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Immanuel Kants Erkenntnistheorie [nach ihren Grundprinzipien analysiert] [ 4 / 4 ]
Zweiter Abschnitt Kants exklusiver Subjektivismus [Fortsetzung] 4. Die Antinomienlehre als indirekter Beweis des exklusiven Subjektivismus Wir sind mit der Entwirrung und Klarlegung der Gründe, die KANT auf den Standpunkt des exklusiven Subjektivisus drängten noch nicht zu Ende. Sein Denken ist eben ein äußerst komplizierter Organismus, die logischen Triebfedern greifen in ihm auf das Mannigfaltigste ineinander, und nichts ist verkehrter, als durch das Ziehen einiger gerade Linien sein Denken erschöpfend charakterisieren zu wollen. Man muß sich das Zusammenwirken aller genannten und noch zu nennenden Faktoren vorhalten, wenn man ihn sagen hört, er könne keinen Sinn mit der Behauptung verbinden, daß nicht nur unsere Anschauung, sondern auch das Ding-ansich in der Form des Raums existiert (Werke III, Seite 46f). - Wir betrachten jetzt den Zusammenhang des exklusiven Subjektivismus mit der Lehre von den Antinomien. KANT findet, daß die Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst gerät, wenn sie die Idee des Unbedingten auf die Welt als ein Ding ansich anwendet. Einerseits nämlich ist es, wie sich exakt beweisen läßt, notwendig, die Unbedingtheit in dem Sinne von der Welt auszusagen, daß das Endliche, seinen verschiedenen Beziehungen nach, einen definitiven Abschluß, eine absolute Grenze hat, und so die Welt eine endliche Reihe darstellt. Und zwar gibt die Thesis der ersten Antinomie der Welt nach ihrer räumlichen und zeitlichen Erstreckung einen absoluten Anfang; diejenige der zweiten Antinomie setzt der Teilbarkeit der Materie in Gestalt der einfachen Teile eine absolute Grenze; durch die Thesis der dritten und die der vierten Antinomie wird die Reihe der Ursachen und Wirkungen, die Kette der Veränderungen in Bezug auf Kausalität und Notwendigkeit einem unbedingten Anfang unterworfen: durch jene einer absolut spontanen, freien Ursache, durch diese einem schlechthin notwendigen Wesen. - Andererseits jedoch hält es KANT für ebenso notwendig, die Unbedingtheit in einem anderen Sinn von der Welt zu behaupten, daß das Endliche, seinen verschiedenen Beziehungen nach, eine ins Endlose fortlaufende Reihe, einen regressus in infinitum darstellt. Die Unbedingtheit in diesem, jenem ersten absolut entgegengesetzten Sinn wird in den Antithesen der vier Antinomien ausgesprochen. Die ersten Antinomie läßt die Welt in Bezug auf Raum und Zeit sich ins Endlose hin erstrecken; in der zweiten Antinomie wird der Teilung der Materie die Fortsetzbarkeit ins Endlose zugesprochen; und in entsprechender Weise erteilen die Antithesen der dritten und vierten Antinomie der Welt als einer kausal und notwendig verknüpften Kette von Veränderungen den regressus in infinitum. Diese vier Widersprüche sind nun nach KANT unauflösbar, wenn man die Welt als "ein ansich existierendes Ganzes" betrachtet. Dagegen lassen sie sich ganz wohl auflösen, wenn man in den Dingen nichts als Erscheinungen sieht. Dann existiert nämlich die Kette der Dinge nur insofern, als die Vorstellung den sukzessiven Regreß wirklich vollführt, und die Idee des Unbedingten wird zu einer Regel, im Regreß der Erscheinungen nirgends stehen zu bleiben, sondern ihn immer weiter fortzusetzen (Kr. d. r. V. B 401, 408). Doch dies habe ich hier nicht auszuführen, noch zu prüfen. Aber genug! KANT ist davon überzeugt, daß jene vier Widersprüche sich nicht auflösen lassen, solange man die Welt als Ding-ansich ansieht. Da sich nun in den Antinomien die Welt sowohl nach räumlicher und zeitlicher Seite, als auch nach den verschiedenen Kategorien mit Widerspruch behaftet zeigt, so dürfen wir genauer so sagen: solange Raum, Zeit und die Kategorien als Beschaffenheiten des Dings-ansich gelten, bleiben auch jene Widersprüche unaufgelöst. Die Antinomien nötigen also indirekt dazu, die Anschauungs- und Verstandesformen dem Ding-ansich abzusprechen, also ihre exklusive Subjektivität zu behaupten. So hat sich uns dann ein neuer (und zwar indirekter) Grund ergeben, warum KANT das Ding-ansich in einen absoluten Gegensatz zu unserem Vorstellen setzen muß. KANT ist sich dieses Zusammenhangs wohl bewußt, wenn er auch nur ganz kurz darauf zu sprechen kommt. So heißt es in der Kr. d. r. V., daß die Antinomien einen kritischen Nutzen gewähren: es werde nämlich die transzendentale Identität der Erscheinungen dadurch indirekt bewiesen (B Seite 399). Und in den "Fortschritten der Metaphysik seit Leibniz und Wolff" hebt KANT gleichfalls hervor, daß eine "Ausflucht" aus den Antinomien nur durch den transzendentalen Idealismus, welcher die Gegenstände in Raum und Zeit als bloße Erscheinungen ansieht, möglich ist.
Wir haben gesehen, daß der exklusive Subjektivismus, auch ganz abgesehen von den speziellen Gründen, die er bei KANT hat, die Übertragung von (wenn auch nur negativen) Denkbestimmungen auf die transsubjektive Wirklichkeit, also die Anerkennung des rationalistischen Erkenntnisprinzips, voraussetzt. Und ebenso beruth der metaphysische Dualismus, den das vorige Kapitel als einen speziellen Grund des subjektivistischen Standpunktes bei KANT nachgewiesen hat, wie sich ja ganz von selbst versteht, auf der Anwendung des rationalistischen Erkenntnisprinzips. Auch in dem von den Antinomien gelieferten indirekten Beweis für die exklusiv subjektivistische Beschaffenheit unserer Vorstellungsformen findet eine solche selbstverständliche Übertragung von Denkbestimmungen auf das Ding-ansich statt. KANT setzt (um bei der ersten Antinomie stehen zu bleiben) ohne Weiteres voraus, daß, weil sein Denken (im Beweis der Thesis) die Unbegrenztheit der Welt nach Raum und Zeit widersprechend findet, auch das Ding-ansich unmöglich in räumliche und zeitliche Grenzen eingeschlossen sein kann. Und doch müßte für ihn im Ding-ansich Alles, absolut Alles möglich sein! Er müßte konsequent zugeben, daß die Denkbestimmungen, durch die er die Antithesis ad absurdum führt, möglicherweise für das Ding-ansich nicht gelten, und ebenso, daß dies möglicherweise mit den Denkbestimmungen der Fall ist, durch die er die Thesis ad absurdum führt. Ja er müßte zugeben, daß möglicherweise sowohl die Thesis, als auch die Antithesis im Ding-ansich Geltung haben. Denn vielleicht hat der Satz des Widerspruchs für das Ding-ansich keine Geltung, vielleicht kann im Ding-ansich A in derselben Beziehung, in der es A ist, auch non-A sein! Wir können allgemein sagen: KANT setzt in diesem indirekten Beweis für die exklusive Subjektivität von Raum, Zeit und den Kategorien voraus, daß das, was er als widersprechend und sich aufhebend denken muß, sich auch im Ding-ansich widersprechen und aufheben muß. Dies gilt nicht nur mit Bezug auf seine Voraussetzung, daß Thesis und Antithesis nicht zugleich vom Ding-ansich gelten können, sondern auch mit Bezug auf die einzelnen Beweise für die Thesis und Antithesis. Denn bei KANT sind ja alle Beweise (mit einer einzigen Ausnahme apagogisch [indirekter Beweis durch Aufzeigen der Unmöglichkeit oder Absurdität des Gegenteils - wp] geführt. Wie in den früheren Fällen, so bleibt es auch hier bei KANT unerörtert, welche Bedeutung und welche Folgen es hat, ein solches Übergreifen des Denkens auf das Ding-ansich zu gestatten. Es erscheint ihm als ganz selbstverständlich und in sich gerechtfertigt, daß das für das Denken Widerspruchsvolle sich auch im Ding-ansich aufhebt. Gelegentlich spricht er es wohl aus, daß der Satz des Widerspruchs von allem Denkbaren, also auch vom Ding-ansich gilt (z. B. Werke I, 411 und 569); allein es kommt ihm dabei gar nicht zu Bewußtsein, daß er dadurch mit seinem Fundamentalsatz von der Unerkennbarkeit des Dings-ansich in Kollision gerät. Übrigens wird in den "Antinomien" der Satz des Widerspruchs nicht nur formal auf das Ding-ansich übertragen, sondern ausgefüllt mit mannigfachem, konkretem Inhalt. Jeder der kantischen Beweise enthält ja einen bestimmten widersprechenden Denkinhalt, und ebenderselbe bestimmte Inhalt soll sich auch im Ding-ansich widersprechen. Es ist nötig, mit aller Schärfe darauf hinzuweisen, daß derjenige, der die Möglichkeit, über das Vorstellen theoretisch hinauszugreifen, in uneingeschränkter Weise leugnet, auch gezwungen ist, zuzugeben: aus dem Faktum, daß seinem Denken etwas als in sich widersprechend erscheint, lasse sich für das Ding-ansich absolut Nichts folgern. Dies mögen sich besonders diejenigen Anhänger KANTs einschärfen, die seine Philosophie nach der Seite der Einschränkung des Erkennens auf unser Vorstellen konsequent ausgestalten wollen. Wenn sie es sich zu Bewußtsein bringen werden, daß von ihrem Standpunkt aus die Möglichkeit zuzugeben werden muß, daß selbst der evidentest logische Widerspruch im Ding-ansich entweder gar kein Widerspruch ist, oder, trotzdem er auch in ihm ein Widerspruch ist, dennoch in ihm existiert, so wird vielleicht ihr Denken, gegenüber einer solchen ungeheuren Zumutung, energisch reagieren, und sie werden dabei vielleicht dessen inne werden, daß die objektive Bedeutung der Denknotwendigkeit, die sich dem unphilosophischen Bewußtsein mit unwiderstehlicher Gewißheit aufzwingt, mag sie auch nicht eigentlich bewiesen werden können, dennoch kein trügender Schein ist. Bei KANT ist jener absolut skeptische Fundamentalsatz nur eine halb bewußte Triebfeder des Denkens, und daher in seinen Konsequenzen noch unentwickelt. So ist es dann kein Wunder, daß es ihm auch nicht zu Bewußtsein gekommen ist, wie unverträglich es mit jenem Fundamentalsatz ist, das, was sich im Denken widerspricht und aufhebt, eben darum vom Ding-ansich auszuschließen. Er folgt hierin einfach der Nötigung seines noch nicht "neukantisch" abgeschwächten Denkens. Und umso leichter blieb ihm jene Unverträglichkeit verhüllt, als es sich nicht darum gehandelt hat, ein positiv Denknotwendiges vom Ding-ansich vorauszusetzen, sondern nur darum, das Widersprechende, Denkunmögliche vom Ding-ansich auszuschließen. In diesem letzteren Fall nämlich macht sich der Zwang, das Denken zum Maßstab für das Sein zu erheben, viel unwiderstehlicher und selbstverständlicher geltend, treten die Bedenken und Zweifel an der Berechtigung hierzu viel weniger lähmend auf, als in dem anderen Fall, wo etwas positiv Bewiesenes auf das Ding-ansich übertragen werden soll. Unter dem Gesichtspunkt, den wir nun gewonnen haben, scheint jener Vorwurf, den ich in Bezug auf die "dritte Möglichkeit" gegen KANT erhoben habe, unbegründet zu sein. Ich sagte im vorigen Kapitel, er lasse sich nirgends auf eine Untersuchung der Frage ein, ob nicht dem Vorstellen und dem Ding ansich dieselben allgemeinen Formen in gleich ursprünglicher Weise zukommen können; ja meistenteils ignoriere er diesen Fall gänzlich und bewege sich in der Alternative, daß Raum, Zeit und die Kategorien entweder ausschließlich dem Subjekt, oder ausschließlich dem Ding-ansich als ursprüngliche Formen angehören. Ist nun dieser Vorwurf nicht gänzlich hinfällig geworden, nachdem sich uns gezeigt hat, daß sich nach seiner Ansicht - und auf diese allein kommt es ja hier an - die "Antinomien" allein dadurch beseitigen lassen, daß man Raum, Zeit und die Kategorien dem Ding-ansich abspricht? In der Tat, wer nachgewiesen zu haben glaubt, daß es widerspruchsvoll ist, gewisse Formen dem Ding-ansich als ursprünglich beizulegen, braucht sich auf die Frage gar nicht einzulassen, ob diese Formen sowohl dem Subjekt, als auch dem Ding ansich ursprünglich zukommen können. Für ihn ist diese "dritte Möglichkeit" mit jenem aus den Antinomien gelieferten Beweis implizit beseitigt. So hätte also KUNO FISCHER Recht, wenn er TRENDELENBURGs Ansicht über die "Lücke" bei KANT vor Allem auch durch den Hinweis auf den durch die Antinomien geleisteten indirekten Beweis zu widerlegen glaubt. (10) Sicherlich ist es nur in der Ordnung, wenn FISCHER bei der Frage über die "dritte Möglichkeit" auf die Antinomien hinweist. In der Tat erhält jener Vorwurf, den ich gegen KANT erhoben habe, durch sie eine gewisse Modifikation. Soll derselbe nämlich dem Sachverhalt völlig gerecht werden, so muß man einschränkend zu ihm hinzufügen, daß durch die Antinomien allerdings implizit jene "dritte Möglichkeit" beseitigt wird, und daß er sich daher nicht auf den die Antinomien abhandelnden Teil der kritischen Philosophie erstreckt. Dagegen bleibt der Vorwurf mit Rücksich auf diejenigen Teile der kantischen Philosophie, denen die Zitate, durch die ich ihn gestützt habe, entnommen sind, in vollem Umfang bestehen; vor Allem also mit Rücksicht auf die transzendentale Ästhetik und Analytik. KANT ist durchaus nicht der Ansicht, daß die exklusive Subjektivität der Anschauungs- und Verstandesformen erst durch die Antinomien bewiesen wird. Stünde freilich die Sache so, daß er erst durch den indirekten Beweis der Antinomien jenes Nichtgelten der Vorstellungsformen vom Ding-ansich zu beweisen glaubte, dann müßte ich allerdings meinen Vorwurf, daß er jenes Sowohl-Alsauch übersehen hat, völlig zurücknehmen. Allein so verhält sich die Sache nicht. Er ist der Ansicht, durch die transzendentale Ästhetik die exklusive Subjektivität der Erscheinungen in völlig genügender Weise, und zwar direkt bewiesen zu haben. Nur für den Fall, daß "Jemand etwa an dem direkten Beweis in der transzendentalen Ästhetik nicht genug hätte", lasse sich aus den Antinomien ein kritischer Nutzen ziehen, indem sie das dort direkt Bewiesene indirekt beweisen (Kr. d. r. V. B 399). Und an einer anderen Stelle (Werke I, 528) sieht KANT die Antinomien nur für eine Bestätigung dessen an, was schon vorher in der Analytik bewiesen worden ist. Doch wir bedürfen gar nicht dieser ausdrücklichen Geständnisse. Wir haben früher gesehen, daß er sowohl in der transzendentalen Ästhetik, als auch an den Stellen, wo er von dem bekannten Entweder-Oder spricht, einerseits den vollständigen Beweis für die exklusive Subjektivität der Erscheinungsformen geliefert zu haben glaubt, und andererseits in den Beweisen dennoch auf die Antinomien und die durch sie gegebene Veränderung des Gesichtspunktes nicht die mindeste Rücksicht nimmt. So bleibt also der Vorwurf aufrecht erhalten, daß KANT in der transzendentalen Ästhetik, Analytik usw., trotzdem es sachlich gefordert war, jene "dritte Möglichkeit" zu prüfen unterlassen hat. Wir werden nach all dem wohl anzunehmen haben, daß er sich die hohe Wichtigkeit davon, daß in den "Antinomien" implizit die Beseitigung der "dritten Möglichkeit" enthalten ist, gar nicht zu Bewußtsein gebracht hat. Sonst hätte er, wo er in den transzendentalen Ästhetik usw. die exklusive Subjektivität von Raum, Zeit und Kategorien beweisen will, doch unfehlbar auf die Fähigkeit der Antinomien, diesen Beweis vollständig zu machen, hinweisen müssen. Daß er sich aber jenen Zusammenhang zwischen den Antinomien und der "dritten Möglichkeit" nicht zu Bewußtsein gebracht hat, ist wieder darin begründet, daß ihm diese "dritte Möglichkeit", wie ich oben schon einmal sagte, als etwas selbstverständlich Widersinniges erschien. Einfluß auf den exklusiven Subjektivismus Bei der ersten und zweiten Antinomie hält KANT konsequent daran fest, daß Thesis, wie Antithesis, beide falsch sind, weder vom Ding-ansich, noch von der Erscheinung gelten. Dagegen sucht er die beiden letzten Antinomien - und ganz besonders kommt es ihm auf die dritte an - mit Hilfe folgender Wendung aufzulösen: es sei möglich, daß Thesis und Antithesis "durch bloßen Mißverstand" einander entgegengesetzt werden, und so alle beide wahr sein können, - natürlich nur "in verschiedener Beziehung" (Kr. d. r. V. B 439). Die Behauptung der Antithesis müßte dann als regulatives Prinzip der Erscheinungen gelten, wogegen die Behauptung der Thesis vom Ding-ansich Geltung haben würde. Auf diese Weise sieht KANT den Zusammenstoß beider vermieden. Es stellt sich also, wenn wir bei der dritten Antinomie bleiben, die Sache so: einerseits gilt für uns das regulative Prinzip, zu jedem Glied innerhalb der Erscheinungswelt die empirischen, also der Erscheinungswelt angehörigen Bedingungen zu suchen, niemals ein Glied von einem Dasein außerhalb der Erscheinungswelt abzuleiten, noch ein Glied derselben für absolut unabhängig zu halten; andererseits aber ist die ganze Reihe empirischer Bedingungen in einer intelligiblen Ursache gegründet, die den Charakter der "absoluten Spontaneität", der Freiheit hat (Kr. d. r. V. B 439f, 354f). Hier habe ich nicht die Möglichkeit dieser Auflösung der Antinomie zu prüfen, noch auch zu fragen, ob KANT durch diese positive Bestimmung des Dings-ansich in Widerstreit mit sich selbst gerät (denn mit dem Fortgang KANTs zu positiven Bestimmungen des Dings-ansich haben wir es in diesem Abschnitt noch nicht zu tun). Ich nehme es hier einfach als Faktum hin, daß KANT dem unserem Selbst zugrunde liegenden Ding-ansich das Vermögen einer "Spontaneität, die von selbst anheben kann zu handeln" (Kr. d. r. V. B 419), das Vermögen einer absoluten Initiative, also Freiheit im absoluten Sinn zuschreibt. Die Freiheit ist für das theoretische Denken völlig unerweislich, sie ist ein "Postulat der reinen praktischen Vernunft". Mit diesem Ausdruck aber ist gesagt, daß, um vom Dasein der Freiheit überzeugt zu werden, man die reine praktische Vernunft, also das Sittengesetz, den kategorischen Imperativ, als Faktum in sich spüren und erleben muß. Zunächst kommt es darauf an, sich des moralischen Gesetzes als eines "aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfang unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärlichen", nichtsdestoweniger aber "apodiktisch gewissen Faktums" bewußt zu werden, als von ernstem, dringenden sittlichen Bedürfnis erfüllt zu sein. Erst auf dieser Grundlage läßt sich das Bewußtsein der Freiheit des Willens gewinnen. Jene Grundlage ist das Entscheidende: die Gewißheit über jenes Faktum ist "mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden" (Werke VIII 142, 156f, 163). Das Wichtige ist nun, daß KANT, wie uns ja schon allein die Auflösung der dritten Antinomie beweist, bereits in seinen rein theoretischen Untersuchungen auf die doch nur aus der Tiefe des sittlichen Bedürfnisses heraus zu erreichende Sicherstellung der Freiheit (und ebenso Gottes und der Unsterblichkeit) vielfach Bedacht nimmt. Und zwar tut er dies nicht etwa nur so, daß er die Bedingungen, unter denen wir der Freiheit gewiß werden können, im Unterschied von den Bedingungen des theoretischen Erkennens erörtert oder sonstige Vergleiche zwischen beiden Arten der Gewißheit anstellt. Sondern er sieht die Resultate des theoretischen Denkens daraufhin an, ob sie sich mit der Freiheit und den Forderungen des sittlichen Bedürfnisses und Glaubens überhaupt vertragen oder ihnen widersprechen, und zudem sind diese Ausblicke auf das sittliche Gebiet immer so gehalten, daß man sieht, wie unendlich viel unserem Philosophen an der Sicherstellung der Postulate der reinen praktischen Vernunft gelegen ist. Zu Beginn der "transzendentalen Dialektik", sagt KANT, daß er sich hier damit beschäftig, "den Boden zu den majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen"; die begründende Ausführung dieser Gebäude selbst aber soll "die eigentümliche Würde der Philosophen" ausmachen Kr. d. r. V. B 257. So sieht er also den höchsten Zweck seines Philosophierens in der Aufsuchung und Begründung der sittlichen Ideen, und schon bei der Abfassung der Vernunftkritik hat er dies aus einem sittlichen Bedürfnis entspringende letzte Ziel seines Philosophierens vor Augen. So bringt er dann auch zum Beweis der Wichtigkeit der theoretischen Vernunftideen neben einem theoretischen Grund auch den "praktischen" Gesichtspunkt vor, daß sie vielleicht den Übergang zu den moralischen Ideen ermöglichen werden (Kr. d. r. V. B 265). Erwägen wir nun, daß noch zahlreiche andere Stellen der Vernunftkritik den Nutzen des theoretischen Denkens für die drei hochwichtigen praktischen Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, mit allem Nachdruck hervorheben; bedenken wir ferner, mit welcher alles niederzwingenden Energie sich in KANTs Geist, wie seine Schriften zur praktischen Philosophie darlegen, die Forderungen des Sittengesetzes zur Geltung brachte, und halten wir damit endlich den Umstand zusammen, daß die Beweise und Ableitungen gerade der fundamentalsten theoretischen Sätze zum großen Teil auf ungeprüften, wie selbstverständlich hingenommenen Voraussetzungen beruhen: so werden wir es für wahrscheinlich halten müssen, daß sein moralisches Bedürfnis nicht ohne Einfluß auf sein theoretisches Denken geblieben ist. Manche Gedankengänge, die ihm vielleicht sonst nicht als beweiskräftig erschienen wären, mögen ihm nun genügt haben, weil sie in der Richtung seines moralischen Bedürfnisses lagen und dieses die Empfänglichkeit für sie unwillkürlich verstärkt hat. Worauf ich nun hinaus will, ist dies, daß KANTs moralisches Bedürfnis ganz besonders auch mit dazu beigetragen hat, daß sich ihm sein exklusiver Subjektivismus mit unerschütterlicher Gewißheit festgesetzt hat. - Es liegt auf der Hand, daß die absolute Entgegensetzung von Ding ansich und Vorstellung völlig freien Spielraum zur Annahme der absoluten Freiheit, dieser nach seiner Ansicht allerersten Bedingung der Sittlichkeit, übrig läßt. KANT sieht ein, daß zwischen sittlicher Freiheit und natürlicher Kausalität ein absoluter Widerspruch herrscht und daß daher auf dem Gebiet der natürlichen Kausalität, des "Naturmechanismus", von Freiheit keine Rede sein kann. Die natürliche Kausalität ist nun eine Kategorie, die nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren, seelischen Erscheinungen beherrscht. Wollte er also die Freiheit retten, so mußte er diesem ganzen Gebiet der natürlichen Kausalität die wahrhafte Wirklichkeit absprechen und sie vielmehr einem davon völlig abgetrennten Gebiet zuerkennen, auf dem die natürliche Kausalität und die weiteren mit ihr verbundenen Formen (Zeit, Raum usw.) keine Geltung haben. So war für die Freiheit eine sichere Burg gefunden; sie war in ein Gebiet verlegt, das nach seiner positiven Beschaffenheit dem Verstand völlig unbekannt bleiben muß, von dem aber dieses Negative feststeht, daß in ihm alle uns bekannten Hindernisse der Freiheit beseitigt sind. Dieses Zusammenhangs ist sich KANT vollständig bewußt. So führt er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik aus, daß die kritische Philosophie, trotzdem sie das theoretische Denken auf das Erfahrungsgebiet einschränkt, doch einen "positiven und sehr wichtigen Nutzen" hat. Sie hebt nämlich die Hindernisse auf, welche den Gebrauch der reinen praktischen Vernunft zu vernichten drohen. Dies gelingt ihr aber dadurch, daß sie einerseits den "klarsten Beweis" der Unwissenheit des theoretischen Denkens in Anbetracht der Dinge-ansich liefert, andererseits aber dem Ding-ansich die Formen der Erscheinung, so besonders die Kausalität, in bestimmter Weise abspricht (11). Erst jetzt darf die praktische Vernunft die sittliche Freiheit mit gutem Gewissen behaupten; denn nun muß das theoretische Denken, eben wegen seiner Unwissenheit, wenigstens soviel zugeben, daß die Freiheit keinen Widerspruch enthält und sich daher denken läßt. So ist jetzt also "allem der Moralität widerstreitenden Unglauben" die Wurzel abgeschnitten (Kr. d. r. V. B 675f; ganz ähnlich 419f). Und wie die Freiheit, so sind nun auch Gott und Unsterblichkeit "wider alle möglichen Behauptungen des Gegenteils in Sicherheit gestellt" (Kr. d. r. V. B 799). Das Ding-ansich liegt über alles positive Wissen des Verstandes weit hinaus, doch aber weiß dieser soviel, daß die Vorstellungsformen, welche den "Naturmechanismus" konstituieren, vom Ding-ansich nicht gelten. Wie will, wenn dieser Standpunkt gilt, das theoretische Denken der in praktischer Beziehung geforderten Voraussetzung einer "obersten Intelligenz" und der "beharrlichen Existenz meiner denkenden Natur" eine stichhaltige Widerlegung entgegenstellen? Wer die exklusive Subjektivität der Vorstellungsformen behauptet, ist imstande, alle gegen Gott und Unsterblichkeit gerichteten Angriffe des spekulativen Gegners, mögen sie nun materialistisch, atheistisch, deistisch oder anthropomorphistisch sein, "abzutreiben"(Kr. d. r. V. B 497f; A 306) Aus allen angeführten Stellen erhellt sich, wie hoch KANT den Vorteil anschlägt, der aus der Einschränkung der Erscheinungsformen auf die Vorstellung für die Forderungen des moralischen Bewußtseins erwächst. Und so dürfen wir es dann wohl, nach den oben angeführten allgemeinen Gründen, für sicher halten, daß das sittliche Bedürfnis der Annahme jener metaphysischen Kluft zwischen Vorstellen und Ding-ansich einen gewissen Vorschub geleistet haben mag. Diese Hypothese erscheint ganz besonders dahin gesichert, wenn man erwägt, welch große Rolle gerade in diesem Punkt, wie wir wissen, die selbstverständlichen, ungeprüften Voraussetzungen bei KANT spielen. Hätte das moralische Bedürfnis nicht als besonderer Faktor in KANTs Denken gewirkt, so würde er die Grundsätze, die ihm theoretisch gefordert zu sein schienen, vielleicht doch genauer begründet, mehr gegen Einwürfe verteidigt, gegen andere Lösungsmöglichkeiten in bewußterer Weise abgegrenzt haben. Wie weit freilich, falls das moralische Bedürfnis nicht mitbestimmend gewirkt hätte, diese Veränderung seines theoretischen Verfahrens im Einzelnen und Konkreten gegangen wäre, dies läßt sich wohl überhaupt nicht bestimmen. Jedenfalls aber ist die Sache nicht so zu denken, daß dann alles, was jetzt als unerörterter, stillschweigender Faktor in seinem Denken wirkt, eine vollständige Abgrenzung, Begründung und Entwicklung erhalten hätte. Wer da erwartet, daß das Fehlen jenes moralischen Faktors eine solche Umwälzung in KANTs Philosophieren hervorgebracht haben würde, schlägt die Organisation, die sein theoretisches Denken in ursprünglicher, innerer Entwicklung erlangt hat, und die damit verbundene Einwurzelung gewisser intuitiv gewonnener, halb unbewußter Fundamentalsätze viel zu niedrig an. Man hat KANTs rein theoretisches Interesse vielfach unterschätzt. Bekanntesten sind SCHOPENHAUERs Verdächtigungen. Seine Kritik der kantischen Philosophie ist voll von Äußerungen, in denen ihm ein Verfechten verschiedener Lehren gegen seine eigene, bessere Überzeugung vorgeworfen wird. So sollen die Beweise für sämtliche Thesen seiner Antinomien auf schlauen Kunstgriffen beruhen; seine ganze Moraltheologie soll aus der Furcht hervorgegangen sein, es könnte der durch die Vernunftkritik hervorgerufene Einsturz ehrwürdiger Irrtümer auch ihn selbst treffen usw. (12) Doch berühren uns diese Verdächtigungen hier nicht direkt, da sie sich nicht gegen den Subjektivismus KANTs wenden, dem Schopenhauer vielmehr nachdrücklichst zustimmt. Dagegen vertritt DÜHRING die Ansicht, daß die subjektivistische und skeptische Seite der kantischen Philosophie aus dem Bestreben, den "moralischen Mystizismus", das "erdichtete Etwas der praktischen Vernunft" zu retten, hervorgegangen ist, und so lediglich einen Bestandteil seines "Privatsystems" bildet. Doch gibt er daneben auch ein rein theoretisches Interesse bei KANT zu. Seine Philosophie habe nämlich zwei Schwerpunkte oder Pole: den wissenschaftlichen und den mystischen, imaginären. Jener sei insofern in ihr wirksam, als sie positiv für die Tragweite und Sicherheit des Verstandesgebrauchs eintritt. Dagegen entspringt die Zumutung, der Verstand solle sich jene bekannte Selbstbeschränkung, ja Selbstfesselung auferlegen, aus dem Bedürfnis, den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sicherzustellen (13). Viel weiter geht CARL GÖRING. Nach seiner Ansicht wäre es KANTs oberster, ja bei der Abfassung der Vernunftkritik einziger Zweck gewesen, das moralische Interesse durch die Rettung der religiösen Hauptdogmen zu befriedigen. Die Erkenntnistheorie diente ihm nur als Mittel zu diesem religiös moralischen Zweck; "von einer positiven Theorie der Erfahrung weiß die erste Auflage der Kritik nichts". Erst in der zweiten Auflage kam er von seiner anfänglich negativen Absicht dazu, eine positive Theorie der Erfahrung aufzustellen. GÖRING spricht also so, als hätte KANT bei der Abfassung der Vernunftkritik gar kein theoretisches Interesse gehabt, als hätte er die Frage nach der Möglichkeit des apriorischen Erkennens gar nicht als solche lösen wollen. Mit Recht erwartet man, daß, wer ein so schwerwiegendes, KANT erniedrigendes Urteil ausspricht, die triftigsten Gründen dafür anzuführen habe. Nach zwingenden Gründen wird man jedoch bei GÖRING vergebens suchen. Er zitiert den Satz aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik: "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Allein darf denn hieraus gefolgert werden, daß KANT ausschließlich oder auch nur in erster Linie darauf bedacht gewesen ist, den Glauben zu retten, und die das Erkennen betreffenden Fragen gar nicht rein theoretisch hat lösen wollen? Wie der ganze Zusammenhang zeigt, hat jene Stelle den rein sachlichen Sinn, daß die Postulate der praktischen Vernunft nur durch eine Aufhebung des Wissens vom Ding-ansich sicher gestellt werden können. Es kommt GÖRING gar nicht in den Sinn, daß KANT, als er die Vernunftkritik geschrieben hat, den dort behandelten Fragen ein rein theoretisches Interesse entgegengebracht, sich beim Nachdenken über sie um ihrer selbst willen mit ihnen beschäftigt haben könnte, und daß es sich damit ganz wohl verträgt, einen gewissen mitbestimmenden Einfluß des moralischen Interesses auf die Beantwortung der theoretischen Fragen anzunehmen. Er stellt sich das Denken KANTs als geradezu verblüffend einfach vor, was übrigens bei einem "Philosophen" (!), der in der Welt nichts Rätselhaftes und Unbegreifliches findet, allerdings "begreiflich" ist. - Der einzige Gesichtspunkt, die drei praktischen Ideen um jeden Preis zu retten, soll KANTs ganzes Denken in seinen Dienst genommen haben! Rein theoretische Probleme und Gesichtspunkte sollen auf seine Denkprozesse keine bestimmende Macht haben ausüben können! GÖRING scheint keine Ahnung davon zu haben, daß das philosophische Denken, trotzdem es sich einen höchsten Zweck gesetzt hat, dennoch die verschiedenartigsten Probleme rein nur mit sachlicher Rücksicht auf den in ihnen selbst liegenden Zusammenhang, nicht zu Vorteil und zugunsten jenes höchsten Zwecks, behandeln kann. Wohl mag der "Schwerpunkt aller Metaphysik" für KANT "im Glauben" gelegen haben. Allein damit ist, was GÖRING freilich nicht weiß, etwas ganz Anderes gesagt als in den oben zitierten Sätzen. Mag immerhin die Sicherstellung der moralischen Postulate das letzte Ziel des kantischen Philosophierens gewesen sein, mag ihn dieses Endziel auch noch so oft während seiner theoretischen Untersuchungen beschäftigt, mag er selbst, wie LAAS meint, seine Vernunftkritik auf den Freiheitsbegriff und von da aus weiter auf die anderen wichtigen moralisch-metaphysischen Aussichten mit Vorbedacht zubereitet haben, so ist es doch, wie auch LAAS (14) hervorhebt, gleichwohl ganz gut möglich, daß er zugleich für die verschiedenen erkenntnistheoretischen Fragen ein "selbständiges, den höchsten Anforderungen Stand haltendes rein theoretisches Interesse" gefaßt und sie lediglich nach ihrem sachlichen Zusammenhang erörtert hat. Die Verträglichkeit beider Seiten fällt GÖRING nicht einmal als etwas Mögliches ein. Es ist in der Tat zum Erstaunen, daß ein "wissenschaftlicher" Philosoph mit KANT in dieser groben, plumpen Weise umgeht. Es heißt bei GÖRING, daß sich KANTs Erkenntnistheorie "durch die Rücksicht auf den Glauben sehr eigentümlich gestaltet." Man könnte hiernach glauben, der habe eine unwillkürliche, unbewußte Einwirkung des moralischen Bedürfnisses auf das theoretische Denken im Auge. Ich werde indessen anderer Meinung, wenn ich höre: es sei bei KANT "oberste Maxime des Philosophierens" gewesen, daß in Kollisionsfällen zwischen Theorie und Praxis das moralische Interesse jederzeit nach der letzteren Seite hin entscheiden muß. Selbst wenn sich Jemand auf bloß theoretische Gründe hin seine Weltanschauung zu bilden imstande wäre, so dürfte er doch - dies fordert KANT - "im höchsten allgemeinen Interesse der Menschheit die letzten Konsequenzen nicht ziehen". Hiermit ist KANTs wissenschaftlicher Charakter verdächtigt. Denn wer vom Denken fordert, daß es sich trotz deutlicher Einsicht des Gegenteils den Forderungen des moralischen Bedürfnisses beugen soll, mutet der Philosophie die schmählichste Selbsterniedrigung zu. Womit beweist denn nun GÖRING diese unerhörte Beschuldigung? Auch nicht mit einer einzigen Silbe. Diesem leichtfertigen Verfahren gegenüber ist es überflüssig, KANT in Schutz zu nehmen. Doch führe ich zum Beweis für die Mißhandluhng, welche er durch GÖRING erfährt, eine Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik an. Sie steht unmittelbar vor jenem von GÖRING zitierten Satz, worin KANT erklärt, daß er das Wissen aufheben muß, wenn er für den Glauben Platz bekommen soll. GÖRING hat also, als er seinen Aufsatz geschrieben hat, auch die Stelle, die ich im Auge habe, unzweifelhaft gelesen. Hier heißt es dann also: gesetzt, die Moral setzt notwendig Freiheit voraus, die spekulative Vernunft aber hätte bewiesen, daß diese sich gar nicht denken läßt, so muß notwendig jene durch die Moral geforderte Voraussetzung dem Beweis der spekulativen Vernunft weichen, folglich die Freiheit dem Naturmechanismus den Platz einräumen (Kr. d. r. V. B 678). Man traut seinen Augen nicht, wenn man bei GÖRING liest, daß das gerade Gegenteil davon KANTs oberste Maxime gewesen sein soll (15). So wären wir dann mit der Beantwortung der Frage ans Ende gekommen, durch welche speziellen Gründe KANT zum exklusiven Subjektivismus hingeführt worden ist. Um nun nicht den Schein zu erwecken, als glaubte ich, mit der Darlegung dieser Gründe mehr geleistet zu haben, als wirklich der Fall ist, so ist hier folgende allgemeine Bemerkung gemacht, die auch für alle weiteren Erörterungen gilt. Meine Erörterungen gehen darauf aus, die erkenntnistheoretischen Grundtriebfedern in KANTs theoretischem Philosophieren aufzudecken. Zuerst enthüllte sich mir der Grundsatz des absoluten Skeptizismus, sodann der exklusiv subjektivistische Faktor; und dieser leitete mich wieder zu mehreren Wurzeln hin. Im dritten und vierten Kapitel zeigte er sich mir im engsten Zusammenhang mit zwei verschiedenen Anwendungen des rationalistischen Erkenntnisprinzips, wogegen ihn das gegenwärtige Kapitel mit dem moralischen Gesichtspunkt in eine wesentliche Verbindung gebracht hat. Da läßt sich nun die weitere Frage erheben: wie kam es denn, daß sich diese Triebfedern in seinem Denken festgesetzt haben? wodurch geschah es, daß sich darin diese eigentümliche Zusammenwirkung herausgebildet hat? Diese Frage bleibt im letzten Grund durch meine Erörterungen unbeantwortet. Bis zu einem gewissen Grad allerdings findet auch sie in ihnen eine Antwort. So zeigte der erste Abschnitt nicht nur, daß der skeptische Grundsatz in KANTs Philosophie faktisch wirksam ist, sondern er legte zugleich die berechtigte, gültige Seite desselben dar. Dies aber ist begreiflich, daß ein Denker, besonders wenn er zu den Ersten gehört, die sich mit einer so schwierigen Frage beschäftigen, eine Seite der Wahrheit für die ganze Wahrheit nimmt. - Und der zweite Abschnitt zeigte, wie nahe verwandt jener Grundsatz dem exklusiven Subjektivismus ist. Dadurch wurde es begreiflich, daß ein Denker, der jenen Grundsatz nur dunkel erfaßt hat, unvermerkt in das verwandte Prinzip hinübergleitet. Freilich ist damit noch lange keine zwingende Erklärung dafür geliefert, warum sich gerade in KANTs Denken eine so eigentümliche Verbindung beider Triebfedern herausgebildet hat. Zu diesem Zweck müßten wir zunächst nach den äußeren Anregungen und Anstößen umsehen, die sein Denken nach der Richtung jener maßgebenden Gedankenzusammenhänge hin zu entwickeln geeignet waren. Besonders müßten wir auf diejenigen Philosophen, mit denen er sich eingehend beschäftigt hat, unser Augenmerk lenken und dem Einfluß, den sie auf ihn ausgeübt haben, sorgfältig nachspüren. Indessen müßte ich mir doch bald gestehen, daß, selbst wenn ich die Bedeutung solch äußerer Anregungen noch so hoch anschlagen wollte, sich dennoch auf diesem Weg allein jene Frage nicht im Entferntesten genügend beantworten läßt. Ich würde mich zu der Annahme gezwungen sehen, daß die Triebfedern des kantischen Philosophierens auf eine entsprechende ursprüngliche Organisation seines Denkens, auf gewisse ihm ureigentümlich immanente Sprungfedern und auf eine ursprüngliche, von innen herausstammende Entwicklung dieser ursprünglichen Organisation hinweisen, und daß jene äußeren Anstöße ohne eine solche ursprüngliche Organisation niemals hätten maßgebend wirken können. JUSTI sagt mit Bezug auf WINCKELMANN, daß wir, zumal bei genialen Menschen, je genauer wir uns ihren Werdeprozeß aufzulösen suchen, stets auf ihre gegebene Natur, auf die ursprüngliche Organisation einer geistigen Monade zurückkommen werden (16). Zu so einem Bekenntnis dürfte wohl auch der Kantforscher kommen. Auch ihm würde sich z. B. ergeben, daß man das kantische Denken auffassen muß ls schon von Haus aus angelegt auf eine gewisse Vermittlung der Unterschiede und Gegensätze, allein nicht auf eine immanente, innerliche, sondern auf eine äußerliche, im Dualismus stehen bleibende. Genau und im Einzelnen übrigens wird sich niemals bestimmen lassen, in welchem Umfang und Grad jede äußeren Anregungen auf diese ursprüngliche, innere Entwicklung fördernd oder hemmend eingewirkt haben. Ich bemerke noch ausdrücklich, daß die Resultate meiner Untersuchungen unabhängig bestehen von der Stellung, die man in dieser Frage einnimmt. Wer jede ursprüngliche Organisation des Denkens prinzipiell bekämpft, müßte eben annehmen, daß die Faktorn und Triebfedern, die in einer gewissen Periode der Gedankenentwicklung eines Individuums fundamental bestimmend auftreten, auf irgendwelche mechanische, peripherische Weise entstanden sind. Grundcharakters der kantischen Philosophie Aus allem Bisherigen folgt, daß ich den Schwerpunkt und Charakter des kantischen Denkens weder ausschließlich in seinen absoluten Skeptizismus, noch auch ausschließlich in seinen exklusiven Subjektivismus setze. Letzteres tut SCHOPENHAUER, wenn er sagt, daß der "Grundzug" der kantischen Philosophie, ihre "Basis" und "Seele" in der Lehre von der "gänzlichen Diversität" der Welt als Vorstellung und der realen Seite der Welt liegt (17). Meine Behauptung geht allein dahin, daß sowohl der absolute Skeptizismus, als auch der exklusive Subjektivismus zu den wesentlichen, durchgreifend charakteristischen Seiten des kantischen Denkens gehören. Die nächsten Abschnitte werden uns andere, ebenfalls konstituierende Seiten desselben kennen lehren, sodaß wir immer mehr einsehen werden, daß sich die Ureigentümlichkeit dieses Denkens erst in einer äußerst komplizierten Verbindung verschiedener, ja entgegengesetzter und widersprechender Faktoren erschöpft. Ich hebe diesen Satz mit besonderem Nachdruck hervor, weil sich die moderne Kantforschung in zweierlei Weise zu dieser Grundeinsicht in Widerspruch setzt. Die Einen geben sich alle erdenkliche Mühe, die kantische Philosophie als konsequente, widerspruchsfreie, klare und glatte Durchführung gewisser Prinzipien zu erweisen; Andere wieder wollen darlegen, daß das, was in Wahrheit nur eine konstituierende Seite dieser Philosophie unter mehreren bildet, ihr auschließlicher Mittel- und Schwerpunkt ist. Natürlich können sich auch beide Einseitigkeiten miteinander verbinden. Die genannte zweite Tendenz nimmt oft die bestimmtere Gestalt des Strebens an, die idealistische oder phaenomenalistische Seite der kantischen Philosophie als einen nicht charakteristischen, nicht im Mittelpunkt stehender Faktor derselben darzustellen. Ich fasse hier unter der Bezeichnung des Idealismus oder Phaenomenalismus die beiden Standpunkte zusammen, die wir in diesen beiden Abschnitten als Faktoren des kantischen Denkens kennen gelernt haben, und verstehe sonach darunter die Ansicht, daß wir in unserem Erkennen stets innerhalb unserer Vorstellungen bleiben und alle Gegenstände, die wir kennen, lediglich in unserem Vorstellen existieren; - denn in dieser Form ausgesprochen, läßt sich diese Ansicht sowohl in einem skeptischen wie auch in einem subjektivistischen Sinn verstehen. Und zwar ziehe ich diese beiden Seiten der kantischen Philosophie darum zu einer einzigen zusammen, weil sie auch bei KANT in ungetrennter Vermischung vorkommen. Übrigens hat man sich fast nirgends in der Kantforschung zu Bewußtsein gebracht, daß in der idealistischen oder phaenomenalistischen Seite zwei prinzipiell verschiedene Standpunkte miteinander vermengt sind. Ich nenne von jenen Kantforschern, die den Idealismus möglichst aus dem Mittelpunkt des kantischen Denkens zu drängen suchen, nur ALOIS RIEHL, BENNO ERDMANN und FRIEDRICH PAULSEN. Bei allen dreien tritt die Bekämpfung des "idealistischen Vorurteils" in der Auffassung KANTs mit starkem Nachdruck auf. Nach RIEHL (18) ist der Idealismus für die Vernunftkritik "kein Ergebnis, sondern ein Mittel, keine Konsequenzm, sondern eine Prämisse"; er ist die Bedingung, unter welcher allein das Ergebnis der Kritik stattfinden kann. Dieses Ergebnis aber besteht in der Einschränkung der Erkenntnis auf die Dinge als Erscheinungen, in der Kritik der Wissenschaft des Übersinnlichen. - Allerdings kann man den Idealismus als Mittel für diesen Zweck bezeichnen. Allein dieses Mittel ist nicht etwa derart, daß es bei Erreichung des Zwecks weggeworfen wird, sondern es lebt in dem erreichten Zweck weiter fort. Denn in der "Einschränkung aller Erkenntnis auf die Erscheinungen" ist dies unmittelbar mitgesetzt, daß alle Gegenstände, die wir kennen, lediglich in unserem Vorstellen existieren; sonst müßte ja das Erkennen die Dinge ansich ergreifen können. Dieser in jener Einschränkung der Erkenntnis mitgesetzte Satz aber drückt nichts Anderes als den perrhorreszierten [abgelehnten - wp] Idealismus aus; wobei es zunächst freilich unbestimmt bleibt, ob dieser Idealismus einen absolut skeptischen oder exklusiv subjektivistischen Charakter hat. Und umgekehrt: existieren alle Gegenstände, die wir kennen, lediglich in unserem Vorstellen, dann ist auch jenes sogenannte "Ergebnis", die Einschränkung des Erkennens auf die Erscheinungen, unmittelbar mitgesetzt. So ist also das, was RIEHL selbst als fundamentalstes "Ergebnis" der Vernunftkritik angibt, nichts weiter als eine selbstverständliche Folge aus dem Idealismus im genannten Sinn. Und doch soll dieser Idealismus vor dem sogenannten "Ergebnis" an Wichtigkeit so stark zurücktreten, daß RIEHL an einer Stelle sogar von seiner "untergeordneten Stellung" im System KANTs spricht! Übrigens bedarf es nicht dieser Widerlegung RIEHLs aus den von ihm selbst aufgestellten Sätzen heraus. Denn alle meine bisherigen Entwicklungen haben gezeigt, daß der Idealismus sowohl im skeptischen, als auch in einem subjektivistischen Sinn eine grundwesentliche Seite des kantischen Denkens bildet. Freilich kommt, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, eine ganz entgegengesetzte Triebfeder, die rationalistische, als ebenso grundwesentlich hinzu. Außerstande, das widersprechende Zusammenwirken dieser Faktoren in Eins zu fassen, hielt sich RIEHL in einseitiger Weise an die Stellen, die für den zuletzt genannten Faktor zeugen, wodurch sich ihm der Sinn der entgegengesetzten Stellen nach der rationalistischen Seite hin färbte. Nur so ist es begreiflich, daß ihm die Ansicht KANTs als "dem reinen Subjektivismus entgegengesetzt" erscheint, oder daß ihm sein Idealismus "nichts weiter ist als die Lehre der Idealität des Raumes und der Zeit". Als ob KANT nicht hundertmal gesagt hätte, daß auch die Kategorien Sinn und Bedeutung verlieren, wenn man sie nicht auf die Erscheinungen, d. h. Vorstellungen bezieht! - Einige Versuche RIEHLs, seine Auffassung aus KANT selbst zu beweisen, werde ich an geeigneter Stelle prüfen. Auch dort wird sich zeigen, daß er eine viel zu einfache und durchsichtige Konsequenz - (Kant ist konsequent im Durcharbeiten gewisser fundamentaler Widersprüche) - in ihn hineinträgt und ihn zugleich ins Einseitige verkehrt. Zwischen ERDMANN und RIEHL besteht in vielen Punkten der Auffassung KANTs volle Übereinstimmung. Es ist ganz im Sinne RIEHLs gesprochen, wenn jener die "empiristische, gegen die Grenzüberschreitung der Erfahrung durch die rationalistische Metaphysik gerichtete Tendenz der Deduktion" für den Hauptpunkt des kantischen Systems erklärt, und ebenso wie bei RIEHL geschieht diese Hervorhebung der empiristischen Seite auf Kosten der idealistischen (ebenso übrigens auch auf Kosten der rationalistischen). Weder in der Ästhetik, noch in der Analytik kommt der transzendentale Idealismus in Betracht, sondern erst in der Dialektik, und auch hier nur in der Kritik der rationalen Psychologie und in der Kritik der Antinomien. Daher gilt, was wir gegen RIEHL bemerkt haben, auch gegen ERDMANN. Dieser bringt den transzendentalen Idealismus in die Formel: "die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung sind als Erscheinungen lediglich Vorstellungen in uns." Liegt denn dieser Idealismus nicht unmittelbar eingeschlossen in der Einschränkung der Erkenntnis auf die Erscheinungen, d. h. Vorstellungen? Übrigens gibt ERDMANN selbst zu, daß der Idealismus die Voraussetzung der Deduktion, ja das "notwendige Fundament des ganzen Gebäudes", der den ganze Weg vorausbestimmende Ausgangspunkt ist. Nun aber ist der Idealismus keineswegs in dem Sinne die Voraussetzung der empiristischen Bedeutung des Systems, daß er erst auf langem weg zu diesem Resultat hinführt. Vielmehr ergibt sich, wie ich schon gegen RIEHL bemerkte, die empiristische Seite ohne alle neuen Zwischenglieder, ganz von selbst, aus jenem Standpunkt. Der Idealismus ist nichts Anderes als der einfache, sachliche Ausdruck eben desselben Gedankens, den die empiristische Formulierung polemisch, mit Rücksicht auf ein anders verfahrendes Erkennen, das als möglich oder wirklich vorausgesetzt wird, zum Ausdruck bringt. Ob sich indessen in KANTs Bewußtsein die polemische, gegen die Grenzüberschreitung der Erfahrung gerichtete Wendung des idealistischen Prinzips vielleicht etwas mehr betont habe als dieses Prinzip ansich genommen, ist eine ganz unwichtige Frage. Jedenfalls dachte er überall beides zusammen, nur das eine Mal mehr in dieser, das andere Mal mehr in jener Form. Dies zeigt seine ganze Ausdrucksweise. ERDMANN würde die hervorragende Stellung des Idealismus in der kantischen Philosophie eher einsehen, wenn er nicht die unrichtige Voraussetzung hegen würde, daß die Leugnung oder doch zumindest die Bezweiflung der Dinge ansich notwendig zu ihm gehört, während sich in Wahrheit doch die Ansicht, "daß alle Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung lediglich Vorstellungen in uns sind", auch mit der Behauptung der Existenz der Dinge ansich, als eines unbekannten X verträgt. Nur erhält der Idealismus dann ausschließlich den Sinn des exklusiven Subjektivismus. Selbst wenn ERDMANN mit der Ansicht Recht hätte, daß KANT die Existenz der Dinge ansich nirgends in Frage stellt, so würde damit doch noch nicht bewiesen sein, daß der Idealismus nicht im Mittelpunkt der kantischen Philosophie steht. (19) Im Gegensatz zu RIEHL und ERDMANN bemüht sich PAULSEN, den Satz, daß es rationale (aus reiner Vernunft stammende) Erkenntnis von Gegenständen gibt, als das Charakteristische, Wichtigste, als Mittelpunkt und hauptsächlichen Inhalt der Kritik der reinen Vernunft nachzuweisen, und er glaubt, in jenem die Tatsächlichkeit einer rationalistischen Erkenntnis aussprechenden Satz den Charakter der kritischen Philosophie wunder wie scharf und exakt festgesetzt zu haben. Von diesem Standpunkt aus sucht er besonders auch den Phänomenalismus KANTs möglichst in den Hintergrund zu drängen. (20) Ist nun aber jener von PAULSEN aufgestellte Satz nicht vielmehr in hohem Grad unbestimmt? Läßt er nicht mannigfachen, in prinzipiellster, tiefgreifendster Weise verschiedenen Grundlegungen der Philosophie ungehinderten Spielraum? Bekennen sich nicht SPINOZA, KANT, FICHTE, HEGEL in gleicher Weise zu jenem Satz? Er ist daher doch wohl nur in äußerst geringem Grad für die kantische Philosophie charakteristisch, in ihm liegt nimmermehr die "positive Neubegründung" der Philosophie durch KANT. Wenn PAULSEN dem Phaenomenalismus und Apriorismus, zugunsten jenes rationalistischen Satzes, das Recht abspricht, als "wichtigster Punkt der kantischen Doktrin" und dgl. zu gelten, so ist dies gerade so, als wenn Jemand z. B. das Christentum nicht etwa damit, daß es einen so und so beschaffenen, in einem ganz bestimmten Verhältnis zur Welt stehenden Gott lehrt, sondern damit, daß es überhaupt ein Monotheismus ist, charakterisieren wollte. In gewissen Sinn freilich kann man PAULSEN Recht geben. Wenn man jenen kahlen, vagen Rationalismus den "Mittelpunkt", "Hauptsatz" der kantischen Philosophie und dgl. nennt, so ist dies insofern richtig, als KANTs Wendung zum Kritizismus hin eine ihrer Hauptursachen in dem Bestreben hat, den Rationalismus um jeden Preis zu retten, und daher freilich der Kritizismus unter den Gattungsbegriff "Rationalismus" fällt. Dies ist besonders augenscheinlich, wenn man den Ausgangspunkt dieser Philosophie, die an der Spitze stehende Frage: "wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich?" oder: "wie sind synthetische Sätze a priori möglich?" betrachtet (21). Dagegen hat man mit eben dieser Behauptung Unrecht, wenn man unter "Mittelpunkt" und dgl., wie man dann auch soll, den ureigentümlichen Charakter des Systems, diejenigen seiner Faktoren, durch die es sich von allen anderen Systemen spezifisch unterscheidet, die springenden Punkt, durch die es sich zu dieser eigentümlichen Individualität gestaltet, also nicht den abstrakten Gattungsbegriff, das ganz allgemeine Ziel, sondern den konkreten Geist des Systems versteht. Beide grundverschiedenen Begriffe laufen aber bei PAULSEN ungeschieden durcheinander. Seine Ausdrücke machen es wahrscheinlich, daß er auf diesen für die von ihm behandelte Frage entscheidenden Unterschied gar nicht seine Aufmerksamkeit gelenkt hat; bald scheinen sie mehr den allgemeinsten Gattungstypus, den allgemeinsten Satz des Systems, dem die übrigen Sätze zwar nicht widersprechen, aus dem sie sich aber nimmermehr in ihrer Eigentümlichkeit herleiten lassen, bald wieder das spezifisch Charakteristische des Systems zu bezeichnen. So wenig wir jedoch auch die kantische Philosophie durch jenen allgemeinen, unbestimmten Rationalismus charakterisiert finden können, so werden uns doch die beiden nächsten Hauptabschnitte zeigen, daß allerdings zwei ganz bestimmte, eigentümliche Arten des Rationalismus zu ihren wesentlichen, charakteristischen Seiten gehören. Alle diese Forscher treten an die Analyse der kantischen Philosophie mit einer unrichtigen Ansicht über den Charakter des philosophischen Denkens überhaupt heran. Sie setzen voraus, daß der Philosoph ein von allen wesentlichen, sachlichen Zusammenhängen, von allem unabtrennbar Mitzudenkenden losgelöstes Problem einer einzigen in sich einfachen Spitze hinausspannt, während sich doch in Wahrheit die Sache so verhält, daß er das Ziel seines Denkens in ein inhaltvoll und nach seinem ganzen reichen Zusammenhang gefaßtes Problem, also in ein Ganzes von mehreren miteinander wesentlich verbundenen Seiten setzt. So ist es auch bei KANT. Gemäß der Mehrheit der in ihm wirkenden Triebfedern stellt sich auch das bewußte Ziel seines Denkens als ein komplizierter Zusammenhang dar. Wer dies nicht zugibt, muß die kantische Ausdrucksweise, welche stets den vollen Zusammenhang des Zieles - nur mit stärkerer Betonung bald dieser, bald jener Seite - vor Augen hat, gewaltsam drehen und wenden, um sie mit seiner einseitigen Interpretation in Einklang zu bringen. Es scheint den Meisten unglaublich schwer zu fallen, eine vielseitige, gefüllte Einheit als beherrschendes Ziel des Denkens aufzufassen. Und doch ist die entgegenstehende Ansicht, sobald es sich um ein reiches, umfassendes Denken handelt, durch und durch naturwidrig. Auch muß sie an jeder unbefangenen Auffassung der kantischen Darstellungsweise zunichte werden. Nur dann wird sich diese als ein naturgemäßer Ausdruck seines Denkens ergeben, wenn man annimmt, daß nicht nur der Phaenomenalismus, sondern auch der Empirismus [natorp], und nicht nur diese, sondern auch der weiter zu erörternde Rationalismus und Apriorismus - und zwar alle diese Seite in engstem sachlichen Bund - das bewegende Ziel seines Denkens bildeten. Faßt man diese Seite nach ihren letzten prinzipiellsten Triebfedern auf, so erhält man den mehr unbewußten Mittelpunkt seines Denkens; nimmt man sie dagegen in der Weise, wie sie in seiner Darstellung offen und bewußt zutage treten, so machen sie das bewußte Ziel desselben aus. Natürlich wird in dem einen Abschnitt diese, in dem andern jene Seite mit größerem Nachdruck sein Bewußtsein beherrschen. ![]()
10) Zum Beispiel Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. III, Seite VI; Anti-Trendelenburg, Seite 48. 11) Schon der absolute Skeptizismus, die Behauptung des absoluten Nichtwissens vom Ding-ansich, macht es möglich, Freiheit, Unsterblichkeit und Gott bis zu einem gewissen Grad den Angriffen der Gegner zu entziehen. Aber eben auch nur "bis zu einem gewissen Grad". Denn wer vom Ding-ansich absolut nichts weiß, muß es als möglich gelten lassen, daß Raum, Zeit, Kausalität usw., also die Todfeinde jener moralischen Postulate, im Ding-ansich die Herrschaft führen. Vollständig wird jene moralische Trias den Angriffen der Gegner erst dann entzogen, wenn zu jener erkenntnistheoretischen Kluft die metaphysische hinzugefügt, wenn jenes absolute Nichtwissen vom Ding-ansich durch das Wissen vom Nichtgelten aller Vorstellungsformen in seinem Bereich eingeschränkt wird. - Daher wird das moralische Bedürfnis wohl auch schon da mitgewirkt haben, wo Kant sich zur Annahme jener absoluten erkenntnistheoretischen Kluft hingedrängt fühlt. Und besonders darum dürfen wir dies für sicher halten, weil sich ja für ihn die erkenntnistheoretische Kluft von der metaphysischen Heterogenität des Dings-ansich nicht scharf scheidet, sondern er mit dem Einen auch immer zugleich das Andere auszusprechen meint. Es darf uns daher auch nicht stören, wenn Kant in den oben angeführten Stellen die Rettung jener drei Postulate bald mit der absoluten Unwissenheit über das Ding-ansich, bald mit dem Wissen vom Nichtgelten der Kausalität im Ding-ansich begründet. - So spreche ich dann der Einfachheit halber oben immer nur davon, daß die metaphysische Heterogenität des Dings-ansich durch das moralische Bedürfnis Kants mitbestimmt wurd. Implizit aber soll hierin zugleich immer liegen, daß das moralische Bedürfnis auch auf die absolut skeptische Seite seines Denkens bestimmend eingewirkt hat. 12) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, dritte Auflage, 1859, Bd. 1, Seite 585f und 606. 13) Eugen Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie, zweite Auflage, Leipzig 1873, Seite 398f und 424f. 14) Ernst Laas, Kants Analogien der Erfahrung, Berlin 1876, Seite 205f. 15) Carl Göring, Über den Begriff der Erfahrung, in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1877, Heft 3 und 4 und 1878, Heft 1. Vgl. besonders im Heft 3 Seite 403f, 417 und im 4. Heft Seite 534. 16) Carl Justi, Winckelmann, Leipzig 1866, Bd. 1, Seite 446. 17) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, dritte Auflage, 1859, Bd. 1, Seite 494f; Bd. 2, Seite 214 und 216. 18) Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, Bd. 1, Leipzig 1876. Vgl. besonders Seite 207, 286, 311f, 314f, 337, 384. 19) Benno Erdmann, Immanuel Kants Prolegomena, herausgegeben und historisch erklärt, Leipzig 1878. Vgl. besonders Seite XVI und LXVf. - Derselbe Kants Kritizismus, Leipzig 1878 (vgl. besonders Seite 63 und 65). 20) Friedrich Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, Leipzig 1875 (vgl. besonders Seite 182f). 21) Indessen ist selbst bei diesen Formulierungen, wie das vierte Kapitel des ersten Abschnitts gezeigt hat, die Rücksicht auf den Standpunkt des absoluten Skeptizismus wesentlich mit tätig gewesen. |