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KARL SCHEFFLER
Idealisten
[6/7]

"Schon der Umstand, daß man Theologie studiert, daß man ohne weiteres Geistlicher werden kann, sollte zu denken geben. Eine hohe Würde, wie die eines wahrhaften Seelsorgers, sollte nur durch Opfer erworben, nicht erlernt oder ersessen werden können. Der katholische Priester bringt noch heute in gewisser Weise dieses Opfer durch Ehelosigkeit und strengen Gehorsam."

"Der protestantische Geistliche gleicht in jedem Punkt einem bürgerlichen Beamten. Er kann Tugenden der Zuverlässigkeit entwickeln, kann sich bestenfalls als geistreicher Kanzelredner Schauspielerruhm gewinnen, aber er gefährdet seine Stellung gleich, wenn er Idealist genug ist, die Kirche, die Religion reformieren zu wollen, wenn er Sehnsuchtsinstinkte, wie sie beispielsweise in den sozialen Bewegungen dieser Zeit zutage treten, dem christlichen Religionsgedanken zu verbinden sucht. Das duldet der Staat nicht, der die Kirche zu seinem gehorsamen Werkzeug gemacht hat und der darum politischen Gehorsam auch vom Priester verlangt."

"Der Protestantismus war ursprünglich mehr ein Individualitäts-, ein Befreiungsgedanke als ein dauernder kirchlicher Organisation fähiger Religionsgedanke. Er ist darum die eigentliche Vorstufe zur modernen Religionslosigkeit der ernsten, sich selbst verantwortlich fühlenden Menschen."

"Religion ist nichts als die Summe aller Idealität. Zum großen Endziel gelangen wir nur über den Sieg, der jeden Tag von Neuem gegen die tausendfältigen tierisch rohen und tierisch listigen Materialismen der Zeit erfochten werden soll."

Die Religiösen
[Fortsetzung]

Betrachtet man von solchen Voraussetzungen aus nun das Leben der Gegenwart, so muß man erschrecken, wie weit wir vom Anfang des Weges sogar entfernt sind. Die Bewohner des neuen Reiches sind sich ganz uneins über ihr religiöses Wollen, nirgendwo versucht die latente Religiosität sich zu organisieren. Es wäre vom Staat darum vernünftig, wenn er die Ideen des Heils den Staatsbürgern so lange als eine Privatangelegenheit überlassen würde, bis Alle sich in einem einzigen Gefühl geeinigt haben. Stattdessen ergreift der Staat, fußend auf ehrwürdigen, aber gegenstandslos gewordenen Überlieferungen, Partei und verbündet sich einer Kirche, der die Lebendigsten der Nation längst nicht mehr angehören. Oder richtiger: er hat sich gleich zwei Kirchen verbündet, der protestantischen und der katholischen, und duldet daneben noch die jüdische Religion und vielerlei Arten von Sekten. Der deutsche Staat kritisiert sein Verhältnis zur Religion selbst, indem er in dieser Weise zugleich zwei christliche Bekenntnisse zur Landeskirche erhebt und damit sagt, daß er das äußerlich Geeinte innerlich für unvereinbar hält und daß die von ihm empfohlenen Religionsideale nur Relativitäten sind. Eine Religion darf aber für den Gläubigen nicht einmal den Schein der Relativität haben; sie ist gleich unwahr, wenn ie nicht das ganz Absolute ist, worauf alles Andere ruht. Protestanten und Katholiken haben vor Juden, Freimaurern und Dissidenten außer ihren Traditionen nichts oder doch kaum noch etwas voraus, das zu ihrer staatlichen Bevorzugung berechtigen würde. Indem der Staat für sie Partei ergreift, stellt er sich unwillkürlich abweisend den ungeheuer großen Volksteilen gegenüber, die äußerlich oder innerlich nicht mehr den christlichen Bekenntnissen angehören. Er ist also nur noch der Mandatar eines Bruchteils des Volkes und gibt damit zu, daß er an ein auch innerlich geeintes Reich nicht glaubt. Dadurch schwächt er sich selbst. Denn nun kann er sich um andere, unkirchliche Idealkräfte der Zeit nur halb kümmern, kann sie nicht fördern, ja muß sie, der Logik seiner Parteistellung folgend, wohl gar bekämpfen. Er wird von Allen benutzt, aber nicht geliebt; man dient ihm, aber man opfert sich nicht für ihn. In den Teilen Deutschlands, wo es eine katholische Landeskirche gibt, werden die Protestanten gedrückt, in den Gebieten der protestantischen Staatskirche die Katholiken. Eine dauernder leiser "Kulturkampf" ist die Folge. Auch eine stetige Spannung zwischen Staat und Kirche muß eintreten, wo die heterogenen Interessen nur verkoppelt sind, nicht aber zu einem einzigen Interesse werden können. Während der Staat den Bürger drängt, sich der Kirche anzuschließen, will er nur seine disziplinarische Gewalt verstärken; und wenn die Kirche Gehorsam gegen den Staat predigt, so tut sie es, weil sie selbst den revolutionären Gedanken am meisten fürchtet. Wie die Dinge heute liegen, kann in strittigen Fällen der Staat mehr auf den Bürger rechnen als die Kirche, weil die materiellen Interessen dem Lebenden viel wichtiger sind als die geistigen.

Immer seltener führt darum auch ein echter religiöser Idealismus die Jünglinge ins Priesterseminar. Das Amt des Geistlichen ist bereits nur noch ein Beruf wie jeder andere akademische Beruf. Der Priester tut gelassen und schematisch seine Beamtenpflicht, findet sich mit seinen Zweifeln ab, wie er kann, und gelangt zu einem hochmütigen Standesgefühl auf dem Weg oft bedenklich jesuitischer Gedankenoperationen. Der gelehrte Theologe fühlt sich als Mann der Wissenschaft, wo er doch eine voraussetzungslose Wahrheitsforschung gar nicht treiben darf, sondern frei im besten Fall nur als Lehrer der Religionsgeschichte ist. Schon der Umstand, daß man Theologie studiert, daß man ohne weiteres Geistlicher "werden" kann, sollte zu denken geben. Eine hohe Würde, wie die eines wahrhaften Seelsorgers, sollte nur durch Opfer erworben, nicht erlernt oder ersessen werden können. Der katholische Priester bringt noch heute in gewisser Weise dieses Opfer durch Ehelosigkeit und strengen Gehorsam; der protestantische Geistliche aber gleicht in jedem Punkt einem bürgerlichen Beamten. Er kann Tugenden der Zuverlässigkeit entwickeln, kann sich bestenfalls als geistreicher Kanzelredner Schauspielerruhm gewinnen, aber er gefährdet seine Stellung gleich, wenn er Idealist genug ist, die Kirche, die Religion reformieren zu wollen, wenn er Sehnsuchtsinstinkte, wie sie beispielsweise in den sozialen Bewegungen dieser Zeit zutage treten, dem christlichen Religionsgedanken zu verbinden sucht. Das duldet der Staat nicht, der die Kirche zu seinem gehorsamen Werkzeug gemacht hat und der darum politischen Gehorsam auch vom Priester verlangt.

Die Schlußfolgerung, daß der Staat sich unter diesen Umständen beschränken sollte, eine Zeitlang nur der Geschäftsführer der Nation in allen materiellen Dingen zu sein, ist mit Händen zu greifen. Es ist durchaus zu fordern, daß Katholizismus und Protestantismus behandelt werden, als seien es private Religionsgesellschaften, daß sie der jüdischen Religion also, dem Freimaurertum usw. gleichgestellt werden und daß sich der Staat um sie nur bekümmert, wenn sie etwas ihm Feindliches unternehmen. Wenn gesagt wird, der Staat brauche die Landeskirche, um die Demoralisierung zu verhindern, so ist dies falsch. Es ist möglich, daß die Regierung die Kirche zu diesem Regierungszweck braucht. Die Regierung ist aber nicht der Staat, ist es vor allem nicht, wenn sie solcher Mittel bedarf. Würde der Staatskirche das offzielle Prestige genommen, so würde sie sehr viele ihrer Mitglieder allerdings verlieren. Aber in der vollständigen Freiheit des religiösen Meinens und Empfindens würde sich die echte Religiosität viel leichter dann auch entfalten und neu organisieren können. Was im Christentum noch an unmittelbarem Leben steckt, käme gerade bei einer solchen Trennung zum Vorschein.
    "Regieren heißt", so sagt Paul de Lagarde, "die Hindernisse wegräumen, welche der Bestimmung der Nationen und der Individuen im Weg stehen, die Bedingungen schaffen und erhalten, unter denen das Leben sich zu entwickeln vermag."
Bei der einstweiligen Trennung von Kirche und Staat müßte die Kirche natürlich auch ihren Einfluß auf die Schule aufgeben. Auch hier darf es nur ein Entweder-Oder geben. Entweder Kirchenschulen oder religionsfreie Staatsschulen. Im ersten Fall wäre der Unterricht ganz von religiösen Grundgedanken aus zu organisieren; im anderen Fall ist das Religionsbedürfnis des Kindes auf die Familie, auf die Privatkirche zu verweisen. Das Kind darf in der Schule in Bezug auf die ewigen Dinge nicht präokkupiert [voreingenommen gemacht - wp] werden, da solches ja doch nicht mit heiliger Überzeugungskraft, sondern nur aus einem trocken katechisierenden Geist heraus geschieht. Das Kind sollte heute in der Schule nur die möglichst genau vorgetragene Religionsgeschichte kennen lernen. Den gegenwärtigen Zuständen wird am radikalsten gerade gegenüberstehen, wer reine Kirchenschulen für die beste Erziehungsinstitution hält. Doch sind solche Kirchenschulen natürlich nur dann denkbar, wenn der ganze Staat durch und durch religiös geworden ist und sich in Kirche verwandelt hat.

Am nötigsten ist der in die Tiefe weisende Zwang, der sich aus der Trennung vom Staat ergeben würde, dem Protestantismus. Schon vom ersten Tag seiner Entstehung an ist er nicht schöpferisch im höchsten Sinne gewesen. Werte schaffend war er eigentlich nur in Fragen des Moralischen und Sozialen; er war von jeher eine kritisch erklärende Energie, nicht eine synthetisch bauende und hat sich niemals bloß phantasievoll gezeigt. Er hat auf die Schultern des Einzelnen die ganze Verantwortung gelegt und damit eine so schwere Last, daß das Individuum darunter zusammenbrechen oder sich der Verantwortung auf Schleichwegen der Gewissensdialektik entziehen mußte. Der Protestantismus war ursprünglich mehr ein Individualitäts-, ein Befreiungsgedanke als ein dauernder kirchlicher Organisation fähiger Religionsgedanke. Er ist darum die eigentliche Vorstufe zur modernen Religionslosigkeit der ernsten, sich selbst verantwortlich fühlenden Menschen. Die Idee des Protestantismus ist sehr sittlich; aber in LUTHER schon war sie mehr nihilistisch als schöpferisch, mehr kritisch als aufbauend. Charakteristisch ist es schon, daß der Protestantismus für seine Kirchen nicht eigene Bauformen gefunden, sondern sich mit den mühsam nüchtern gemachten Formen katholischer Baustile begnügt hat. Was aber an Bürgergröße und demokratischer Selbstverleugnung im Protestantismus jemals vorhanden war, ist in den letzten Jahrzehnten ganz verschwunden. Schon zur Zeit unserer Klassiker ist der wahre protestantisch-evangelische Geist zur Kunst und Philosophie abgeschwenkt; aber erst jetzt ist der letzte Rest höherer Geistigkeit entwichen, jetzt erst, seitdem er im neuen Reich ganz zu einer Triebkraft der Staatsmaschine geworden ist, hat der Protestantismus die Fühlung mit der lebendigen Volksempfindung endgültig verloren. Der einzige Versuch, der gemacht worden ist, ihn dem Leben wieder zu nähern, war die christlich-soziale Bewegung in den achtziger und neunziger Jahren. Aber auch sie ging nicht tief, weil mehr ein unreiner Pastorenehrgeiz sie inszenierte als groß denkende Vaterlands- und Menschenliebe. Sie verrann in den Gassen der Großstadt, ohne irgendwie befruchtend gewirkt zu haben; sie ließ nichts zurück als den giftigen Bodensatz des Rassenhasses. Es war eine Probe aufs Exempel, daß der Protestantismus, wie er jetzt ist, der Führung nicht mehr fähig ist.

Besser hat sich der Katholizismus mit den Forderungen der Zeit abgefunden. Seine Abhängigkeit von der außerstaatlichen Macht des Papsttums hat ihn zu einem ganz willenlosen Werkzeug der Regierungen niemals werden lassen. Ihre internationale Entwicklungsgeschichte, ihre Riesentradition gibt dieser Kirche heute noch ein Selbstgefühl, das sich den modernen Staatsformen mit einigem Recht überlegen dünkt. Der Geist der Geschichte wird vom Katholizismus trotz aller dogmatischen Formalismen gut genug begriffen, um die Einsicht zu wecken, wie wichtig es ist, die jeweiligen Forderungen der Zeit und der Nationalität in sich aufzunehmen. Die Langlebigkeit des Katholizismus ist im Wesentlichen auf seine wenn auch bedingte Bereitschaft zur Modernität zurückzuführen; und seine ungebrochene Kraft auch in der Gegenwart fußt im Wesentlichen auf seiner Fähigkeit, sich zu sozialisieren. Man braucht nur an die Bewegung zu denken, die im Katholizismus Modernismus genannt wird; und daran, daß diese Kirche sogar kantische Ideen in sich aufzunehmen gewußt hat. Eine Großmacht ist der Katholizismus schon darum, weil ihm ein Priesterheer zur Verfügung steht, in dem eine eiserne Disziplin herrscht und das dem Volk immer noch geheimnisvoll ist. GREGOR VII. Idee von der Ehelosigkeit der Priester hat sich im Laufe der Jahrhunderte als ein Gedanke höchster, kirchenpolitisch gerichteter Genialität erwiesen. Wer diesen Gedanken begreift, wird einsehen, wie wichtig er ist und daß der Papst den Priestern eher das Konkubinat als die Ehe erlauben dürfte. Auch in anderen Ideen einer erstaunlichen Weltorganisation kommt der synthetische Wille des Katholizismus immer zum Vorschein. Diese Religionsform steht am meisten heute dem Ideal der Einheit von Staat und Kirche nahe. Denn sie ist der Weltlichkeit fähig und braucht doch ihre transzendente Idee nicht zu opfern. Es ist durchaus bezeichnend, daß unter den vielen rein politischen Parteien im deutschen Reichstag eine Religionspartei sitzt, daß sie in Einem ist, worin alle die anderen Parteien sich gerade voneinander absondern: konservativ und Demokratisch, reaktionär und fortschrittlich zugleich, eine Partei der Reichen und der Armen, und daß sie zur größten und mächtigsten Partei werden konnte. Etwas Geniales ist in dieser Art, wie der Katholizismus wenigstens strebt, das ganze materielle Staatsleben aufzunehmen und mit kirchlichen Interessen zu durchdringen. Man mag daraus lernen, was für eine ungeheure Macht eine Partei erst hätte, die schlechterdings alle Interessen der ganzen Nation, die materiellen und religiösen, ebenso groß und frei vertreten würde, wie das Zentrum die Interessen der katholischen Wählergruppen immerhin politisch und kirchlich noch engherzig vertritt. Was den Katholizismus hindert, zu einer wahren modernen Volksreligion zu werden, das ist einerseits sein Unvermögen, die ihm zu finsteren, dummen Fetischen gewordenen christlichen Symbole und all seinen wunderreichen Aberglauben abzutun oder lebendig umzugestalten, und andererseits die Unfähigkeit dieser Papstreligion, sich ebenso vollständig noch einmal zu nationalisieren, wie es zur Zeit des Mittelalters gelungen ist. Eine Kirche aber, die sich heute, in der Zeit der energischen Betonung allen Volkstums, nicht zu nationalisieren vermag, kann von vornherein nicht umumschränkt herrschen. Das religiöse Leben ist ein England und Rußland zum Beispiel noch stark und staatsbildend, weil es national ist. Je größer die Macht des Papstes ist, desto weniger kann der Katholizismus national sein; je nationaler dieser würde, umso mehr müßte die Macht Roms zurückgehen. Vorausgesetzt, daß die evangelischer Idee des Christentums vom Katholizismus, daß sie überhaupt neugeboren werden könnte.

Der freiere Geist, der den Staatskirchen entwachsen und doch in dieser götterlosen Zeit nach Religion und religiöser Gemeinschaft begierig ist, flüchtet sich gemeinhin mit seiner Sehnsucht in kleine Gemeinden verwandt Empfindender, aber das ist kein Weg, sondern ein Ausweg. Denn die Teilideale, die so erworben und gepflegt werden, müssen in demselben Maß ungenügend sein, wie sie nicht die ganze Nation sättigen. Religion ist etwas, das jeder Mensch in sich selbst und nur für sich selbst erlebt; aber es ist dem Einzelnen im höchsten Sinn nur dienlich, was Allen von Nutzen ist. Oder wie LAGARDE es einmal anschaulicher formuliert hat:
    "Angewandte Religion ist stets individuell, Religion ist stets generell: so gewiß Speise nicht nährt, wenn sie nicht vom Einzelnen genossen und verdaut wird, und so gewiß nichts Speise ist, was nicht von allen - ich sage, von allen - Gesunden genossen und verdaut werden kann."
Die sezessionistischen [abspalterischen - wp] Ideale sind zur Hälfte immer fixe Ideen. Der Beweis dafür wird stets in gleicher Weise erbracht: solche Ideale lösen nie große schöpferische Kräfte, sie machen vielleicht moralischer, aber nicht produktiv. Sie verengern den Gesichtskreis mehr, als daß sie ihn weiten und stacheln nicht zu unaufhörlicher Vervollkommnung an. Und doch verliert der Staat an die Sekten, Geheimbünde und Sezessionsgemeinden die edelsten seiner Bürger.

Eine nicht organisierte, aber ziemlich weit, vor allem über die gebildeten Stände verbreitete Gruppe religiöser Sezessionisten ist die der Religionseklektizisten. Sie gehen in der Regel von einem Bekenntnis aus, in das der Zufall der Geburt sie hat geraten lasen, negieren alle leeren Formalien, stellen in einer neuen Weise die Bedeutung der Symbole wieder her und tragen in die traditionellen religiösen Vorstellungen mystisch-poetische, romantisch-philosophische und literarisch anmutende buddhistische oder wohl gar mohammedanische Weltanschauungen hinein. Das Ergebnis ist eine Religionsform nur für Esoteriker, mystagogisch und artistisch zugleich. Gewisse Teile der Gesellschaft, vor allem die Unbeschäftigten, geben sich einer solchen Religiosität mit einer seltsamen Mischung von Sehnsicht und Snobismus hin. Man könnte von Bildungsreligion sprechen; von Bildungskatholizismus und Bildungsprotestantismus.

Wird der religiöse Zweifel intellektuell mit tieferem Ernst ergründet, so gelangt der religiös wünschende Denker oft zum Spiritismus und Okkultismus. Dort findet er zwar manchen Genossen vor, der nur des rohen Aberglaubens wegen da ist; aber er findet auch sehr feine und sensible Geister. Das Ernsthafte in dieser wissenschaftlich gewordenen Religiosität besteht darin, daß das reine Bemühen herrscht, ein Übersinnliches zu beweisen, zugleich aber ein ursächliche Erklärung dafür zu geben, die den Erfahrungen der Naturwissenschaft nicht widerstreitet. Zwar weist die Lehre dann mehr auf physiologische Phänomene als auf ethische Triebkräfte, aber sie gibt doch so bedeutende Perspektiven, daß der religiöse Drang sich der Idee vom transzendentalen Subjekt in dieser Zeit gerne bemächtigt und darin in der Tat eine gewisse Ruhe und Hoffnung gefunden hat.

Wenig gibt dagegen die auch als freireligiös bezeichnete Lehre ihrer Dissidentengemeinde. Denn es ist nicht eine einzige klare Vorstellung darin anzutreffen, die in der Empfindung Flucht zum festen Punkt werden könnte. Die Lehre ist im Wesentlichen negierend und beruth auf der Freude an der eigenen Aufgeklärtheit. Ein Heldenstück scheint es, wenn man Gott glücklich los geworden ist. Anstelle des Aufgebenen tritt etwas ganz Unklares. Man nennt es etwa Monismus oder Pantheismus und es kommt ziemlich auf eines hinaus, ob man sich das Weltall gleichmäßig belebt oder gar gleichmäßig unbelebt vorstellt. Unsterblichkeit heißt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder das Gesetz der Vererbung, und Vorsehung ist ungefähr dasselbe wie Darwinismus. Man verbrennt aus hygienischen und ästhetischen Gründen die Leichen, erklärt den Selbstmord für erlaubt und übersteigert so rationalistisch liberale Ideen bis zu einer Art von philosophischer Religiosität. Eine innere Befriedigung gewinnt dadurch aber niemand.

Besser sind die Freimaurer dran. Schon weil ihre Verbände seit Jahrhunderten organisiert sind und weil ihr Humanismus werktätig vorgeht. Als eine Art von Genossenschaft zu gegenseitiger Hilfeleistung ist die Freimaurerei etwas Bewunderungswürdiges; von einer religiösen Idee kann aber auch bei ihr nicht die Rede sein, trotzdem sie eigentlich immer jenes Religiöse gemeint hat, das sich in der neben dem Christentum hergehenden Philosophie verkörpert. Man braucht nicht über die Symbole und Geheimzeichen der Freimaurer zu lächeln, obgleich die eifrig betriebene Maskerade ein wenig dazu auffordert. Sinnliche Bilder braucht schließlich jeder religionsartige Verband. Aber diese Formalien erscheinen in der Freimaurerei heute deplaziert, weil jetzt nicht mehr etwas eigentlich Religiöses dort vertreten wird, sondern nur ein Moralgesetz, das jeder Einzelne schon kennt, bevor er einer Loge beitritt. Es hat gewiß etwas Gutes, wenn der Kleinkaufmann, der tasüber hinter dem Ladentisch steht, der Handwerker, der sich die Woche hindurch geplagt hat, voll eifriger Andacht in der Versammlung dasitzen wie in der Kirche und edlen Reden humanistisch schwärmender Genossen lauschen, wenn sie sich ein paar Stunden als "Bruder" ihres reichen Kunden fühlen dürfen. Aber leider ist auch hier "nach neune alles aus". Und da die Logen wenn nicht Christentum, so doch den Glauben an Gott fordern, so nehmen sie sich eigentlich selbst das Arbeitsgebiet, das zu bearbeiten allein lohnend wäre. Immerhin ist die Freimaurerei als Versuch sozialer und religiöser Selbsthilfe eine Institution bedeutender Art, wenn die Vorteile, die sie gewährt, oft auch spekulativ mißbraucht werden; denn sehr Viele suchen die Mitgliedschaft nur, um unter den "Brüdern" Kunden werben zu können.

Am sichtbarsten äußerst sich die religiöse Sehnsucht dieser Zeit in der Sekte, die sich die Heilsarmee nennt. Das Religionsverlangen tritt dort noch einseitiger und grotesker in Erscheinung als anderswo; dennoch kann diese Vereinigung der Deklassierten und Enttäuschten nicht leicht überschätzt werden. In ihr verkörpert sich, was die Sozialdemokratie in ihrem Bildungsdünkel zu beachten, zu organisieren versäumt hat. Die Bußgedanken, die den Lehren der Heilsarmee zugrunde liegen, können zwar positiv religiös in keinem Punkt genannt werden; wahrhaft ethisch aber ist die Aufopferungslust dieser Menschen, der leidenschaftliche Drang sich mitleidig hinzugeben, sich zu erniedrigen und sich dem schlimmsten Elend und dem Verbrechen helfend zuzugesellen. Was der Ausbreitung und Popularisierung der Heilsarmee bei uns im Weg steht, ist ihre entschieden englisch-amerikanische Herkunft und ihre Unlust, das proletarische Geistesniveau zu verlassen. Man könnte von einer Hinterhaus.-, von einer Lazarettreligion sprechen, von einer Bußethik, die nur für Arme im Geiste und Enttäuschte formuliert ist. Das ist umso mehr zu beklagen, als so die selbstlose Güte nur halb genutzt werden kann. Trotz der Werktätigkeit bleibt die Idee passiv und es besteht dieses Soldatenheer des Heils im Wesentlichen darum aus armen, vom Leben mißhandelten Frauen, aus Leidenden und Resignierten. Die höchste Form, der diese Sekte fähig ist, dürfte eine Art von großstädtischer Herrnhuterei sein. Das wäre immerhin nicht wenig. Aber auf das große nationale Religionsproblem vermöchte sie auch dann keinen Einfluß zu gewinnen. Wenn der Protestantismus klug wäre, öffnete er dieser Gemeinde beizeiten seine Kirchenpforten.

Umfangreiche Sektenbildungen sind stets ein Zeichen, daß eine vorhandene latente Religiosität in der Staatskirche nicht Genüge findet. Und die Tatsache, daß mit dem Sektiererglauben eng dann immer eine besondere Ansicht vom Wesen des Staates verbunden ist, beweist, wie sehr das Staatsgefühl immer dem Religionsgefühl verbunden ist, wenn dieses nur echten Bedürfnissen entstammt. Werden auch die tollsten Ideen zuweilen bis zur ethischen Idealität ungesund hinaufgetrieben, wird hier der Vegetarianismus und dort eine Lehre von der Vielweiberei mit unbestimmten religiösen Instinkten verbunden, so zeigt sich doch auch gerade in dieser Verquickung des Profanen und Sittlichen wieder ein wenn auch auf Abwegen irrender synthetischer Instinkt. Es ist darum gar nicht unmöglich, daß aus Sektenreligiosität heraus eines Tages ein Kirchengedanke der Zukunft hervorgeht.

Noch ist darüber aber nichts zu sagen. Jede Weissagung wäre eitel Konstruktion. Es ist möglich, daß das Christentum die ihm innewohnende ungeheure Lebensidee nochmals zu reformieren vermag. Wer sich stilldenkend nur das Vaterunser hersagt, wird diese Möglichkeit gelten lassen. Es ist aber ebensowohl möglich, daß die Erfüllung von anderer Seite kommt. Sicher scheint nur, daß die Religion der Zukunft aus dem lebendigen Bedürfnis nach Ethik hervorwachsen wird. Ein Wissen um den Weg der Entwicklung ist uns nicht vonnöten. Um die endgültige Form brauchen wir uns nicht zu sorgen; wohl aber darum, daß im rechten Augenblick etwas zu formen da ist. Die Aufgabe jedes Einzelnen ist es, sich in der kalten Gefühlsatmosphäre dieser Zeit ein neues tiefes Vertrauen zu den höheren Zwecken des Lebens zu gewinnen und im stillen Kämmerlein der Gedanken ehrlich alle Zweifel zu überwinden. Es ist nötig, Alles zu wissen, was gewußt werden kann, keiner Erfahrung auszuweichen, überall Kausalität zu sehen oder doch zu ahnen, die ganze Relativität des Lebens und des eigenen Ich zu begreifen - und über all das hinaus nur umso ehrfürchtiger der ewigen Idee zu vertrauen. Ihr zu vertrauen mit dem unerschütterlichen Bewußtsein, daß, wo eine Sehnsucht ist, auch eine Erfüllung sein muß, daß man aber trotzdem niemals auch nur einen Zipfel des Schleiers lüften wird, weil die für Menschensinne nicht gemachte "Wahrheit" vor allem Wissen gleichmäßig immer zurückweicht. Es gilt sich die Überzeugung zu eigen zu machen, daß "unser Wesen ein völlig Unzerstörbares ist, von Ewigkeit zu Ewigkeit wirkend". Hat uns die Astronomie den Christenhimmel genommen, so hat sie uns dafür ein Gewimmel von fröhlich kreisenden Planeten gezeigt, auf denen der der Erde Entwachsene in höherer organischer Bildung wiederkehren mag; hat uns die Naturwissenschaft den Wunderglauben getötet, so hat auch eben sie uns unausdenkbare neue Möglichkeiten physiologischer Art gezeigt und uns schon in eine Welt blinzeln lassen, worin sich Astralkörper geistergleich bewegen könnten, ohne daß das Kausalgesetz in einem Punkt nur außer Kraft tritt.
    "Sobald man nur von dem Grundsatz ausgeht, daß Wissen und Glauben nicht dazu da sind, um einander aufzuheben, sondern um einander zu ergänzen, so wird schon überall das Rechte ausgemittelt werden."
Das sagte GOETHE vor hundert Jahren. Heute aber tobt der Kampf von Wissen und Glauben heftiger als jemals zuvor. Die Beeindigung dieses verzweifelten Ringens erst wird den Beginn neuer bewußter Religiosität bezeichnen. Und von da bis zu einer neuen Form der Religion ist es dann nicht weit. Weit und schwierig ist nur der Weg zur wiedergeborenen Gefühlskraft, zu neuer Weltphantasie. Der Weg zu den Schätzen des eigenen Herzens, die der Zweifel unbenutzt liegen läßt; denn diesen Weg führt nicht das Denken, sondern das Handeln. Neue Religiosität, neues Vertrauen und das damit verbundene innere Glück erreichen wir nicht, wenn wir uns philosophisch um eine Erklärung des Welträtsels bemühen, sondern ur wenn wir uns handelnd, werktätig in jeder Stunde dem Idealen hingeben. Allem Idealen! Religiosität und Religion entstehen wie die Frucht aus der Blüte, wenn wir alle sittlichen Ideale, die kleinen und großen, praktisch pflegen; denn Religion ist nichts als die Summe aller Idealität. Zum großen Endziel gelangen wir nur über den Sieg, der jeden Tag von Neuem gegen die tausendfältigen tierisch rohen und tierisch listigen Materialismen der Zeit erfochten werden soll. Diesem guten Kampf gegenüber bedeutet das äußere Bekenntnis nichts; denn die idealen Ziele der Zeit sind der ganzen Nation - der ganzen - gemeinsam. Bleibe jeder äußerlich Angehöriger der Kirche, wohinein der Zufall der Geburt ihn gestellt hat; denn es ziemt sich nur dann, eine alte, ehrwürdige Form zu lassen, wenn eine bessere, wenn die eine, die rechte dafür eingetauscht werden kann. Man ehre die Sakramente, wenn auch ohne Verlangen; aber man fühle auch im Tiefsten, daß man sich die innere Freiheit nur proklamieren darf, wenn man sich selbst religiöse Pflichten zu befehlen willens ist. Man mache sein Inneres zum Tempel, halte Gottesdienst im eigenen Herzen, ehre die Gebote aus frommer Leidenschaft zum Guten und werbe mit allen Kräften dem Gott, der Einem tief im Busen wohnt, Gläubige. Gut und tüchtig zu sein: das ist das ganze Geheimnis, dem Kind schon verständlich, dem Greis aber noch ehrwürdig und jedem Lebensalter neu. Eine tiefe Sehnsucht nach dem Guten, nach neuer sittlicher Tüchtigkeit geht schon durch das Land. Unser Volk wolle nur was es still schon ersehnt, und es wird ihm einst wie von selbst eine Religion, das heißt: das große Glück geschenkt werden.
LITERATUR: Karl Scheffler, Idealisten, Berlin 1909