bemerkt er doch einmal, als er davon spricht, daß es nicht der Beruf ALEXANDERs gewesen ist, Indien zu durchziehen und die Osthälfte Asiens zu entdecken, diese sei "noch lange Jahrhunderte hindurch nicht in den Kreis der Weltgeschichte gezogen worden". RANKEs Universum ist nur als ein  Teil  der uns bekannten Geschichte der Menschheit zu bestimmen und nicht etwa als das letzte umfassendste historische Ganze im logischen Sinne, es ist also kein Universum in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, ja, seine Forderung einer universalgeschichtlichen Behandlung des historischen Stoffes besteht im wesentlichen nur darin, daß er sich nicht auf ein einzelnes Volk beschränken, sondern den Zusammenhängen nachgehen will, welche die verschiedenen Völker eines bestimmten Kulturkreises miteinander verknüpfen. Eine begriffliche Feststellung des historischen Universums oder gar die Ordnung seiner verschiedenen Teile zu einem systematisch geschlossenen Ganzen hat RANKE aber nicht nur tatsächlich nicht versucht, sondern er konnte es auch nicht, wenn er Historiker bleiben wollte. Die empirische Geschichte kann niemals zu einer systematischen Wissenschaft werden, das heißt, sie kann nicht nur nicht nach einem System von allgemeinen Begriffen streben, sondern sie kann auch ein System in dem Sinne nicht anstreben, daß darunter ein Gefüge von individuellen Reihen zu verstehen ist, die sich als Glieder eines individuellen Ganzen zusammenschließen. Erstens ist ein solches individualisierendes System nämlich nur mit Hilfe eines Systems von allgemeinen Kulturwerten in dem angegebenen Sinn zu lösen, dessen Aufstellung dem Historiker ganz fern liegt und zweitens muß sich der "historische Sinn" nicht nur gegen historische Gesetze, sondern auch gegen jede andere Art von Systematik sträuben; denn sie würde ihn der Freiheit und Weite der Betrachtungsweise berauben, deren er zur unbefangenen Auffassung  jedes  geschichtlichen Ereignisses in seiner Eigenart bedarf. Alle Historiker werden daher, auch wenn sie Universalgeschichte schreiben und dabei Historiker bleiben, im Prinzip nicht anders als RANKE, das heißt, unsystematisch verfahren. Dieser angebliche Mangel ist Mangel ist neuerdings in einer auf "ethnographischer" Grundlage ruhenden "Weltgeschichte" scharf hervorgehoben. Aber hat dieser Versuch,  alle  Teile der Erde geschichtlich zu behandeln, im Prinzip wirklich etwas geändert? Als systematische Abgrenzung und Gliederung des historischen Universums kann er jedenfalls nicht gelten. Ja, was die Geschichte dabei an äußerlicher, quantitativer Allgemeinheit gewinnt, geht ihr, weil das leitende Prinzip kein Kulturbegriff ist, an innerer Einheit notwendig verloren.

Der unvermeidliche "Mangel" jeder rein historischen Darstellung der Universalgeschichte weist uns zugleich auf die Aufgaben einer  philosophischen  Behandlung des historischen Universums hin. Im Gegensatz zur Geschichte wird die Philosophie das Bestreben nach Systematisierung niemals aufgeben. Selbstverständlich hat sie sich, so weit die historischen Tatsachen in Frage kommen, stets auf die empirische Geschichtswissenschaft zu stützen und sich ihrer Autorität bedingungslos zu unterwerfen. Im übrigen aber kann sie in allen rein historischen Darstellungen, mit Einschluß der umfassendsten, nur Material sehen, das sie in ihrer Weise systematisch gestaltet. Sie vermag das freilich nur, wenn sie als Prinzipienwissenschaft ihre Aufgabe mehr oder weniger gelöst hat. Ist aber auch nur der Ansatz zu einem kritisch begründeten System der Kulturwerte in dem angegebenen Sinn gewonnen, dann kann sie auch den  Inhalt  der Geschichte so auffassen, daß dadurch zwar kein System allgemeiner Begriffe, wie in einer generalisierenden Wissenschaft, wohl aber eine systematische Abgrenzung und Gliederung des historischen Universums entsteht.

Was die  Abgrenzung  betrifft, so fällt unter den Begriff des letzten historischen Ganzen alles, was mit Rücksicht auf die kritisch begründbaren, also mehr als empirisch allgemeinen Kulturwerte durch seine Individualität wesentlich ist. Freilich kann das so entstehende historische Universum wieder nur eine "Idee" im kantischen Sinn sein, das heißt, ebenso wie das System der Kulturwerte selbst, inhaltlich niemals definitiv abgeschlossen werden und es gehört daher, um mit MEDICUS zu reden, in die "transzendentale Dialektik" einer Kritik der historischen Vernunft. Aber dieser Umstand hebt die Selbständigkeit seiner systematischen, geschichtsphilosophischen Behandlung nicht auf. Ja die Beziehung auf das Wertsystem ermöglicht zugleich auch eine  Gliederung  des historischen Ganzen, das heißt, es lassen sich bestimmte Teile als sein wichtigsten Glieder, als seine "Epochen" oder "Perioden" gegeneinander abgrenzen und so ordnen, daß der Sinn der Geschichte nicht nur in einer solchen Geschichtsphilosophie auch die Auswahl des Wesentlichen von der unterscheiden, die die empirischen Wissenschaften vollziehen; denn sobald nicht alle empirisch allgemeinen Kulturwerte, sondern nur noch diejenigen in Betracht kommen, die im Wertsystem ihre Begründung gefunden haben, wird die Fülle des historischen Details zurücktreten und nur noch von den "großen" Epochen oder Perioden die Rede sein.

Wir kommen damit zum Gedanken an eine Wissenschaft von ganz eigenartiger logischer Struktur, nämlich zum Begriff einer  systematischen Kulturwissenschaft.  Sie verfährt, trotz ihres systematischen Charakters nicht etwa generalisierend, das heißt, sie strebt nicht nach einem System von mehr oder weniger allgemeinen Begriffen, da sie es ja stets mit geschichtlichem Kulturleben zu tun hat, sondern sie sucht invidiualisierend die Begriffe von historischen Teilindividualitäten zur geschlossenen Einheit eines Begriffs der historischen  Universalindividualität  zusammenzufügen. Ein solcher Begriff enthält keinen Widerspruch. Das Wert system  gibt die Möglichkeit der Systematisierung und die Beziehung auf das  Wert system gestattet das individualisierende Verfahren.

Worin man die Träger der Epochen des historischen Universums sehen will, ob in einzelnen Persönlichkeiten oder in Massenbewegungen, kann natürlich wiederum nur von Fall zu Fall entschieden werden und ebenso läßt sich die Frage, ob die umfassendsten Glieder des einmaligen Entwicklungsprozesses verschiedene Zeitalter sind, die aufeinander folgen oder verschiedene Volksindividuen, die zum Teil gleichzeitig zusammenwirken, vor der historischen Untersuchung nicht beantworten. Hier kommt es nur darauf an, den systematischen Charakter einer philosophischen Behandlung desselben Gegenstandes klarzulegen, den die Geschichtswissenschaften historisch behandeln und dadurch die Geschichtsphilosophie nicht nur, wie früher, von den generalisierenden Gesellschaftswissenschaften oder der Soziologie, sondern zugleich auch von den empirischen Geschichtswissenschaften scharf abzugrenzen. Auch mit der Geschichte selbst muß die Philosophie im angegebenen Sinne ungeschichtlich verfahren. RANKE hatte daher recht, wenn er sich im Gegensatz zu den Philosophen unternommenen universalgeschichtlichen Konstruktionen fühlte und einen Einbruch der Philosophie in das Gebiet de Historikers fürchtete. Er ist jedoch in seinem Urteil der Geschichtsphilosopie nicht gerecht geworden, weil er den angegebenen Unterschied mehr fühlte, als begrifflich scharf zu formulieren vermochte. Er hat selbst, wenn auch nicht in seiner "Weltgeschichte", so doch in seinen Vorträgen "über die Epochen der neueren Geschichte" etwas versucht, was einer Philosophie der Geschichte in gewisser Hinsicht nahe kommt. Doch ist diese Darstellung für eine Philosophie viel zu historisch und daher unsystematisch ausgefallen und stellt sich so als eine Übergangs- oder Mischform dar, die selbstverständlich als Kundgebung einer genialen Persönlichkeit damit nicht das geringste an Wert verliert, aber doch mit Rücksicht auf ihre logische Struktur als Übergangsform bezeichnet werden muß. Sie will nämlich in gewisser Hinsicht systematisch sein und erkennt zugleich die Voraussetzungen, die keine geschichtsphilosophische Systematik entbehren kann, zum Teil nicht an. Sie zeigt uns gerade dadurch, wie nötig es ist, begrifflich scharf zwischen empirischer, unsystematischer Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. Ist das geschehen und vermeidet der Geschichtsphilosoph jeden Einbruch in die historischen Wissenschaften, so hat seine systematische Betrachtungsweise der geschichtlichen Gesamtentwicklung  neben  der historischen und unsystematischen Darstellung des geschichtlichen Lebens ihr unbezweifelbares Recht.

Damit jedoch diese Scheidung und zugleich auch die Notwendigkeit dieser Art von Geschichtsphilosophie vollkommen deutlich wird, ist noch ein zweiter Punkte zu berücksichtigen, der mit dem Streben nach Systematisierung aufs engste zusammenhängt. Zum Wesen des historischen Sinnes gehört nicht nur die Systemlosigkeit, sondern es setzt die unbefangene Auffassung des geschichtlichen Verlaufs auch einen Glauben an das "Recht" jeder geschichtlichen Wirklichkeit voraus. Deshalb muß der Historiker sich als Historiker des direkten Werturteils über seine Objekte zu enthalten suchen und deswegen muß die Logik der Geschichte die theoretische Wertbeziehung scharf von der praktischen Wertung trennen. Die Philosophie dagegen, welche kritisch zu den Kulturwerten Stellung zu nehmen hat, weiß von keinem "Recht", das dem Geschichtlichen als solchem zukommt, nichts, und ebenso entschieden, wie sie das rein historische Verfahren der Einzelforschung anerkennt, ist für sie der  Historismus als Weltanschauung  ein Unding. Dieser Historismus, der sich so positiv dünkt, erweist sich als eine Form des Relativismus und Skeptizismus und kann, konsequent zu Ende gedacht, nur zum vollständigen  Nihilismus  führen. Den Schein meidet er dadurch allein, daß er ganz willkürlich an irgendeiner Gestaltung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit haften bleibt, das "Recht des Geschichtlichen" an sie knüpft und sich dann aus ihr eine Fülle des positiven Lebens herholt. Das unterscheidet ihn zwar vom abstrakt formulierten Relativismus und Nihilismus, hebt ihn aber im Prinzip in keiner Weise über diesen hinaus. Er müßte, wenn er konsequent wäre, das Recht des Geschichtlichen  jedem  beliebigen historischen Sein zugestehen und deshalb darf er nirgends haften, gerade weil er überall haften sollte. Er macht als Weltanschauung die vollkommene Prinzipienlosigkeit zum Prinzip ist daher von der Geschichtsphilosophie auf das entschiedendste zu bekämpfen.

In der Auffassung des historischen Universums zeigt sich der Gegensatz zum Historismus darin, daß die Geschichtsphilosophie die historische, rein theoretisch wertbeziehende Betrachtungsweise zugunsten der  kritischen Wertung  verläßt. Was das bedeutet, kann man sich am besten daran klar machen, daß durch sie der Begriff des  Fortschritts  wieder zu seinem Recht kommt. Diese Kategorie gehört gewiß nicht unter die Prinzipien der  empirischen  Geschichtswissenschaft. Sie würde ebenso wie die Beziehung auf ein  System  von Werten die unbefangene Würdigung der geschichtlichen Vorgänge in ihrer Eigenart aufheben und die Vergangenheit, wie RANKE mit Recht gesagt hat, mediatisieren. Die Geschichts philosophie  dagegen kann die Kategorie des Fortschritts, um sich über den Nihilismus des Historismus zu erheben, gar nicht entbehren. Sie hat im Zusammenhang mit der Gliederung des historischen Universums die verschiedenen Stadien des einmaligen Entwicklungsprozesses mit Rücksicht darauf zu beurteilen, was sie für die Realisierung der kritisch begründeten Werte geleistet haben. Zu diesem Zweck muß sie, im bewußten Gegensatz zur rein historischen Betrachtung, die Vergangenheit um der Gegenwart und der Zukunft willen nicht nur mediatisieren, sondern richten, das heißt, ihren Wert messen an dem, was sein soll. Selbstverständlich ist die Frage, ob der Verlauf der Geschichte überall oder auch nur in einigen seiner Teile eine kontinuierliche Fortschrittsreihe oder Wertsteigerung darstellt, erst durch die Untersuchung selbst zu beantworten. Es besteht von vornherein ebenso die Möglichkeit eines kontinuierlichen Rückschrittes oder eines Auf- und Abwogens, eines Wechsels von Fortschritt und Entartung. Ja, es ist denkbar, daß sich weder ein Aufsteigen noch ein Niedergang im geschichtlichen Leben mit Rücksicht auf die Werte nachweisen läßt. Aber wie auch die Entscheidung hierüber ausfallen möge, jedenfalls sind alle Philosophen, die sich wirklich mit der Geschichte, das heißt mit der einmaligen menschlichen Kulturentwicklung individualisierend beschäftigt und nicht nur als Soziologen Gesetze des gesellschaftlichen Lebens gesucht haben, mit einem Wertmaßstabe an die Betrachtung des historischen Verlaufs herangegangen und sie konnten allein dadurch die Epochen des geschichtlichen Universums gliedern und beurteilen. Auch ein Philosoph wie SCHOPENHAUER, der von der Geschichtsphilosophie nichts wissen wollte, weil die geschichtliche Entwicklung ihm keinen Fortschritt zeigte und deshalb gänzlich sinnlos erschien, hat Geschichtsphilosophie im angegebenen Sinn getrieben und ist nur durch sein rein negatives Resultat, nicht aber mit Rücksicht auf die Stellung des geschichtsphilosophischen  Problems,  von den anderen Geschichtsphilosophen im Prinzip verschieden. Das systematische und zugleich wertende Wesen der philosophischen Behandlung des historischen Universums kann nur dort unklar bleiben, wo man, wie so oft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert nicht zu unterscheiden vermag oder wegen des herrschenden Mißtrauens gegen wissenschaftliche Wertbegründung die Werturteile nur versteckt auszusprechen wagt, um den Anschein einer rein betrachtenden, wertfreien Behandlung hervorzurufen. Das Aufspüren der Werturteile und der Nachweis ihrer prinzipiellen Unentbehrlichkeit wird wegen der heute weit verbreiteten Unklarheit und Verschwommenheit auf diesem Gebiet eine umso dringendere Aufgabe der Philosophie.

Doch diese Ausführungen haben nur den Zweck, zu zeigen, welche  Aufgabe  für die Philosophie der Geschichte neben der empirischen Geschichtswissenschaft entsteht, sobald sie ein System der Kulturwerte als Idee voraussetzen darf. Eine Andeutung über die Ausführung könnte nur im Zusammenhang mit einem System der Philosophie einerseits und mit den Resultaten historischer Wissenschaften andererseits gegeben werden und das ist hier nicht möglich. Damit jedoch die Darlegung nicht ganz schematisch bleibt, blicken wir an dieser Stelle einmal auf die Vergangenheit der Geschichtsphilosophie zurück. Eine Vergleichung der früher aufgestellten Begriffe des historischen Universums und der daraus sich ergebenden philosophischen Universalgeschichte mit der jetzt noch haltbaren Gestaltung dieser Disziplin kann vielleicht am besten zur Beleuchtung der gegenwärtigen Lage dienen. Das Anknüpfen an die Vergangenheit ist hier ferner auch deswegen von Vorteil, weil wir es jetzt mit  der  Gestalt der Probleme zu tun haben, in der die Philosophie der Geschichte am frühesten und am meisten die Menschen beschäftigt hat und weil sich deshalb durch den Rückblick zugleich zeigen muß, wie wenig willkürlich unsere an der Logik orientierte Art der geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise ist. Denn es wird sich ergeben, daß wir schließlich auch durch sie auf die Probleme hinauskommen, die sonst als die Hauptprobleme der Geschichtsphilosophie gegolten haben.

Drei Epochen lassen sich in der Geschichte der Geschichtsphilosophie unterscheiden. Ihnen entsprechen drei Typen, die heute noch alle vorkommen und denen wir die kantischen Namen des Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus geben können. Diese drei Ausdrücke bezeichnen so natürlich theoretische  Werte  und durch Beziehung auf sie gliedert sich dann der Verlauf folgendermaßen.

Schon oft ist hervorgehoben und besonders von DILTHEY gezeigt worden, daß, wenn auch nicht der Begriff der Geschichte überhaupt, so doch der des historischen Universums den Griechen fremd war und daß erst durch das  Christentum  der Gedanke an eine "Weltgeschichte" im strengen Sinne des Wortes möglich wurde. Entscheidend ist dabei die Vorstellung von der  Einheit  des  Menschengeschlechts.  Sie erscheint der Hauptsache nach hergestellt durch die Beziehung der verschiedenen Teile der Menschheit auf Gott. Denn alle Völker  sollen  Gott suchen und dadurch wird das Menschengeschlecht in seiner einmaligen Entwicklung zur Idee eines geschlossenen Ganzen. Gott hat die Welt und den Menschen geschaffen und zwar stammen alle Menschen von einem Paar ab. So beginnt die Weltgeschichte an einem bestimmten Zeitpunkt und mit dem Weltgericht wird sie enden. Dieses entscheidet dann, wie weit die Entwicklung ihre Aufgabe erfüllt, ihren Sinne zum Ausdruck gebracht hat. Sündenfall und Erlösung sind es, welche die Epochen dieses Verlaufs so gliedern, daß eine Reihe von Entwicklungsstufen entsteht. Es ist klar, wie sich auf dieser Grundlage eine Universalgeschichte darstellen läßt, in der jedes Ereignis, das mit Rücksicht auf den Sinn der Geschichte bedeutsam ist, zum Glied des Ganzen, zur Entwicklungsstufe eines einheitlichen Zusammenhangs wird.

Doch fehlt für die Ausgestaltung des Bildes im einzelnen noch ein wesentliches Moment, das ihm den  dogmatischen  Charakter gibt und es später skeptischen Angrifen aussetzt. Anfangs mochte man sich in der christlichen Philosophie um die Probleme der äußeren Welt wenig kümmer, aber allmählich verbinden sich die religiösen Vorstellungen auf das innigste mit einem bestimmten, im wesentlichen der Antike entnommenen Bild vom  Kosmos.  Der Verlauf des Ganzen ist nun nicht nur zeitlich durch Schöpfung und Weltgericht begrenzt, sondern auch auf einen räulich übersehbaren Schauplatz verlegt. Man denke zum Beispiel an die Welt DANTEs, eine Welt, die man in ihrer Totalität zeichnen kann. Sie bildet eine in sich geschlossene Kugel, in deren Mitte der Schauplatz der Weltgeschichte, die Erde ruht. Über dieser Kugel, räumlich von ihr getrennt, ist der Sitz Gottes. Ihm zugewandt auf der Erde Jerusalem usw. usw. Unter solchen Voraussetzungen darf man wirklich von einer "Weltgeschichte" im strengen Sinn des Wortes sprechen und in dem genau begrenzten Rahmen der angedeuteten Vorstellungsweise läßt sich auch ein anschauliches Bild dieser Weltgeschichte entwerfen. Während der Blick der griechischen Denker entweder auf dem ewigen Rhythmus des Geschehens ruhte oder sich dem Bild eines Reiches übernatürlicher, aber ebenfalls ganz ungeschichtlicher, zeitloser, überindividueller Formen zugewendet hatt, sah man nun im  einmaligen,  auf Gott bezogenen geschichtlichen Werdegang der Welt ihr eigentliches Wesen.

Die Mannigfaltigkeit der auf diesem Boden unternommenen geschichtsphilosophischen Versuche kümmert uns hier nicht. Daß ihr Begriff und ihre Gliederung des historischen Universums logisch dieselbe Struktur zeigen, wie der früher erörterte Begriff und die Gliederung des letzten historischen Ganzen, leuchtet ein und daß insbesondere ihre Grundprinzipien Wertbegriffe sind, das ist schon durch einen Hinweis auf ihren religionsphilosophischen Charakter klar: Gott ist der absolute Wert, auf den alles bezogen wird. Aber bei der bloßen Wertbeziehung bleibt es nicht. Die Weltgeschichte will eine Art von "Weltgericht" sein und zwar in einem Sinne, den dieses Wort bei SCHILLER nicht hat. Sie will gewissermaßen vorläufig eine Abrechnung über den Wert des geschichtlichen Verlaufes geben, die dann durch Gott beim letzten Weltgericht endgültig erfolgen soll.

Uns interessiert sodann weiter, was allen diesen geschichtsphilosophischen Versuchen schließlich den Boden entzogen hat und die zweite Epoche, die  skeptische Wendung  herbeiführte. Es ist zum großen Teil die beim Beginn der modernen Welt erfolgte Umwandlung in den Vorstellungen vom Kosmos, jene Umwandlung, die deswegen auch heute noch von Bedeutung ist, weil sie im Prinzip das Weltbild schuf, in dem wir das definitive, jedenfalls das bis hetzt allein wissenschaftlich haltbare sehen müssen. Entscheidend ist dabei, wie besonders RIEHL dargestellt hat, nicht so sehr die Vertauschung des geozentrischen Standpunktes mit dem helizentrischen; denn mit der veränderten Lage der Erde innerhalb der Weltkugel hätte sich wohl ein Kompromiß schließen lassen. Entscheidend ist vielmehr die Zerstörung des Gedankens an eine Weltkugel, an einen geschlossenen, übersehbaren Kosmos überhaupt. GIORDANO BRUNOs Lehre von den  Unendlichkeit der Welt  war es, an der jede Geschichtsphilosophie, die "Weltgeschichte" im strengen Sinne des Wortes sein wollte, scheitern mußte. Vom zeitlich und räumlich Grenzenlosen gibt es nur noch Gesetzeswissenschaft und auch das nur im bereits angegebenen Sinn, daß die Gesetze für jeden beliebgien  Teil  gelten. Der Ausdruck  Weltgeschichte  verliert so für alle Zeiten seine eigentliche Bedeutung. Damit wird zugleich der Begriff eines letzten historischen  Ganzen  überhaupt zum Problem und es scheint sich zunächst kein Weg zur Lösung zu bieten. Auch die Geschichte der menschlichen "Welt" ist nicht mehr jene in ihrer Individualität notwendig auf den absoluten Wert bezogene oder gar an ihm zu messende Einheit. Ihr Schauplatz, die Erde, hat im unendlichen All ihre Bedeutung verloren. Sie ist zum gleichgültigen Gattungsexemplar geworden und ebenso gleichgültig wird unter gesetzeswissenschaftlichen Perspektiven alles Einmalige und Besondere, das sich auf ihr abspielt.

Es ist wichtig hervorzuheben, daß alle diese skeptischen Wandlungen im Prinzip bereits durch die Lehren von KOPERNIKUS und GIORDANO BRUNO gegeben sind und nicht etwa erst, wie viele meinen, durch die moderne Biologie. Die Deszendenztheorie [Abstammungstheorie - wp] ist für die Spezialwissenschaft gewiß von außerordentlichem Wert. Daß sie keine positiven philosophischen Prinzipien für eine geschichtliche Betrachtung zu liefern vermag, wurde bereits gezeigt und wir müssen jetzt hinzufügen, daß sie nicht einmal mehr wesentliche Bestandteile der alten Geschichtsphilosophie zu zerstören vorfindet, wenigstens für den nicht, der auch nur den Gedanken der zeitlichen Unbegrenztheit der Welt zuende gedacht hat. Unter den Naturwissenschaften ist also für Weltanschauungsfragen nicht die Biologie, sondern die Astronomie wirklich bedeutsam gewesen und auch diese hat, wenigstens für die geschichtsphilosophischen Probleme, lediglich eine negative Bedeutung gehabt.

Ja, wir können sagen, daß der entscheidende Schritt für die neue und  positive Wendung  in der Behandlung der geschichtsphilosophischen Probleme bereits getan war, ehe die entwicklungsgeschichtliche Biologie es auch nur zu ihren ersten Ansätzen gebracht hatte; denn diese Wendung ging, wie überall, wo es sich um die letzten Grundlagen unseres philosophischen Denkens handelt, von KANT aus, den man heute wunderlicherweise durch den Darwinismus glaubt widerlegen zu können und zwar ging die Wendung aus von der ganz eigenartigen Leistung, die in der Verknüpfung der erkenntnistheoretischen mit den ethischen Problemen steckt. Seine Erkenntnistheorie hat KANT selbst mit der Tat des KOPERNIKUS verglichen und wir können diesen Vergleich noch in einer anderen Richtung verfolgen. Der transzendentale Idealismus bedeutete nämlich gerade wegen des "kopernikanischen Standpunktes" eine Umkehr auf dem Weg, den die Philosophie aufgrund des neuen Weltbildes der Astronomie glaubte einschlagen zu müssen. Aber, und das ist das Entscheidende, eine Umkehr, welche das neue Weltbild selbst gänzlich unangetastet läßt und es trotzdem ermöglicht, die alten Probleme wieder aufzunehmen.

Durch KANT wird der Mensch, unter voller Anerkennung der modernen Naturwissenschaft wieder in den "Mittelpunkt" der Welt gestellt. Freilich, nicht räumlich, aber in einer für die Probleme der Geschichtsphilosophie noch viel bedeutsameren Weise. Es "dreht sich" jetzt wieder alles um das  Subjekt.  Die "Natur" ist nicht die absolute Wirklichkeit, sondern ihrem allgemeinen Wesen nach durch "subjektive" Auffassungsformen bestimmt und gerade das "unendliche" Weltall ist nichts anderes, als eine "Idee" des Subjekts, der Gedanke einer ihm notwendig gestellten und zugleich unlösbaren Aufgabe. Durch diesen "Subjektivismus" sind die Fundamente der empirischen Naturwissenschaft nicht etwa angetastet, sondern nur noch mehr befestigt, die Fundamente des Naturalismus als Weltanschauung, der jeden Sinn des Historischen leugnet, dagegen völlig untergraben. Und diese Zerstörungsarbeit, welche zunächst die Hindernisse für die Auffassung eines Seins als Geschichte hinweggeräumt hat, wird dadurch um so bedeutsamer, daß sich, infolge der engen Verbindung der Erkenntnistheorie mit der Ethik, daran sofort die Grundlegung für einen positiven geschichtsphilosophischen Aufbau anschließt. Der Mensch steht nicht nur mit seiner theoretischen Vernunft im Zentrum der "Natur", sondern er erfaßt sich mit seiner praktischen Vernunft zugleich unmittelbar als das, was dem Kulturleben einen objektiven Sinn gibt, nämlich als pflichtbewußte, autonome, "freie" Persönlichkeit und diese praktische Vernunft hat den Primat. Was will demgegenüber noch die Tatsache bedeuten, daß der Schauplatz der Geschichte räumlich und zeitlich ein verschwindend kleines Teilchen an irgendeinem beliebigen Punkt des Weltganzen ist? Für das theoretisch und praktisch "Gesetze" gebende, autonome Subjekt sind diese räumlichen und zeitlichen Verhältnisse bei der Behandlung von  Wertfragen  jetzt vollständig gleichgültig geworden. Der autonome Mensch läßt der Wissenschaft, die das alte Weltbild zerstört hat, bei der Erforschung der "Natur", mit Einschluß des psychischen Lebens, jede beliebige Freiheit. Doch nie wird er zugeben, daß diese Wissenschaft vom  Sein  der Dinge irgendetwas ber Wert oder Unwert, über  Sinn  oder Sinnlosigkeit des Weltlaufes mitzureden habe; denn er ist sich als praktische Vernunft seiner "Freiheit" als des wahren Sinnes der Welt und ihrer Geschichte absolut gewiß. Damit ist der positiv  kritische  Standpunkt gegenüber der Geschichte im Prinzip gewonnen und die dritte Epoche der Geschichtsphilosophie eingeleitet.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Geschichtsphilosophie, Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Christoph Sigwart, Tübingen 1900