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(1851-1919) Rechtsgut und Handlungsbegriff [Ein kritischer Beitrag zur juristischen Methodenlehre]
I. Die juristische Methode 1. Der Stand der Frage Diese Klarheit aber können wir nur gewinnen, wenn wir, anhand selbständiger Leistungen unserer Wissenschaft, uns zu besinnen bemühen, auf welchem Weg dieselben zustande gekommen sind, in welchen Punkten und weshalb die Ergebnisse fremder Arbeit von den von uns selbst gefundenen abweichen. Wie der Künstler schafft, ohne daß er der Regeln seiner Kunst sich bewußt zu sein braucht, so kann auch der Vertreter der Wissenschaft arbeiten und forschen, ohne die Methode seiner Forschung in klare Worte kleiden zu können. Und wie die Kunstlehre aus den Werken der Kunst und nur aus ihnen geschöpft werden kann, so muß auch in den Leistungen der Wissenschaft die wissenschaftliche Methode erkannt werden können. Das gilt von allen Wissenschaften, es muß auch von der unsrigen gelten. BINDINGs strafrechtlichen Leistungen wird heutzutage von niemand mehr die vollste Selbständigkeit und eine scharf ausgeprägte Eigenart abgesprochen werden. Diese Eigenart ist in jedem seiner späteren Werke immer deutlicher hervorgetreten, immer selbstbewußter die eigenen Gedankenkreise verfolgend und in immer schrofferer Einseitigkeit alle fremden Ansichten ablehnend. Gerade durch diese kraftvolle und rücksichtslose Individualität hat BINDING befruchtend auf viele von uns gewirkt, ohne eigentliche Schüler zu bilden; hat er vielfachen und lebhaften Widerspruch geweckt und damit jeden einzelnen zur Selbstbesinnung herausgefordert. Wohlwollende Neutralität ist hier nicht am Platze. Auch dem "Handbuch" gegenüber muß Stellung genommen werden von jedem, dem es ernst ist mit seiner Wissenschaft. Nicht auf seine Einzelergebnisse hin, sondern nach seinem wissenschaftlichen Gesamtwert muß es geprüft werden. Das ist aber nicht möglich ohne kritische Untersuchung der wissenschaftlichen Methode, nach welcher BINDING gearbeitet hat. Im vorigen Heft dieser Zeitschrift hat bereits MERKEL mit einem Bericht über das "Handbuch" die Klarlegung und Begründung seiner abweichenden Grundanschauungen über die Methode unserer Wissenschaft verbunden. Indem auch ich im folgenden von meinem Standpunkt aus an diese Prüfung herantrete, möchte ich mir es zunächst selbst klar machen, aus welchen Gründen ich Bindings Methode für eine verfehlte halte, möchte aber insbesondere auch andere veranlassen, im Streit um die Grundfragen unserer Wissenschaft das Wort zu ergreifen. Einige einleitende Bemerkungen über meine eigene Auffassung werden sich dabei nicht vermeiden lassen, während eine erschöpfende Darstellung derselben einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden muß. systematische Wissenschaft. Alle und jede Wissenschaft ist systematische Erkenntnis ihres Gegenstandes. Dabei verstehe ich unter System jene Ordnung der Erkenntnis, welche, indem sie Grundsätzen und Folgesätzen die richtige Stellung zueinander anweist, die Vollständigkeit der Erkenntnis gewährleistet. Jurisprudenz als Wissenschaft ist daher die systematische Erkenntnis der Rechtssätze, wie sich dieselben in gewohnheitsmäßiger Übung oder im gesetzten (sei es gewiesenen, sei es niedergeschrieben) Recht darstellen. Ist diese Auffassung richtig, so ist damit der Rechtswissenschaft ihre Aufgabe vorgezeichnet. 1. Ihr nächstes Ziel ist die Sammlung des Stoffes, die möglichst vollständige Auffindung und Zusammenstellung der ihren Gegenstand bildenden Rechtssätze. Sie hat den Rechtssatz im geltenden Recht zu suchen, das als ein gewordenes nicht aus dem Zusammenhang mit seiner Geschichte losgelöst werden darf. Es ist klar, daß mit dieser Fassung jene Richtungen der Rechtswissenschaft abgelehnt werden, welche wie der von MERKEL sogenannte "Idealismus" HÄLSCHNERs und anderer ganz oder teilweise, da oder dort, den Boden des geltenden Rechts verlassen, um aus der "Idee des Rechts" den Inhalt sei es aller, sei es einzelner Rechtssätze zu schöpfen. Es ist weiter klar, daß mit dieser Fassung der "Rationalismus" verworfen wird, der das heute geltende Recht als ein für sich bestehendes bloß aus sich selbst heraus erfassen zu können glaubt, ohne es als eine Gewordenes und Werdendes zu würdigen. Die Sammlung des Stoffes muß aber eine vollständige sein, soll nicht das erstrebte System zum losen Aggregat werden. Damit scheidet sich meine Auffassung von derjenigen BERNERs, wenn seine Selbstbeschränkung auf die kommentarische Behandlung des Strafgesetzbuches nicht auf andere als prinzipielle Gründe zurückzuführen ist. 2. Das zweite ist die genaue Analyse der auf diese Weise gefundenen Rechtssätze und der in ihnen als Subjekt und Prädikat verbundenen Begriffe. Ihr Ergebnis ist eine Reihe von Begriffsbestimmungen, in welchen der Scharfsinn des Juristen seine Probe zu bestehen hat. Die juristischen Definitionen bilden zugleich das wertvolle Material für eine reiche und fruchtbare Synthese. In der Pflege der Analyse und Synthese der Rechtssätze und Rechtsbegriffe begegnen sich die Vertreter aller Richtungen der Rechtswissenschaft von deren erstem Ursprung bis auf unseren Tag. 3. Aber damit ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft als solcher nicht erschöpft. Sie strebt nach dem System, nach der Über- und Unterordnung der Begriffe und der sie verbindenden Sätze. Denn nur die systematische Ordnung verbürgt die volle Beherrschung des Einzelnen. Immer höher steigt sie auf dem Weg der Abstraktion von den besonderen zu allgemeineren Begriffen; aus Diebstahl, Mord, Brandlegung usw. entwickelt sie für den Begriff des Verbrechens, aus Kauf, Miete, Verpfändung den des Vertrags. Sie ruht nicht, bis sie in jeder einzelnen juristischen Disziplin die höchsten und letzten Begriffe, die umfassendsten Grundsätze gefunden hat. So entsteht der allgemeine Teil des Strafrechts, des Privatrechts, des Staatsrechts usw. Es ist klar, daß die vollständige und befriedigende Lösung dieser Aufgabe bedingt ist durch die Beschaffenheit des Rechtsstoffes, daß sie einem modernen Gesetzbuch gegenüber, wie etwa die Zivilprozeßordnung es ist, ungleich leichter und sicherer gelingen wird, als auf Grund der Digestenfragmente oder gar der Quellen des sogenannten deutschen Privatrechts. Immer aber und ausnahmslos muß die Abstraktion und durch sie das System angestrebt werden; erst in diesem erhebt sich der Jurist zum Rechtsgelehrten. Es geht nicht an, wie H. MEYER das zu tun pflegt, auf die Aufstellung von Grundbegriffen und Grundsätzen ganz oder zum Teil zu verzichten, weil "praktische Rücksichten" der juristischen Konsequenz angeblich hindernd in den Weg treten. Betont sei, daß auch die auf diesem Weg aus dem geltenden Recht abstrahierten Ergebnisse diesem angehören und dessen innerstes Wesen teilen. Gar mancher folgenschwere Irrtum (z. B. über die sogenannte "Analogie"), insbesondere auch BINDINGs Unterscheidung von gesetztem und ungesetztem Recht, erledigen sich durch die klare Erkenntnis dieser Aufgabe der Rechtswissenschaft. 4. Die Abstraktion aber drängt weiter. Über die einzelnen Zweige der Rechtswissenschaft hinaus führt die Abstraktion uns in das Gebiet der allgemeinen Rechtslehre. Die Zurechnungsfähigkeit wird zur juristischen Handlungsfähigkeit, der Begriff des Verbrechens erweitert sich zu dem der rechtserzeugenden Tatsache, die Strafe erscheint als Unterart der Rechtsfolge. Noch fehlt uns dieser Allgemeine Teil der Rechtswissenschaft, in den alle einzelnen Teile derselben einmünden müssen; und daß er uns fehlt, ist eine der Hauptursachen für das planlose Auseinanderfallen unserer wissenschaftlichen Bestrebungen, für den beklagenswerten Mangel gegenseitigen Verständnisses, für zahllose Irrtümer und Fehlgriffe. Aber die Zeit ist wohl nicht mehr fern, in welcher die Überzeugung vom wissenschaftlichen Wert, von der Fruchtbarkeit und Unentbehrlichkeit der allgemeinen Rechtslehre alle juristischen Kreise durchdrungen haben wird. Einstweilen wird jeder einzelne von uns sich selbst den Weg zu bahnen bemüht sein müssen. Die Richtung desselben ist vorgezeichnet: nur durch Abstraktion aus den niederen kann der höhere Begriff gewonnen werden. 5. An die allgemeine Rechtslehre wird die allgemeine Wissenschaftslehre anzusetzen haben. Wie sie den Erkenntniswert und damit die wissenschaftliche Berechtigung des Atombegriffs oder des Begriffs der Kraft für die Physik, wie sie die Bedeutung des Unendlichkleinen oder die der Funktion für die Mathematik klarzulegen und kritisch zu prüfen hat, so wird sie dem Grundbegriff der Rechtswissenschaft ihre Stelle unter den Grundbegriffen des menschlichen Denkens anzuweisen haben. praktische Wissenschaft Ist das Gesagte richtig, so ist die Rechtswissenschaft eine eminent systematische Wissenschaft. Streng reduktiv, wenn ich so sagen darf, in der Forschung, kann sie eben darum streng deduktiv sein in der didaktischen Darstellung. Sie darf hoffen, in ihren höchsten Begriffen alle niederen wirklich zu umfassen, durch Abstraktion und Determination ihren Gegenstand zu erschöpfen. Aber so einfach liegt die Sache nicht. Die Rechtswissenschaft ist doch in einem anderen Sinn Wissenschaft als Logik oder Mathematik oder selbst als mathematische Naturwissenschaft. Sie ist nicht nur eine eminent systematische, sie ist zugleich auch eine eminent praktische Wissenschaft; sie ist letzteres soweit sie das erstere ist, und sie muß ersteres zu werden sich bemühen, will sie in Wahrheit letzteres sein. Hervorgewachsen aus den Tatsachen des Rechtslebens hat sie in letzter Linie nicht Begriffe, sondern Tatsachen zu umspannen. In der begrifflichen Abstraktion erfaßt sie das Rechtsleben des Volkes. Es ist mir von äußerster Wichtigkeit, diesen einfachen Gedanken in seiner Bedeutung für die juristische Methodenlehre ganz klar zu legen. 1. Der Rechtssatz selbst, wie er sich in Übung oder Gesetz darstellt, ist das Ergebnis einer begrifflichen Abstraktion aus zahlreichen Ereignissen des Rechtslebens. Wie oft wohl mußte es vorgekommen sein, daß die Tötung eines freien Franken gesühnt wurde durch die Aufopferung eines guten Teils der Fahrhabe des Täters, ehe der Rechtssatz von den Rachinburgen gewiesen werden konnte: Wer einen freien Franken im ehrlichen Kampf tötet, zahlt 200 Schillinge, wer ihn in diebischer Weise mordet, zahlt 600 Schillinge. Aus ungezählten Tötungsfällen bildet sich der Begriff des Totschlags und der des Mordes. Dieser juristische Begriff der Tötung ist mit den Tötungsfällen nicht identisch, wenn auch aus ihnen auf dem Weg der Abstraktion gewonnen; er ist kein Ding aus Fleisch und Blut, das man sehen und fühlen, greifen und fassen könnte: sondern ein Gebilde unseres Denkens, welches das Einzelne nur begreifen kann, indem es dasselbe mit anderen Einzelnen vergleicht, die gleichen und ungleichen Merkmale sondert und die ersteren zu einem Begriff verbindet. Das ist alles klar und selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich und klar aber ist es - oder sollte es sein -, daß, wenn der Tötungsbegriff gewonnen ist, deshalb die einzelnen Tötungsfälle nicht verschwinden, sondern neben dem Begriff als etwas ganz und gar von ihm verschiedenes nach wie vor weiter sich ereignen, d. h. sich als Tatsachen des Rechtslebens vollziehen können. Dieses Verhältnis ändert sich auch nicht, wenn die fortschreitende juristische Abstraktion zu höheren und höchsten Begriffen gelangt. Neben dem "Verbrechen", das als solches einzig und allein in unserem Denken existiert (wie es ja auch keinen "Baum", sondern nur einzelne Eichen, Buchen usw. im Wald gibt und in unserem Garten kein "Obst" wächst, sondern nur soundsoviele Äpfel oder Birnen oder Kirschen), ereignen sich nach wie vor die einzelnen rechtlich relevanten Tatsachen, daß Hinz dem Kunz ein Auge ausschlägt oder Müller der Frau und der Geldkasse des Meyer nach New York durchbrennt. Das ist das erste, was ich meine, wenn ich die Rechtswissenschaft im Gegensatz zu Logik und Mathematik, eine eminent praktische Wissenschaft nenne. Sie arbeitet mit Begriffen, die aus Tatsachen geschöpft, sich auf Tatsachen beziehen. 2. Der ganze Wert der juristischen Begriffsbildung, die ganze wissenschaftliche Bedeutung ihres Systems ruht darin, daß dieses wie jene die Anwendung der Rechtssätze auf die Tatsachen des Rechtslebens erleichtert und sichert. Die Rechtswissenschaft ist um der Rechtspflege willen da; diese aber hat es mit Ereignissen und mit Menschen, mit Hinz und Kunz, mit Meyer und Müller zu tun. Soll die Rechtspflege scharf und sicher arbeiten, so darf sie nicht einen Fall mit dem andern vergleichen, sondern sie muß den Fall unter die Rechtsregel bringen; sie muß mit Subsumtionsschlüssen, nicht mit Analogien operieren. Das kann sie aber nur, wenn sie einfache und klare Begriffe, knappe und doch erschöpfende Grundsätze zur Verfügung hat. Je mehr Gesetzgebung und Wissenschaft in Kasuistik sich gehen lassen, desto unsicherer, desto zerfahrender wird die Rechtspflege. Nur die systematische Erkenntnis verbürgt die volle Herrschaft über den Stoff. Aus dem Rechtsleben entsprungen, für das Rechtsleben arbeitend, in der Anwendung auf das Rechtsleben sich befruchtend und stets erneuernd, ist die Rechtswissenschaft, obwohl sie wie keine andere Geisteswissenschaft mit dem Handwerkszeug der formalen Logik zu arbeiten berufen ist, zur Unfruchtbarkeit verurteilt, sobald sie, Ursprung und Ziel aus den Augen verlierend, sich einem Formalismus ergibt. Ob die in den beiden vorangehenden Abschnitten aufgestellten Sätze richtig sind, mögen andere beurteilen. Mir kommt es an dieser Stelle nur darauf an zu zeigen, wo BINDINGs Wege und die meinigen sich scheiden. 1. Zunächst sei betont, daß BINDING zu denjenigen kriminalistischen Schriftstellern gehört, die am entschiedensten die Ableitung der juristischen Begriffe aus den Sätzen des geltenden Rechts (oben 2, 1) verlangt und sie am entschlossensten und folgerichtigsten durchgeführt haben. Vielleicht hat niemand von uns die reiche Fundgrube der Gesetze und Verordnungen des Reiches und der Einzelstaaten mit solchem Fleiß und mit so glücklichem Forscherblick durchgearbeitet wie er. Ich sehe gerade darin eins der größten und bleibendsten Verdienste BINDINGs. Tiefgehende und scharfsinnige Analyse (oben 2, 2) werden auch die Gegner ihm nicht bestreiten können. Die Abstraktion der Grundbegriffe und Grundsätze (oben 2, 3) muß als eine ebenso sichere wie umfassende auch von denjenigen anerkannt werden, die BINDING schon hier nicht immer zu folgen vermögen. Der erste der beiden Grundfehler, welche ich der juristischen Methode Bindings zum Vorwurf mache, liegt auf dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre (oben 2, 4), muß aber gerade darum den ganzen Zusammenhang seines Systems in verhängnisvoller Weise beeinflussen. Dieser Fehler ist die vorschnelle Aufstellung und einseitige Verwertung des Begriffs der Norm. Ich selbst habe dereinst dem BINDINGschen Normbegriff gehuldigt und dafür manchen Tadel gern in Kauf genommen. Ich habe dann, als ich die Unfruchtbarkeit und Gefährlichkeit desselben erkannte, jahrelang mit der Normentheorie in mir gekämpft, ehe ich sie überwinden konnte. Jetzt glaube ich mir selbst klar darüber zu sein, daß und weshalb sie, zumindest in der von BINDING ihr gegebenen und eifersüchtig ihr gewahrten Gestalt, als unhaltbar und verhängnisvoll bezeichnet werden muß. Daß der Begriff der Norm nicht auf dem Weg einer methodisch unanfechtbaren, stufenweise fortschreitenden Abstraktion gewonnen worden ist, wird wohl kaum bestritten werden. Aber das wäre ansich noch kein hinreichender Grund, die Normentheorie zu verwerfen. Auch die streng induktiven Naturwissenschaften, wie etwa die Mechanik, verdanken manche ihrer fruchtbarsten Entdeckungen nicht der sorgsamen Einzelforschung, sondern der blitzartigen Intuition des Genius. Wie auf dem Gebiet etwa der Physik oder der Biologie die Induktion der kausalen Gesetze, so ist auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft die verallgemeinernde Begriffsbildung unzweifelhaft befugt, eine Reihe von Zwischengliedern zu überspringen, den Ergebnissen der ruhigen Erforschung voranzueilen und hypothetisch als gegeben anzunehmen, was der Herleitung aus Feststehendem erst bedarf. Aber ganz ebenso wie die naturwissenschaftliche Hypothese sich nur als das einführen darf, was sie ist, als eine Annahme zum Zweck der Erklärung gegebener Tatsachen; so wie sie sorgfältigster und stets erneuerter Prüfung an der Hand der Tatsachen bedarf und als widerlegt erscheint, sobald sie mit einer von diesen in einen unlöslichen Widerspruch gerät: ebenso kann auch die rechtswissenschaftliche Theorie (das Wort im Sinne einer hypothetischen Annahme gebraucht) erst dann auf eine objektive Bedeutung Anspruch erheben, wenn sie durch eine umfassende Durchforschung des ganzen von ihr betroffenen Rechtsstoffes eine wenn auch nur indirekte Betätigung gefunden hat. Eine Theorie vollends, welche den von ihr aufgestellten Begriff in den Mittelpunkt des Systems der gesamten Rechtswissenschaft zu rücken sich für berechtigt hält, hat die Verpflichtung, die Vereinbarkeit dieses Anspruches mit dem geltenden Recht durch eine sorgfältigste und umfassendste Durchforschung des letzteren nachzuweisen. Die BINDINGsche Normentheorie ist diesen Nachweis bis zum heutigen Tag schuldig geblieben. Nicht einmal auf dem Sondergebiet des Strafrechts hat der Normbegriff seine heuristische Fruchtbarkeit für die systematische Erkenntnis der Rechtssätze nachgewiesen: eine abgeschlossene systematische Bearbeitung des besonderen Teils des Strafrechts haben weder BINDING noch seine Anhänger (darf noch in der Mehrzahl gesprochen werden, nachdem OETKER zum "modernen Naturrechtslehrer" THON abgefallen ist?) bisher auch nur unternommen. Aber vielleicht bewährt sich der vorschnell aufgestellte Begriff der Norm auf dem bisher von BINDING im 1. Band des Handbuches behandelten Gebiet des allgemeinen Teils unserer Wissenschaft? Ich glaube, diese Frage mit aller Entschiedenheit verneinen zu können. Indem BINDING auf den Begriff der Norm sein ganzes System aufbaut, alles in einseitiger Verwertung dieses Begriffs auf denselben zurückführt und aus ihm ableitet, verschleiert sich ihm das sonst so scharfblickende Auge, verschieben sich ihm alle Verhältnisse der Über- und Unterordnung der Begriffe, verwirrt sich ihm der Zusammenhang der Grund- und Folgesätze, erleidet das System selbst die verhängnisvollste Erschütterung. Den Beweis für diese Behauptung trete ich an, indem ich zu zeigen versuche, daß zwei der wichtigsten Begriffe der allgemeinen Rechtslehre, der des Rechtsgutes und der der Handlung bei BINDING nicht nur nicht zu ihrem Recht gelangen, sondern von ihm überhaupt nicht zu begrifflicher Klarheit entwickelt sind. Mit diesen beiden Begriffen aber steht und fällt jedes System des Strafrechts. 2. Aber noch einen Grundfehler, der freilich mit dem ersten in einem nahen psychologischen Zusammenhang steht, glaubte ich der wissenschaftlichen Methode BINDINGs nachweisen zu können. Indem BINDING alles im Licht der von ihm "entdeckten" Norm erblickt, indem er das Verbrechen lediglich als Normübertretung ins Auge faßt, übersieht er, daß Norm und Normübertretung nur Abstraktionen unseres Denkens, daß sie nur Begriffe sind, die wir aus den ihnen zugrunde liegenden Tatsachen gewonnen haben (oben 3, 1). Das, was als Wirkliches dem Begriff des Verbrechens entspricht, mag dieser gefaßt sein wie er will, ist immer ein sinnfälliges Ereignis der Außenwelt, ein Geschehen an Menschen und Dingen, eine Veränderung nach den die Natur beherrschenden Kausalgesetzen. Das übersieht Binding völlig. Und so führt ihn die Normentheorie zu einem in der nachhegelschen Wissenschaft ganz vereinzelt dastehenden Formalismus, der überall Begriff und Gegenstand, Denken und Sein, Vorstellung und Vorgestelltes auseinanderzuhalten unfähig wird, der ohne es zu wissen und zu wollen die Abstraktionen der juristischen Logik behandelt, als wären sie Dinge aus Fleisch und Blut, der sich aus den Begriffen seine Welt baut und in dieser volle Befriedigung findet. Auch diese Behauptung, welche die beiden oben genannten Begriffe, der des Rechtsgutes und der der Handlung, im ersten Band des BINDINGschen Handbuches gefunden haben. im Bindingschen Handbuch 1. Die Bedeutung des Begriffs Man kann - das gebe ich gerne zu - darüber verschiedener Ansicht sein, ob überhaupt der Begriff des Rechtsgutes von grundlegender Bedeutung für die allgemeine Rechtslehre und damit auch für die Wissenschaft des Strafrechts ist. Wenn ich dem Begriff diese Bedeutung beilege, so geschieht es insbesondere deshalb, weil ich den Begriff des Rechtsgutes für den Grenzbegriff der abstrahierenden juristischen Logik halte. Die weitestgehende Abstraktion aus den im geltenden Recht gegebenen Rechtssätzen führt uns nur dahin, daß sie an rechtserzeugende Tatsachen den Eintritt einer Rechtsfolge knüpfen, welche in der Begründung von Rechten und Pflichten, mithin eines Rechtsverhältnisses, besteht. Jene Tatsachen und diese Rechtsfolge, das sind die beiden obersten Begriffe jedes Zweiges der Rechtswissenschaft, die letzten und höchsten Begriffe auch der allgemeinen Rechtslehre. Für das Strafrecht determinieren sie sich als Verbrechen und Strafe. Sobald wir aber bei diesen beiden letzten Begriffen des Rechts angelangt sind, können wir die Frage nach dem "warum" nicht länger zurückdrängen. Warum verknüpft das Recht mit dieser Tatsache diese, und gerade diese Rechtsfolge? Die Antwort gibt der Begriff des Rechtsgutes. Er sagt uns: Alles Recht ist der Menschen willen da; ihre Interessen, die der Einzelnen wie die der Gesamtheit, sollen geschützt und gefördert werden durch die Satzungen des Rechts. Die rechtlich geschützten Interessen nennen wir Rechtsgüter. Es ist klar, daß mit dem "Rechtsgut" der Zweckgedanke seinen Einzug in das Gebiet der Rechtslehre hält, daß die teleologische Betrachtung des Rechts beginnt und die formal-logische ihr Ende findet. Ebenso klar ist es wohl, daß die teleologische Betrachtung des Rechts ihre volle Berechtigung hat; daß die Frage nach dem Warum und Wozu nicht nur aufgeworfen werden darf, sondern aufgeworfen und beantwortet werden muß. Fraglich kann es nur sein, ob die Betrachtung des Rechts unter dem Gesichtspunkt des Zwecks noch dem Gebiet der Rechtswissenschaft angehört oder bereits in dasjenige einer anderen Wissenschaft, etwa der Gesellschaftslehre, hineinfällt. Ich habe meine Antwort auf diese Frage bereits gegeben, indem ich den Begriff des Rechtsgutes als einen Grenzbegriff bezeichnete; in Bezug auf das Strafrecht habe ich in den ersten Paragraphen meines Lehrbuches meine Auffassung zumindest in den Grundzügen angedeutet. Über all das kann man, wie gesagt, verschiedener Auffassung sein. Man kann die Bedeutung des Rechtsgutbegriffes in Abrede stellen, wenn man auch kaum leugnen wird, daß die stete Vergegenwärtigung des Zweckgedankens ein kräftiges Schutzmittel gegen den jedem Rechtsgelehrten drohenden Formalismus an die Hand gibt. Aber BINDING gegenüber bedarf die grundlegene Bedeutung dieses Begriffs keines Nachweises. Er hat sie stets nicht nur anerkannt, sondern auf das Kräftigste betont. Man lese z. B. seine Ausführungen (Normen I, Seite 187, Handbuch I, Seite 167); oder man erinnere sich seiner Grundanschauung, nach welcher alles Recht Rechtsgüterschutz, Schutz der Rechtsgüter durch Normen ist und stets sein muß. Nach dieser Auffassung müssen die beiden Begriffe "Rechtsgut" einerseits, "Norm" andererseits als die beiden Angelpunkte bezeichnet werden, auf welchen das ganze System des Rechts überhaupt, nicht nur das des Strafrechts, sich gerade im Sinne der Normentheorie aufbaut. Die Frage ist also gewiß berechtigt: wie bestimmt Binding den Begriff des Rechtsgutes? Die Antwort auf diese Frage die im nächsten Abschnitt quellenmäßig belegt werden soll, sei vorausgeschickt: Bindings Rechtsgutbegriff ist ein Scheinbegriff, das heißt ein Wort ohne Inhalt. Das will sagen: BINDING ist überhaupt nicht zu begrifflicher Klarheit darüber gelangt, was das Wort "Rechtsgut" eigentlich sagen soll; er hat auch wie es scheint gar nicht einmal das Bedürfnis empfunden, zur Klarheit darüber zu gelangen. Sein "Rechtsgut" ist ein Proteus [jemand, der schnell seine Gesinnung ändert und sich nicht auf eine Meinung festlegt - wp], der alle Gestalten annimmt; ein Wort, das heute das und morgen wieder etwas ganz anderes bedeutet, ein Blankett [Blankoscheck - wp], dem jeder den Inhalt geben kann, der ihm gerade paßt. Der eine der beiden Eckpfeiler des stolzen Gebäudes ist auf Sumpfland gebaut. Ist das möglich? Ich hoffe beweisen zu können, daß es wirklich ist. Wieso es möglich geworden ist, glaube ich zu begreifen. Zum ersten war die Norm die Lieblingstochter, der BINDING all seine Aufmerksamkeit, all seine Bemühungen zugewendet hat, so daß er den Zwillingsbruder vernachlässigte und dann ganz den ersten seiner beiden oben erwähnten methodischen Fehler vergaß. Zum andern, und hier macht sich der zweite Grundfehler geltend, verwechselt BINDING auch hier Begriff und Ding, Vorstellung und Vorgestelltes. Diese letzte Bemerkung bedarf noch einer Erläuterung. Ist das Rechtsgut ein Begriff oder ein Ding? - Wir beginnen mit der Betrachtung der einzelnen Tatsachen des Rechtslebens. A hat dem B die goldene Uhr weggenommen; was meinen wir, wenn wir sagen, das Rechtsgut des Eigentums, dessen Träger B war, ist verletzt? Ich antworte: Rechtsgut des Eigentums ist nicht der Eigentümer B, auch nicht die im Eigentum stehende Uhr, sondern das von der Rechtsordnung geschützte Interesse des B, seine Uhr zu gebrauchen oder zu verbrauchen, wie er will. Das Rechtsgut des Eigentums ist also weder ein Mensch noch eine Sache, sondern das Recht selbst unter dem Gesichtspunkt des Zweckgedankens, mithin ein Begriff. Das gilt von allen Rechtsgütern ohne eine einzige Ausnahme. Das Rechtsgut des Lebens ist nicht der Aulus [Platzhalter "Erika Mustermann" - wp] und nicht der Numerius [der tatsächliche Name - wp]; die Integrität der Münze ist weder ein Zwanzigmarkstück noch eine Zehnguldennote; die Geschlechtsehre des Weibes ist schließlich doch etwas anderes als Frau X oder Fräulein von Y und die Autorität der Staatsgewalt ist nicht identisch mit einem angestrichenen Pflock oder einem uniformierten Wachtposten. Das klingt so selbstverständlich, daß es als Trivialität erscheinen müßte solche Sätze zu betonen, wenn nnicht - BINDINGs System zum guten Teil auf einem Verkennen derselben beruhen würde. Nur noch eine Bemerkung. Das Verhältnis ändert sich nicht, wenn wir, von der Verschiedenheit der einzelnen Rechtsgüter abstrahierend, den allgemeinen Begriff des Rechtsgutes ins Auge fassen. Auch hier muß es dann doch wohl einleuchten, daß wir es mit einem Begriff zu tun haben; daß von einer Verletzung oder Gefährdung des Rechtsgutes nur im übertragenen Sinn gesprochen werden kann. Es gibt nur eine Möglichkeit, das Rechtsgut als solches zu treffen: Wenn dem Interesse der Rechtsschutz entzogen, also durch Gesetz etwa das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben oder die freie Liebe eingeführt wird. Aber der Begriff als solcher ist unsterblich, mithin auch unverletzlich. Das sind wieder Trivialitäten. Leider werden wir uns überzeugen müssen, daß sie nicht überflüssig waren. Und nun wenden wir uns der BINDINGschen Darstellung zu. bei Bindung Die Untersuchung wird uns dadurch wesentlich erschwert, daß BINDING in seinem Handbuch zwar den Ausdruck "Rechtsgut" fortwährend gebraucht, aber mit dem Begriff des Rechtsgutes sich nirgends näher auseinandersetzt. Seite 169, Note 10 verweist uns auf die allgemeine Rechtslehre und auf die "Normen". Der Hinweis auf die allgemeine Rechtslehre muß billig überraschen. Wenn im Handbuch die Norm und so viel anderes, was unzweifelhaft der allgemeinen Rechtslehre angehört, in behaglicher Breite entwickelt werden konnte, so mußte in dem umfangreichen Werk auch ein Plätzchen für das Rechtsgut gewonnen werden. Wenn die Norm "in einer Darstellung des Strafrechts nur so weit eine Stelle finden darf, aber auch soweit eine Stelle finden muß, wie zum Verständnis des Strafrechts unentbehrlich ist", so durfte ein System des Strafrechts, das auf dem Grundgedanken des Rechtsgüterschutzes beruth, diesen Begriff nicht nebenher abtun. Da BINDINGs "Handbuch des Strafrechts" nun aber einmal vor seinem zweibändigen "Allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft" ins Leben getreten ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als jene Stellen, sowohl in den Normen wie auch im Handbuch, näher zu prüfen, in welchen BINDING sich gelegentlich über den Begriff des Rechtsgutes äußert. Wir betrachten zuerst die Darstellung im ersten Band der Normen. Wir finden hier (Seite 189) die vorläufige Definition:
Und vergleiche man damit, was BINDING an der entscheidenden Stelle seines Handbuches sagt. Seite 269 lesen wir:
Wir lesen auf Seite 390:
Weitere Beispiele bietet jeder Abschnitt. Ich denke, die angeführten reichen einstweilen aus, nun das oben ausgesprochene Urteil zu begründen. BINDINGs Rechtsgut ist überhaupt kein Begriff, sondern ein leeres Wort, dessen Bedeutung fortwährend wechselt. Jetzt eine Abstraktion, dann ein Gegenstand der Sinnenwelt; jetzt ein Zustand, im nächsten Augenblick eine Person oder eine Sache. Und auf diesem Scheinbegriff ruht, mit ihm fällt das ganze stolze Lehrgebäude! In den folgenden drei Abschnitten soll der verhängnisvolle Einfluß dieser fundamentalen Unklarheit auf einige der wichtigsten Lehren des Strafrechts nachgewiesen werden. und das internationale Strafrecht Wenn es für uns überhaupt von Interesse ist zu wissen, ob die BINDINGschen Rechtsgüter spazieren gehen und Reisen machen, sich verheiraten und Kinder zeugen können, ob es möglich ist, sie in Leinwand zu packen und verschnürt oder versiegelt mit Post oder Eisenbahn über die Grenzen des deutschen Vaterlandes hinaus zu verschicken oder sie bis zum Nordpol oder in den Wüstensand Afrikas mitzunehmen, so wird dieses Interesse zum unabweisbaren Bedürfnis, sobald es sich um die Grundlegung und Entwicklung des sogenannten "internationalen Strafrechts" handelt. Wer uns auf unsere Frage keine oder eine stets schwankende Antwort zu geben vermag, der darf uns nicht im Ernst zumuten, ihm als Pfadfinder auf diesem schwierigen Gebiet vertrauensvolle Folge zu leisten. Prüfen wir BINDINGs Formulierung des sogenannten Realprinzips (§ 80 des Handbuchs):
Dieser völligen Unklarheit gegenüber kann es kaum überraschen, wenn BINDING Seite 392 weiterfährt:
Untauglichkeit des Angriffsobjekts. Eins der merkwürdigsten Ergebnisse systematisierender Jurisprudenz ist die 3. Abteilung des 2. Buches meines Werkes: "Die Gründe der Nichtenstehung von Strafrecht und Strafklagerecht". Es liegt nicht in meiner Absicht, die Berechtigung dieser heterogensten Dinge in bunter Reihe zusammenwürfelnden Abteilung zu untersuchen; es mögen für sie die dunklen Worte der Vorrede (Seite II) zur Rechtfertigung dienen: "Hier trieb der Drang nach Systematik zu einem Bruch mit derselben." Aber § 147 dieser Abteilung: Untauglichkeit des angegriffenen Objekts kraft Staatswillens" kann in diesem Zusammenhang nicht ganz mit Stillschweigen übergangen werden. Wiederholt hatte ich an anderen Orten Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß wer vom Objekt des Verbrechens spricht, sich und den Lesern Rechenschaft darüber schuldig ist, was er unter einem Objekt versteht, ob das Rechtsgut als Abstraktion, oder den Träger des Rechtsgutes (soweit dieser ein Einzelindividuum ist), oder bei Sachenrechten die bewegliche oder unbewegliche Sache oder die sonst in bisher nicht näher untersuchten, zahllosen Verschiedenheiten möglichen sinnfälligen Verkörperungen des Rechtsgutes. Bisher hatten wir bei BINDING vergeblich nach einer Beantwortung unserer Frage gesucht. Sie gehört ja, wie uns gesagt wurde, in den allgemeinen Teil der Rechtslehre. Hier, wo von der Untauglichkeit des Objektes die Rede ist, erhoffen wir endlich nähere Belehrung. § 147 (Seite 702f) beginnt:
BINDING fährt auf Seite 703 im unmittelbaren Anschluß an die ebenangeführte Stelle weiter fort:
Beachtung verdienen abr auch die weiteren Ausführungen BINDINGs an dieser Stelle (Seite 703):
und die Verbrechenseinheit. Noch ein letztes Beispiel für die verhängnisvolle Wirkung, welche die Unklarheit des Rechtsgutbegriffs auf das BINDINGsche System im Ganzen und in allen seinen Teilen äußern mußte und geäußert hat. In § 118 "entwickelt" BINDING "das Wesen der Verbrechenseinheit" am einheitlichen Delikt. Als "Faktoren der Einheitsvorstellung" bezeichnet er neben Zeit, Mittel und dem Willensmoment auf Seite 531:
Aber hören wir weiter.
Ich kann es mir nicht versagen, noch einen Satz aus unserem § 118 anzuführen. Er findet sich Seite 533 und lautet:
Und der Paragraph, in dem uns diese heillose Begriffsverwirrung begegnet, bildet die Grundlage der gesamten Lehre von der Verbrechenseinheit und Verbrechensmehrheit! im Bindingschen Handbuch 1. Die Bedeutung des Handlungsbegriffs Es wird wohl von keiner Seite in Zweifel gezogen werden, daß das Verbrechen als jener Tatbestand, an welchen die Rechtsordnung den Eintritt der Strafe als Rechtsfolge anknüpft, unter den weiteren auch das Rechtsgeschäft mitumfassenden Begriff der juristischen Handlung fällt. Die Analyse des Verbrechensbegriffes richtet nun naturgemäß zunächst ihr Augenmerk darauf, denselben durch die Entwicklung derjenigen Merkmale näher zu bestimmen, welche das Verbrechen von den übrigen rechtlich-erheblichen Handlungen unterscheiden. Logisch gesprochen: die Wissenschaft des Strafrechts unternimmt die Bestimmung des Begriffs "Verbrechen" zunächst durch die Feststellung der differentia specifica [charakteristisches Unterscheidungsmerkmal - wp], die ihn innerhalb des genus proximum [nächsthöherer Artbegriff - wp] "juristische Handlung" auszeichnet. Sie fragt: wie beschaffen sind jene juristischen Handlungen, welche Strafe nach sich ziehen? Nicht daß das Verbrechen eine Handlung ist, interessiert sie an erster Stelle; sondern daß es eine bestimmt geartete Handlung ist, bildet den Ausgangspunkt ihrer Betrachtung. So stellt sie die Begriffe der Rechtswidrigkeit, der Schuldhaftigkeit, der Strafbarkeit fest und gelangt etwa zu dem Ergebnis: Verbrechen ist die vom Staat mit Strafe bedrohte schuldhafte rechtswidrige Handlung. Nun ist es aber klar, daß, wenn ein Begriff durch genus proximum und differentia specifica bestimmt wrid, die Analyse sich nicht auf die Untersuchung des Artunterschiedes beschränken darf. Ist das Verbrechen eine bestimmt geartete Handlung, so kenne ich die Merkmale des Verbrechens vollständig erst in dem Augenblick, in welchem auch der Begriff der Handlung feststeht. Daß sich das Bedürfnis, auch diesen Begriff aufzuhellen, der ja in das Gebiet der allgemeinen Rechtslehre hineinfällt, sich gerade dem Kriminalisten nicht sofort geltend macht, begreift sich leicht. Aber sobald er nach voller Erkenntnis des Verbrechens strebt, drängt ihn dieses Streben mit Notwendigkeit über das Gebiet er ihn zunächst beschäftigenden Art hinaus in das Reich der allen Rechtsgelehrten gleich wichtigen, aber von ihnen allen gleich vernachlässigten Gattung. Man betrachte die kriminalistische Literatur der letzten Jahre. Die Untersuchungen über den Ursachenbegriff, über die Kausalität der Unterlassung, über Ort und Zeit der Begehung, über das Verhältnis von Wille und Vorstellung - sie alle sind veranlaßt durch die immer drängender gestellte Frage: was ist eine Handlung? Welches sind die Merkmale dieses Begriffs? Daß die Antwort auf verschiedenen Wegen gesucht wurde; daß der eine bei MILL und der andere sich bei LOTZE Rat holte; der eine bei der Psychologie, der andere bei der Physiologie Anleihen machte; der eine den Willen, der andere die Vorstellung bevorzugte; daß alle tasteten und fehlten und jeder eine Zeitlang das Richtige gefunden zu haben glaubte: das ändert nichts an der Tatsache, daß das Problem gestellt ist und Antwort auf die Frage gegeben werden muß. Wenn Handlung der Gattungsbegriff, Verbrechen der Artbegriff ist, so wird die zu Lehrzwecken gegebene systematisch-deduktive Darstellung mit dem Handlungsbegriff anheben müssen. Das ist der Grundgedanken meines strafrechtlichen Systems. Und ich habe bisher nichts gehört oder gelesen, was mich an der Richtigkeit dieses Grundgedankens zweifeln machen könnte. Gegen BINDING aber erhebe ich den ersten Vorwurf, daß er die Bedeutung des Handlungsbegriffs ganz und gar verkannt hat. Die Bestimmung des Deliktes als Normübertretung hat ihm auch hier den Blick getrübt. Die maßlose Überschätzung seiner "Entdeckung", die völlige Mißachtung aller entgegengesetzten oder auch nur abweichenden Ansichten hat ihn dahin gebracht, diesen Grundbegriff des Strafrechts gänzlich verkümmern zu lassen. Den Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung erbringt zunächst schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes des Handbuches: über 900 Seiten des Systems sind erschienen, und von der "Handlung" ist noch immer nur nebenher die Rede. In den beiden nächsten Abschnitten dieser Arbeit soll aber weiter an einem besonders grellen Beispiel gezeigt werden, daß die systematische Verwirrung auch zu den schwersten Irrtümern bei der Behandlung einzelner Fragen führen muß. Aber auch der zweite Grundfehler der wissenschaftlichen Methode BINDINGs spielt, neben der Überschätzung des Normbegriffs, hier wie in Bezug auf die Entwicklung des Rechtsgutbegriffs, seine verhängnisvolle Rolle: die Verwechslung von Begriff und Gegenstand, von Abstraktion und Wirklichkeit. Der Begriff der Handlung ist etwas anderes als die einzelnen Handlungen, aus welchen er durch Abstraktion gewonnen wurde. Diese einzelnen Handlungen sind sinnfällige Veränderungen in der Außenwelt, hervorgerufen durch Einwirkungen eines Menschen auf andere Menschen oder auf Sachen, ermöglicht durch die dem Willensimpuls folgenden Bewegungen unseres Körpers. Dabei kann an dieser Stelle die Denkbarkeit eines Bewirkens durch Unterlassen gänzlich beiseite gelassen werden. Wenn nun jedes Verbrechen eine Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern ist, so müssen jene Menschen oder Sachen, auf welche gewirkt, d. h. in deren Zuständen eine Veränderung bewirkt wird, als sinnfällige Verkörperungen der Rechtsgüter erscheinen. Es wäre eine ebenso dankenswerte wie freilich auch schwierige Aufgabe, genauer zu untersuchen, auf welche Weise und in welcher Gestalt die Verkörperung der Rechtsgüter erfolgen kann und erfolgen muß. Diese Untersuchung, auf deren Wichtigkeit ich wiederholt hingewiesen habe, ist hier weder möglich noch auch notwendig. Denn bei den einfachsten Verbrechensarten, mit welchen auch BINDING fast ausschließlich operiert, ist über die Art und die Gestalt der Verkörperung des Rechtsgutes ein Zweifel kaum möglich. Das Rechtsgut des Lebens verkörpert sich zweifellos im lebenden Müller oder Meyer; das Rechtsgut des Eigentums im Pferd, das ich mir gekauft, in der goldenen Uhr, die ich von meinem Großvater geerbt habe: nur in dieser seiner sinnlichen Verkörperung, niemals als Begriff, kann das Rechtsgut verletzt oder gefährdet werden. Und somit schließt sich uns der Kreis der oben angestellten Betrachtungen. Nur in der begrifflichen Abstraktion der Rechtswissenschaft erscheint das Verbrehen als Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern; als Ereignis der Sinnenwelt ist es die an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit erfolgende Bewirkung einer sinnfälligen Veränderung an einzelnen bestimmten Personen oder Sachen durch willkürliche Körperbewegung. Von Ereignissen der Sinnenwelt aber ist alle Gesetzgebung und alle juristische Begriffsbildung ausgegangen; auf Ereignisse der Sinnenwelt zielt alle Rechtswissenschaft ab, indem sie sich zur Lehrmeisterin der Rechtspflege aufwirft. Es ist das Verhängnis des BINDINGschen Handbuches, diese einfache Wahrheit verkannt zu haben. Damit ist es dem Formalismus rettungslos anheimgefallen. Da ganz ebenso wie der Grundbegriff des "Rechtsgutes" auch der Grundbegriff der "Handlung" im ersten Band des Handbuchs keine Stelle gefunden hat, müssen wir aus gelegentlich von BINDING gemachten Äußerungen seine Auffassung des Handlungsbegriffs entnehmen. Leider sind dieselben mehr als ausreichend, um das oben ausgesprochene Urteil zu begründen. Es ist sehr bezeichnend, daß BINDING, welcher die Lehre von der Verbrechenseinheit und der Verbrechensmehrheit entwickelt, ohne vorher den Handlungsbegriff klargestellt zu haben, es doch nicht vermeiden kann, aus Anlaß der Verbrechensmehrheit über den Handlungsbegriff zu polemisieren. Wir lesen Seite 565:
Und wenn BINDING weiter (Seite 566 und Seite 567, Note 7) meint, ich hätte diesem "juristischen und brauchbaren" Handlungsbegriff einen "unjuristischen und unbrauchbaren" "substituiert", so kann ich in voller Gemütsruhe abwarten, bis BINDING bei der Entwicklung des Handlungsbegriffs im zweiten Band seines Systems den Nachweis erbringt, daß die "Selbstverwirklichung des Willens" auf anderem Weg als durch Körperbewegungen (von Unterlassungen ist wie bemerkt nicht die Rede) erfolgen kann. Mit herzlicher Freude gebe ich dann meinen "kraß realistischen Standpunkt" auf; um wieviel schöner wäre doch die Welt, wenn unser Geist, aus den Fesseln der Sinnlichkeit befreit, in der Äthersphäre des Begriffshimmels seine freien Schwingen entfalten könnte! Aber schon nach wenigen Seiten schwindet das Gefühl der Übereinstimmung in der Sache trotz Verschiedenheit der Ausdrucksweise, und schonungslos enthüllt sich uns die ganze Tragweite jener scheinbar harmlosen Sätze. Es handelt sich um eine derjenigen Stellen, die für die Beurteilung der wissenschaftlichen Methode BINDINGs von größter Wichtigkeit sind, auf welche ich daher die Aufmerksamkeit meiner Leser ganz besonders hinlenken möchte. BINDING bespricht den Fall der sogenannten Idealkonkurrenz [Tateinheit - wp] von Ehebruch und Inzest und sagt Seite 568:
Die Ursache bildet mit ihrem Erfolg ein untrennbares Ganzes: soviel juristisch verschiedene Erfolge eintreten, soviele Ursachen derselben müssen vorhanden sein. Von den beiden Handlungen, die hier vorliegen, ist die eine Selbstverwirklichung des Ehebruchsvorsatzes, und die Verletzung ehelicher Treue ist ihr Schlußerfolg; die andere ist die Verwirklichung des davon ganz verschiedenen Vorsatzes der Blutschande, und die Familienschändung ist ihr Schlußerfolg. Wie gar nicht anders möglich, zeigt nun auch eine sorgfältige Analyse der Ursachen beider Verbrechen eine Verschiedenheit der Zusammensetzung, die man künstlich beseitigt, um eine Ursachenidentität zu behaupten. Nicht der Beischlaf ist die gleiche Ursache beider verschiedenen Erfolge - logisch ein Unding! - sondern der Beischlaf eines Blutsverwandten mit einer Blutsverwandten ist die Ursache des Inzests, aber der Beischlaf eines Ehegatten mit einem Nichtgatten die Ursache des Ehebruchs. Unentbehrliche Bedingungen der ersten Ursache sind gleichgültig für die zweite und umgekehrt." Ehebruch ist Beischlaf eines Ehegatten mit einem Nichtgatten (um bei dieser von BINDING gebrauchten, allerdings wenig gelungenen Fassung zu bleiben); Inzest ist Beischlaf eines Blutsverwandten mit einer Blutsverwandten. Ersetzen wir in obigen Ausführungen den bestimmten Begriff durch die Begriffsbestimmung - und ich möchte den Logiker kennenlernen, der mir das Recht dazu streitig macht, - so gewinnen wir folgende Sätze, die zur Auswahl stehen:
2. Der Beischlaf eines Blutsverwandten mit einer Blutsverwandten ist die Ursache des Beischlafes eines Blutsverwandten mit einer Blutsverwandten, der Beischlaf eines Ehegatten mit einem Nichtgatten aber ist die Ursache des Beischlafes eines Ehegatten mit einem Nichtgatten. Aber Scherz beiseite. Ich kenne keinen Satz, weder in BINDINGs Handbuch noch sonst irgendwo, der das Wesen des Formalismus: die Verwechslung von Begriff und Ding, in drastischerer Weise zur Anschauung gebracht hätte. Versuchen wir uns die Fehlschlüsse, deren BINDING sich schuldig gemacht hat, ganz klar zu machen. Wir andern sprechen vom "Beischlaf" als einem sinnfälligen Ereignis, das sich zwischen zwei lebenden Menschen verschiedenen Geschlechts tatsächlich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit abspielt. Dieser konkrete Beischlaf, welchen der Bauersmann Ameier mit seiner Tochter, der verheirateten Bemeier vollzogen hat, ist von uns als Richtern zu prüfen, das heißt unter die im Strafgesetzbuch enthaltenen, aus ungezählten Beischlafsfällen abstrahierten Begriffe zu subsumieren. Wir finden: dieser eine Beischlaf fällt erstens unter den Begriff des Ehebruchs und zweitens unter den den Inzests. Der eine Beschlaf verstößt also gegen zwei Vorschriften der Rechtsordnung. Nun gebe ich gerne zu, daß verschiedene Ansichten darüber möglich sind, ob wir aufgrund der vorgenommenen Prüfung von zwei Verstößen zu sprechen haben, wie die herrschende Lehre dies tut, oder aber von einem zweifachen Verstoß, wie ich es lieber nennen möchte. Aber eins ist ganz unzweifelhaft sicher: daß nur ein Beischlaf vorliegt. Wenn ein Subjekt doppelt prädiziert wird, so entstehen dadurch wahrhaftig nicht zwei Subjekte. Und wenn ein Ereignis unter zwei Begriffe fällt, so hört es doch sicherlich deshalb nicht auf, ein Ereignis zu sein. BINDINGs Lehre beruth also auch von diesem Standpunkt aus auf einer Verkennung der einfachsten Grundsätze der Logik. Vielleicht antwortet mir ein Anhänger der Normentheorie:
Bleiben wir bei dem Einwand stehen, da er uns den erwünschten Anlaß gibt, dem Formalismus ganz auf den Leib zu rücken. "Der Beischlaf eines Gatten mit einem Nichtgatten ist die Ursache des Ehebruchs". Es ist eine doppelte Auffassung dieses Satzes möglich.
2. Beischlaf ist als die Selbstverwirklichung des rechtswidrigen Willens, also nur in juristischer Abstraktion zu nehmen. Dann sagt Binding: der Subjektsbegriff ist die Ursache des Prädikatbegriffs. Es ist doch so einfach und klar, daß der Beischlaf nicht die Ursache des Ehebruchs ist, sondern daß Ehebruch gar nichts anderes ist als den Beischlaf selbst im Licht unserer ethischen oder juristischen Betrachtung, nichts anderes als der Begriff, unter den wir Juristen den Beischlaf bringen, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben sind. - Und diese Verheerung im Denken eines unserer scharfsinnigsten und gewissenhaftesten deutschen Juristen - wo hat sie anders ihre Wurzeln, als in den beiden oft betonten methodischen Grundfehlern? In der Tat: wenn der wissenschaftliche Wert einer hypothetischen Annahme an den Ergebnissen erkannt werden kann, zu welchen sie führt, dann ist der Stab gebrochen über BINDINGs Normentheorie. und die Idealkonkurrenz. Wie sich BINDING die sogenannte Idealkonkurrenz zurechtlegt, haben wir eben gesehen. Ich kann es mir wohl ersparen, dieser Konstruktion gegenüber meine abweichende Ansicht näher zu begründen. Es scheint mir das umso weniger hierher zu gehören, als der Zweck dieser Zeilen lediglich der einer kritischen Prüfung der BINDINGschen Ausführungen ist. Aber, wie ich im Gegensatz zu BINDING das Problem stelle, darf und muß hier wohl angedeutet werden, weil dadurch erst meine Auffassung des Handlungsbegriffs für die Zwecke dieser Abhandlung ins volle Licht gesetzt wird. Wir werden über Einheit und Mehrheit der verbrecherischen Handlung nie zu befriedigenden Ergebnissen gelangen können, wenn wir nicht von der Handlungs einheit ausgehen. Wir werden dabei selbstverständlich den nicht-juristischen, d. h. den seiner juristisch relevanten Merkmale entkleideten, Handlungsbegriff zugrunde zu legen haben. Denn der etwaige Artunterschied wird sich nicht feststellen lassen, wenn die Merkmale der Gattung noch der Untersuchung harren. Daß dieser nicht-juristische Handlungsbegriff darum kein un juristischer ist, wie BINDING glaubt, brauche ich wohl nicht weiter auseinanderzusetzen. Wenn wir uns nun über die entscheidenden Merkmale der "natürlichen" Handlungseinheit (man gestatte mir diese pleonastische Ausdrucksweise) klar geworden sind (und daß auf diesem Gebiet noch sehr viel zu tun ist, weiß ich genau), werden wir zu prüfen haben, ob die juristische, genauer: die kriminalistische Handlungseinheit sich mit der "natürlichen" deckt. Es kann ja sein, daß wir bei einer vom Standpunkt des Juristen aus vorgenommenen Betrachtung zu anderen Ergebnissen gelangen, daß sich der Begriff der Handlungseinheit für das Gebiet des Strafrechts modifiziert. Daß wir bei dieser Prüfung von den Sätzen des geltenden Rechts ausgehen müssen, wird in der neueren Literatur ziemlich allgemein zugegeben. Ansich wäre nun folgendes Schema denkbar:
2. Handlungsmehrheit aber Verbrechenseinheit; 3. Handlungseinheit aber Verbrechensmehrheit; 4. Handlungsmehrheit und Verbrechensmehrheit. Es sind hier zunächst zwei Ansichten möglich. Man kann die Möglichkeit einer Handlungseinheit mit Verbrechensmehrheit behaupten oder leugnen. Die herrschende Ansicht behauptet sie und gelangt so zu zwei Arten der Verbrechensmehrheit (3 und 4), die sie als Ideal- und Realkonkurrenz unterscheidet. Ich leugne (mit HILLER, SCHÜTZE u. a.) die Möglichkeit dieses Falles. Das Verbrechen ist Handlung; mehrere Verbrechen müssen daher mehrere Handlungen sein; eine natürliche Handlung kann immer auch nur eine verbrecherische Handlung sein. Ich fasse also die sogenannte Idealkonkurrenz nicht als Verbrechensmehrheit, sondern als Gesetzeskonkurrenz auf. Von der Richtigkeit und praktischen Brauchbarkeit dieser Ansicht habe ich mich mehr und mehr überzeugt, aber gern gebe ich zu, daß auch die gegenteilige Ansicht haltbar ist. BINDING steht nun auf einem ganz abweichenden Standpunkt. Ihm ist nicht nur die Realkonkurrenz, sondern ganz ebenso auch die Idealkonkurrenz Deliktsmehrheit und damit notwendig und unbedingt Handlungsmehrheit. Der Begriff der Norm verlangt diese Konsequenz, und darum wird sie gezogen. Wie diese Auffassung am Beispiel des Beischlafs mit der eigenen verheirateten Tochter durchgeführt, wie da zwei Beischlafhandlungen nachgewiesen werden, ist uns in Erinnerung. Ich will auch darauf nicht näher eingehen, da kaum zu besorgen ist, daß diese Konstruktion Beifall in weiteren Kreisen finden wird. Aber die von BINDING gegen meine Ansicht vorgebrachten Gründe interessieren mich. Ich habe nach wiederholter genauer Prüfung der BINDINGschen Ausführungen nur einen Beweisgrund gefunden, der Beachtung verdient. Denn BINDINGs Handlungsbegriff scheint mir nicht gefährlich; und daß ich den Wortlaut des § 73 StGB (sowie das Schweigen des Gesetzes über die sogenannte gleichartige Idealkonkurrenz) für mich habe, kann BINDING selbst nicht in Abrede stellen. Aber BINDING sagt Seite 572:
Die Behauptung aber ist gänzlich unrichtig; es ist einfach nicht wahr, daß wir es mit einem in der neueren Rechtsentwicklung traditionell gewordenen Gegensatz zu tun haben! Ich hatte vor, den Beweis für meine Gegenbehauptung zu erbringen und bei dieser Gelegenheit die geschichtliche Entwicklung der Lehre von Handlungseinheit und Verbrechensmehrheit in groben Umrissen zu entwerfen. Inzwischen ist in "Grünhuts Zeitschrift", Bd. 13, eine Abhandlung von HILLER "Die Frage der sogenannten Idealkonkurrenz" erschienen, die mich dieser Aufgabe völlig enthebt. HILLER erbringt in sorgfältiger Zusammenstellung den Nachweis, daß von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart stets eine große Anzahl von Autoritäten in der sogenannte Idealkonkurrenz nichts anderes erblickt haben als eine Handlung, welche unter mehrere rechtliche Gesichtspunkte fällt (unum factum, quod plures admittit inspectiones [eine Tatsache, die mehrere Sichtweisen erlaubt - wp]). Man lese bei HILLER nach, wie bestimmt und unzweideutig KOCH und SAVIGNY, KLEINSCHROD und GROLMAN, ABEGG und KRUG bis herab auf BREITENBACH und BERNER sich in diesem Sinne geäußert haben. Man lese bei HILLER nach, wie die neusten Strafgesetzbücher und Entwürfe, welche auf dem Boden des deutschen Reiches stehen, den Fall der sogenannten Idealkonkurrenz behandelt haben. Und man wird sich überzeugen, daß, "jedem, der mit der neueren Rechtsentwicklung vertraut ist", BINDINGs Behauptung als eine tatsächlich völlig unrichtige erscheinen muß. Aber auch die de lege ferenda [nach künftigem Recht - wp] für die Gleichstellung von Ideal- und Realkonkurrenz von BINDING beigebrachten Gründe sind zum Teil erstaunlich schwach. Und wenn wir Seite 576 lesen:
Ich verzichte auf eine weitere Ausmalung. Zudem würde uns dieselbe weiter führen, als die durch den 1. Band des Handbuchs der Kritik gezogenen Grenzen reichen. Der Verbrecher "greift" zur Idealkonkurrenz, um auf einmal zwei Verbrechen begehen zu können! Als ob es jedem Verbrecher gerade darum zu tun wäre, möglichst viele Paragraphen des Strafgesetzbuchs zu übertreten! Auch BINDINGs Vorsatzbegriff leidet, wie dieser eine Satz (auch ohne die "Normen") zur Genüge beweist, an einem doppelten methodischen Grundfehler aller neueren BINDINGschen Arbeiten: der maßlosen Überschätzung des Normbegriffs und der damit gegebenen formalistischen Abkehr von den Tatsachen des Rechtslebens. Der zweite Band wird mir hoffentlich den Anlaß geben, auf BINDINGs Schuldlehre zurückzukommen. ![]() Für diesmal bin ich mit meinen kritischen Betrachtungen zu Ende. Vergnügen haben sie mir nicht gemacht. Aber ich mußte mir von der Seele schreiben, was sich mir beim Durcharbeiten des Handbuchs auf jeder Seite aufdrängte. Bindings wissenschaftliche Methode ist nach meiner tiefinnersten Überzeugung durch und durch verfehlt. Und es schien mir hoch an der Zeit zu sein, daß diese Überzeugung auch einmal öffentlich ausgesprochen wird. Verlieren kann dabei nur derjenige, der sich in die Bresche stellt; die Wissenschaft kann nur gewinnen. Und um die Wissenschaft handelt es sich dabei. Je selbstbewußter und rückhaltloser die "Normentheorie" als die alleinseligmachende "exakte Forschung" auf dem Gebiet des Strafrechts auftritt, umso entschiedener und rücksichtsloser müssen wir alle, jeder nach seinen Kräften, die Geistesfreiheit der Wissenschaft verteidigen gegen den Terrorismus der Schule. ![]() ![]() |