J. BaumannA. StorchC. M. GießlerG. KerschensteinerJ. Bahnsen | |||||
Charakterbildung
Ein Jahrhundert ist vorüber. Mancher Zukunftstraum von der Größe des deutschen Volkes ist in Erfüllung gegangen. Aber - können wir heute FICHTEs kühnes Wort ohne ein gewisses Gefühl der Beschönigung hören? Möchten wir es wagen, Charakter haben und deutsch sein für gleichbedeutend auszugeben? Läßt sich nicht vielmehr in weiten Kreisen die Klage hören, daß es uns an willensstarken, selbständigen und in sich gefestigten Charakteren gerade fehlt, daß sich auf allen Gebieten und in allen Ständen Charakterlosigkeit breit macht? Wir mögen dieser Klage zustimmen; wollen wir aber gerecht und billig urteilen, so müssen wir zugleich zugestehen, daß dem modernen Menschen, der sich als Charakter bewähren soll, eine ganz andere, eine wesentlich schwierigere Aufgabe gestellt ist, als dem Menschen früherer Zeiten. Jene gleichmäßige Festigkeit und Folgerichtigkeit des Wollens und Handels, an die wir in erster Linie beim Wort "Charakter" denken, ist da wie von selbst gegeben, woe eine überlieferte Weltanschauung oder eine alles beherrschende soziale Ordnung dem Einzelnen die Ziele seines Handelns bestimmt. So war es im klassischen Altertum der Staat, der dem einzelnen als Bürger des Gemeinwesens - je kleiner es war, wie im griechischen "Stadtstaat", umso unmittelbarer und vollständiger - seine Lebensaufgabe in allen wichtigen Beziehungen umgrenzte. So war es im Mittelalter die Standessitte, die den Einzelnen als Ritter, Geistlichen, Bürger, Bauern mit ihren festen Formen umfing, und die alles überragende Macht der Kirche, welche durch ihre Dogmen den Sinn und durch ihre Vorschriften die Formen seines Lebens bestimmte. Die beginnende Neuzeit machte den Menschen - zumindest grundsätzlich - frei von den überlieferten Formen, und die Wiedererneuerung des klassischen Altertums brachte, zuerst auf italienischem Boden, die Entfaltung der freien Individualität.
Ist daher etwas zeitgemäß, so ist es die Frage der Charakterbildung. Zur Klärung derselben werden wir zunächst feststellen müssen, was Charakter heißt. Daran schließt sich von selbst die Frage nach der Entstehung und sodann die nach der Erziehung des Charakters. Diese drei Punkte entsprechen zugleich völlig dem mehrfachen Sinn, in welchem wir das Wort "Charakterbildung" gebrauchen, Wir verstehen darunter erstens das Ergebnis, den gebildeten Charakter selbst, dessen Wesen wir zu erkennen suchen, zweitens den Vorgang, in welchem sich der Charakter bildet und den wir uns in der Regel nach der Analogie des Wachstums des Organischen, etwa der Pflanzen vorstellen; schließlich drittens die Tätigkeit, durch welche der Charakter gebildet wird, und deren Bezeichnung "bilden" der plastischen Kunst entnommen ist, die einen gegebenen Stoff zum Kunstwerk formt. Das Wesen des Charakters I. Charakter in allgemeiner Bedeutung Das griechische Wort "charakter" bezeichnet ursprünglich ein Werkzeug zum Eingraben, Einschneiden, Einprägen, und dann das Eingegrabene selbst, das Eingeschnittene, das Gepräge, z. B. Schrift oder Figuren, die in Stein, Metall oder Holz eingegraben sind. Die von hier ausgehende Bedeutung von Kennzeichen, Merkmal, durch welche eine Person oder Sache erkannt und von andern unterschieden werden kann, läßt sich bis zur Gegenwart verfolgen. Im Mittelalter ist von einem "unverlierbaren Charakter" die Rede als einem geistigen Zeichen, das der Seele durch gewisse Sakramente, durch Taufe, Firmung, Priesterweihe eingeprägt wird. Der Sprachgebrauch der Neuzeit bezieht es auf Rang und Würde, durch welche sich eine Person von Personen anderen Rangs unterscheidet. Dabei tritt die Bedeutung "Merkzeichen" insofern noch besonders hervor, als das Wort da mit Vorliebe angewendet wird, wo, wie z. B. beim "charakterisierten Major" oder "charakterisierten Professor", der äußere Titel oder Rang bezeichnet werden soll, im Unterschied von denen, welche die genannte Stellung wirklich inne haben. Außerdem kehrt der Sprachgebrauch der Gegenwart in der Verwendung des Wortes "Charaktere" für Schriftzeichen zur ursprünglichen Bedeutung zurück. Von "Charakter" als Merkzeichen ist kein weiter Weg zum "Charakter" im Sinne der Eigenart, des Sondergepräges überhaupt als der Gesamtheit der individuellen Merkmale, durch welche eine Person oder Sache sich von anderen unterscheidet. So sprechen wir vom Charakter einer Landschaft, eines Gebirges, einer Stadt. eines Zeitalters. "Charakteristisch" ist dann das, was dieses Sondergepräge besonders hervortreten läßt, und "charakterisieren heißt einen Gegenstand nach dieser seiner individuellen Eigenart beschreiben und darstellen. Das "Charakteristische" in diesem Sinne ist ein Lieblingswort der modernen Kunst geworden, und ist in einem gewissen Gegensatz zum Schönen getreten. Das Streben, ein Ideal-Schönes in der vollkommenen Harmonie seiner Formen darzustellen, schien auf Kosten der Naturwahrheit zu gehen. Demgegenüber suchte der Naturalismus in der Pflege des "Charakteristischen" der Wirklichkeit ihr Recht zu verschaffen. Um zu zeigen, daß es nur darauf ankommt, die individuelle Eigenart, wie sie ist, zur Geltung kommen zu lassen, wählte man mit Vorliebe gerade das Unschöne, das Kümmerliche, das Trostlose, das Krankhafte, das Rohe, das Gemeine zum Gegenstand der Darstellung. Das "Charakteristische" trat als Häßliches an die Stelle des Schönen. Besonders stark empfanden dies die Anhänger des Alten, wenn ein ehrwürdiger Inhalt, den man im Licht der Verklärung durch die Kunst zu schauen gewohnt war, nun im Gewand der alltäglichen Wirklichkeit erschien, wenn z. B. FRITZ von UHDE Gestalten der Bibel in ein Bauerndasein der Gegenwart versetzte (2). Doch wie man darüber auch urteilen mag, eins ist gewiß: Dieser auch von der Seite der Naturwissenschaft her geschärfte Wirklichkeitssinn, er hat etwas auch für unsere Frage, wie wir sehen werden, außerordentlich Wichtiges, erst zur vollen Geltung gebracht, den Sinn für die individuelle Eigenart der Menschen und der Dinge und für die besonderen Probleme, die sich aus der Rücksicht auf sie ergeben. Man braucht nur an große Realisten wie LEO TOLSTOI und HENRIK IBSEN zu denken, um zu erkennen, wie fruchtbar an neuen Anregungen diese Betrachtungsweise für die wirkliche Erfassung der Lebensprobleme werden kann. Damit ist bereits der Weg gebahnt zu einer dritten allgemeinen Bedeutung des Wortes Charakter, die mit der zuletzt genannten eng zusammenhängend, im Grunde nichts anderes ist, als eine Einschränkung derselben auf die geistige Eigenart des Menschen. Eine vorzügliche Charakterschilderung dieser Art finden wir bereits im Altertum. THEOPHRAST, der Schüler des ARISTOTELES und sein Nachfolger im Lehramt, zeichnet in seinen "Charakteren", deren Abfassung wahrscheinlich in das Jahr 319 fällt (3), eine Anzahl - im ganzen dreißig - individueller Typen seiner Zeit. Die mit großer Naturwahrheit und Feinheit der Beobachtung ausgeführten Charakterbilder (4) sind zugleich von hervorragendem Kulturgeschichtlichem Wert und das interessanteste Zeugnis dafür, wie das klassische Altertum geistige Eigenart auffaßte und zur Darstellung brachte. Es ist der Mühe wert, dies am Beispiel eines dieser "Charaktere" anschaulich zu machen, etwa an demjenigen des "Schmeichlers" dessen Kennzeichnung durch die Zeitverhältnisse, durch das höfische Wesen in Mazedonien und die Lage der Athener unter den Nachfolgern ALEXANDERs des Großen nahe gelegt war:
Kein Wunder, daß diese Schrift THEOPHRASTs für die ganze Folgezeit, soweit sie sich mit der Frage der menschlichen Charaktere beschäftigte, maßgebend geworden ist. Die bedeutendste Übersetzung derselben in die französische Sprache wurde zugleich zum hervorragendsten Werk der neueren Literatur über Charakterzeichnung. Das Buch von La BRUYÈRE, "Les charactéres de Théophraste avec les charactéres ou les moeurs de ce siécle", zuerst 1688, dann in immer neuen Auflagen erschienen, enthält nicht bloß die Übersetzung von THEOPHRASTs "Charakteren", sondern auch eine größere Zahl von Charakterbildern aus jener Zeit des zuende gehenden 17. Jahrhunderts, die ebenfalls durch scharfe Beobachtung, durch Witz und Satire sich auszeichnen. Ihre Naturwahrheit veranlaßte eine ganze Flut von Schriften, "Schlüssel", welche die Originale zu den Charakteren in bestimmten Zeitgenossen erkannt zu haben behaupteten; und der Verfasser wußte sich nur dadurch ihrer zu erwehren, daß er auf die große Mannigfaltigkeit der Auslegungen hinwies. (6) Die Blütezeit der "Charakter"zeichnung und "Charakter"forschung war aber das 18. Jahrhundert, jene Zeit der empfindsamen Beschäftigung mit dem Seelenleben, "die Zeit der Tagebücher, die Zeit der Freundschaften und der Briefwechsel." (7) GELLERT schildert "moralische Charaktere", wobei das Wort "moralisch" nicht in dem uns geläufigen Sinn zu verstehen ist, sondern im Anschluß an das "ethisch" der philosophischen Schulsprache den Begriff Charakter eben auf unsere Bedeutung: geistige Eigenart einschränkt. Er zeichnet z. B. den "Mann mit einem Laster und den vielen Tugenden", den "schwermütigen Tugendhaften", den Charakter eines feinen Verleumders, den "stolzen Demütigen". (8) Dabei ist bemerkenswert, daß ein Nebensinn des Wortes immer mehr hervortritt. "Charakter" heißt nicht bloß geistige Eigenart, Sondergepräge einer Person, sondern auch die Darstellung selbst, die Zeichnung derselben. Dahin gehört die im 18. Jahrhundert sehr gebräuchliche Redensart "von einem den Charakter machen" (aus dem französischen faire le charactére de quelqun) oder auch "entwerfen" d. h. zeichnen. In GELLERTs "Betschwester" im 2. Auftritt des ersten Aufzugs bittet Ferdinand Lorchen, ihr von seiner "Frau Muhme" ein Bild zu machen: "Sie leben schon ein Jahr in ihrem Haus und müssen mir die beste Beschreibung von ihr machen können ... machen sie mit doch einen kleinen Charakter von ihr." Und Frau von STEIN sagt einmal: "Ich finde es sehr schwer, eines Menschen Charakter zu machen." Auch die vielen "moralischen Wochenschriften" des Jahrhunderts liefern ihren Lesern "moralische Charaktere". RABENER sagt im Vorbericht zu seinen Satiren, in welchem er vom Mißbrauch der Satire rede: "Es ist wahr, für den Verfasser ist es sehr vorteilhaft, wenn man an zehn Orten zugleich den Toren findet, den er auf seiner Stube geschildert hat! Man gesteht dadurch, daß seine Charaktere sehr allgemein, und die Torheiten nach dem Leben gezeichnet sind."
Von der anderen Seite her wurde in neuester Zeit das Interesse für den "Charakter" in unserem Sinne verstärkt. Man erkannte mehr und mehr die Abhängigkeit der Handlungsweise eines Menschen von seinem "Charakter" und die Bedeutung, welche diese Frage für die Psychologie, für die Pädagogik, für die Rechtspflege hat. Ist das Handeln des Menschen, das der Psychologie verstehen, auf das der Erzieher einwirken, das der Richter vom Standpunkt des Gesetzes beurteilen will, ein einfacher Ausfluß seiner seelischen Eigenart, so hängt alles an der Frage, was es mit diesem seinem "Charakter" auf sich hat und inwieweit er dafür verantwortlich gemacht werden kann. So begegnen wir in der modernen Literatur dem Wort "Charakter" sehr vielfach in dieser dritten allgemeinen Bedeutung. Auch die Wissenchaft hat sich derselben bemächtigt, indem sie die Wissenschaft von der individuellen Seele als solcher als "Charakterologie" bezeichnet. Nur die im 18. Jahrhundert ziemlich allgemeine Nebenbedeutung: Beschreibung der seelischen Eigenart ist weggefallen. Meinen wir dies, so reden wir nicht bloß vom Charakter, sondern von Charakterzeichnung. Die nähere Überlegung zeigt nun aber sofort, daß wir beim Wort "Charakterbildung" nicht nur an eine jener allgemeinen Bedeutungen des Wortes denken, sondern daß damit in der Regel etwas Bestimmteres gemeint sein muß. Dies wird uns sogleich deutlich, wenn wir etwa von der Redensart "Der Mann hat Charakter" Rechenschaft zu geben suchen. Denn damit wollen wir ja doch diesem Mann etwas zuschreiben, was andere nicht haben, während doch Charakter in der allgemeinen Bedeutung als Eigenart überhaupt oder geistige Eigenart jedermann zukommt. Worin besteht dieser "Charakter" im engeren Sinne? Bleiben wir einmal bei jener Redensart und stellen die einfache Frage: woran erkennen wir denn, daß ein Mensch Charakter hat? Die erste Antwort wird lauten: an seinen Handlungen. Wir nennen etwa den Menschen "charakterlos", der alle seine sonstigen Grundsätze preisgibt in dem Augenblick, in welchem er die Möglichkeit hat, durch irgendeine Schmeichelei einem Vorgesetzten zu gefallen. Aber ist dieser Maßstab unbedingt sicher? WILHELM TELL begeht einen Mord, wir werden ihn aber deshalb doch nicht als schlechten Charakter bezeichnen. Wir sehen, wir können bei diesem Maßstab nicht stehen bleiben. Wir müssen tiefer gehen. Wir müssen nach den seelischen Vorgängen fragen, aus welchen die Handlung entspringt. Das ist aber nichts anderes als der Wille. Auf den Willen kommt es an. Niemand hat uns dies eindringlicher zu Bewußtsein gebracht als KANT, in den Worten, mit welchen er seine "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" eröffnet:
Versuchen wir also dem eigentlichen Kern dessen, was man "Charakter" nennt, wiederum einen Schritt näher zu kommen, so würde es sich darum handeln, festzustellen, welche Eigenschaften des Willens dabei in Betracht zu ziehen sind. Wir achten zu diesem Zweck auf einen doppelten Sprachgebrauch, der uns bereits begegnet ist. Wir gebrauchen die Wendung: "der hat Charakter." Wir sagen aber auch von einem Menschen: er hat einen guten, oder er hat einen schlechten Charakter. Wir werden zwar häufig auch im ersteren Fall von einem "guten Charakter" reden wollen. Es liegt dies aber keineswegs immer im Sinne jener Redewendung. Es ist klar, daß, wer überhaupt "Charakter", auch einen "schlechten Charakter haben kann". Die Richtung des Charakters wird erst durch "gut" oder "schlecht" näher bezeichnet, die bloße Form durch sie erst mit Inhalt gefüllt. Wir können beide als als "formalen" und "materialen" Charakter bezeichnen. Im ersteren Fall handelt es sich um Formeigenschaften des Wollens, im letzteren Fall um inhaltliche Eigenschaften oder Richtungen des Wollens. Zur Feststellung des formalen Charakters werden also Formeigenschaften des Willens zu ermitteln sein, welche dessen Bestandteile bilden. Die hervorstechendste derselben ist die Konsequenz des Wollens. "Der Mann von Grundsätzen", sagt KANT (12) "von dem man sicher weiß, wessen man sich, nicht etwa von seinem Instinkt, sondern von seinem Willen zu versehen hat, hat einen Charakter." Für die Praxis des Lebens ist das wesentliche Merkmal des charaktervollen Menschen, daß man sich auf ihn verlassen kann. Dies ist aber nur möglich, weil sich bestimmte Formen des Wollens und Handelns bei ihm ausgebildet haben, auf deren Wirksamkeit man unter allen Umständen und unter allen wechselnden Einflüssen rechnen kann. Je verwickelter eine Kultur wird, desto vielseitiger sind die Einflüsse, welche auf den Menschen einwirken, und desto wechselnder sind die Bedingungen, unter denen er als Wollender und Handelnder sich zu betätigen hat. In der Anpassung an diese Bedingungen liegt eine Gefahr für die Konsequenz seines Wollens. Der "Charakter" überwindet diese Gefahr, indem er sich allen diesen wechselnden äußeren Einflüssen gegenüber behauptet. Von noch größerer Bedeutung ist aber die Konsequenz des Wollens gegenüber dem Wechsel der inneren Bedingungen, welche das Handeln des Menschen beeinflussen. Durch die Gefühle der Lust und der Unlust erhalten die Beweggründe des Handelns ihre motivierende Kraft. So ist es begreiflich, daß die augenblickliche Gefühlslage, das was man "Stimmung" nennt, einen großen Einfluß auf das Handeln ausübt. Wir kennen den jungen Menschen, der sich vorgenommen hat, zu arbeiten, und der gerade jetzt arbeiten sollte: er ist gerade jetzt "nicht in der Stimmung" und so unterläßt er es. Wir kennen auch jene künstlerisch veranlagten Naturen, die völlig ihrer Stimmung leben, denen es zur Harmonie des Daseins zu gehören scheint, jeder Stimmung des Augenblicks zu gehorchen, womöglich auch das eigene Äußere und die Umwelt ihr möglichst anzupassen. Dieses vorwiegend ästhetische Bedürfnis kann sich zu einem Leben in Stimmungen steigern, dessen weichliches Sichgehenlassen jede Konsequenz des Wollens aufhebt. Ein Kaleidoskop der Stimmungen tritt anstelle des Charakters. Man wird nicht allzuweit fehlgehen, wenn man diese Gefahr als eine dem Typus des modernen Menschen besonders naheliegende betrachtet. Dabei ist die Kunst nicht ohne Einfluß gewesen. Es gibt eine Art der Freilichtmalerei der Stimmung, und es gibt eine Poesie, welche die Wiedergabe von Stimmungen als ihre höchste Aufgabe betrachtet. Für die Lyrik liegt ja diese Auffassung nahe. Aber jenes Streben kann so weit gehen, daß in diesem uferlosen Meer der Stimmungen das jeder Kunst unentbehrliche Anschauungsmaterial, die Zeichnung des Geschauten, die deutlichen Umrisse der Dinge, der Welt und des Lebens völlig verfließen. Dies macht sich dann vollends ungünstig geltend, wenn ein Wollen und Handeln den Gegenstand der künstlerischen Darstellung bildet, wenn im Drama das Lyrisch-Stimmungsmäßige allzuseh hervortritt. Ist es wohl ein Zufall, daß derjenige Dichter, den viele für den ersten deutschen Dramatiker unserer Zeit halten, daß GERHART HAUPTMANN in seinen Dramen alle Vorzüge des lyrischen Dichters zeigt, während die volle Kraft und Wucht des großen Dramatikers ihm versagt bleibt? In der Tat, man möchte manchem unter den Begabtesten unseres Geschlechts etwas von der Größe des Charakters wünschen, welche dem Willensgewaltigsten unserer Dichter eigen war, demjenigen von dem GOETHE in jenem schönsten aller Epiloge sagen konnte; "Ihr kanntet ihn, wie er mit Riesenschritten die Bahn des Wollens, des Vollbringens maß." Damit haben wir aber bereits eine zweite Eigenschaft des formalen Charakters genannt, die mit der ersten nahe zusammenhängt, die Kraft des Wollens. Konsequenz kann nur da sein, wo die Kraft vorhanden ist, die für die Gleichmäßigkeit des Wollens gefährlichen Einflüsse und Gegenwirkungen, zu überwinden. Wir messen die physische Kraft an den Widerständen, welche sie zu überwinden vermag. Und wir suchen ebenso die psychische Kraft des Wollens uns anschaulich zu machen an den Widerständen, denen gegenüber sie sich durchzusetzen vermag. Es kann sich dabei entweder um Widerstände handeln, die sich in einem Augenblick zu einer starken Gegenwirkung zusammenfinden, oder um eine große Zahl kleinerer Widerstände, die sich auf einen größeren Zeitraum verteilen. Im ersteren Fall äußert sich die Kraft des Wollens in der Tapferkeit, im zweiten Fall in der Beharrlichkeit. Tapferkeit ist allerdings in erster Linie eine Eigenschaft, die am Krieger gerühmt wird, weil sie im Kampf den Sieg erringen hilft. Sie ist daher die Haupttugend kriegerischer Völker. Sie ist im griechischen und römischen Sprachgebrauch geradezu die Tugend, Feigheit das Laster (13). Aber Tapferkeit ist ja nicht physische Stärke. Sie ist keine Niederkämpfung des Schwächeren durch den Stärkeren, sondern sie setzt voraus, daß den kämpfenden Personen oder Mächten gegenüberstehen, die eine Gefahr für sie bedeuten, und die Tapferkeit besteht nun eben darin, in der Geltendmachung der eigenen Willenskraft dieser Gefahr zu widerstehen. Der Tapfere wendet sich nicht zu feiger Flucht, stürzt sich aber auch nicht tollkühn in die Gefahr, sondern er gut genau das, was nötig ist, um den Sieg zu gewinnen. Diese Entfaltung besonnener Kraft im entscheidenden Augenblick behält aber selbstverständlich ihre Bedeutung auch für eine Kulturepoche, in welcher der Wert der rein kriegerischen Eigenschaften mehr zurücktritt. Wir brauchen dazu nicht auf Augenblicke besonderer Gefahr hinzuweisen, wie den des Ausbruchs einer Panik, wo allerdings der Mann von Charakter sofort zu erkennen sein wird an der besonnenen Kraft des Wollens, mit welcher er auch unter dem Eindruck des Furchtbaren das Zweckmäßige tut und in dieser Richtung auf die Menge einzuwirken sucht, während andere kopflos fliehen oder in irgendwelchem zwecklosen Tun ihrer Aufregung Luft machen. Tapferkeit äußert sich nicht minder dem großen körperlichen oder seelischen Schmerz gegenüber, der in einem Augenblick auf den Menschen eindringend, sein ganzes Sein zu überwältigen droht. Sie betätigt sich, wo der Beruf in schwieriger Lage eine augenblickliche Zusammenfassung der gesamten Kraft des Wollens erfordert. Sie kann dem Arzt, dem Kaufmann, dem Diplomaten in der Erfüllung bestimmter Aufgaben unschätzbare Dienste leisten. Sofern es dabei auf den Augenblick ankommt, ist sie verwandt mit der Geistesgegenwart, welche auch die ungewohnte Situation rasch überblickt, um sie zu beherrschen. Es gibt auch eine Tapferkeit des gesellschaflichen Verkehrs. Unbefangenes Urteil wird etwa der jungen Dame, welche eine angeborene Schüchternheit und den Druck der Mehrheitsmeinung überwindet, um für eine Persönlichkeit, über welche die Gesellschaft in ihrer Abwesenheit herfällt, eine "Lanze zu brechen", die Anerkennung eines tapferen und charaktervollen Benehmnes nicht vorenthalten. Die Mode der Zeit ist allerdings der Entfaltung solcher Eigenschaften des Charakters nicht günstig. Es ist bezeichnend, daß der Modegeschmack auch nach der Seite der äußeren Erscheinung mehr in der Richtung der Schwäche als der Stärke geht. Er bevorzugt nicht nur eine gewisse Unmännlichkeit der Erscheinung, sondern zeigt auch eine Vorliebe für den Typus des Schwächlichen, Kränklichen, Entarteten auf dem Gebiet des geistigen wie des körperlichen Lebens. Die Karikaturen guter Witzblätter sind in gewissem sinn ein Spiegel der Zeitströmungen. Man betrachte die Charakteristik des Gesellschaftsmenschen der Gegenwart, wie sie der gute Karikaturenzeichner liefert, und man empfindet den ganzen Gegensatz zwischen diesem Tpus der Décadence und der Kraft des Wollens, welche der "Charakter" erfordert. Es ist unvornehm, Kraft zu zeigen, wie es unvornehm ist, gute Nerven zu haben. Man ist nicht allzuweit davon entfernt, mit dem Schwächlichen, Entarteten, Angekränkelten eine Art Kultus zu treiben. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn geistige Strömungen, welche diesem Geschmack entgegenkommen, großen Erfolg haben. Die buddhistische Aufheben des Begehrens im Nirvana, SCHOPENHAUERs Verneinung des Willens, finden eine zahlreiche Anhängerschaft. LEO TOLSTOIs "Widerstrebe nicht dem Übel" findet weniger nach seiner positiv-ethischen Seite als durch seinen quietistischen Grundton einen Widerhall im modernen Bewußtsein; das slawische laisser aller [sich-gehen-lassen | wp] erhält den Vorzug vor germanischer Tatkraft. Man unterschätze solche Modestimmungen nicht als flüchtige Erscheinungen des Tages. Es kommt darauf an, wie man sich damit abfindet. Innere Eigenschaften, welche nicht den ihnen gemäßen Ausdruck finden können, Kräfte des Wollens, welche nicht geübt werden, verkümmern. Es ist klar, daß für das Geschlecht unserer Tage jene Begünstigung der Willensschwäche keine geringe Gefahr bedeutet. Ist für die Lebensarbeit des Einzelnen, wie für das Gedeihen des sozialen Ganzen die Kraft des Wollens als eine der Grundlagen charaktervollen Handelns unentbehrlich, so wird es nötig sein, darauf den Finger zu legen und der Wertung dieser Eigenschaft gelegentlich auch Modeströmungen zum Trotz Geltung zu verschaffen. Der Kraft des Wollens kann aber auch die Aufgabe gestellt sein, eine große Zahl kleiner Widerstände nacheinander zu überwinden. Wir bezeichnen sie dann als Beharrlichkeit. Sie ist vor allem da erforderlich, wo Arbeit geleistet werden soll. Denn bei der Arbeit handelt es sich um die Überwindung vieler kleiner Widerstände. Für ein Zeitalter, welches unter dem Zeichen der Arbeit steht, ist sie daher die Vorbedingung jedes erfolgreichen "Kampfes ums Dasein". "Wie die kriegerische Tapferkeit die Tugen des heroischen, so ist die Beharrlichkeit die Tugend des industriellen Zeitalters." (14) Die dauernde Anspannung des Willens, welche die Arbeit erfordert, ist weit schwerer zu erreichen, als jene momentane Kraftentfaltung, welche zur Überwindung der, wenn auch großen, Widerstände eines Augenblicks erfordert wird. Es ist bekannt, daß Naturvölker sehr schwer zur Arbeit zu erziehen sind. Der Schwarzafrikaner ist wohl imstande, einen Augenblick lang eine bedeutende Kraftanstrengung zu machen; aber er ist nur schwer dazu zu bringen, in der anhaltenden Willensanspannung der Arbeit viele kleine Widerstände zu überwinden. Diese Beharrlichkeit ist im Wesentlichen ein Erzeugnis höherer Kultur und mitbedingt durch die Steigerung der Anforderungen des Daseinskampfes. Wo sie als ausgeprägte Eigenschaft des Wollens auftritt, werden wir darin eines der Hauptmerkmale des "Charakters" zu sehen haben. Daran schließt sich als dritte Eigenschaft des formalen Charakter die Selbständigkeit des Wollens. Je verwickelter die Kultur desto vielseiger werden die Beziehungen, in denen der Mensch steht, desto größer die Zahl der anderen, die zu seiner Existenz beitragen, oder zur Erhöhung derselben imstande sind. So liegt es im Wesen einer gesteigerten Entwicklung des sozialen Lebens, den einzelnen abhängig zu machen, abhängig von der Gesellschaft, von der öffentlichen Meinung, von Vorgesetzten, von Geschäftsfreunden, von Parteigenossen. Gibt er diesem Druck nach, so verliert er schließlich alle Selbständigkeit des Wollens, er tut nur noch das, was die Gunst dieser Mächte, von denen er sich abhängig fühlt, ihm gewinnen kann. Er ist bereit, Überzeugung, Grundsätze, alles zu opfern, um im Wettstreit um die bessere Stelle anderen den Rang abzulaufen. Wo dieses Aufgeben der Freiheit und Selbständigkeit des eigenen Wollens zugunsten der Geschmeidigkeit "nach oben" oder auch "nach unten" im Interesse des Vorwärtskommens den ganzen Menschen beherrscht, da haben wir den Typus des "Strebers" im engeren eigentlichen Sinn des Wortes, dem man nicht unrecht tut, wenn man als sein Hauptmerkmal die "Charakterlosigkeit" bezeichnet. Denn das Wesentliche dieses Typus ist eben das Fehlen jener Selbständigkeit des Wollens, welche eines der Hauptkennzeichen des Charakters bildet. Der "Charakter" wird bei aller Notwendigkeit, den Verhältnissen der Menschen und der Dinge Rechnung tragen, sich die Gewohnheit der Willensentscheidung aus der eigenen Überzeugung heraus nicht nehmen lassen, welche vn der Würde der Persönlichkeit unabtrennbar ist. und das Sittengesetz Wir werden also demjenigen, der diese Willenseigenschaften der Konsequenz, der Kraft und der Selbständigkeit besitzt, "Charakter" zuschreiben können. Damit ist aber allerdings über die Richtung dieses Wollens noch nichts ausgesagt. Die Form kann mit verschiedenem Inhalt gefüllt werden. Wir unterscheiden etwa danach den "schlechten" und den "guten" oder "sittlichen" Charakter. Es kann aber keineswegs behauptet werden, daß die Wertschätzung des Charakters auf den letzten beschränkt ist. Gerade der große schlechte Charakter hat etwas besonders Anziehendes. Der Dichter ist sich dessen wohl bewußt. Die dämonische Natur des großen Bösewichts mit der unbezwinglichen Energie ihres Wollens übt einen faszinierenden Einfluß auf den Hörer und Zuschauer aus. Der Schauspieler weiß daher wohl, daß Richard III., Franz Moor, Jago im Othello dankbare Rollen sind. Das Publikum ist geneigt, allen großen Charakteren, welche ihm auf der Bühne vorgeführt werden, wenn sie nur Charaktere sind, zuzubilligen, was SCHILLER von Wallenstein sagen läßt:
Der übereinstimmt mit sich selbst; es gibt Kein anderes Unrecht als den Widerspruch." Zugleich verrät sich darin aber ganz deutlich, daß jenes Wohgefallen in erster Linie von einem ästhetischen Reiz herrührt, der von solchen dämonischen Persönlichkeiten ausgeht. Die ethische Wertung wird trotz NIETZSCHE eine andere sein müssen. Jedenfalls, wenn wir überhaupt der "Charakterbildung" einen hohen Wert zuerkennen, so ist es selbstverständlich, daß es sich dabei um ein Wollen handelt, das zum guten, zum sittlichen Charakter gebildet werden soll. Daraus erwächst uns die Aufgabe, anzugeben, was wir unter einem "sittlichen Charakter" zu verstehen haben, oder genauer, welchen Inhalt ein Wollen von der Form des "Charakters" haben muß, um diesen Namen zu verdienen. Eine vollständige Antwort auf diese Frage wäre die vollständig ausgeführte Darstellung einer Sittenlehre oder Ethik. Wir wären zu diesem Zweck genötigt, alle die verschiedenen einander vielfach entgegenstehenden ethischen Anschauungen gegeneinander abzuwägen, zu beurteilen, ein eigenes Prinzip aufzustellen und dessen Anwendung auf die verschiedenen Lebensgebiete zu zeigen. Anstatt uns in diese Erörterungen zu verlieren, richten wir unser Augenmerk nur auf das, was für uns das Wichtigste ist, nämlich einen Maßstab für die Beurteilung des Charakters zu gewinnen, der es uns ermöglicht, die Äußerungen des sittlichen Charakters von denen des schlechten mit Sicherheit zu unterscheiden. Wir halten uns dabei an die berühmteste und tiefste Fassung des Sittengesetzes, an KANTs kategorischen Imperativ und suchen uns zunächst dessen Bedeutung möglichst vollständig klar zu machen. Der Wille des Menschen kann durch beliebige praktische Grundsätze bestimmt werden. Sie sind diese Grundsätze subjektiver Art, d. h. sollen sie nur für den Willen des einen handelnden Subjekts gelten, so nennt man sie "Maximen", sind sie objektiv, d. h. sollen sie für den Willen jedes vernünftigen Wesens gelten, so heißen sie praktische Gesetze. Es ist nun aber klar, daß, wenn ich einen Maßstab zur Unterscheidung des Sittlichen und Unsittlichen suche, es sich nicht um bloße Maximen handeln kann. Es kann sich z. B. jemand zur Maxime machen, keine Beleidigungen ungerächt zu erdulden. Wir werden aber diese Maxime nicht als Maßstab einer allgemeinen Beurteilung wählen wollen. Dazu bedürfen wir vielmehr eines praktischen Gesetzes. Suchen wir sodann dieses praktische Gesetz näher zu bestimmen, so haben wir es zunächst von einem Naturgesetz zu unterscheiden. Das Naturgeschehen stimmt mit dem Gesetz immer überein; bei den menschlichen Handlungen ist dies keineswegs der Fall. Ihnen gegenüber tritt vielmehr das praktische Gesetz als eine Forderung, als ein Imperativ auf, dem entsprochen oder nicht entsprochen werden kann. Das praktische Gesetz ist also ein Imperativ. Innerhalb der Imperative aber haben wir wieder zu unterscheiden zwischen bedingten oder hypothetischen Imperativen, welche den Willen nur bestimmen unter der Voraussetzung, daß irgendetwas anderes angestrebt wird, und kategorischen Imperativen, welche den Willen schlechthin als Willen bestimmen, also ein unbedingtes Sollen aussprechen. Ein hypothetischer Imperativ wäre z. B. die Vorschrift: "Wenn du im Alter nicht darben willst, mußt du in der Jugend arbeiten und sparen." Sie ist nur eine bedingte, vielleicht hofft er, gar nicht alt zu werden, oder denkt, sich im Fall der Not dereinst behelfen zu können. (16) Ein kategorischer Imperativ wäre: Du sollst niemals etwas lügenhaft versprechen. Es ist klar, daß das Sittengesetz nur ein kategorischer Imperativ sein kann. Aber wie lautet nun dieser Imperativ selbst? Bei der Beantwortung dieser Frage geht KANT davon aus, daß alle praktischen Grundsätze, bei denen es sich um einen Gegenstand handelt, dessen Wirklichkeit begehrt wird, von der Erfahrung abhängig sind und deshalb keine wirklichen Gesetze abgeben können. Wir erstreben einen Gegenstand, weil er uns Lust verheißt. Ob dies aber der Fall ist, hängt von der Beschaffenheit des einzelnen Subjekts ab und kann nur durch Erfahrung (empirisch) festgestellt werden. Überall also, wo die Empfindung der Annehmlichkeit, welche das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, den Willen bestimmt, seien es nun sinnliche oder rein geistige Freuden, haben wir es mit praktischen Regeln zu tun, denen die Allgemeinheit, die wir vom "Gesetz" fordern, nicht zukommt. Suchen wir also ein allgemeines praktisches Gesetz, so müssen wir jeden Gegenstand des Willens, der den Bestimmungsgrund desselben bilden könnte, d. h. alle "Materie" des Willens davon absondern. Dann bleibt aber nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Soll demnach ein vernünftiges Wesen seine subjektiv-praktischen Grundsätze als allgemeine Gesetze denken, so muß es annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung eignen, sie für sich allein zum praktischen Gesetz machen. Der kategorische Imperativ lautet also: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann." Eines der zahlreichen Beispiele, welche KANT zur Erläuterung anführt, möge uns den Sinn dieser wichtigen Regel vollends deutlich machen. Es sieht sicht einer durch Not gedrungen, Geld zu borgen. Er weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen werden wird, wenn er nicht fest verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Gesetzt, er entschlösse sich dazu, trotz der Regungen seines Gewissens, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: "wenn ich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, obgleich ich weiß, es wird niemals geschehen." Will ich nun wissen, ob ich mit dieser Maxime auf dem rechten Weg bin, so habe ich nur zu fragen, wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Ich sehe sogleich, daß sie niemals als allgemeines Gesetz gelten kann, daß sie vielmehr sich selbst widersprechen müßte. Denn ein allgemeines Gesetz, nach welchem jeder, wenn er in Not zu sein glaubt, versprechen könnte, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, "würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde." (17) Am kategorischen Imperativ habe ich also eine Formel, welche es mir möglich macht, in jedem einzelnen Fall sittliches vom unsittlichen Handeln zu unterscheiden. Ich darf mir den dabei angewandten Grundsatz nur als allgemeines Gesetz denken, nach dem sich alle in ihrem Handeln richten, und es wird sich sogleich herausstellen, ob mein Tun recht oder unrecht ist. Die Anwendung auf die herkömmlichen Urteile über gut und böse leuchtet ohne weiteres ein. Ich kann unmöglich wollen, daß Lüge, Diebstahl, Mord, Betrug, Verleumdung allgemeines Gesetz werden. Das Leben in einer menschlichen Gesellschaft, in der dies der Fall wäre, müßte unerträglich sein. Ein inhaltliches Gebot ist damit allerdings nicht gegeben. Es ist die bloße Form der Brauchbarkeit zu einem allgemeinen Gesetz, welche dem kategorischen Imperativ seinen "Inhalt" gibt. Man hat darum früh an ihm diesen reinen "Formalismus" getadelt. Auch unsere Absicht, mit Hilfe des kategorischen Imperativs den sittlichen Charakter zu bestimmen, scheint dadurch gefährdet zu sein. Denn hier handelt es sich ja um die inhaltlichen Bestimmungen des materialen Charakters. Geraten wir dabei nochmals in die bloße Form, so müßte es scheinen, als seien wir über den "formalen Charakter" überhaupt nicht hinausgekommen. Nun zeigt aber eine nähere Prüfung der Art, wie KANT selbst die Anwendung des kategorischen Imperativs an Beispieln näher erläutert, daß auch er bei der bloßen Form nicht stehen bleiben kann. Warum darf ich ein Versprechen nicht geben mit dem Voratz, es nicht zu halten? Weil - die zugrunde liegende Maxime als allgemeines Gesetz gedacht - niemand mehr an ein Versprechen glauben und dadurch ein solches überhaupt unmöglich machen würde. Es ist also zuletzt ein logischer Widerspruch, durch den sich ein solches Tun selbst widerlegt. Ebenso richtet sich der kategorische Imperativ gegen den Selbstmord, weil eine Natur, deren Gesetz es wäre, aus Selbstliebe (nämlich um das größere Übel des Weiterlebens zu vermeiden) also aus der das Leben fördernden Empfindung heraus das Leben selbst zu zerstören, sich selbst widersprechen würde, oder gegen die Ableugnung eines Depositums, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat, weil es dann gar kein Depositum mehr geben würde. In allen diesen Fällen sind nach KANT entweder die Handlungen so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Gesetz gedacht werden kann, oder gelangt das Wollen zu einem Widerspruch mit sich selbst und beweist damit, daß es auf einem falschen Weg ist. Aber warum soll es solche Widersprüche nicht geben? Das Leben selbst ist reich an Widersprüchen und die Tatsache des Selbstmordes z. B. beweist ja eben, aß in Wirklichkeit die Selbstliebe zur Selbstvernichtung schreiten kann. Widerspruchsloses Denken und Wollen wäre also nur dann dem Widersprechenden vorzuziehen, wenn es besser als das letztere einem Zweck dient, dessen Erreichung einen Wert bedeutet. Daß dieser Gesichtspunkt nicht zu umgehen ist, läßt sich an allen von KANT gewählten Beispielen verfolgen. Daß Selbstmord, lügnerisches Versprechen, Verwahrlosung des eigenen Talents, egoistische Verweigerung der Hilfe in Not verwerflich sind, beruth zuletzt darauf, daß sie den Lebensbedingungen der menschlichen Gesellschaft widersprechen, deren Glied der einzelne Handelnde ist, die also für ihn selbst Güter bedeuten. Was aber verleiht der menschlichen Gesellschaft selbst ihren letzten Wert und stellt damit den inhaltlichen Hintergrund des kategorischen Imperativs dar? Dafür finden wir bei KANT selbst die Anknüpfung. Er spricht selbst von dem, was der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs oder eines praktischen Gesetzes sein könnte. Dieser kann allerdings niemals in relativen Zwecken oder relativen Werten gefunden werden, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlung nach Belieben vorsetzt. Denn solche sind stets nur der Grund von hypothetischen Imperativen, da sie ja nur eine vom Wollen oder Nichtwollen des Zwecks abhängige Forderung aussprechen. Der Grund eines kategorischen Imperativs kann nur in etwas liegen, dessen Dasein ansich einen absoluten Wert hat, in etwas, das als Zweck ansich ein Grund bestimmter Gesetze sein kann. Einen solchen absoluten Wert findet KANT im Gegensatz zum relativen Wert der Sachen in den vernünftigen Wesen als Personen.
So zeigt uns KANT selbst den Weg zur letzten Begründung der sittlichen Forderung, indem er den bloß formalen kategorischen Imperativ durch inhaltliche Bestimmungen ergänzt, und wir gewinnen damit die Möglichkeit, dem Inhalt des sittlichen Charakters eine wertbestimmende Grundlage zu geben. Das unbedingte Sollen hat nur dann einen Sinn, wenn es ein unbedingt Wertvolles gibt. Dieses unbedingt Wertvolle ist die Gemeinschaft vernünftiger Wesen als ein Reich der Zwecke, selbstverständlich nicht die augenblicklich bestehende menschliche Gesellschaft mit ihren Unvollkommenheiten, sondern eine vollkommene Gemeinschaft, die als solche eben nicht Wirklichkeit, sondern Idee ist. Aber wir suchen sie uns doch als verwirklicht zu denken, und als verwirklicht gedachte Idee von unbedingtem Wert wird sie richtunggebend für unser Wollen, d. h. sie wird zum Ideal. Fpür die nähere Betrachtung gliedert sich dieses Ideal aber sofort in einer dreifachen Weise. Zu einer vollkommen Gemeinschaft gehört, daß jedes Glied derselben seine Fähigkeiten ausbildet, um ihr dienen zu können - ein Ideal der Bildung; ferner, daß jedes einzelne in einem seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsgebiet seinen Beitrag zum Gedeihen des Ganzen liefert - ein Ideal der Berufserfüllung; schließlich daß dieses Wirken und die Wechselbeziehung mit den anderen Gliedern der Gemeinschaft getragen und geleitet ist vom Gedanken der Zusammengehörigkeit aller zu einem Reich der Zwecke und der Wertung jedes Einzelnen als Zweck ansich - ein Ideal der Humanität. Wer werden demjenigen den Ehrentitel des sittlichen Charakters nicht vorenthalten, dessen Wollen und Handeln durch diese Ideale der Bildung, der Berufserfüllung und der Humanität bestimmt ist. Je stärker ausgeprägt zugleich die Formeigenschaften des Charakters sind, welche in den Dienst dieser Ideale gestellt werden, desto höher steht der sittliche Charakter. Die Konsequenz äußert sich dann in der Sicherheit, mit welcher widersittliche Einflüsse von außen und von innen abgewiesen werden, die Kraft des Wollens in der Energie mit welcher sittliche Ziele verfolgt werden, die Selbständigkeit in der Selbstbestimmung der freien Persönlichkeit, die nur dem Gesetz gehorcht, das sie sich selbst gegeben hat. Dabei behält aber doch der kategorische Imperativ sein Recht. Wir können ja jenes Ideal einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen nicht frei erfinden. Wollten wir auch behaupten, es sei völlig unabhängig von der Erfahrung, völlig a priori etwa aus dem bloßen Begriff des vernünftigen Wesens abgeleitet, so würden wir doch bei jedem Versuch, seinen Inhalt auch nur einigermaßen bestimmter anzugeben, verraten, daß wir dabei Anleihen bei der Erfahrung machen. Es entlehnt seine Züge der wirklichen Menschenwelt und bleibt mit seinem Inhalt immer daran gebunden. So kommt es auch, daß wir in allen Fällen wirklichen Handelns, in denen unser Wollen durch jene Ideale bestimmt sein soll, an unsere Kenntnis der wirklichen menschlichen Gemeinschaft, wie sie uns zunächst aus unserer Umgebung bekannt ist, gewiesen sind. Für die praktische Entscheidung im einzelnen Fall wird daher stets der Maßstab seine Bedeutung behalten, den uns der kategorische Imperativ an die Hand gibt, und der in der Frage liegt: Kann ich wollen, daß der subjektive Grundsatz, nach welchem ich jetzt eben zu handeln im Begriff bin, allgemeines Gesetz wird? Es ist im Grunde nichts anderes darin ausgedrückt, als in der alten Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu." Denke ich mir die egoistische Verweigerung des Beistandes in Not als allgemeines Gesetz, so muß ich gewärtig sein, daß auch ich selbst, wenn ich in Not bin, auf keinen Beistand rechnen darf. Was ich selbst als Glied der menschlichen Gesellschaft, der ich angehöre, in Anspruch nehme, muß ich auch anderen gewähren. Sie besitzen die Rechte menschlicher Persönlichkeiten wie ich selbst, und mein Tun muß sich nach Regeln richten, die als allgemeine Gesetze für alle denkbar sind. Darin liegt zugleich der tiefere Sinn der richtig verstandenen Vergeltungsidee, des "Auge um Auge, Zahn um Zahn"; nicht in dem vom Staat übernommenen Gedanken der Rache, der dem Übeltäter dasselbe Maß von Schmerz bereiten will, als er selbst zugefügt hat, sondern in der am eigenen Leib erfahrenen Bekräftigung der sittlichen Wahrheit, daß ich nur tun darf, was ich in der Form eines allgemeinen Gesetzes auch als gegen mich selbst gerichtet anerkennen würde. Von hier aus ist auch wohl verständlich, welch tiefe Wurzeln die Idee der Vergeltung im sittlichen Bewußtsein des Menschen hat; und wenn manche Vertreter moderner Rechtstheorien eine vollständige Ausschaltung dieser Idee befürworten, so dürfen sie sich nicht verhehlen, daß sie damit auf einen der volkstümlichsten und wirksamsten Bestandteile des sittlich-rechtlichen Bewußtseins verzichten. Denn mit Recht ist sich KANT bewußt, keinen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit, sondern nur eine neue Formel aufgestellt zu haben. (19) Sein kategorischer Imperativ will nur "formulieren", was dem gewöhnlichen sittlichen Bewußtsein unmittelbar einleuchtet. Seinem wahren Wesen nach ist er, wie wir jetzt wissen, ein Maßstab, ein Kriterium des sittlichen Wollens und Handelns, das als solches zugleich ein Kriterium des sittlichen Charakters ist und dem man auch die einfache und treffende Fassung eines anderen Wortes KANTs geben könne: Jeder muß so handeln, als ob alles auf ihn ankommt. (20) Inwieweit dabei der sittliche Charakter sich zugleich jener Ideale bewußt ist, welche als ein unbedingt Wertvolles der Formel erst ihren tieferen Sinn geben, das ist eine Frage des wissenschaftlichen Nachdenkens. Es genügt, daß sein Wollen und Handeln tatsächlich durch jene mehr oder weniger deutlich gedachten Ideale der Bildung, Berufserfüllung und Humanität bestimmt ist. Die Beziehung zwischen jener Formel, welche die Aufgaben des Tages regelt, und den ihr die letzte Begründung gebenden absoluten Werten, deren Verwirklichung als Aufgabe der Zukunft erscheint, mit voller Sicherheit und Klarheit herzustellen, ist die unendliche Aufgabe der Wissenschaft. Verweilen wir einen Augenblick bei unserem bisherigen Ergebnis der Untersuchung des Wesens des Charakters, so liegt es nahe, die letzte und höchste Bedeutung des Charakters im engeren Sinne, den "sittlichen Charakter" zur ersten allgemeineren, zum "Charakter" als Eigenart überhaupt in Beziehung zu setzen. Wir sehen dann sofort, daß darn eine wichtige Frage der Lebensanschauung steckt, die zugleich für die Auffassung der "Charakterbildung" maßgebend werden muß. Vom strengen kantischen Standpunkt aus tritt der sittliche Charakter in einen schroffen Gegensatz zur Naturseite des menschlichen Wesens. Die sinnliche Natur muß unterdrückt werden, damit der Wille allein durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Geschieht nämlich die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetz, aber nur mittels eines Gefühls, welcher Art es auch sei, also nicht um des Gesetzes willen, so enthält die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität. Sie entspricht dem Gesetz, aber sie ist nicht aus Achtung vor dem Gesetz geschehen. Alles Gefühl ist ja "sinnlich", d. h. von der sinnlich-erfahrungsmäßigen Natur des Menschen abhängig, die Triebfeder der sittlichen Gesinnung aber muß von aller sinnlichen Bedingung frei sein. Keinerlei Interesse, nicht Zuneigung, nicht Liebe darf den sittlichen Charakter bestimmen, soll sein Handeln ein wahrhaft moralisches sein. Die einzige unzweifelhaft moralische Triebfeder ist die "Achtung für das moralische Gesetz". Es ist bezeichnend, wie KANT sich von hier aus mit dem christlichen Gebot abfindet, das zunächst seinem Standpunkt zu widersprechen scheint: "Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst". Es ist ja ein Gebot, und fordert Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt. Liebe zu Gott ist aber als Neigung, als "pathologische Liebe" unmöglich, da er kein Gegenstand der Sinne ist. Liebe zu Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden, daß es in keines Menschen Vermögen steht, jemanden bloß auf Befehl zu lieben. Es ist also mit jenem "Kern aller Gesetze" nichts als die "praktische Liebe" gemeint, und Gott lieben heißt nichts anderes, als seine Gebote gerne tun, und den Nächsten lieben heißt, alle Pflichten gegen ihn gern erfülen (21), wobei aber dieses "gern" bereits die höchste von Geschöpfen niemals erreichte Stufe der sittlichen Gesinnung bezeichnet. Für den sittlichen Charakter tritt also nach dieser Anschauung des kantischen "Rigorismus" jeder Beeinflussung durch Neigung, sei es auch die Liebe zu anderen Menschen oder zur Menschheit überhaupt, die auf die Achtung vor dem Gesetz sich gründende Pflicht gegenüber, zu deren Begriff es gehört, daß sie eine praktische Nötigung zu Handlungen mit sich führt, so ungern sie auch geschehen mögen. In dieser Loslösung von aller Schwäche der Menschennatur, in dieser starren Größe des bedingungslos fordernden Gesetzes liegt ja die Erhabenheit der Pflicht, die KANT mit begeisterten Worten preist:
"Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüt erregt und schreckt, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüt Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenngleich sie insgeheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner eden Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachläßliche Bedingung desjenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?" Dieses unbedingt Wertvolle ist die "Persönlichkeit". Diesem Standpunkt der schroffen Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit tritt nun ein anderer entgegen, der, mit nicht geringerer Überzeugungskraft begründet, eine Überwindung des Zwiespalts anstrebt und damit auch dem Verhältnis von Charakter und Persönlichkeit eine andere Wendung gibt. Wir finden ihn in klassischer Vertretung beim größten Schüler KANTs, bei FRIEDRICH SCHILLER. In der Abhandlung über "Anmut und Würde" (1793) wirft er der kantischen Moralphilosophie vor, in ihr sei die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt, und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Weg einer finsteren mönchischen Asketiv die moralische Vollkommenheit zu suchen. Die Verkehrtheit der Moral seiner Zeit möge ihn in diesem Rigorismus bestärkt haben.
"Mußte schon durch die imperativische Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedrigt werden, und das erhabenste Dokument ihrer Größe zugleich die Urkunde ihrer Gebrechlichkeit sein?" Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Damit sehen wir neben das einseitig-ethische Lebensideal KANTs ein anderes treten, ein ästhetisches, das seine vollkommenste Verwirklichung in der mächtigen Persönlichkeit GOETHEs gefunden hat. Der sittliche Charakter steht hier nicht mehr im Gegensatz zur sinnlichen Menschennatur, sondern er ist aufgenommen in die harmonische Gestaltung der Gesamtpersönlichkeit. Der allumfassende Gesichtspunkt, unter welchem Trieb und Gesetz, Charakter und Persönlichkeit betrachtet werden, ist der ästhetische. Aber ist der "ästhetische Zustand" wirklich die höchste Vollendung menschlichen Wesens oder ist er vielleicht nur das Mittel, das letzte unbedingt wertvolle Ziel, den "moralischen Zustand" zu erreichen? Ist die ästhetische Kultur das Letzte oder die sittliche Kultur? SCHILLER selbst hat auf diese Frage in welcher sich bis zum heutigen Tage die Vertreter verschiedener Lebensideale gegenüberstehen und deren Entscheidung zugleich für die Aufgabe der Charakterbildung maßgebend ist, keine eindeutige Antwort geben. In seiner Seele stritten der Denker und der Künstler. "Der Rigorismus Kants schlug in seinem Charakter nicht minder verwandte Saiten an, als die schöne Freiheit in der individuellen Lebensgestaltung bei Goethe (WINDELBAND) und beide seelische Strömungen gingen durch sein ganzes Leben nebeneinander her. In einem großartigen Überblick zeichnet er in seinen "Briefen über ästhetische Erziehung" (1795) als das höchste Ziel des sittlichen Charakters den moralischen Staat, in welchem der sittliche Charakter seine volle Entfaltung findet, und als den Weg dazu die ästhetische Gemütsstimmung, durch welche der physische Mensch so weit veredelt wird, daß der geistige sich nach Gesetzen der Freiheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht. In seinem physischen Zustand erleidet der Mensch bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht im ästhetischen Zustand; und er beherrscht sie im moralischen. Während er so noch im 24. Brief sich ausspricht, wird im letzten der ethische Staat, der den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft, zuletzt durch den ästhetischen Staat abgelöst, der allein Harmonie in die Gesellschaft bringt, weil er im Individuum Harmonie zwischen dem sinnlichen und geistigen Wesen stiftet (24). Diese Linie des ästhetischen Ideals als eines Letzten und Höchsten hat dann die romantische Schule bis zum Extrem weiter verfolgt, bis zu einer Art Kulturs des genialen Individuums, das, erhaben über die Gesetze, welche für den Durchschnittsmenschen gelten, sich in unbedingter Freiheit auslebt. Der sittliche Charakter erscheint hier verwandelt in die Willkür der sich als schöpferisch wissenden und ästhetisch genießenden Persönlichkeit. Haben wir die sittliche Bedeutung des Charakters erkannt, so sind wir nicht mehr im Zweifel, auf welche Seite wir uns zu stellen haben. Die Konsequenz, Kraft und Selbständigkeit des Wollens, wie sie dem Charakter eignet, ist für die Erfüllung der Lebensaufgaben nicht zu entbehren. Für die "ästhetische Gefühlsstimmung" ist aber gerade wesentlich, daß sie von einem "Willen zum Leben" losgelöst in reiner Betrachtung sich ergeht, daß sie gerade da ihren Höhepunkt erreicht, wo dem Betrachtenden der Lärm des Alltags nur noch wie aus unendlicher Ferne hörbar ist. Sie kann daher wohl mittelbar durch die Erhebung der Seele zur Stärkung sittlicher Motive und zur Bildung des sittlichen Charakters beitragen, aber sie kann weder als letztes Ziel noch als selbständige Entwicklungsstufe zur Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit hin betrachtet werden. Sie kann vielmehr beides nur sein als Bestandteil der sittlichen Gesamtaufgabe, welche die charaktervolle Persönlichkeit zu erfüllen hat. Dasselbe ergibt sich von der Betrachtung des unbedingt Wertvollen aus. Die Kunst ist ja nicht selbst das unbedingt Wertvolle, sondern sie ist nur eines der hohen Kulturgüter, in deren Hervorbringung menschliches Wirken und Schaffen dem Bedürfnis der menschlichen Anlage entgegenkommt. Auch der ästhetische Genuß ist daher nur ein Gebiet neben anderen, in deren Gesamtheit sich die sittliche Persönlichkeit betätigt. Damit haben wir nunmehr das richtig verstandene Verhältnis von Charakter und Persönlichkeit sowohl dem "Rigorismus" KANTs wie auch dem ästhetischen Humanismus gegenüber abgegrenzt. Zur Persönlichkeit gehören, wie zum "Charakter" im weiteren Sinne der geistigen Eigenart sämtliche menschliche Fähigkeiten des Empfindens, Denkens, Fühlens und Wollens. Während wir aber mit "geistiger Eigenart" nur diese sämtlichen Fähigkeiten in ihrer individuellen Besonderheit überhauüt zusammenfassend bezeichnen, will "Persönlichkeit" mehr besagen. Sie ist erst da, wo die bloße Summe durch die freie Selbstbestimmung des vernünftigen Wesens zur Einheit wird. Und dies geschieht durch den sittlichen Charakter, der darum nicht in der Unterdrückung, sondern in der Veredlung der natürlichen Triebe seiner Aufgabe erfüllt. Durch ihn werden die sinnlichen Triebe, die Fähigkeiten des Denkens, des Fühlens, des Wollens zur Einheit verbunden, indem sie in den Dienst der sittlichen Zwecke gestellt werden. In dieser Verbindung des Mannigfaltigen zur Einheit durch die Kraft des freien Wollens vollzieht sich die Entwicklung des Menschen zur Persönlichkeit. Aber was ist dieses Mannigfaltige und wie kann es zur Einheit verbunden werden? Damit stehen wir vor dem Problem der Entstehung des Charakters.
1) JAKOB BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien, Bd. 1, 1904, Seite 141 2) JOHANNES VOLKELT, Ästhetische Zeitfragen, Vorträge, München 1895, Seite 153f, 169. 3) Theophrasts Charaktere, herausgegeben, erklärt und übersetzt von der Philologischen Gesellschaft zu Leipzig, 1897, Einleitung, Seite LXII. 4) Die herkömmliche Bezeichnung, welche neben Theophrasts Charaktere das Beiwort "ethisch" setzt, wird durch keine einzige Handschrift bestätigt. Vgl. a. a. O., Seite XXIX. 5) Nach der Übersetzung der obigen Ausgabe, Seite 18f. 6) JEAN de La BRUYERE, Oeuvres, Nouvelle Edition par M. G. Servais, Tome I, Paris 1865. Les Charactéres de Théophraste traduits du Grec avec les Charactéres ou les Moeurs de ce siécle, Bd. I, Seite 395f 7) WILHLEM WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 1, Seite 565 8) Diese und die folgenden Angaben nach RUDOLF HILDEBRAND, Charakter in der Sprache des vorigen Jahrhunderts, auch ein Beitrag zur inneren Geschichte unserer Literatur, Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 6. Jahrgang, 7. Heft, Seite 457f. 9) G. W. RABENER, Sammlung satirischer Schriften, Leipzig 1751, Seite 44f 10) Sittliche Charaktere und Betrachtungen zur Beförderung der Tugend und Rechtschaffenheit. Aus dem Französischen, Augsburg 1786. 11) IMMANUEL KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Leipzig, Seite 21 12) KANT, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Sämtliche Werke, Bd. VII (Ausgabe Rosenkranz), Seite 213. 13) FRIEDRICH PAULSEN, System der Ethik, Bd. 2, 1900, Seite 24f. 14) PAULSEN, a. a. O., Bd. 2, Seite 25. 15) FRIEDRICH NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Seite 197 und 200. 16) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig, Seite 23 17) KANT, Metaphysik der Sitten, a. a. O., Seite 57. 18) KANT, Metaphysik der Sitten, a. a. O., Seite 65f und 70 19) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 7 20) KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Sämtliche Werke X, Seite 119. 21) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 101 22) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 87, 105f, 193. 23) SCHILLER; Über Anmut und Würde, Neue Thalia, Bd. 3, 1793 24) SCHILLER; *Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (Cottasche Ausgabe, Bd. XII) |