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PAUL NATORP
Sozialpädagogik
[Theorie der Willenserziehung
auf Grundlage der Gemeinschaft]


"Bloß eine ist die Ordnung des ursprünglich Erscheinenden, bloß einzig vorhanden die Gesetzesordnung dieses selben Erscheinenden, welche Natur heißt."

"So oder so aber hat man es in der Naturwissenschaft wie in der Psychologie lediglich mit Erscheinungen in der Zeit zu tun."

"Aber das ist doch eine extravagante Annahme, daß man beim Denken niemals die Sache, um die es sich jedesmal handelt, sollte vor Augen haben können, ohne zugleich das Denken dieser Sache, und folgerecht das Denken dieses Denkens und so in infinitum hinzuzudenken. Selbst wenn das wäre, so ist doch hoffentlich die Sache auch im Gedanken; kann ich nun zeigen, daß sie allein genügt, die logischen Verhältnisse daran einzusehen, so gehen mich, sofern es sich eben um die Einsicht dieser Verhältnisse handel, alle jene neben der Sache hergehenden Gedanken, die nun existieren mögen oder nicht, überhaupt gar nichts an."


§ 1.
Erziehung, Bildung, Wille, Idee.

Es ist nur eine Seite der Erziehung, für welche die theoretischen Grundlagen hier nachgewiesen werden sollen. Doch ist es die, von der schließlich das Ganze der Erziehung abhängt. Also müssen die nachzuweisenden Grundlagen auch für das Ganze zulangen.

Das Wort Erziehung wird am eigentlichsten von der Bildung des Willens gebraucht. Es hat zwar einen hinlänglich weiten Sinn, um zu gestatten, daß man auch von intellektueller, ästhetischer, religiöser Erziehung spricht. Aber auch dabei denkt man vorzugsweise an die Abhängigkeit der intellektuellen, der ästhetischen, der religiösen Bildung von der Bildung des Willens oder an ihre Rückwirkung auf diese. Andernfalls spricht man von Unterricht oder gebraucht das allgemeine Wort Bildung, Ausbildung.

Dieses scheint in der Tat am geeignetsten, um das Ganze der pädagogischen Aufgabe zugleich dem Umfang nach erschöpfend und dem Inhalt nach bezeichnend auszudrücken. Man spricht von wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer so gut wie von sittlicher Bildung; der Ausdruck ist anwendbar auf jede Sonderrichtung der pädagogischen Tätigkeit, er ist es erst recht auf ihr Ganzes, auf die Einheit der humanen und beruflichen Erziehung. Und, mag dabei auch mehr an die plastische Tätigkeit des Künstlers gedacht sein, das absichtliche Formen, Gestalten des gegebenen Stoffs zur vorschwebenden Idee, oder an die plastische Kraft der Natur in ihren organischen Hervorbringungen, das spontane Sichgestalten, so wie auch anders ist das Wort bezeichnend wie kein anderes; es weist hin auf das innere Gesetz, nach dem ein Gebilde, sei es als Werk der Kunst gestaltet wird oder als Werk der Natur sich selbst gestaltet.

Doch behält daneben das Wort Erziehung seinen eigentümlichen und hinreichend allgemeinen Sinn. Es ist bezeichnend gerade nach der Seite, die das Wort Bildung unentschieden läßt. Es weist darauf hin, daß die menschliche Bildung, wie sehr auch Sache einer natürlichen Entwicklung, doch zugleich einer auf Förderung oder zumindest auf einen Schutz dieser Entwicklung planvoll gerichteten Bemühung bedarf. Es liegt darin die Analogie des Aufziehens, des absichtlichen Züchtens, der "Kultur" von Pflanzen und Tieren, im Unterschied vom bloß natürlichen, spontanen Aufwachsen. Das Wort besagt: durch eine geeignete Behandlung oder Pflege zum gedeihlichen Wachstum bringen. Darin liegen diese zwei Voraussetzungen: erstens, es gibt ein Wachstum, eine stetig wie nach einem inneren Plan fortschreitende Entwicklung mitgebrachter Anlagen zu einer gewissen Höhe, die unter bestimmten, normalen Bedingungen sicher erreicht wird; zweitens aber, es ist möglich und notwendig, dieses Wachstum zu unterstützen, zumindest Störungen desselben hintanzustellen durch eigens darauf gerichtete planmäßige Vorsorge, ohne welche die gleiche Höhe der Ausbildung nicht, oder nicht ebenso rasch, oder nur mit sonstigen Nachteilen erreicht wird. Es wird damit nicht geleugnet, daß Bildung eine innere Entfaltung gegebener Keime ist; auch das Wachstum der Pflanze, des Tiers macht ja nicht die Kultur; aber es wird bestimmter herausgehoben, daß die mitwirkende Tätigkeit des andern gleichwohl unerläßlich ist, ohne die auch des Menschen eigenste Anlage sich nicht gehörig entfalten, sondern verkümmern würde. Auch wenn von Selbsterziehung gesprochen wird, denkt man eigentlich zwei Personen in einer vereint, die, welche erzogen wird, und die andere, welche erzieht. Auch so betont das Wort, daß nicht nur der Wille es ist, welcher gebildet werden soll, sondern auch die bildende Tätigkeit Sache des Willens, obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eigenen Willens des Zuerziehenden ist. Übrigens ist Selbsterziehung erst das Resultat der Erziehung durch andere.

Also, daß menschliche Bildung Willenssache ist, das ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund, weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Erziehung des Willens selbst; während auf alle anderen Seiten der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluß erlangt, daß er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das gewollte Ziel hinzulenken weiß.

So oder so aber enthält schon dieser erste Grundbegriff der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen, der Idee. Bilden, sagten wir, heißt Formen, wie aus dem Chaos gestalten; es heißt, ein Ding zu seiner eigentümlichen Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heißt, was ist wie es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee: es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines anzustrebenden Ziels der Entwicklung in jenem Moment des absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher im Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie dann diese Voraussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten ist; denn Wille heißt zuletzt nichts anderes als Zielsetzung, Vorsatz einer Idee, d. h. eines Gesollten.

Wie aber ist dieses Sollen zu begründen? Woher schöpfen wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding tatsächlich ist, sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch aus bestimmten tatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort zu geben; sie lang nur für das was ist. Sie erstreckt sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr; die Natur aber weiß nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll nichts, sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke, z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee? Ohne eine klare begründete Antwort auf diese Frage gibt es keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die es Namens wert ist; besonders nicht zu einer Theorie der Willenserziehung, denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese haben wir nun einzutreten.


§ 2.
Idee nicht Naturbegriff.

Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben. Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zusammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht bloß an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Entwicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen oder anderen Feld.

Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidbar, auch das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen, überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter dem Begriff eines Ziels, das erreicht, einer Bestimmung, die erfüllt werden soll, d. h. unter einer Idee zu denken; und so scheint die angenommene Analogie ja immer noch zuzutreffen.

Allein bei der materiellen Entwicklung besagt das Ziel einen wahren, angebbaren Endpunkt, eine nicht zu überschreitende Grenze, ein nicht zu übertreffendes Maximum. Solche und solche bestimmte Leistungen ist die gegebene materielle Organisation überhaupt zu entwickeln fähig. Darüber hinauszukommen bleibt ihr auch unter den günstigsten Umständen versagt; während es wohl ein Zurückbleiben hinter dem Ziel, eben unter der Ungunst der äußeren Bedingungen der Entwicklung, gibt.

Daß das Maximum sich etwa nicht absolut bestimmen läßt, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Unter der Voraussetzung unwandelbarer Artbegriffe würde es sich bestimmen lassen. Nun strebt die Biologie zwar die Artbegriffe zu verflüssigen, die starren Formen möglichst in Prozeß und Bewegung aufzulösen. Allein ein Maximum der Entwicklungsfähigkeit muß für die gegebene individuelle Organisation doch immer angenommen werden; das liegt schon in der Voraussetzung einer bestimmten, gegebenen Organisation. "Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen." Wird aber ein Maximum vorausgesetzt, so läßt sich die Zweckbetrachtung ganz ausscheiden und in die rein ursächliche umsetzen.

Für die Biologie stellt sich die Frage eigentlich immer so: Wenn die und die Höhe von Leistungen erreicht werden soll - daß sie es soll, steht gar nicht in Frage -, welche Bedingungen müssen erfüllt sein? Diese Frage ist aber völlig einerlei mit der anderen: Welches sind die Ursachen solcher vorausgedachter Wirkungen? Das Vorausdenken der Wirkungen ändert nichts am kausalen Charakter des Verhältnisses. Gewöhnlich sind ja die Wirkungen zuerst bekannt und wird von diesen auf die Ursachen analytisch zurückgegangen; erst dann lassen sich auch progressiv oder synthetisch aus den voraus bekannten Ursachen die Wirkungen berechnen. Übersähe man nur das ganze Geflecht der Bedingungen, so wäre von anderen als ursächlichen Beziehungen zu reden überhaupt kein Anlaß.

So erscheint hier der Unterschied ursächlicher und zweckhafter, kausaler und teleologischer Betrachtung nur "subjektiv", nur ein Unterschied des Standorts des Beurteilers. SOll aber eins von beiden den "objektiven" Tatbestand ausdrücken, so kann es nur das Ursachverhältnis sein; kein Wunder, da ein Tatbestand eben nur ist, niemals, als solcher, bloß sein soll.

Also das Sollen scheint in der teleologischen Betrachtung materieller Entwicklugn überhaupt ohne Not eingeführt zu werden; jedenfalls nachdem es einmal eingeführt worden ist, ist alles Weitere nur eine Erwägung des Verhältnisses von Bedingung und Bedingtem; also, da es sich um eine zeitliche Bedingtheit handelt, des ursächlichen Verhältnisses. Nur diese Erwägung ist naturwissenschaftlich, nicht die teleologische.

Zum Beispiel, das einzelne Organ dient - so sagt man - oder ist bestimmt zu einer gewissen Verrichtung; das heißt im Grunde nur, diese ist durch jenes bedingt. Diese Verrichtung dient etwa weiter der Erhaltung des individuellen Organismus; diese der Erhaltung der Gattung; und diese etwa der Erhaltung des Lebens überhaupt; wenn ein Leben überhaupt unter solchen und solchen Bedingungen bestehen sollte, so mußte sich eine diesen Bedingungen angepaßte Organisation bilden. Allein weshalb mußte überhaupt Leben sein? Solange man im Kreis naturwissenschaftlicher Erwägungen bleibt, gibt es auf eine solche Frage keine Antwort mehr. Irgendein letztes Soll wird als grundlos eingeführt; zumindest reichen die Methoden der Naturwissenschaft nicht aus, es zu begründen. Das eine Hypothese zu nennen wäre ein Mißbrauch des Namens. Naturwissenschaftliche Hypothesen müssen den Bedingungen einer naturwissenschaftlichen Bewahrheitung genügen; ein naturwissenschaftlicher Beweis aber reicht aus für Tatsachen und ursächliche Zusammenhänge von Tatsachen, nicht für ein Sollen, das etwas mehr als ein anderer Ausdruck des Ursachenverhältnisses wäre. Ein ursprüngliches Sollen liegt ganz außerhalb des Wegs der Naturwissenschaft. Das Sollen, von dem sie etwa spricht, ist kein ursprüngliches, sondern es ist, eigentlich ausgedrückt, bloße Kausalität. Der Vogel hat Flügel, weil er fliegen soll; nein, er hat Flügel und kann daher fliegen. Das Individuum erhält sich, weil sich die Gattung erhalten soll; nein, vielmehr damit, daß die Einzelwesen sich in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erhalten, erhält sich die Gattung in der ihrigen. Und schließlich, indem die Gattungen unter sich verändernden Lebensbedingungen variationsfähig sind, erhält sich das Leben im Ganzen, nämlich auf diesem Planeten, oder unter sonstwie begrenzten natürlichen Bedingungen. Daß aber das Leben überhaupt, unter allen Bedingungen sich erhalten muß, d. h. soll, ist keine Erkenntnis der Naturwissenschaft mehr und keine naturwissenschaftlich mögliche Hypothese.

Wenn dies aber so ist, wie kommt überhaupt die Zweckbetrachtung in die Natur? Sie ist hineingetragen, wird man antworten. Allein woher hineingetragen? Aus uns; sie ist unsere subjektive Zutat. Es soll sein; aber damit eröffnet sich eine ganz neue Aussicht. Die Zweckbetrachtung ist subjektiv, sie stammt aus uns; sind also wir nicht Naturwesen? Wie fände sonst bei uns die Zweckbetrachtung eine Anwendung, wo das doch bei keinem Naturwesen der Fall ist? Man muß wohl schließen: da die Zweckbetrachtung ganz außerhalb der Bahn bloß naturwissenschaftlicher Erwägungen liegt, so kann sie auch aus uns nicht in die Natur hineingetragen sein, ausgenommen, wir selbst unterliegen noch irgeneiner anderen als der naturwissenschaftlichen Erwägung.

Aller Zweck soll der Natur bloß angedichtet sein; es ist bloß ein subjektiver Zusatz zur kausalen Auffassung, die allein einen objektiven Grund hat. Es ist also, wie SPINOZA will: Natur hat keine Zwecke, nur wir schreiben sie ihr zu, weil wir uns Zwecke setzen und geneigt sind, uns die Natur nach menschlicher Analogie vorzustellen. Allein, wären wir selbst nichts anderes als Natur (wie derselbe SPINOZA behauptet), dächten wir uns nicht zumindest anders, als wir Natur denken, so hätte die Idee des Zwecks genauso wenig Sinn für uns wie für die Natur. Dann aber, woher käme uns überhaupt dieser Begriff? Vielleicht wird man mir antworten: er ist überhaupt rechtlos, in Beziehung auf uns sowohl als auch auf die Natur. Allein nach seiner Berechtigung ist hier noch gar nicht die Frage, sondern nach der Herkunft des Begriffs. Wir haben ihn: also, woher haben wir ihn?

Es ist aber schon etwas damit gewonnen, daß klar wird: Sinn und Grund des Zweckbegriffs ist nicht, jedenfalls nicht ursprünglich zu suchen in der Art, wie wir die Natur, sondern wir wir uns selbst, in wie immer berechtigter Unterscheidung von der Natur, denken. Das heißt, die Entscheidung muß darin liegen, daß der Mensch ein Selbstbewußtsein hat. Selbstbewußte Entwicklung allein vermag sich zu denken unter der Idee eines Ziels, das sie erreichen soll; wogegen ein Selbstbewußtsein nicht in Frage kommt, also in der Betrachtung der materiellen Natur, bloß als materieller, da ist der Zweckbegriff nur hineingetragen; er läßt sich ausscheiden, und die rein kausale Betrachtung bleibt zurück.

Alle Zweckbetrachtung in der Natur geht, wie wir sahen, zurück auf die letzte Voraussetzung eines Strebens der Selbsterhaltung. Aber hat Natur überhaupt ein Selbst? Die Selbstheit, die wir ihr zuschreiben, legen nur wir hinein; und wir können es nur, weil wir das Bewußtsein eines Selbst haben. Also bräuchten wir gar nicht erst zur Natur zu gehen, wir könnten bei uns selber bleiben, um den Ursprung der Idee zu finden.

Damit tritt unsere Untersuchung auf ein ganz neues Feld über: das der Analyse des Bewußtseins. Doch bedarf es bei einem so vieldeutigen Begriff genauer Unterscheidungen, wenn wir uns nicht alsbald von Neuem verwickeln wollen.


§ 3.
Idee nicht Begriff der Psychologie.

Im Bewußtsein ist die Idee zu suchen. Am Bewußtsein aber - wir verstehen darunter zunächst zeitlich bestimmtes Bewußtsein - unterscheiden sich zweierlei: das, was irgendwem bewußt ist: wir nennen es die Erscheinung, und das Bewußt-sein selbst.

Das erstere läßt sich in allen Fällen so ins Auge fassen, daß vom Bewußt-sein dabei ganz abstrahiert wird. Das Erscheinende, wiewohl wirklich nur im Bewußtsein gegeben (denn Erscheinen heißt: Irgendwem bewußt sein), löst sich doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für jemand Erscheinung (ihm bewußt) ist, steht es allein ihm vor Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk außerdem darauf zu richten, daß es ihm bewußt ist. Das Bewußt-sein der Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist nicht noch einer fernerer, notwendig von ihm zu betrachtender Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen, denn ebenso müßte die Betrachtung der Betrachtung wieder Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende. Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu tun.

So glauben wir es zu verstehen, daß die Gesamtheit des Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammenschließt, von der wir reden können, als sei sie ansich ohne uns, die Betrachtenden da, als sei es ein bloßer, gleichgültiger Nebenumstand, daß auch wir da sind, sie zu betrachten; obgleich wir tatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch wissen, daß auch wir als die Betrachtenden das sind.

Die "idealistischen" Folgerungen, die sich hier nahelegen, sollen uns auf unserem Weg nicht aufhalten. Es genügt, daß Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber verstanden wir bisher und verstehen wir auch jetzt: die Ordnung der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche Ordnung, gemäß dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist, wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen.

Nun meint man aber, es müsse doch auch das andere, das Bewußt-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigentümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhanden, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns, als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein? Wie verhält es sich damit?

Wir antworten darauf: Am nackten Bewußt-sein oder Gegebensein für ein Ich ist durchaus nichts Eigentümliches zu erkennen; es ist für alles Gegebene unterschiedslos dasselbe, und überhaupt ohne besonderen Inhalt. Wohl aber zeigt sich ein Unterschied in der Art, wie die Erscheinungen sich aufreihen und gleichsam zusammenstellen: einerseits als unmittelbar im jeweiligen individuellen Bewußtsein einander folgend oder auch auf einmal vorhanden, in bunter, ungleichmäßiger, scheinbar gesetzloser, chaotischer Zusammenwürfelung; andererseits so, wie sie in jener gesetzlichen Ordnung, welche die "Natur" als Objekt unserer Erkenntnis ausmacht, sich darstellen, oder vielmehr durch die Arbeit der Erkenntnis erst dargestellt werden. Diese Ordnung der als "Natur" erkannten Objekte ist zwar immer noch ein uns Bewußtes; aber es scheint doch, sagen wir, auf verschiedenen Stufen oder Höhen der Bewußtheit dem Stoff nach dasselbe sich verschieden: zerstreuter, einheitlicher, in loserem, in festerem Zusammenhang, zu ordnen; und wenn in dieser Stufenfolge von Ordnungen das letzte Glied nach der einen, der Objektseite die sogenannte äußere, von uns losgelöst gedachte Wirklichkeit oder Natur ist, so steht dem als Äußerstes nach der andern, der Subjektseite, unabgelöst von uns und unserer Bewußtheit, ein letztes, unmittelbar Erscheinendes als gleichsam eine zweite, "innere" Welt gegenüber, die man die psychische nennt. Und diese muß sich auch irgendwie zur Erkenntnis bringen lassen, da wir sonst überhaupt nicht von ihr wissen würden.

Zwar ist die gemeinhin geltende Ansicht über das Verhältnis des "Physischen" und "Psychischen" eine weit andere. Nach ihr würde es sich um zwei ursprünglich getrennte Erscheinungsreihen handeln, von denen die zweite, psychisch genannte, nach im Ganzen gleicher Methode wie die erste, die physische, zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, d. h. hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit des Auftretens der bezüglichen Erscheinungen in der Zeit zu untersuchen, und entweder in einer eigenen, rein aus dem Material des Psychischen konstruierten Kausalordnung, oder in ein und derselben mit den äußeren oder Naturerscheinungen, oder in einem ganz eigenartigen Verhältnis zu diesen, man nennt es Parallelismus, darzustellen wäre. Eine solche doppelte Reihe der Erscheinungen gibt es, wir mir scheint, nicht (1). Denn nichts, was irgendein Inhalt des Bewußtseins oder der Erscheinung für uns ist, ist etwa nicht, hinsichtlich der Gesetzlichkeit seines zeitlichen Auftretens, in die Ordnung der Natur einzubeziehen; andererseits nichts noch so gegenständlich Gedachtes entbehrt der anderen Beziehung auf das Bewußtsein, dem es gegeben ist, und auf das unmittelbar diesem Gegebene, aus dem es gestaltet worden ist. Bloß eine ist die Ordnung des ursprünglich Erscheinenden, bloß einzig vorhanden die Gesetzesordnung dieses selben Erscheinenden, welche "Natur" heißt. Nur erhält dasselbe, was in einer Hinsicht Erscheinung des Gegenstandes, nämlich der Natur genannt wird, noch eine eigentümliche Benennung in jener anderen Beziehung, die es auf das Bewußtsein hat, dem es Erscheinung ist; es fügt sich aufgrund dieser Beziehung in ein anderes Begriffssystem ein, etwa als Empfindung, Vorstellung, Gedanke. Und diese neue Benennung ist auch nicht ohne eigenen Inhalt; sie weist hin auf eine eigene, gleichsam Innenansicht desselben Materials, dessen Außenansicht die Natur ist. Und somit bleibt, auch wenn man eine besondere psychische Erscheinungsreihe und eine besondere psychische Kausalität nicht anerkennen kann, immerhin eine eigene Art der Erkenntnis ein und desselben Erscheinenden übrig, welche, als die einzige eigentümliche Erkenntnis des Psychischen, Psychologie heißen kann.

So oder so aber hat man es in Naturwissenschaft wie Psychologie lediglich mit Erscheinungen in der Zeit zu tun. Diese unterliegen als solche der Ordnung der Ursachen, aber nicht der Zwecke. Ein Ursprung des Zweckbegriffs läßt sich soweit noch gar nicht absehen. Er ergibt sich nicht aus der naturwissenschaftlichen, er ergibt sich ebensowenig aus jener psychologischen Erkenntnis, die nur die Innenansicht derselben Erscheinungen darstellt, deren Außenansicht Naturwissenschaft heißt; er ergäbe sich auch nicht nach der sonst üblichen Auffassung der Psychologie, die nur, statt einer, zwei Naturen kennt.

Aber vielleicht gibt es noch einen von diesen allen verschiedenen Weg der Forschung. Nämlich wir haben zumindest noch die Naturwissenschaft selbst nach dem Grund und Recht jener ihr eigentümlichen Ordnungsweise der Erscheinungen, welche die Natur als Objekt unserer Erkenntnis erst hervorbringt, und nach dem Grund und Recht der fundamentalen Begriffe, Grundsätze und Methoden, mittels deren sie diese Ordnung gewinnt, zu befragen; zu denen als einer der obersten der Begriff der Ursache, der Grundsatz der Kausalität aller Naturerscheinungen, und die Methoden gehören, nach welchen diese Kausalität erforscht wird. Diese Frage kann nicht wiederum eine Frage der Naturwissenschaft sein; es läßt sich darauf nicht antworten durch die wiederum ursächliche Erkenntnis, welche Not etwa oder welcher sonstige Anreiz den Menschen treib nach Ursachen zu forschen. Dabei würde ja eben das, wonach gefragt ist, die Verursachung überhaupt, fortwährend vorausgesetzt. Es ist ebensowenig eine Frage der Psychologie, denn diese würde entweder nur Ursachen einer anderen Art für das Ursachdenken angeben können, oder sich gar darauf beschränken müssen, es als unser inneres Erlebnis lediglich aufzuweisen, worin überhaupt nichts von Begründung enthalten wäre. Sondern es wird notwendig, von der ganzen, sei es in bloß tatsächlicher Nachweisung oder ursächlicher Erklärung der Erscheinungen sich bewegenden Erkenntnis - wobei letztere stets naturwissenschaftlich ist, und es ihrem allgemeinen Charakter nach auch dann bleibt, wenn man sie Psychologie zu nennen vorzieht - gleichsam eine Stufe emporzusteigen und sie selbst, alle Erkenntnis von dieser Art, aus einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten, den wir den der Methode oder der Kritik nennen. Es ist ein Bewußtsein, welches nicht unmittelbar, sei es auf die Gegenstände der Natur oder auf die Erscheinungen des Bewußtseins geht; auch nicht auf jenes nackte Bewußt-sein, welches, für alle Erscheinungen unterschiedslos dasselbe und ohne eigenen Inhalt, eigentlich nur die Tatsache des Erscheinens in abstracto aussagt, daher überhaupt keinen Stoff zu irgendeiner besonderen wissenschaftlichen Frage oder Nachforschung bietet; sondern ein Bewußtsein, ausschließlich gerichtet auf die Einheit der Erkenntnis und ihre Bedingungen. Es ist, in der vorerst einzigen Beziehung auf naturwissenschaftliche und psychologische Erkenntnis, das logische Bewußtsein. In dessen reinen Gesetzen gründet sich erst die Gesetzlichkeit der Zeitordnung der Erscheinungen, d. h. die Kausalität; also können nicht umgekehrt die logischen von kausalen Gesetzen irgendwelcher Art abhängen.

Ist aber auf einem solchen Weg sogar die Begründung für den Ursachbegriff erst zu suchen, so kann man hoffen, im Verfolgen desselben Weges etwa auch zum Ursprung des Zweckbegriffs zu gelangen. Denn soviel ist nach allem schon klar, daß dieser auf demselben allgemeinen Boden wie jener, gleichsam an seinen Grenzen gesucht werden muß.

Doch scheint vorerst dieser neue Weg der Forschung selbst noch der Sicherung bedürftig. Denn die hier vorausgesetzte gänzliche Unabhängigkeit der kritischen Untersuchung nicht nur von der naturwissenschaftlichen, sondern auch von der psychologischen wird fortwährend bestritten. Die Erledigung dieser anscheinend bloß methodologischen Vorfrage wird uns unmittelbar an die Schwelle der Lösung unseres eigentlichen Problems führen.


§ 4.
Erkenntniskritik nicht Psychologie.

Gegen die Unterscheidung der Erkenntniskritik von der Psychologie, gegen die Ansicht überhaupt, daß die letzten Gesetze der Erkenntnis nicht Zeitgesetze, weder äußerer noch innerer Erscheinungen sind, pflegt eingewandt zu werden: Gesetze besagen überhaupt nichts anderes als allgemeine Tatsachen. Auch der Unterschied zwischen einem logischen, d. h. erkenntnismäßigen und unlogischen, erkenntniswidrigen Denken kann nur ein tatsächlicher sein, der von tatsächlichen Bedingungen abhängt. Gesetze von Tatsachen aber sind ursächliche Gesetze; also können auch die logischen Grundgesetze der Erkenntnis nur kausale Gesetze sein.

Welcher Art sollen denn diese die Logik erst begründenden kausalen Gesetze sein? Hier antwortet die eine Partei: es sind Naturgesetze wie alle sonstigen, und zwar biologische Gesetze (AVENARIUS und seine Schule); eine andere: es sind eigentümlich psychologische Gesetze (so besonders LIPPS).

Jene beweisen etwa, es ist im allgemeinen eher lebenfördernder, ökonomischer, in seinem Denken und besonders mit den Tatsachen eine Übereinstimmung zu suchen als nicht. Sie zeigen, welche relativen Vorteile das dem entsprechende, d. h. logische Denken zumindest unter gewissen allgemeinen, normalen Umständen bietet. Da nun lebende Wesen im allgemeinen, nämlich soweit sie können, das ihrer Erhaltung unter normalen Bedingungen Förderliche suchen, so wird also eine gewisse allgemeine Anpassung des unter hinlänglich günstigen Bedingungen sich entwickelnden menschlichen Denkens an die logischen Normen stattfinden. Unter anderen Bedingungen findet sich diese Anpassung tatsächlich nicht oder nur unvollkommen; man denkt eben unlogisch.

Wir wollen die ganze, ziemlich große Unbestimmtheit der Behauptung wie der Beweisführung nicht weiter bemängeln; wir fragen nur: ist das, was man so zu begründen glaubt, überhaupt der Sinn der logischen Gesetze? Stoßen wir uns auch daran nicht, daß man unterläßt, die fraglichen Gesetze von einem einleuchtenden Anfang in überzeugender Deduktion zu entwickeln, daß man sie vielmehr einfach als gegeben anzunehmen scheint, was wir nicht zugeben könnten; so besagen doch die Gesetze der Logik gar nicht, wie man im allgemeinen, unter normalen Umständen denkt, sehr oft aber auch nicht, sondern sie erklären ganz ohne eine einschränkende Bedinguing ein solches oder solches, bestimmten Forderungen genügendes Denken für richtig, entgegengesetzte für falsch; d. h. sie erklären, was so oder so gedacht ist, das allein ist, was anders gedacht wird, das ist nicht, und zwischen diesem sic et non [so und nicht so - wp] gilt kein Kompromiß, kein "unter Umständen" und "normalerweise", sondern einzig das Verhältnis der reinen Ausschließung.

Die Natur biologischer Gesetze läßt es auch nicht zu, daß diesem Mangel je abgeholfen werden, daß Gesetze von der Art der logischen jemals ihre Begründung auf biologischem Weg finden sollten.

Nicht annehmbarer ist für uns die zweite Ansicht. Ihr scheinbarer Vorzug ist, daß sie eine gewisse Selbständigkeit des Psychischen doch anerkennt; die logischen Gesetze sollen doch zumindest eigentümliche Gesetze des Bewußtseins sein, von denen umgekehrt alles Denken außerbewußter Dinge abhängt. Allein gibt es überhaupt eigentümliche kausale Gesetze psychischen Geschehens? Wir haben die Frage oben verneint. Wir würden uns, wenn einmal nach den ursächlichen Gesetzen des, gleichviel ob wahren oder falschen Denkens gefragt wird, eher noch auf die Seite des Biologen schlagen. Kausalität ist es überhaupt, welche den Begriff der Physis schafft, welche den Gegenstand der Naturwissenschaft erst konstituiert; wer das annimmt, wird nicht einräumen können, daß es andere als physische Ursachen gibt.

Aber die Frage der logischen Begründung ist eben wurzelhaft verschieden von der der Verursachung des Denkens. Es ist im Grunde eine ganz einfacht Begriffsverwechslung, die einem hier begegnet. Naturgesetze, sagt man, "begründen" Tatsachen welcher Art auch immer, also auch die Tatsachen des logischen wie des unlogischen Denkens; darunter versteht man: sie geben die zeitlichen Bedingungen unseres So-denkens an. Allein der Inhalt der Naturgesetze setzt den der logischen Gesetze vielmehr voraus, er wird durch sie in einem ganz anderen, eben dem logisch genannten Verhältnis, das mit der Zeit nichts zu tun hat, bedingt oder "begründet".

Dieselbe Zweideutigkeit kann sich hinter dem Wort Tatsache verbergen. Gesetze, sagt man, sind nur Allgemeinausdrücke für Tatsachen. Gewiß, jedes Gesetz sagt aus, was allgemein stattfindet; sofern man also jedes Stattfinden ohne Unterschied Tatsache nennt, ist jedes Gesetz eine allgemeine Aussage über Tatsachen. Es ist in diesem Sinn eine Tatsache, daß 2 x 2 = 4, und Tatsache, daß Widersprechendes nicht gleichermaßen wahr ist usw. Aber zu dem Schluß: "also sind alle Gesetze Ursachgesetze" gelangt man nicht durch diesen allgemeinsten Sinn der Tatsache, sondern durch das stillschweigend mitgedachte spezifische Merkmal zeitlicher Bestimmtheit. Ursachgesetze sind Zeitgesetze des Geschehens, und nur sofern man unter Tatsache, im auch zulässigen engeren Sinn des Wortes, ein Geschehen versteht, deckt sich "Gesetz von Tatsachen" und "ursächliches Gesetz". Aber daß 2 x 2 = 4, ist kein Geschehen in der Zeit, weder ein einzelnes noch ein allgemeines, sondern ein Stattfinden, das an gar keine Zeitbedingung gebunden ist oder sie irgendwie einschließt. Dasselbe gilt von den logischen Gesetzen; sie sind keine Zeitgesetze, folglich kein ursächlichen Gesetze, weder physische noch psychische, oder in solchen begründet, sondern von einer fundamentaleren Ordnung; denn das ursächliche Gesetz ist vielmehr dem logischen, ebenso wie dem mathematischen, unterworfen, nicht das logische, das mathematische dem ursächlichen.

Hiergegen wird man vielleicht noch einwenden: Sätze wie 2 x 2 = 4 oder das A = A der Logiker, enthalten zwar unmittelbar keine Aussage über Tatsachen im zeitlichen Sinn, aber, wenn sie sich nicht schließlich doch auf solche zurückbezögen, wären sie ohne alle Anwendung auf Wirkliches, mithin ohne wahren Erkenntniswert. Denn nur Tatsachen sind wirklich. Der Satz 2 x 2 = 4 besagt, vollständig ausgedacht: allemal wann etwas in zeitlicher Wirklichkeit 2 x 2 ist, eben dann ist es auch 4. Der Satz gilt unterschiedslos in aller Zeit, darum braucht keine Zeitbestimmung in seinen allgemeinen Ausdruck aufgenommen zu werden; sie ist aber darum doch hinzuzudenken, nämlich in jedem Fall der Anwendung. Ohne Anwendung aber ist ein Gesetz überhaupt nur eine Formel auf dem Papier.

Darauf ist schlicht zu antworten: daß nach der logischen Abhängigkeit hier allein die Frage ist. Alle Möglichkeit von Zeitbestimmung aber hängt logisch ab von den Gesetzen der Zahl und der Größe; also können nicht umgekehrt die Gesetze der Zahl und der Größe von einer Zeitbestimmung, im gleichen logischen Verhältnis, abhängen; das wäre widersinnig. Und noch widersinniger - wenn es möglich wäre, daß etwas falscher als falsch ist - würde es sein, die logischen Grundgesetze von einer Zeitbestimmung abhängig zu denken, auch nur von einer Zeitbestimmung überhaupt. Denn die Möglichkeit der Zeitbestimmung wie jeder anderen Bestimmung hängt vielmehr ab von der Möglichkeit, überhaupt etwas zu bestimmen, d. h. A = A oder richtiger: überhaupt einen Inhalt A als identischen zu setzen, was bekanntlich das erste logische Grundgesetz ist.

Wird man nun noch entgegnen: diese Setzung, als ein Gedanke, setzt doch zumindest eine zeitliche Tatsache, nämlich die des jedesmaligen Denkens voraus? Als besagt z. B. der Satz des Widerspruchs, daß widersprechende Gedanken sich im tatsächlichen Denken, unter gewissen normalen Bedingungen, allemal wirklich ausschließen, d. h. gegenseitig tot machen; oder das logische Verhältnis von Grund und Folge, daß ein Gedanke den andern im tatsächlichen Denken, wiederum unter gewissen näher zu bestimmenden Umständen, allemal wirklich nach sich zieht?

Das hieße unsere ganze Beweisführung nicht verstanden haben. Dennoch sei darauf noch so viel geantwortet: es hat bisher noch keiner die Bedingungen anders als tautologisch anzugeben vermocht, unter denen im wirklichen Denkverlauf Widersprüche ausgeschlossen sind, oder gar die Folgen des je Gedachten unfehlbar erkannt werden. Gewiß, unter genau gleichen Bedingungen wird allzeit genau das Gleiche, nämlich entweder logisches oder unlogisches Denken erfolgen. Allein dawider gälte unser erster Einwand: der Inhalt eines logischen Satzes ist nicht, daß unter derlei Bedingungen Gedanken sich so, unter anderen anders verbinden, sondern daß, ohne jede einschränkende Bedingung, gewisse Gedankenverbinden wahr, davon abweichende falsch sind. Diese Unbedingtheit der logischen Gesetze würde fraglich werden, wenn die daraus bedingte zeitliche Gesetzlichkeit des Vorstellungslaufs für die logischen Gesetze einstehen sollte.

Aber gerade bei diesen Ausdrücken, "wahr" und "falsch", glaubt man vielleicht uns von einer anderen Seite zu fassen. Nämlich meint man, das besagt: seinsollend und nichtseinsollend; d. h. die logischen Gesetze würden zu normativen, also teleologischen Gesetzen gemacht. Und indem man allgemein nur diese Ansicht als möglichen Gegensatz der kausalen voraussetzt, glaubt man die letztere zu stützen durch jedes Argument, welches einen Fehler der teleologischen Auffassung aufdeckt, oder nachweist, daß diese im Grunde doch kausal ist.

Allein man muß nicht, indem man der Scylla der kausalen Auffassung zu entrinnen sucht, in die Charybdis der teleologischen geraten. Logische Gesetze sagen, nach unserer Behauptung, ebensowenig, wie man tatsächlich unter diesen oder jenen Umständen denkt, als, wie man denken soll; sondern sie sagen: wenn man so oder so denkt - ob man es tut oder tun sollte, davon ist gar nicht die Frage - so denkt man Wahres, d. h. was ist, andernfalls Falsches, d. h. was nicht ist. Und worin gründet die Gewißheit dieses Seins und Nichtseins? Nicht im tatsächlichen So-denken oder dessen tatsächlichen Bedingungen, noch in der Folgsamkeit gegen ein normatives Gesetz, wie man denken soll; sondern rein am Inhalt des Gedachten muß dieses Sein und Nichtsein eingesehen werden können, überhaupt ohne Rücksicht auf das Denkgeschehen oder den Denkvollzug, sei es den wirklichen oder den geforderten.

Man nennt doch etwas Einsehen. Um aber einen Gedanken einzusehen, hat man überhaupt nicht außerhalb seines Inhalts, weder nach den Ursachen des bezüglichen Denkgeschehens oder Denkvollzugs, noch nach einem dabei leitenden bewußten oder unbewußten Zweck, noch etwa nach einem begleitenden Gefühl von Gewißheit oder nach irgend sonst etwas in der Welt auszuspähen, sondern einzig die Sache, um die es sich handelt, d. h. den Inhalt des Gedachten ins Auge zu fassen, um unmittelbar gleichsam zu sehen, es ist so oder ist nicht so. A ist nicht = non-A, d. h. es ist nicht, es findet unter keinen Umständen statt, daß in einem Inhalt eines Gedankens Widersprechendes geeint wäre; Widerspruch hebt, nicht das Denkgeschen, aber die Einheit des Denkinhalts und damit jeden Sinn einer Aussage "es ist" auf. Oder, wenn A = B und B = C, so ist A = C; ich kann sehr wohl die Vordersätze denken, ohne daß sich die Folgerung in meinem Denken tatsächlich daran knüpft; es ist auch nicht der Fall, daß ich sie unter allen Umständen daran knüpfen sollte; ich habe die Folgerung im augenblicklichen Zusammenhang meines Denkens vielleicht nicht nötig, oder ich kann die Gleichheit von A und C auch direkt einsehen, ohne des Umwegs über B zu bedürfen; allein, wenn das Eine, so ist auch das Andere, und dies sehe ich ein, indem ich nichts als die zu vergleichenden Termini und deren dadurch zugleich gegebene Relationen vor Augen habe, ohne irgendwie an den sei es tatsächlichen oder seinsollenden Verlauf oder Vollzuug eines entsprechenden Denkens dabei denken zu müssen.

Um das zu leugnen, müßte man schließlich in Abrede stellen, daß man sich überhaupt einen Denkinhalt zu Bewußtsein bringen kann, ohne zugleich über das Denkgeschehen etwas voraussetzen zu müssen. Das wäre jedoch eine sehr wunderliche Ansicht, denn das Denkgeschehen wäre dann ja wiederum ein Denkinhalt, und von diesem würde, der These zufolge, dasselbe gelten wie vom ersten, d. h. es müßte wiederum dessen Denken hinzugedacht werden uns so ins Unendliche. Kann ich aber überhaupt einen Inhalt denken, ohne das Denken dieses Inhalts auch mitdenken zu müssen, so ist nicht einzusehen, weshalb ich es nicht von Anfang an könnte. Jene Ansicht macht den Mathematiker, den Physiker, den Forscher jenes Fachs, ja jeden, der überhaupt irgendetwas denkt, zum unbewußten Psychologen. Aber das ist doch eine extravagante Annahme, daß man beim Denken niemals die Sache, um die es sich jedesmal handelt, sollte vor Augen haben können, ohne zugleich das Denken dieser Sache, und folgerecht das Denken dieses Denkens und so in infinitum hinzuzudenken. Selbst wenn das wäre, so ist doch hoffentlich die Sache auch im Gedanken; kann ich nun zeigen, daß sie allein genügt, die logischen Verhältnisse daran einzusehen, so gehen mich, sofern es sich eben um die Einsicht dieser Verhältnisse handelt, alle jene neben der Sache hergehenden Gedanken, die nun existieren mögen oder nicht, überhaupt gar nichts an.

Am Inhalt aber sind das, was die logischen Gesetze ins Auge fassen, die allgemeinen Relationen eines jeden Inhalts. Logisches Denken ist Denken unter der Bedingung der Einstimmigkeit oder des durchgängigen Zusammenhangs des Gedachten, d. h. dasjenige Denken, in welchem das einzelne Gedachte zugleich mit seinen Relationen zu allem andern, wozu es eben in Relation steht, gedacht wird. Die möglichen Relationen des Gedachten systematisch zu entwickeln, ist die ganze, dem Begriff nach einfache, in der Ausführung sehr zusammengesetzte Aufgabe der Logik, allgemein der Erkenntniskritik. Darin sind die Fundamente des mathematischen wie des kausalen Denkens zugleich enthalten. Dagegen das, was man zum ersten, Allbegründenden hat machen wollen: die Wirklichkeit der Tatsache, ist vielmehr erst das Letzte, worauf, insofern es sich um eine theoretische Erkenntnis handelt, dies alles schließlich abzielt: es ist das Bedingteste, Abhängigste von allem, also die allerschlechteste Grundlage, die man nur wählen könnte zur Ableitung der logischen oder irgendwelcher anderen allgemeinen Gesetzlichkeit der Erkenntnis.

Was ist aber mit all dem für unsere Absicht gewonnen? Ich denke, ein Großes; nämlich, daß wir ein für alle mal befreit sind von der alles verengenden Auffassung, daß man nichts, als was durch die Zeit bedingt ist, zu denken vermag. Vielmehr zeigt sich alles Denken, das der Bedingung der Zeit unterliegt, abhängig von dem, welches den Bestand von Relationen unter Inhalten frei von Zeitbedingungen ins Aufge faßt, von welcher Art das logische und das mathematische Denken ist. Also das an keine Zeitbedingung sich bindende Denken ist das ursprüngliche, das Zeitdenken ist das abgeleitete. Der eigene Blickpunkt des denkenden Bewußtseins - und nur ein denkendes Bewußtsein ist ein Bewußtsein im Vollsinn des Wortes - ist die Einheit, jene Einheit, in der das zeitlich Mannigfaltige eben dann sich vereinigt, wenn der Gedanke sich nicht länger in die Mannigfaltigkeit des Zeitlichen zerstreut, sondern in sich selbst, damit zugleich aber das ansich zerstreute Mannigfaltige seines Inhalts in sich, und so erst in einem wahren Inhalt, sammelt und zusammenfaßt.

Das wird vielleicht am unmittelbarsten klar am Zeitbewußtsein selbst. Die Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] des Bewußtseins erklärt nicht das Bewußtsein der Sukzession. Könnte ich nicht in einem Moment 2 das Bewußtsein eines vorausgegangenen Moments 1 und eines nachfolgenden 3 haben, so wäre gar kein Bewußtsein eines Nicht-Jetzt möglich; dann aber auch kein Bewußtsein des Jetzt, denn dieses wird überhaupt nur gedacht als die ewig fließende Grenze der beiden Nicht-Jetzt, des Früher und Später. Also das Bewußtsein zerstreut oder zerteilt sich nicht in die Momente der Zeit - auch vom Bewußtsein der Zeit selbst gilt dies -, sondern vielmehr die Momente der Zeit, die doch in der Existenz ausschließen sollen, vereinen sich zu der einen, zusammenhängenden Zeit nur in einem übergreifenden Blick, in einer weil ursprünglichen Einheit des Bewußtseins.

Hiermit ist nun ein Begriff des Bewußtseins erreicht, der von dem zuvor erwogenen, psychologischen Begriff grundverschieden ist. Unter diesem wurde immer noch das Bewußtsein selbst aus den zeitlich verschiedenen Momenten des Bewußtseins wie aus Atomen sich zusammensetzend gedacht, als als selbst in der Zeit ansich zerstreut, allenfalls erst hinterher auf unbegreifliche Art sich sammelnd: weil wir dem Empirismus den verkehrten Ausgang vom zeitlichen Geschehen einstweilen zugestanden. Von diesem Ausgang war freilich zum Bewußtsein nur so zu gelangen, daß man sich besann, das zeitlich Vorgestellte setzt, als vorgestellt, ein, daher ebenfalls zeitlich gedachtes, Vorstellen voraus. So setzt man der Zeitfolge im Inhalt des Gedachten eine Zeitfolge von Bewußtseinsmomenten gegenüber, und erhält damit jene wahrheits- und zweckwidrige Verdopplung des Geschehens, als einerseits physischen, anderersetis psychischen, und damit die doppelte Form der Wissenschaft, als Naturwissenschaft und Psychologie. Stattdessen kennen wir nur dieses Zweierlei: Zeitbewußtsein und überzeitliches Bewußtsein. Bewußtsein ist Einheit des Mannigfaltigen, Identität des zugleich Zu-unterscheidenden. Aber die Einheit, die Identität drückt ursprünglicher das Bewußtsein selbst, die Mannigfaltigkeit d. h. Mehrheit und Verschiedenheit sein Gegenüber, seinen allgemeinen Gegenstand, die Erscheinung aus. Der wahre Ausgang der Erkenntnis ist aber von jenem und nicht von diesem; nur hatten wir auf diesen wahren Ausgang uns erst zu besinnen, und diese Besinnung, die noch nicht Erkenntnis war, sondern erst den Zugang zu ihr suchte, ging naturgemäß von der Beobachtung des Mannigfaltigen, von der Erfahrung aus. Das sagt zuletzt das kantische Wort: daß Erfahrung der Anfang, aber nicht der Ursprung der Erkenntnis ist.

Nichts weiter als die Besinnung auf diesen Ursprung ist aber erforderlich, um zur Idee zu gelangen. Sie besagt schließlich nichts anderes als die bloß gedachte letzte Einheit, den letzten, eigensten Blickpunkt der Erkenntnis. So wird verständlich, inwiefern die Idee überzeitlich, über Natur und selbst Mathematik hinaus, nämlich fundamentaler ist als dies alles. Die Bedeutung des Zieles, des Gesollten, also nicht Wirklichen, erhält sie erst im Rückblick auf die Wirklichkeit der Erfahrung; ursprünglich ist sie nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt, nicht das Ende, sondern der wahrste Anfang, nämlich Ursprung: das Prinzip. Also war die teleologische Auffassung der letzten Gesetze der Erkenntnis doch nicht ganz auf falscher Fährte. Sie irrt zwar darin, daß sie den Zweck, das Sollen, zur Voraussetzung auch des logischen Seins macht. Das letzte Sein, das der Idee, begrüngdet vielmehr erst das Sollen, nämlich in der praktischen Erkenntnis. Aber der Inhalt der Idee ist allerdings eins mit dem des Sollens, nämlich Einheit, Einheit unbedingt. Daher begreift sich, weshalb die letzten Erkenntnisgesetze so gern den Ausdruck des Sollens auch da annehmen, wo es sich nicht um eine praktische Erkenntnis handelt.

Um von dem nun erreichten Punkt zum Ziel dieser ganzen Betrachtung zu gelangen, ist es nur noch erfoderlich, diesen in sich einfachen Sinn der Idee in einerseits theoretischer, andererseits praktischer Richtung zu entwickeln und damit die Grenzen der beiden Welten des Bewußtseins, der Welten der theoretischen und praktischen Erkenntnis, der Welten des Intellekts und des Willens, festzusetzen.
LITERATUR - Paul Natorp, Sozialpädagogik,Stuttgart 1899