ra-2A. CartellieriL. J. CampbellF. AnnekeE. BurkeKropotkinTocqueville    
 
THOMAS CARLYLE
(1795 - 1881)
Die französische Revolution

"Es gab eine Zeit, wo man, sozusagen, aus einem beliebigen Menschen, wenn man ihn nur mit den rechten Stoffen zur rechten Höhe fütterte und putzte, sich, fast wie die Bienen es tun, einen König machen und, was noch mehr zum Zweck diente, dem Gemachten treu gehorchen konnte. Der so gefütterte und geputzte Mensch, den man sofort königlich nennt, übt wirklich Herrschaft aus; zum Beispiel sagt und denkt man von ihm, daß er Eroberungen in Flandern macht, während er sich nur wie ein Stück Gepäck dort hinschaffen läßt: und wahrlich kein kleines Gepäck: meilenweit bedeckt es die Straße. Denn an seiner Seite hat er die schamlose Chateauroux mit ihren Bandschachteln und Schminkbüchsen, und auf jeder Station muß zwischen ihren Wohnungen eine hölzerne Galerie aufgeschlagen werden. Er führt nicht nur seine Mundküche und die endlose Dienerschaft mit sich, sondern sogar seine Schauspielertruppe mit ihren pappenen Kulissen, ihren Feuerwerken, Trommeln, Geigen, Garderoben und tragbaren Speisekammern (nebst ausreichendem Zank und Streit); alles auf Frachtwagen, Karren und alten Sesseln gepackt; genug, um, wenn nicht Flandern, so doch die Geduld der Welt zu bezwingen. Mit dieser Flut von klingelnden und klappernden Geräten rumpelt er fort und macht Eroberungen in Flandern."


Erstes Buch
Tod Ludwig des Fünfzehnten

Erstes Kapitel
Ludwig der Vielgeliebte

Der Präsident HÉNAULT stellt in seiner glatten Hofmannsmanier bei Gelegenheit seiner Bemerkungen über königliche Ehrennamen und über die Schwierigkeit, sicher zu bestimmen, nicht nur wann, sondern auch warum dieselben erteilt wurden, folgende philosophische Betrachtung an:
    "Der Beiname le bien-aimé (der Vielgeliebte), den Ludwig XV. führt, wird die Nachwelt nicht in gleichem Zweifel lassen. Als dieser Fürst im Jahre 1744 sein Reich von einem Ende zum andern durchflog und mit seinen Eroberungen in Flandern innehielt, um dem Elsaß zu Hilfe zu eilen, wurde er in Metz von einer Krankheit aufgehalten, die den Faden seiner Tage abzuschneiden drohte. Bei der Kunde davon glich Paris, ganz von Schrecken erfüllt, einer Stadt, die mit Sturm genommen wird; die Kirchen hallten wider von den Bitten der Flehenden, von den Seufzern der Klagenden; lautes Schluchzen unterbrach jeden Augenblick die Gebete der Priester und des Volkes: und aus einer so innigen, zärtlichen Teilnahme hat sich der Beiname le bien-aimé gebildet, ein Titel, der noch ehrenvoller ist als alle übrigen, die sich dieser große Fürst erworben hat." (1)
So steht es geschrieben, als dauerndes Denkmal jenes Jahres 1744. Dreißig Jahre sind seitdem gekommen und gegangen, und wieder liegt "dieser große Fürst" krank darnieder; aber wie sehr hat sich jetzt alles verändert! Die Kirchen widerhallen nicht von übermäßigem Wehklagen, Paris zeigt stoische Ruhe, kein Schluchzen unterbricht die Gebete; denn es werden eben keine Gebete dargebracht, außer den Litaneien, die der Priester zu festgesetztem Preis pro Stunde abliest oder absingt und in denen solche Unterbrechungen nicht vorkommen. Schwer krank ist der Hirt des Volkes von Kleintrianon heimgetragen und in seinem eigenen Schloß in Versailles zu Bett gebracht worden - die Herde weiß es und achtet es nicht. Höchstens wird in der unermeßlichen Flut der französischen Rede (die Tag auf Tag nicht verrinnt und nur in den kurzen Stunden der Nacht ihre Ebbe hat) gelegentlich etwas von der königlichen Krankheit auftauchen: eine Tagesneuigkeit, wie andere. Auch sind ohne Zweifel Wetten im Gange, ja einige Leute sollen sich sogar "laut auf den Straßen geäußert haben". (2) Aber im übrigen scheint die Maisonne und erblaßt der Maiabend ruhig über dem grünen Feld und der betürmten Stadt, und die Menschen gehen ihren nützlichen oder unnützen Geschäften nach, als läge kein LUDWIG in Gefahr.

Madame DUBARRY mochte freilich, wenn sie Talent dazu hatte, beten; auch der Herzog von Aiguillon, MAUPEOU und das Parlament  Maupeou;  sie, die auf hohen Spitzen thronen, ein geknechtetes Frankreich zu ihren Füßen, wissen wohl, auf welcher Basis ihre Macht beruth. Gibt wohl Acht, d'AIGUILLON, gibt scharf Acht, wie damals, als du von der Mühle von Saint Cast auf Quiberon und die andringenden Engländer sahst, als ein, "wenn nicht mit Ruhm, doch mit Mehl bedeckter Mann". Das Glück galt immer für unbeständig, und jeder Wicht hat nur seinen Tag.

Verlassen genug schmachtete vor einigen Jahren der Herzog von Aiguillon, noch mit Schlimmerem bedeckt als nur mit Mehl. Denn La CHALOTAIS, vom bretagner Parlament, bezichtigte ihn nicht nur der Feigheit und Tyrannei, sondern auch der Konkussion (des amtlichen Gelderraubes), Beschuldigungen, die sich leichter durch Hintertreppeneinfluß "vertuschen" als widerlegen ließen: die Gedanken oder auch nur die Zungen der Menschen zu binden war ja leider ebenfalls ungmöglich. So mußte dieser Großneffe des großen RICHILIEU unter trauriger Verdunkelung umherschleichen, der Verehrung der Welt verlustig, vom entschlossenen CHOISEUL, dem schroffen, stolzen Mann, verachtet oder gar vergessen. Was blieb ihm übrig, als in die Gascogne zu verschwinden, seine Schlösser dort wieder aufzubauen (3) und in seinen Wäldern jagend ruhmlos zu sterben! Indessen mußte ein junger Soldat, ein gewisser DUMOURIEZ, als er im Jahre 1770 von Korsika zurückkehrte, "mit Betrübnis sehen, wie zu Compiégne der alte König von Frankreich im Angesicht seiner Armee, zu Fuß und mit abgezogenem Hut neben einem prächtigen Phaeton [Kutsche - wp] stehend, der DUBARRY seine Huldigung darbrachte". (4)

Das war bedeutungsvoll! D'AIGUILLON wenigstens konnte hiernach den Wiederaufbau seiner Schlösser auf andere Zeiten verschieben und wieder anfangen, an seinem Glück zu bauen. Wollte doch der trotzige CHOISEUL in der DUBARRY nichts anderes sehen als ein trefflich ausstaffiertes "Weib in Scharlach"; wollte er doch seines Weges gehen, als existierte sie nicht. Unterträglich: eine Quelle von Seufzern und Tränen, von Schmollen und Grollen, die nicht eher aufhörten, als bis "Frankreich" (La France, wie sie ihren königlichen Lakaien nannte) endlich den Mut faßte, vor CHOISEUL zu treten und mit seinem gewöhnlichen - diesmal natürlichen - "Zittern im Kinn" (5) (tremblement du menton) eine Entlassung zu stottern; die Entlassung seines letzten kernhaften Mannes, gleichbedeutend mit der Besänftigung seines "Weibes in Scharlach".

So geschah es, daß d'AIGUILLON wieder stieg und auf den Gipfel seiner Macht gelangte. Und mit ihm stieg der Verbanner der Parlamente, MAUPEOU, der euch einen widerspenstigen Präsidenten, damit er sich besinne, "zu Croe in Combrailles auf die Spitze steiler Felsen pflanzt, zu denen man nur mittels Tragfesseln gelangen kann". Ebenso stieg auch Abbé TERRAY, der lockere Finanzier, der vierzig Kreuzer vom Gulden zahlt, sodaß Witzlinge in einem Gedränge beim Schauspielhaus rufen können: "Wo ist Abbè Terray, um uns auf zwei Drittel zu reduzieren!" Und so hat sich diese Sippschaft (durch schwarze Kunst fürwahr) eine neue Spukhöhle Domdaniel oder ein verzaubertes Dubarrytum gebaut und heißt es Armidapalast, wo sie in Lust und Freuden lebt, wo der Kanzler MAUPEOU der scharlachenen Zauberin die Zeit mit Blindekuh vertreibt oder ihr galanterweise Negerzwerge schenkt, - und wo ein allerchristlicher König (sehe es auch draußen aus wie es wolle) in seinem Haus unaussprechlichen Frieden genießt. "Mein Kanzler ist ein Schurke, aber ich kann ihn nicht entbehren." (6)

Schöner Armidapalast, wo, in süße Schmeichelmelodien eingewiegt und vom Glanz der Welt bedient, die Bewohner ein Zauberleben führen, das doch nur wunderbar wie an einem einzigen Haar hängt. Gesetzt, der allerchristlichste König stürbe, oder es würde ihm nur vor dem Sterben ernstlich bange! Denn ach, mußte nicht einst auch die schöne, stolze CHATEAUROUX, durch mürrische Pfaffen vertrieben, mit tränennassen Wangen und flamendem Herzen von jener Fieberszene in Metz fliehen? Nur mit Mühe kehrte sie zurück, als Fieber und Pfaffen in den Hintergrund verscheucht waren. Auch die POMPADOUR wußte, als DAMIENS die Majestät "leicht unter der fünften Rippe verwundet hatte" und unsere Fahrt nach Trianon kläglich mit Jammergeschrei und toll geschwungenen Fackeln ablief, aufpacken und sich zur Abreise bereit halten: sie ging aber nicht, weil sich in der Wunde kein Gift zeigte. Denn Seine Majestät hat Religion im Leib und glaubt wenigstens - an einen Teufel. Und jetzt eine dritte Gefahr, und wer weiß, was dahinter steckt! Machen doch die Doktoren ein ernstes Gesicht und fragen ganz insgeheim, ob Seine Majestät nicht vor langer Zeit die Blattern gehabt habe, mit dem Bedeuten, es wären vielleicht nicht die  echten  gewesen. Ja, MAUPEOU, runzle nur deine unheimliche Stirn und sieh genau zu mit deinen boshaften Katzenaugen; der Fall ist zweifelhaft. Sicher ist nur, daß der Mensch sterblich ist und daß mit dem Leben eines einzigen Sterblichen unwiderruflich der wundervollste Talismann zerbricht: worauf das ganze Dubarrytum polternd zusammenstürzt und ihr, wie Gespenster der Mitternacht, ins Weite verschwindet, ohne etwas zurückzulassen als Schwefelgestank!

Diese alle und was an ihnen hängt, mögen beten, zu Belzebub oder wer sie sonst hören will. Aber aus dem übrigen Frankreich kommt, wie wir sagten, kein Gebet, oder eines entgegengesetzter Art, das sich "laut in den Straßen äußert"! Chateau und Hotel, wo eine hocherleuchtete Philosophie über gar manches grübelt, sind zum Beten nicht geneigt; auch laden Siege bei Roßbach, TERRAYsche Finanzen und etwa 60 000  Lettres de cachet  [königliche Aufträge - wp], die allein auf MAUPEOUs Rechnung kommen, nicht dazu ein. O HENAULT! Gebete? Was für ein Gebet kann von einem Frankreich kommen, das durch schwarze Kunst von Plagen über Plagen heimgesucht wird und jetzt in Schmach und Schande daliegt, den Fuß einer Dirne auf seinem Nacken? Sollen vielleicht jene dürren Vogelscheuchen beten, die hungergequält auf allen Heer- und Nebenstraßen des französischen Daseins umherschleichen? Oder die stumpfen Millionen, die in der Werkstatt oder auf elendem Acker am Rad der Arbeit sich abmühen, wie der Gaul in der Mühle, umso ruhiger, wenn er blind ist? Oder die Armen, die ihrer acht in  einem  Bett im Bicetre-Hospital liegen und auf Erlösung harren? Dumpf sind ihre Köpfe, verstockt ihre Herzen; der große Fürst ist ihnen nur als der große Brotwucherer bekannt. Wenn sie von seiner Krankheit hören, werden sie gleichgültig antworten:  Tant pis pour lui  [Schade für ihn - wp], oder fragen: Wird er sterben?

Ja wird er  sterben?  Das ist jetzt für ganz Frankreich die große Frage und - Hoffnung, durch die allein noch des Königs Krankheit ein Interessen hat.


Zweites Kapitel
Verwirklichte Ideale

Ein so verändertes Frankreich haben wir jetzt und einen so veränderten LUDWIG. Ja freilich verändert und mehr noch, als man einstweilen sieht! Dem Auge der Geschichte ist in jenem Krankenzimmer LUDWIGs jetzt manches sichtbar, was den dort anwesenden Hofleuten unsichtbar war. Denn trefflich hat man gesagt: "In jedem Gegenstand liegt unerschöpfliche Bedeutung; jedes Auge sieht darin, was es nach den Mitteln, die es zum Sehen mitbringt, sehen kann." Für NEWTON und NEWTONs Hund  Diamond,  welch ein verschiedenes Paar von Universen, während doch die Abspiegelung auf der Netzhaut ihrer Augen höchst wahrscheinlich die nämliche war! Möge der Leser hier in diesem Krankenzimmer LUDWIGs sich bestreben, auch mit dem inneren Auge zu sehen.

Es gab eine Zeit, wo man, sozusagen, aus einem beliebigen Menschen, wenn man ihn nur mit den rechten Stoffen zur rechten Höhe fütterte und putzte, sich, fast wie die Bienen es tun, einen König  machen  und, was noch mehr zum Zweck diente, dem Gemachten treu gehorchen konnte. Der so gefütterte und geputzte Mensch, den man sofort königlich nennt, übt wirklich Herrschaft aus; zum Beispiel sagt und denkt man von ihm, daß er "Eroberungen in Flandern" macht, während er sich nur wie ein Stück Gepäck dort hinschaffen läßt: und wahrlich kein kleines Gepäck: meilenweit bedeckt es die Straße. Denn an seiner Seite hat er die schamlose CHATEAUROUX mit ihren Bandschachteln und Schminkbüchsen, und auf jeder Station muß zwischen ihren Wohnungen eine hölzerne Galerie aufgeschlagen werden. Er führt nicht nur seine  maison-bouche  [Mundküche - wp] und die endlose  valetaille  [Dienerschaft - wp] mit sich, sondern sogar seine Schauspielertruppe mit ihren pappenen Kulissen, ihren Blitzfässern, Trommeln, Geigen, Garderoben und tragbaren Speisekammern (nebst ausreichendem Zank und Streit); alles auf Frachtwagen, Karren und alten Chaisen [Sesseln - wp] gepackt; genug, um, wenn nicht Flandern, so doch die Geduld der Welt zu bezwingen. Mit dieser Flut von klingelnden und klappernden Geräten rumpelt er fort und macht Eroberungen in Flandern. Seltsames Schauspiel! Und doch, so war es und so ist es schon vor ihm gewesen; manchem einsamen Denker mochte es verwunderlich vorkommen, aber auch ihm mußte es unvermeidlich, nicht unnatürlich erscheinen.

Denn gar bildsam ist unsere Welt, und von allen Geschöpfen ist der Mensch der tätigste Bildner. Eine Welt, weder stetig noch ergründbar; ein unergründbares Etwas, das  nicht wir  ist, womit wir wirken und worin wir leben, und das wir gestalten können, wunderbar in unserem wunderbaren Wesen, und das wir Welt nennen. Aber wenn, wie die Metaphysik lehrt, sogar die Felsen und Flüsse streng genommen von unseren äußeren Sinnen  gemacht  werden, wie viel mehr dann von einem inneren Sinn alle Erscheinungen geistiger Art: Würden, Autoritäten, Heiliges und Unheiliges! Welcher innere Sinn noch dazu nicht, wie die äußeren, beständig ist, sondern immerfort wächst und sich verändert. Nimmt nicht der schwarze Afrikaner von Stöcken und alten Kleidern (aus Europa exportierter Trödelware), was in seinen Kram taugt, und schafft sich durch künstliche Zusammenstellung aus ihnen ein Idol  (eidolon  oder etwas, das man sieht) und nennt es  Mumbo-Jumbo,  zu dem er hinfort mit aufgeschlagenen, scheuerfüllten Augen, nicht ohne Hoffnung, beten kann? Der weiße Europäer spottet; aber er täte besser, wenn er nachdächte und zusähe, ob er nicht bei sich zuhause dasselbe mit etwas mehr Vernunft tun könnte.

So, sagen wir, war es vor dreißig Jahren bei jenen Eroberungen in Flandern, aber so ist es nicht mehr. Ach, es liegt mehr krank als der arme LUDWIG: nicht bloß der französische König, sondern auch das französische Königtum; auch dieses bricht zusammen vom langen Rütteln und Schütteln der Zeit. Die Welt ist gar so verändert; so vieles, das lebenskräftig schien, ist hinfällig geworden; so vieles, das nicht war, fängt an zu werden! Was sind das für Töne, dumpf, wunderbar, neu in unseren Jahrhunderten, die über den Ozean her an das sterbende Ohr LUDWIGs, des Königs von Gottes Gnaden, rauschen? Bostons Hafen ist unversehens schwarz von Tee: seht, es sammelt sich ein pennsylvanischer Kogreß, und nicht lange, so verkündet auf Bunkershill die  Demokratie  unter ihrem Sternenbanner mit todbringendem Büchsenknall und derm Melodie von  Yankee-doodle-doo,  daß sie geboren ist und einem Wirbelwind gleich die ganze Welt mit sich fortreißen wird.

Fürsten sterben und Fürstenherrschaften! Stirbt doch alles und ist nur auf eine Zeit, ist ein "Zeitphantom, hält sich aber nicht wirklich"! Die Merowingischen Könige, die mit langem wallendem Haar auf ihren Ochsenkarren langsam durch die Straßen von Paris zogen, sind alle langsam gezogen - in die Ewigkeit. KARL der Große schläft mit gesenktem Zepter in Salzburg; nur die Sage erwartet sein Auferstehen. KARL der Hammer, PIPIN der Krummbeinige, wo ist jetzt ihr drohendes Auge, ihre gebieterische Stirn? ROLLO und seine zottigen Normannen bedecken die Seine nicht mehr mit ihren Schiffen; sie sind von dannen gesegelt auf eine längere Reise. Das Haar des Wergkopfes (Tête d'étoupes) bedarf des Kammes nicht mehr, der Eisenschneider kann jetzt kein Spinngewebe zerschneiden. Die kreischende  Fredegunde,  die kreischende  Brunehilde  haben ausgekeift und liegen still da; ihre heiße Lebenswut ist gekühlt. Auch vom schwarzen Turm von Resle wird jetzt kein unglücklicher Liebesritter mehr in seinem Sack herabgelassen, um im Dunkel der Nacht in den Fluten der Seine zu verschwinden: denn Madame de RESLE ist selbst in diese tiefe Nacht versunken. Sie sind alle verschwunden, versunken, tief, tief hinab mit dem Lärm, den sie machten; und das Rollen und Trampeln von immer neuen Geschlechtern geht über sie hin und sie hören es nicht mehr.

Und doch, ist nicht trotzdem etwas verwirklicht worden? Denkt nur (um nicht weiter zu gehen) an die gewaltigen Steinmassen, und an so manches, was sie enthalten. Die Dreckstadt der Grenzbewohner (Lutetia Parisiorum oder Barisiorum) hat sich gepflastert, hat sich ausgebreitet über alle Inseln der Seine und weithin auf beiden Ufern und ist die Stadt Paris geworden, die sich bisweilen rühmt, das "Athen von Europa", ja die "Hauptstadt der Welt" zu sein. Steinerne Türme ragen drohend empor, lange dauernd, grau von einem Jahrtausend. Kathedralen sind da und in ihnen ein Glaube (oder die Erinnerung an einen Glauben), Paläste und ein Staat und Gesetz. Du siehst den aufsteigenden Rauch, gleich dem nie verlöschenden Atem eines lebenden Wesens. Der Arbeit tausend Hämmer pochen auf ihren Ambossen; und eine noch wunderkräftigere Arbeit schafft geräuschlos: nicht mit der Hand, mit den Gedanken. Wie haben erfahrene Gewerkleute in allen Gewerben mit klugem Kopf und geschickter Hand die vier Elemente gezähmt, sich dienstbar gemacht, haben die Winde an ihren Meereswagen gespannt, die Sterne selbst zu ihrer Schifferuhr gemacht, und - eine  Bibliothéque du Roi  geschrieben und gesammelt, unter deren Büchern auch das Hebräische Buch ist! Wunderbares Geschlecht von Schöpfungen.  Diese  sind wirklich geworden, und was sie an Wissenschaft enthalten. Darum nenne man die Zeit der Vergangenheit trotz all ihrer Verwirrung, ihrem Elend keine verlorene.

Man bemerke jedoch, daß von allen irdischen Gütern und Errungenschaften des Menschen bei weiten die edelsten seine Symbole sind, die göttlichen oder göttlich scheinenden, unter denen er mit siegreicher Zuversicht in dieser Lebensschlacht vorgeht und streitet: was wir seine verwirklichten Ideale nennen können. Von diesen verwirklichten Idealen betrachte man, um der übrigen nicht zu gedenken, nur diese zwei: seine Kirche oder geistliche Führung, sein Königtum oder seine weltliche Führung. Die Kirche, welch ein Wort, reicher als Golkonda und alle Schätze der Welt! Im Schoß des entlegendsten Gebirges erhebt sich das kleine Gotteshaus, rund um dasselbe schlummern unter ihren weißen Grabsteinen die Toten alle "in Hoffnung einer seligen Auferstehung". O, Leser, du müßtest stumpf sein, wenn nie, zu keiner Stunde (sage in stöhnender Mitternacht, wenn so ein Gotteshaus gespenstig am Himmel hing und das ganze Dasein wie von Finsternis umschlungen war) dieses Haus sprach Dinge zu dir, die unaussprechlich sind, die das innerste Mark deiner Seele durchdrangen. Stark war, wer eine Kirche hatte, was wir eine Kirche nennen können; durch sie stand er, obgleich "mitten im unermeßlichen Raum, im Zusammenschluß der Ewigkeiten", doch mannhaft da Gott und Menschen gegenüber: das unbegrenzte Weltall war ihm eine feste Bur geworden und eine Wohnstätte, wo er sich zuhause fühlte. Eine solche Kraft lag im Glauben, in dem aus dem Herzen kommenden Wort:  Ich glaube Wohl mochten Menschen ihr  Credo  über alles preisen und ihm die prächtigsten Tempel und ehrwürdige Hierarchien errichten und von ihrer Habe den Zehnten geben: es war wert dafür zu leben, dafür zu sterben.

Auch das war kein bedeutungsloser Moment, wo zuerst wilde, bewaffnete Männer ihren Stärksten hoch auf den Schild hoben und mit klirrenden Waffen und laut schlagenden Herzen feierlich zu ihm sprachen: Sei du unser anerkannt Stärkster. Welches Symbol - inhaltsschwer mit den Geschicken der Welt! - leuchtete ihnen jetzt vor in einem solchermaßen anerkannt Stärksten (den man mit Recht  König  nannte oder den  könnenden  Mann)! Ein Symbol treuer Leitung in Erwiderung für liebenden Gehorsam: eigentlich, wenn er es wüßte, des Menschen erstes Bedürfnis. Ein Symbol, das man wohl heilig nennen durfte; denn liegt nicht in der Ehrfurcht vor dem, was besser und höher ist als wir, eine unzerstörbare Heiligkeit? Wohl durfte man deshalb auch sagen, daß dem anerkannt Stärksten ein göttliches Recht innewohnt; ja, ob anerkannt oder nicht, der Stärkste konnte, im Hinblick auf  den,  der ihn stark gemacht hat, ein solches Recht beanspruchen. Und so sprang mitten in unbeschreiblicher Verwirrung (wie alles Wachstum verworren ist) das Königtum empor, von treuem Gehorsam umgeben, und wuchs geheimnisvoll, überwältigend und in sich aufnehmend (denn es war Lebenskraft in ihm), bis es auch weltgroß geworden war und zu den  Hauptfakten  unseres modernen Lebens gehörte. Ein solches Faktum, daß LUDWIGs XIV. z. B. den Beschwerde führenden Magistrat mit den kurzen Worten abfertigen konnte:  l'etat c'est moi  (der Staat? ich bin der Staat), und nichts zur Antwort erhielt als Schweigen und niedergeschlagene Blicke. So weit hatten Zufall und Voraussicht, hatten elfte LUDWIGe mit der bleiernen Muttergottes am Hut und Folterbänken und kannibalischen  Oublietten  [Kerkerverließe - wp] unter den Füßen, hatten vierte HEINRICHe mit ihrem verheißenen sozialen Millenium, "wo jeder Bauer sein Huhn im Topf haben sollte", hatte kurz das unermüdliche Schaffen unseres schöpfungsreichen Daseins - die Sache des Königtums gefördert!

Wie solche Ideale sich verwirklichen und mitten aus dem verworrenen und immer schwankenden Chaos des Gegenwärtigen wunderbar emporwachsen, das ist es, was die Weltgeschichte, wenn sie überhaupt etwas lehren kann, uns lehren soll. Sie sie wachsen und nach langem, stürmischem Wachstum zur höchsten Blüte und Reife gelangen, dann schnell (denn die Blüte ist kurz) in Verwelkung geraten, traurig hinsterben und zerbröckeln oder gewaltsam zusammenstürzen, geräuschvoll oder geräuschlos verschwinden. Die Blüte ist so kurz wir die eines Kaktus, die uns nach hundertjährigem Warten nur auf Stunden mit ihren Reizen erfreut. So zählen wir von dem Tag an, wo der der rauhe CHLODWIG auf dem Marsfeld im Angesicht seiner ganzen Armee dem rauhen Franken zur Vergeltung mit rascher Streitaxt und den grimmigen Worten den Kopf spaltete: "So hast du in Soissons die Vase, des heiligen REMIGIUS und mein Eigentum, zerhauen", bis zu LUDWIG dem Großen und seine  l'etat c'est moi - etwa zwölfhundert Jahre; und jetzt ist der unmittelbar folgende LUDWIG am Sterben, und mit ihm ist so vieles am Sterben. -

Aber was läßt sich von jenen Zeiten des Verfalls sagen, wo kein Ideal mehr wächst oder blüht? Wo Glaube und treuer Gehorsam verschwunden sind, nichts zurücklassend als ihren falschen Schein, ihr hohles Echo; wo alles Feierliche zum Gepränge geworde ist, wo der Glaube der Machthaber von zweien eins ist, entweder Schwäche oder Betrug! Um diese Zeiten kann sich leider die Geschichte nicht bekümmern; sie müssen in den Annalen der Menschheit immer mehr und mehr zusammengedrängt und zuletzt ganz unterdrückt, ausgemerzt werden als unecht, - was sie wahrlich auch sind. Trostlose Zeiten, in denen es, wenn je überhaupt, ein Unglück ist geboren zu werden. Geboren zu werden und durch jede Überlieferung, jedes Beispiel nur zu lernen, daß Gottes Welt vom  Belial  [Teufel - wp] und eine Lüge ist und der "höchste Pfuscher" der Menschen Hierarch! Und doch, sehen wir nicht ganze Geschlechter (zwei und bisweilen drei nacheinander) in diesem traurigsten Glauben leben, was sie eben leben nennen, und verschwinden, - ohne Hoffnung auf Wiederkehr?

In einer solchen Zeit des Verfalls oder einer, die sich mit raschen Schritten dahin neigte, war unser armer LUDWIG geboren. Es traf sich seltsam, daß, wenn das französische Königtum schon dem Lauf der Natur nach nicht mehr lange zu leben hatte, er von allen Sterblichen am geeignetsten war, diesen Lauf der Nautr zu beschleunigen. Die Blüte des französischen Königtums hat somit kaktusartig einen erstaunlichen Fortschritt gemacht. In jenen Tagen von Metz stand sie, obgleich durch Orleans-Regenten und Roues-Minister und -Kardinäle verkümmert, doch noch da mit allen ihren Blumenblättern; aber jetzt, 1774, sehen wir sie kahl, und fast alle Kraft aus ihr entwichen.

Ja, mit jenen verwirklichten Idealen sieht es samt und sonders traurig aus. Die Kirche, die in ihrer Blütezeit, vor siebenhundert Jahren, einen Kaiser drei Tage lang im Schnee barfuß und im Bußhemd warten lassen konnte, sieht sich seit Jahrhunderten in Verfall und ist sogar gezwungen, ihre alten Zwecke und Feindschaften zu vergessen und sich mit dem Königtum zu verbinden; froh, ihren altersschwachen Körper auf dessen jüngere Kraft stützen zu können: von nun an werden beide zusammen stehen und fallen. Ach, freilich sitzt die alte Sorbonne noch in ihrer alten Behausung, aber sie murmelt nur noch kindisches Gewäsch und leitet die Gewissen der Menschen nicht mehr; nein, nicht die Sorbonne, sondern Enzyklopädien, Philosophie und Gott weiß weilche namenlos unzählige Menge, von immer bereiten Schriftstellern, Poeten, Sängern, Komödianten, Disputanten und Pamphletisten,  die  sind es, die jetzt die geistige Führung der Welt übernommen haben. Das weltliche Regiment ist auch verloren gegangen oder in dieselben bunten Hände geraten. Wen regiert, wen führt der König (der  Könnende,  der auch  Roi, Rex,  d. h. Direktor oder Leiter genannt wird) heute noch? Höchstens seine Jäger und Piqueure [Meuteführer - wp]: wird einmal nicht gejagt, so heißt es wohl: "Der König wird heute nichts tun." (le roi ne fera rien) (7) Er lebt und schleppt sich hin, weil er eben noch lebt und niemand bis jetzt Hand an ihn gelegt hat.

Der Adel hat gleichfalls beinahe aufgehört, zu leiten oder zu  mißleiten,  und ist wie sein Herr und Meister nicht viel mehr als eine zur Zierde dienende Figur. Die Zeit, wo er sich untereinander oder seinen König abschlachtete, ist längst vorüber; seit Jahrhunderten haben die Werkleute, von der Majestät geschützt und ermuntert, ummauerte Städte gebaut und treiben hier ihre Gewerbe, dulden nicht, daß Räuberbarone "vom Sattel leben", sondern halten sich Galgen, ihnen zu wehren. Seit den Zeiten der Fronde schon hat der Edelmann sein Schlachtschwert gegen den Hofdegen vertauscht und wartet jetzt loyal, als dienender Trabant, dem König auf, mit dem er die Beute teilt, nicht mehr durch Mord und Gewalt, sondern durch bitten und Finessen. Diese Leute nennen sich die Stützen des Thrones: wunderliche Karyatiden von vergoldeter Pappe in jenem wunderlichen Bau! Übrigens sind ihre Vorrechte überall bedeutend beschnitten. Das Gesetz, das dem Seigneur die Befugnis erteilte, bei der Rückkehr von der Jagd  zwei Leibeigene  zu töten und sich in ihrem warmen Blut und Eingeweide zu erfrischen, ist gänzlich abgekommen, - ja unglaublich geworden. Denn kann auch der Deputierte LAPOULE daran glauben und die Abschaffung verlangen, wir können es nicht (8). Kein CHAROLAIS hat während der letzten fünfzig Jahre, ein so eifriger Schütze er auch sein mochte, die Gewohnheit gehabt, Schieferleger und Dachdecker aufs Korn zu nehmen und sich an ihrem Herabrollen vom Dach zu ergötzen (9): jeder begnügt sich heute mit Hühnern und Schnepfen. Genau betrachtet besteht ihre Tätigkeit und ihr Amt lediglich darin, sich zierlich zu kleiden und üppig zu speisen. Was ihren lasterhaften, verworfenen Wandel betrifft, so ist der seit den Tagen des TIBERIUS und COMMODUS vielleicht beispiellos. Dennoch hat man zum Teil noch ein Gefühl wie die Frau Marschallin: "Verlassen Sie sich darauf, Gott wird sich zweimal besinnen, ehe er einen Mann von Stand verdammt." (10) Diese Leute müssen vor alters aber doch ihre Tugenden, ihren Nutzen gehabt haben: sonst hätten sie nie da sein, geschweige denn sich erhalten können. Ja,  eine  Tugend (denn der sterbliche Mensch kann nicht ohne ein Gewissen leben) erwartet man noch heute von ihnen: die Tugend zum Duell stets schlagfertig zu sein.

So sind die Hirten des Volkes, und wie steht es nun mit der Herde? Mit der Herde steht es, was unvermeidlich ist, schlecht und immer schlechter. Man hütet, man weidet sie nicht, sie wird nur regelmäßig  geschoren.  Man schickt nach ihr, damit sie Frondienste tut, Steuern zahlt, Schlachtfelder (Betten der Ehre genannt) in Zänkereien, die sie nichts angehen, mit ihren Leibern düngt; kurz, ihre Hände und ihrer Hände Arbeit sind in jedermanns Besitz, aber sie selbst hat wenig oder gar keinen Besitz. Ohne Lehre, Trost und Nahrung in Schmutz und Dunkelheit sich traurig abzumühen: das ist das Los der Millionen:  peuple taillable et corvéable á merci et miséricorde.  In der Bretagne empörte sich einst das Volk bei der ersten Einführung der Pendeluhren, in der Meinung, dieselben hatten etwas mit der Gabelle [Art Steuer - wp] zu schaffen. Paris mußte periodenweise gesäubert werden, und die Horde hungergequälter Vagabunden sucht dann auf eine Zeitlang das Weite. "Bei einer dieser periodischen Säuberungen im Jahre 1750" sagt LACRETELLE, "nahm sich die Polizei heraus, einige Kinder achtbarer Eltern fortzuschaffen, in der Hoffnung, ein Lösegeld zu erpressen. Die Mütter erfüllen die Straßen und öffentlichen Plätze mit dem Geschrei der Verzweiflung; Haufen rotten sich zusammen, geraten in Aufregung; so viele Weiber laufen wir wahnsinnig umher und vermehren den Schrecken; es entsteht unter dem Volk eine abgeschmackte, gräßliche Fabel. Ärzte, so heißt es, haben einer hohen Person Bäder von jungem Menschenblut verordnet zur Wiederherstellung de eigenen durch Ausschweifungen gänzlich verdorbenen Blutes. Einige von den Aufrührern", fügt LACRETELLE ganz ruhig hinzu, "wurden an den folgenden Tagen gehängt"; die Polizeibeamten blieben im Dienst (11). O ihr armen, nackten Elenden! Und das ist also euer unverständlicher Schrei gen Himmel, wie der eines stummen, gemarterten Tieres, das aus der Tiefe der Pein und Erniedrigung schreit? Wirft der azurne Himmel gleich einem toten Kristallgewölbe nur das Echo davon auf euch zurück? Antwortet er nur mit "gehängt an den folgenden Tagen"? - Nein, nicht auf immer! Ihr werdet im Himmel gehört. Und eine Antwort wird auch kommen, - in grauenvollem Dunke, in der Erschütterung einer Welt und einem Kelch voll Zittern und Beben, den alle Nationen trinken sollen.

Unterdessen bemerke man, wie mitten aus den Trümmern und dem Staub dieses allgemeinen Verfalls sich neue Gewalten bilden, die für die neue Zeit und ihre Schicksale passen. Außer der alten, ursprünglich aus Kämpfern bestehenden Noblesse gibt es eine neue anerkannte Noblesse von Rechtsgelehrten, deren Gala- und stolzer Schlachttag gerade jetzt ist. Ferner eine Handesnoblesse, die zwar nicht anerkannt, aber mit Geld in der Tasche mächtig genug ist. Endlich, mächtiger als alle übrigen, aber auch am wenigsten anerkannt, eine Noblesse der Literatur, ohne Stahl an der Lende, ohne Geld in der Tasche, aber mit "der Wunderkraft des Gedankens" im Kopf. Der französische Philosophismus ist erstanden, unbedeutendes Wort, das so vieles in sich begreift! Hier nämlich liegt eigentlich das Hauptsymptom der ganzen weit verbreiteten Krankheit. Der Glaube ist gewichen, der Zweifel gekommen. Das Böse ist im Überfluß vorhanden und mehrt sich; aber kein Mensch hat Glauben genug, um ihm zu widerstehen, es zu bessern oder damit anzufangen, sich selber zu bessern: so muß es fortfahren, sich zu mehren. Während hohle Erschlaffung und öde Leere das Los der Höheren ist und Not und Verstocktheit das Los der Niederen, und allgemeines Elend sehr gewiß ist, was ist sonst noch gewiß? Daß man an eine Lüge nicht glauben kann, dies und nichts mehr weiß der Philosophismus; sonst hat er nur den Glauben, daß in geistigen, übersinnlichen Dingen kein Glaube möglich ist. Unglücklich! Und doch ist jetzt noch der Widerspruch der Lüge eine Art von Glauben; aber wenn einmal die Lüge samt dem Widerspruch weggeräumt ist, was wird dann bleiben? Die fünf ungesättigten Sinne werden bleiben, der sechste unersättliche Sinn (die Eitelkeit), die ganze  dämonische  Natur des Menschen wird bleiben, - losgelassen, um ohne Gesetz und Zügel blind zu wüten, sie selbst eine Wilde, doch mit allen Werkzeugen und Waffen der Zivilisation ausgerüstet: ein in der Geschichte unerhörtes Schauspiel.

In einem solchen Frankreich, das einem Pulverturm gleicht, um den rings der Rauch von ungelöschtem und jetzt unlöschbarem Feuer emporsteigt, hat sich LUDIWG niedergelegt, um zu sterben. Durch den Pompadourismus und Dubarryismus sind seine Lilien schmachvoll in allen Ländern, auf allen Meeren aus dem Feld geschlagen. Armut dringt selbst in den königlichen Schatz; die Steuerpacht vermag nichts mehr herauszupressen; seit 25 Jahren liegt man mit dem Parlament im Streit; überall Not, Mangel an Ehrlichkeit und Unglaube, und als Staatsdoktoren heißköpfige Halbwisser: es ist eine verhängnisvolle Stunde.

Das ist es, was das Auge der Geschichte im Krankenzimmer König LUDWIGs sieht, was den dort anwesenden Hofleuten aber unsichtbar war. Es waren am vergangenen Weihnachtstag zwanzig Jahre, seitdem Lord CHESTERFIELD als Resultat dessen, was er in diesem nämlichen Frankreich gesehen hatte, die folgenden, merkwürdig gewordenen Worte niederschrieb und auf die Post gab: "Kurz, alle Symptome, die einem je in der Geschichte als Vorläufer großer Staatsveränderungen und Revolutionen vorgekommen sind, finden sich jetzt in Frankreich vor und mehren sich täglich." (12)


Drittes Kapitel
Das Viaticum

Bei den Lenkern Frankreichs ist jedoch für den Augenblick die wichtigste Frage: Soll man ihm (dem König LUDWIG, nicht Frankreich) die letzte Ölung oder sonst ein geistliches Viaticum [Sterbekommunion - wp] reichen?

Eine wichtige Frage! Denn müßte nicht, wollte man sie ihm reichen, wenn man nur davon spräche, bei den ersten Vorbereitungen dazu die Hexe DUBARRY verschwinden, um schwerlich zurückzukehren, sollte auch König LUDWIG wieder genesen? Und mit ihr verschwänden der Herzog von AIGUILLON und Kompanie und ihr ganzer Armidapalast; das Chaos verschlänge alles wieder, und nur Schwefelgestank bliebe. Aber was würden andererseits die Dauphinisten und Choisenlisten sagen? Ja, was würde der königliche Dulder selbst sagen, wenn er zufällig sterbenskränker würde, ohne ins Delirium zu geraten? Für den Augenblick küßt er noch, soviel bemerken wir vom Vorzimmer aus, der DUBARRY die Hand: aber später? Die ärztlichen Bulletins mögen lauten, wie sie wollen; aber es sind die flüssigen Blattern, woran, wie man flüstert, auch des Torhüters jüngst noch so fröhliche Tochter erkrankt ist, und LUDWIG ist nicht der Mann, um sich sein Viaticum leichtfertig vorenthalten zu lassen. Pflegte er nicht selbst seine Mädchen im Parc-aux-cerfs [Privatbordell - wp] ins Verhör zu nehmen und mit ihnen und für sie zu beten, damit sie ihren - rechten Glauben bewahrten? (13) Eine wunderliche Geschichte, doch nicht ohne ihresgleichen; denn kein Tier ist so wunderlich wie der Mensch.

Für den Augenblick ginge freilich noch alles gut, wenn man nur den Erzbischof BEAUMONT bewegen könnte - ein Auge zuzudrücken. Ach! BEAUMONT selbst täte das so gerne: denn - seltsam, aber wahr - auch die Kirche und die ganze zukünftige Hoffnung des Jesuitismus hängen jetzt an der Schürze jenes nicht zu nennenden Weibes. Aber dann "die Macht der öffentlichen Meinung"? Der strenge CHRISTOPHE de BEAUMONT, der sein Leben lang hysterische Jansenisten und ungläubige Nonkonfessoren, oder, wenn es nichts Besseres gab, sogar deren Leichname verfolgt hat, - wie soll der jetzt, wo das  Corpus delicti  ihm noch gerade unter der Nase liegt, das Himmelstor aufschließen und Absolution erteilen? Unser Großalmosenier ROCHE-AYMON wird freilich, soviel an ihm liegt, mit einem königlichen Sünder wegen des Schlüsselumdrehens nicht markten; aber es sind noch andere Priester da, es ist des Königs Beichtvater, der närrische Abbé MONDON da, und Fanatismus und Schicklichkeitsgefühl sind noch nicht erloschen. Kurz, was soll man machen? Einstweilen kann man die Türen bewachen, die ärztlichen Bulletins zustutzen, und, wie gewöhnlich, viel von der Zeit und dem Zufall hoffen.

Die Türen werden sorgfältig bewacht, kein Unbefugter darf hinein. Freilich wenige wünschen auch hineinzukommen; denn die faulige Ansteckung dringt sogar bis ins Oeil-de-Boeuf, sodaß "mehr als fünfzig Personen erkranken und zehn sterben". Mesdames die Prinzessinnen allein harren am ekelhaften Siechbett aus, durch töchterliche Pietät festgehalten. Die drei Prinzessinnen  Graille, Chiffe, Coche  (Rabenkrähe, Wisch, Sau), wie er sie zu nennen pflegte, sind unverdrossen da, während alles geflohen ist. Die vierte Prinzessin  Loque  (Lumpen) ist, wie wir vermuten, schon im Kloster und kann nichts geben als ihre Gebete. Arme  Graille  und ihre Schwestern, sie haben nie einen Vater gekannt; der Preis, mit dem die Größe bezahlt werden muß, ist eben nicht gering. Höchstens beim  débotter  (wenn Majestät die Stiefel auszog) erschienen sie; dann "konnten sie die ungeheuren Reifröcke aufraffen, die lange Schleppe um den Leib gürten, sich bis an das Kinn in schwarze Taffetmäntel hüllen und so jeden Abend um sechs im vollen Staat majestätisch hineinspazieren, den königlichen Kuß auf die Stirn empfangen und dann wieder majestätisch hinausspazieren, - zu ihren Stickereien, kleinem Klatsch, Gebeten und leeren Herzen. Kam Seine Majestät etwa eines Morgens mit dem Kaffee, den er selbst gebraut hatte, und schlürfte ihn hastig bei ihnen aus, während die Hunde für die Jagd losgekoppelt wurden, so galt das als eine Gnade des Himmels. (14) Ihr armen, verblühten, alten Weiber! In den schweren Drangsalen, die eurem trübseligen Dasein noch bevorstehen, wenn ihr durch feindliche Länder, über stürmische Meere flieht, fast von den Türken gefangen werden und in einem sansculottischen Erdbeben eure Rechte kaum noch vor der Linken kennt, - bleibe diese väterliche Gnade immer ein Ruhepunkt in eurem Gedächtnis: denn die Handlung war liebreich und gut. Auch uns ist sie ein kleiniger sonniger Fleck in der schauerlichen, heulenden Wüste, wo wir kaum einen andern finden.

Was soll aber mittlerweile ein unparteiischer, besonnener Hofmann tun? Unter diesen kitzeligen Umständen, wo nicht nur der Tod oder Leben, sondern Sakrament oder kein Sakrament die Frage ist, kann auch der Geschickteste straucheln. Wenige sind so glücklich wie der Herzog von Orléans und der Prinz von Condé, die beide selbst mit ihren Riechfläschchen in der Antichambre [Vorzimmer - wp] des Königs erscheinen und zu gleicher Zeit ihre wackeren Söhne (den Herzog von Chartres, den zukünftigen Egalité, und den Herzog von Bourbon, dereinst auch Condé, und als alter Geck berühmt) zum Dauphin schicken zu können, um dort ihre Aufwartung zu machen. Bei einigen wenigen ist der Entschluß gefaßt:  Jacta est alea  [Die Würfel sind gefallen. - wp] Der alte RICHELIEU zieht, als BEAUMONT, von der öffentlichen Meinung getrieben, sich endlich entschließt, ins Krankenzimmer zu treten, den Priester beim Ärmel in die Ecke und dringt hier mit seinem alten wüsten Doggengesicht und der geläufigsten Heftigkeit in ihn (und nach BEAUMONTs Erröten zu schließen, setzt er es auch durch), "daß man den König doch nicht durch geistlichen Zuspruch töte". Der Herzog von Fronsac, RICHELIEUs Sohn, kann dem Beispiel seines Vaters folgen: als der Curé von Versailles in kläglichem Ton etwas von Sakramenten winselt, droht er, "ihn, wenn er von solchen Dingen noch einmal anfangen werde, aus dem Fenster zu werfen".

Gewiß kann man diese glücklich nennen; aber ist es für die andern, die zwischen zwei Meinungen schweben, nicht eine harte Prüfung? Wer sich einen Begriff davon machen möchte, in welche Klemme der Katholizismus und so vieles andere geraten ist, und wie die Symbole des Heiligsten zu Spielwürfeln in den Händen der Niedrigsten geworden sind, muß die Schilderung jener angstvollen Tage bei BESENVAL, SOULAVIE und anderen Hofneuigkeitskrämern der Zeit nachlesen. Er wird die versailler Milchstraße ganz auseinandergesprengt und in neue, immer wechselnde Sternbilder gruppiert sehen. Da hat man Kopfnicken und verständnisvolle Blicke, Zwischenträger, geheimnisvoll vorübergleitende Witwen mit Lächeln für dieses, mit Seufzern für jenes Gestirn: ein Zittern der Hoffnung oder Verzweiflung in vielen Herzen. Da hat man den blassen, grinsenden Schatten des Todes, zeremoniell eingeführt von einem anderen grinsenden Schatten, der Etikette: von Zeit zu Zeit, gleich Maschinengebet, das Brummen der Orgel in der Kapelle, das wie in einem gräßlichen, teuflischen Gelächter verkündet:  O Eitelkeit aller Eitelkeiten, alles ist eitel! 


Viertes Kapitel
Ludwig der Unvergessene

Armer LUDWIG! Für diese alle ist es eine hohle Phantasmagorie, wo sie gleich Possenreißern um Lohn Gesichter schneiden und ihre Stimmen verstellen; aber für die ist es fürchterlicher Ernst.

Fürchterlich ist für alle der Tod, von alters her König der Schrecken genannt! Unser kleines, engumgrenztes Haus des Daseins, in dem wir zwar oft klagend, doch wei im bekannten Heim wohnten, schwindet im finstern Todeskampf ins Unbekannte der Trennung, der Fremde, der unbedingten Möglichkeit. Der heidnische Kaiser fragt seine Seele: Wohin gehst du jetzt? Der katholische König muß antworten: Vor die Gerichtsschranken des höchsten Gottes! Ja, es ist ein Zählen der Summe des Lebens, ein letztes Abschließen und Einreichen der "Rechnung der Taten, die im Körper getan sind"; sie sind jetzt getan und liegen unabänderlich da und tragen ihre Früchte, solange die Ewigkeit dauert.

LUDWIG XV. hatte immer den königlichen Abscheu vor dem Tod. Er glich darin nicht dem betenden Herzog von Orleans, Egalités Großvater, der, wie in der Tat mehrere von ihnen, einen Anflug von Wahnsinn hatte und aufrichtig glaubte, es gäbe keinen Tod. Dieser fuhr, wenn man den Hofklatschkrämern glauben will, eines Tages in grenzenloser Wut und Empörung auf seinen armen Sekretär los, der über die Worte gestolpert war:  Feu le roi d'Espagne  (der verstorbene König von Spanien). - "Feu le roi, Monsieur?" - "Monseigneur", antwortete hastig der zitternde, aber schnell gefaßte Hofmann, "c'est un titre qu'ils prennent" (es ist ein Titel, den sie annehmen) (15). LUDWIG, sagen wir, war nicht so glücklich, aber er tat, was er konnte. Er litt nicht, daß man vom Tod sprach, vermied den Anblick von Kirchhöfen, Grabmälern und was ihn daran erinnern konnte. Es ist das Zufluchtsmittel des Straußes, der, vom Jäger hart bedrängt, seinen närrischen Kopf in den Sand steckt und sich gern einbilden möchte, daß sein nichtssehender Körper auch nicht gesehen wird. Manchmal freilich in einem Anfall krampfhaften Widerspruchs, der dasselbe und noch mehr bedeutete,  ging  der König nach dem Kirchhof oder ließ seine Hofwagen halten und  schickte  hin, um fragen zu lassen: wieviel neue Gräber es heute gibt; so übel auch seiner armen POMPADOUR dabei zumute werden mochte. Man kann sich die Gedanken LUDWIGs vorstellen, als er eines Tages mitten in den Freuden der Jagd bei einer Biegung des Wegs im Wald von Senart einem zerlumpten Bauern mit einem Sarg begegnete: "Für wen?" Er war für einen armen Mitsklaven, den Seine Majestät bisweilen in der Gegend fronen gesehen hatte: "Woran starb er?" - "Er starb vor Hunger." - Der König gab seinem Pferd die Sporen. (16)

Aber man stelle sich seine Gedanken vor, wie jetzt der Tod unerwartet, unerbittlich an seine eigenen Herznerven greift! Ja, armer LUDWIG, der Tod hat dich gefunden. Keine Wände deines Palastes, keine Leibgarden, keine prunkende Tapete oder vergoldete Steifleinwand der steifesten Etikette haben ihn abhalten können; sondern da ist er, da, an deinem Lebensatem selbst und will ihn auslöschen. Du, dessen ganzes Leben bis dahin eine Chimäre und Komödie war, wirst zuletzt eine Wirklichkeit: das prächtige Versailles zerrinnt wie ein Traum in leere Unermeßlichkeit; die Zeit ist vollbracht, und das ganze Gerüst der Zeit stürzt unter gräßlichem Getöse rund um deine Seele in Trümmer: das Reich der Schatten öffnet sich gähnend; da mußt du hinein, nackt, ganz entkönigt, und abwarten, was dir bestimmt ist! Unglücklicher! was sind deine Gedanken, während du in Todesangst dich dort auf deinem Siechbett wälzest! Blickst du vor dich hin, so sind Fegfeuer und Hölle jetzt gar zu möglich. Blickst du hinter dich: - ach was hast du getan, das nicht besser ungetan wäre; welchem Sterblichen hast dur geholfen; welcher Sorge schenktest du dein Mitleid? Die 500 000 Geister, die auf so vielen Schlachtfeldern von Roßbach bis Quebec schmachvoll dahinsanken, damit deine Dirne sich rächen könne wegen eines Epigramms, - drängen sich die jetzt um dich herum? Oder dein abscheulicher Harem, die Flüche der Mütter, die Tränen und Schande der Töchter? Elender! Du hast so viel Böses getan als du konntest: dein ganzes Dasein erscheint wie eine Mißgeburt der Natur, deren Zweck und Bedeutung noch nicht bekannt ist. Warst du ein fabelhafter Greif, der die Werke der Menschen  verschlang,  täglich Jungfrauen in seine Höhle schleppte, - und auch in Schuppen gekleidet, die kein Speer durchdringen konnte: kein Speer als der des Todes? Nein, kein fabelhafter, sondern ein wirklicher Greif! Fürchterlich, o LUDWIG, müssen die diese Augenblicke sein. - Laßt uns nicht weiter nach den Schrecken eines Sünders auf dem Totenbett forschen.

Und doch glaube niemand, auch der Geringste nicht, hieraus eine Beruhigung für die eigene Seele schöpfen zu dürfen! Wohl war LUDWIG ein Herrscher, aber bist du nicht auch einer? Sein großes Frankreich ist, von den Fixsternen aus gesehen (die selbst noch nicht Unendlichkeit sind), nicht größer als das beschränkte Arbeitsfeld, auf dem auch du treu oder untreu gewirkt hast. Mensch, "in die Zeit eingekerkertes Symbol der Ewigkeit", nicht deine Werke, die alle sterblich, unendlich klein sind, das größte nicht größer als das geringste, nicht sie sind es, auf die es ankommt: nur der Geist, in dem du wirktest, kann Wert oder Dauer haben.

Aber jedenfalls bedenke, was für ein Lebensproblem der arme LUDWIG zu lösen hatte, als er von jenem Krankenlager zu Metz als  bien-aimé  aufstand! Welcher Adamssohn hätte in eine solche Verwirrung Einklang bringen können? Konnte er es? Das blindeste Glück allein hat ihn nach oben geworfen; dort schwimmt er, kann es so wenig beherrschen, wie das schwimmende Treibholz den sturmbewegten Ozean. "Was habe ich getan, um so  geliebt  zu sein", sagte er damals. Jetzt kann er sagen: "Was habe ich getan, um so  gehaßt  zu sein?" Du hast  nichts  getan, armer LUDWIG! Dein Fehler ist ja gerade der, daß du  nichts  getan hast. Was konnte der arme LUDWIG tun? Abdanken und seine Hände in Unschuld waschen, zugunsten des ersten, der es hätte annehmen wollen. Einen anderen Weg der Weisheit gab es für ihn nicht. So wie die Sachen standen, schaute er, der Abgeschmackteste aller Sterblichen (ein wahrhaft menschgewordener Solöcismus [Rohheit im Betragen - wp]), zweifelnd in die abgeschmackteste, verworrenste Welt, - in der zuletzt nichts mehr gewiß schien, als daß er, der menschgewordene Solöcismus, fünf Sinne hatte, und daß es fliegende Tafeln gab  (tables volantes,  die durch den Boden verschwinden, um wieder beladen zurückzukommen) und einen Parc-aux-cerfs.

Dabei zeigt sich uns wieder einmal jene historische Merkwürdigkeit : ein menschliches Wesen in einer ganz eigenartigen Lage, das, wie auf einem weiten, ruhigen Meer schwimmend, mit sehenden Augen und doch ohne den geringsten Widerstand zu versuchen, gefahrdrohend Strömungen entgegentreibt. Denn LUDWIG hatte bei alledem eine Art von Einsicht. So konnte wohl, wenn ein neuer Marineminister, oder was es sonst sein mochte, kam und eine neue Aera ankündigte, das Weib in Scharlach abends bei der Tafel Seine Majestät erzählen hören: "Ja, er kramte seine Ware aus, wie jeder andere, versprach die herrlichsten Dinge von der Welt, von denen nicht eins in Erfüllung gehen wird; er kennt dieses Feld nicht, er wird es sehen." Oder auch: "Das habe ich nun alles schon zum zwanzigsten mal gehört; Frankreich wird, glaube ich, nie eine Seemacht werden." Wie rührend war auch diese Äußerung: "Wäre ich Polizeileutnant, so würde ich die Pariser Cabriolets verbieten." (17)

Verfluchter Sterblicher: denn ist es nicht ein Fluch, ein verkörperter Solöcismus zu sein? Ein neuer  Roi fainéant,  König Nichtstuer, aber mit dem seltsamsten Majordomus neben sich: keinem krummbeinigen  Pipin,  sondern eben jener wolkenumhüllten, feueratmenden  Demokratie die jetzt unberechenbar die Welt mit sich fortreißt. - War LUDWIG  schlimmer  als dieser oder jener Privatmann - Nichtstuer und Vielfresser, wie wir ihn ja oft genug unter dem Namen Lebemann Gottes fleißiger Schöpfung zur Last fallen sehen? Nein, nicht schlimmer, nur unglücklicher war er! Sein Lebenssölicismus wurde von einer ganzen, empörten Welt gesehen und gefühlt; ihn kann endlose Vergessenheit nicht begraben und in unermeßliche Tiefen verschlingen - sein Andenken wird bleiben für die Dauer von - - vielleicht einer oder zwei Generationen.

Dem sei jedoch wie ihm wolle; nicht ohne Interesse bemerken wir, daß "am Abend des vierten" Madame DUBARRY mit sichtbarer Unruhe im Gesicht aus dem Krankenzimmer tritt. Es ist der vierte Abend des Monats Mai im Jahr der Gnade 1774. Welch ein Flüstern im Oeil-de-Boeuf! Liegt er denn im Sterben? Was man sieht, ist, daß die DUBARRY ihr Gepäck in Ordnung zu bringen scheint; weinend streicht sie durch ihre vergoldeten Boudouirs, wie um Abschied zu nehmen. D'AIGUILLON und Kompanie sind an ihrer letzten Karte, trotzdem wollen sie das Spiel noch nicht verloren geben. Aber was den Streit um die Sakramente betrifft, so ist er, ohne erwähnt zu sein, so gut wie abgemacht; LUDWIG läßt im Laufe der nächsten Nacht seinen Abbé MOUDON kommen, beichtet bei ihm, wie einige erzählen, "siebzehn Minuten lang", verlangt dann aus eigenem Antrieb die Sakramente.

Ja seht, steigt nich schon am Nachmittag unsere Hexe DUBARRY, ihr Schnupftuch vor den Augen, in d'AIGUILLONs Wagen und rollt davon in der Herzogin tröstenden Armen? Sie ist fort, und ihr Platz ist leer. Verschwinde, falsche Zauberin, ins Weite! Vergebens, daß du dich im benachbarten Ruel noch verweilst: dein Tag ist vorüber. Für dich sind die königlichen Palasttore auf immer geschlossen; schwerlich wirst du in kommenden Jahren noch einmal unter der Hülle der Nacht, in schwarzem Domino, wie ein schwarzer Nachtvogel herabsteigen und im Park die Abendgesellschaft der holden ANTOINETTE stören, sodaß alle Paradiesvögel vor dir fliehen und die Musik verstummt. (18) Du unreines, doch nicht boshaftes, nicht unbemitleidenswertes Wesen! Was für ein Lebenslauf war der deine: von jenem ersten elenden Lager an, auf dem deine Mutter (in der Heimat der JEANNE d'ARC) dich mit Tränen einem ungenannten Vater gebar: hin durch die niedrigsten unterirdischen Tiefen und über die höchsten sonnenerleuchteten Höhen der Buhlerei und Schurkerei, - bis zum Beil der Guillotine, das deinen vergeblich wimmernden Kopf abschert! So ruhe denn unverflucht, nur begraben und abgeschafft; was kannst du mehr verlangen?

LUDWIG ist unterdessen in bedeutender Ungeduld wegen seiner Sakramente; schickt mehr als einmal ans Fenster, um zu sehen, ob sie noch nicht kommen. Sei ruhig, LUDWIG, so ruhig wie du nur sein kannst: die Sakramente sind unterwegs. Um sechs Uhr morgens kommen sie an. Kardinal Großalmosenier ROCHE-AYMON ist da  in Pontificalibus  [im Festgewand - wp], mit seinen Büchsen und Geräten; er tritt an das königliche Kissen, hebt seine Oblate empor, murmelt etwas oder tut, als wenn er etwas murmelte, und nun hat LUDWIG (wie der Abbé GEORGEL es in Worten ausdrückt, die auf ihre Weise klassisch geworden sind)  "amende honorable  [förmliche Entschuldigung - wp] gegen Gott geleistet": so legt es der schlaue Jesuit aus. - "Wa, wa", wie der wilde CHLOTAR stöhnte, als er im Sterben lag, "was für ein großer König ist das, der die Kraft der stärksten Könige zu Schanden macht!" (19)

Die  amende honorable,  jede "gesetzmäßige Genugtuung", die ihr wollt, gegen Gott: - aber keine, wenn d'AIGUILLON es verhindern kann, gegen Menschen. Die DUBARRY verweilt noch in ihrer Wohnung in Ruel, denn solange Leben da ist, ist auch Hoffnung da. Der Großalmosenier ROCHE-AYMON hat somit (denn er scheint mit im Geheimnis zu sein) nicht sobald seine Büchsen und Geräte wieder eingepackt, als er auch schon majestätisch hinausschreiten will, als ob nun alles fertig wäre! Aber da tritt mit ängstlich säuerlichem Gesicht des Königs Beichtvater, der Abbé MOUDON, hervor, zupft ihn beim Ärmel und flüstert ihm etwas ins Ohr. Darauf muß der arme Kardinal sich wieder umdrehen und in deutlichen Worten erklären: "Daß Seine Majestät jeden Anstoß bereue, den sie etwa gegeben habe (a pu donner), und sich vornehme, unter dem Beistand des Himmels derartiges für die Zukunft zu vermeiden!" Worte, die RICHELIEU mit schwärzer werdendem Doggengesicht anhört und laut "mit einem Ausdruck" erwidert, den BESENVAL nicht wiederholen will. Alter RICHELIEU, Eroberer von Minorca, Mitfeierer der Orgien an den fliegenden Tafeln, Durchbohrer von Schlafzimmerwänden (20), ist auch  dein  Tag vorüber?

Auch, ob auch die Orgel der Kapelle unaufhörlich geht, ob der Schrein der heiligen  Genoveva  niedergelassen und wieder aufgezogen wird, - es ist vergebens. Am Abend wohnt der ganze Hof samt Dauphin und Dauphine dem Gottesdienst in der Kapelle bei; die Priester sind vom Singen ihrer vierzigstündigen Gebete heiser, und die Bälge der Orgel atmen keuchend. Es ist beinahe schauerlich; denn der Himmel selbst wird schwarz, der Regen stürzt in Strömen hernieder, die Stimme der Orgel wird vom Donner fast übertönt, und die grell aufzuckenden Blitze lassen sogar den Schein der Kerzen auf dem Altar erblassen: so daß, als alles vorüber war, die meisten der Anwesenden sich, wie man uns erzählt, eiligen Schrittes "in einem Zustand der Sammlung (recueillement)" hinwegbegaben und wenig oder nichts sagten (21).

So hat es noch über acht Tage gedauert; fast eine Woche nach dem Fortgehen der DUBARRY. BESENVAL sagt: "alle Welt wurde ungeduldig  que cela finît",  daß der arme LUDWIG überstanden hätte. Es ist der 10. Mai. Jetzt wird er bald überstanden haben.

Dieser 10. Mai scheint auf das ekelhafte Krankenlager, aber hier trübe, unbemerkt; denn die, welche aus den Fenstern blicken, sind ganz verdüstert: das Rad dreht sich knarrend auf der Achse, wie ein erschöpfter Gaul keucht das Leben seinem Ziel entgegen. In ihren abgelegenen Gemächern stehen der Dauphin und die Dauphine reisefertig da, alle Reitknechte und Stallmeister in Stiefel und Sporen, nur auf ein Zeichen wartend, um dem Haus der Pest zu entrinnen! (22) Und horch! was ist das für ein Lärm? ein Lärm, der "schrecklich und wie lauter Donner" durch das Oeil-de-Boeuf schallt! Es ist der ganze Hof, der wie im Wettlauf herbeistürzt, den neuen Fürsten zu begrüßen: Heil ihren Majestäten! Der Dauphin und die Dauphine sind König und Königin! Von mannigfachen Gefühlen überwältigt, werfen sich die beiden auf die Knie und rufen unter strömenden Tränen aus: O Gott, leite und beschütze uns, wir sind zu jung zum Regieren!" - Ja freilich, zu jung!

Aber so hat jedenfalls mit einem donnergleichen Getöse die Uhr der Zeit geschlagen, und eine alte Aera ist abgelaufen. Der LUDWIG, der war, liegt da, eine Massen verabscheuten Staubes, der Sorge "einiger armer Leute und der Priester der  Chapelle ardente  überlassen", die ihn eiligst in zwei bleierne Särge legen, in die sie reichlichen Weingeist schütten. Der neue LUDWIG und sein Hof fahren durch den Sommernachmittag nach Choisy: noch fließen die königlichen Tränen, aber ein Wort, das Monseigneur d'ARTOIS unversehens falsch ausspricht, bringt alle zum Lachen, und sie weinen nicht mehr. Leichtfertige Sterbliche, die ihr euer Lebensmenuett über bodenlosen Abgründen tanzt, die nur durch eine dünne Decke von euch getrennt sind!

Übrigens hatten die betreffenden Behörden das richtige Gefühl, daß keine Bestattung zu unfeierlich sein könne. BESENVAL selbst hält sie für unfeierlich genug. Zwei Wagen mit zwei Edelleuten von der Spezies der Zeremonienmeister und einem Geistlichen von Versailles, ein paar Dutzend reitende Pagen, etwa fünfzig Stallknechte: die machen sich am zweiten Abend, mit Fackeln, aber nicht einmal in Schwarz, mit ihrer bleiernen Bahre von Versailles auf den Weg. In vollem Trab geht es fort, und den Schritt ändern sie nicht. Denn die Spöttereien (brocards) der Pariser, die auf dem ganzen Weg nach  Saint Denis  in zwei Reihen aufgepflanzt stehen und "der munteren Laune, der Nationaleigenschaft des Franzosen", Luft machen, geben keinen Anlaß, langsamer zu gehen. Um Mitternacht empfangen die Gewölbe von  Saint Denis  das Ihre von keinem Auge beweit, außer von der armen LOQUE, der zurückgesetzten Tochter, deren Nonnenkloster ganz in der Nähe ist.

So ungeduldig senken und hudeln sie ihn unter den Boden, ihn und sein Zeitalter voll Sünde, Tyrannei und Schande: denn seht, eine neue Zeit ist gekommen; die Zukunft umso glänzender, als die Vergangenheit nichtswürdig war.
LITERATUR Thomas Carlyle, Die französische Revolution, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) Abrégé chronologique de l'histoire de France, Paris 1775, Seite 701.
    2) Mémoires de M. le Baron Besenval, Paris 1805, Bd. II, Seite 59-60.
    3) ARTHUR YOUNG, Travels during the years 1787-89, Bd. I, 1792, Seite 44.
    4) La vie et les mémoires du général Dumouriez, Paris 1822, Bd. I, Seite 141.
    5) BESENVAL, Mémoires, Bd. II, Seite 21
    6) DULAURE, Histoire de Paris, Paris 1824, Bd. VII, Seite 328.
    7) Mémoires sur la vie privée de Marie Antoinette par Mad. Campan, Paris 1826, Bd. 1, Seite 12
    8) Histoire de la revolution francaise par deux amis de la liberte, Bd. II, Paris 1792, Seite 212.
    9) LACRETELLE, Histoire de France pendant le 18me siecle, Bd. I, Paris 1819, Seite 271
    10) DULAURE, a. a. O., Bd. VII, Seite 261.
    11) LACRETELLE, a. a. O., Bd. III, Seite 175
    12) CHESTERFIELD, Letters, December 25th, 1753.
    13) DULAURE, VIII, Seite 217; BESENVAL a. a. O., etc.
    14) CAMPAN, a. a. O., Bd. I, Seite 11-36.
    15) BESENVAL, a. a. O., Bd. 1, Seite 199
    16) CAMPAN, a. a. O., Bd. III, Seite 39
    17) Journal de Madame du Hausset, Seite 293f
    18) CAMPAN, a. a. O., Bd. I, Seite 197
    19) GREGORIUS TURONENSIS, Hist., lib. IV, cap. 21
    20) BESENVAL, a. a. O., Bd. 1, Seite 159-172.  Genlis,  Duc de Levis, etc.
    21) WEBER, Mémoires concernant Marie Antoinette, Bd. 1, London 1809, Seite 32
    22) Es tut mir leid, das schöne theatralische Licht zu stören, das Madame CAMPAN (I, 79) bei dieser Gelegenheit angezündet und im Augenblick des Todes ausgeblasen hat. Was für Lichter in einem so großen Hauswesen, wie das von Versailles war, angezündet oder ausgeblasen wurden, wir in solcher Entfernung wohl niemand bestimmt angeben wollen: dennoch, da es 2 Uhr an einem Mainachmittag war, und diese königlichen Ställe über fünf- oder sechshundert Schritte vom königlichen Krankenzimmer entfernt gewesen sein müssen, so droht das Licht trotz uns auszugehen. Es bleibt freilich in der Phantasie der Erzählerin brennen und wirft einen hellen Schein über manches in ihren Memoiren.