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Sprache, Sprechen und Denken
![]() Beginnen wir mit der Frage: Sind Denken und Sprechen untrennbar miteinander verbunden? Auf diese alte Frage gibt es in den Annalen der Philosophie und der Psychologie noch keine endgültige Antwort. Die weitestgehende Bejahung dieser Frage gab JOHN B. WATSON, der Vater der amerikanischen behavioristischen Psychologie: "Meiner Ansicht nach sind Denkprozesse in Wirklichkeit motorische Gewohnheiten im Kehlkopf". Der amerikanische Behaviorismus lehnte es in seinen Anfängen ab, irgendwelche intervenierende Variabeln zwischen Reiz und Reaktion anzusetzen; in der Behauptung WATSONs, daß Denken nicht mehr sei als verdecktes Sprechen, spiegelt sich diese Tendenz eindeutig wider. Eine weniger extreme Richtung hat eine lange Tradition in der russischen Psychologie. IVAN M. SECHNOV, der Begründer der russischen Physiologie und Mentor PAWLOWs, bezog 1863 als einer der ersten wissenschaftlich Stellung zu diesem Problem:
Die brillanten Untersuchungen über die kognitive Entwicklung, die JEAN PIAGET und seine Kollegen in Genf (Schweiz) durchgeführt haben, bilden eine klare Gegenposition zur behavioristischen Tradition. Die Schule von PIAGET geht davon aus, daß die kognitive Entwicklung eigenständig verläuft und die sprachliche Entwicklung im allgemeinen nach sich zieht bzw. daß die kognitive Entwicklung in der Sprache des Kindes widergespiegelt wird. Der Intellekt des Kindes entwickelt sich durch die Interaktion mit Dingen und Menschen in seiner Umgebung. In dem Maße, wie Sprache bei diesen Interaktionen eine Rolle spielt, kann sie die Entwicklung in einigen Fällen vorantreiben oder erleichtern, aber sie kann das kognitive Wachstum nicht selbst bewirken. Bevor wir uns mit diesen Fragen der menschlichen Entwicklung befassen, müssen wir zunächst einmal sehen, ob es irgendwelche verstandesmäßigen kognitiven Prozesse höherer Ordnung ohne Sprache geben kann. Hierzu lassen sich einige Beispiele anführen. Zuerst einmal dürfen wir nicht vergessen, uns an den Unterschied zwischen Sprache und Sprechen, der zu Beginn des Buches definiert wurde, zu erinnern. Sprechen ist ein meßbarer physikalischer Prozeß, der die Produktion von Sprechlauten zur Folge hat; Sprache ist dagegen ein nicht-meßbares System von Bedeutungen und sprachlichen Strukturen. Die Thesen WATSONs setzen sich also gar nicht mit Sprache und Denken auseinander; vielmehr wird darin Sprechen und Denken gleichgesetzt. Kognitionspsychologen wie WYGOTSKI und PIAGET geht es insofern um Sprechen und Denken, als Sprechen bei der Kommunikation von Wissen unter Menschen eine Rolle spielt. Aber im wesentlichen geht es ihnen um Sprache und Denken, d.h. um die Beziehungen innerer sprachlicher und kognitiver Strukturen. Ihrer Meinung nach spiegelt sich der innere Gebrauch der Sprache nicht unbedingt immer in den Artikulationsbewegungen des Sprechapparts wider. Die extreme Hypothese WATSONs ist stark kritisiert worden. Der augenfälligste Einwand richtet sich wohl gegen die Folgerung, daß ein Mensch, der nicht mehr über seine Sprechmuskulatur verfügt, die Denkfähigkeit verlöre. Überzeugende Beweise für diese reductio ad absurdum finden sich bei COFER:
Setzen wir den Fall, wir suchten uns zu erinnern an einen vergessenen Namen. Unser Bewußtseinszustand ist dabei ein ganz eigentümlicher. Es ist eine Leere vorhanden; aber keine bloße Leere. Es ist eine Leere, in der es intensiv arbeitet. In ihr spukt eine Art Geist des Namens, der uns in bestimmte Richtung lockt, der manchmal ein gewisses Prickeln erzeugt in dem Bewußtsein unserer Konzentration und der uns dann zurücksinken läßt ohne den gesuchten Namen. Wenn sich uns falsche Namen aufdrängen, wirkt diese eigenartig bestimmte Leere sofort so, daß sie dieselben verwirft. Sie passen in ihre Form nicht hinein. Und die Leere, die dem Suchen eines Worts entspricht, macht uns nicht denselben Eindruck wie diejenige, welche einem andern zugehört, so inhaltslos die beiden notwendig auch erscheinen müssen, wenn man sie einfach als Lücken bezeichnet. Wenn ich vergebens versuche mir den Namen SPALDING zurückzurufen, ist mein Bewußtsein ein ganz anderes, als wenn ich mich fruchtlos bemühe mich auf den Namen BOWLES zu besinnen.Es gibt unzählige Modifikationen im Bewußtsein des Mangels, von denen keine einen besonderen Namen hat, die sich aber alle voneinander unterscheiden. Ein solches Bewußtsein des Mangels ist etwas ganz anderes als ein Mangel an Bewußtsein: es ist ein intensives Bewußtsein. Es kann der Rhythmus eines vergessenen Wortes vorhanden sein, ohne den ihn umkleidenden Klang; oder ein flüchtiger Eindruck davon, wie der Anfangsvokal oder -konsonant lautet, kann uns immer aufs neue foppen, ohne bestimmtere Gestalt anzunehmen. Jedermann wird die Qual kennen, die der leere Rhythmus eines vergessenen Verses uns bereiten kann, der ruhlos in unserem Geist herumwirbelt und nach den ausfüllenden Worten sucht. Worin besteht jene erste blitzartige Erkenntnis der Gesinnung eines Menschen, die wir haben, wenn wir ihn, wie man gewöhnlich sagt, durchschauen? Gewiß in einer ganz spezifischen Affektion unseres Geistes. Und hat sich der Leser niemals gefragt, was für ein psychischer Tatbestand vorliegt, wenn er die Absicht hat, etwas zu sagen, bevor er es gesagt hat? Es ist eine ganz bestimmte Intention, verschieden von allen anderen Intentionen und deshalb ein mit keinem anderen zu verwechselnder Bewußtseinszustand; und doch wird man kaum viel bestimmte sinnliche Bilder daran entdecken können, weder von Wörtern noch von Sachen. Wahrscheinlich kein einziges! Wartet man etwas, bis die Wort- und Sachvorstellungen ins Bewußtsein kommen, dann ist die vorgreifende Intention, die Ahnung des Kommenden nicht mehr vorhanden. Aber beim Auftauchen der an ihre Stelle tretenden Wörter übt sie noch eine Funktion aus, sie besorgt den Empfang derselben, heißt sie richtig, wenn sie mit ihrer übereinstimmen und falsch, wenn sie das nicht tun. Die Absicht so-und-so-zusagen ist der einzige Name, den man ihr geben kann. Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unseres psychischen Lebens aus diesen flüchtigen, kritisch wirksamen Überblicken noch nicht formulierter Gedankenreihen besteht. Wie sehen diese Absichten und Gefühle aus? Sicherlich sind es Gedanken, und sicherlich sind sie noch nicht sprachlich. Warum müßten wir nach Wörtern suchen, wenn Denken nicht mehr wäre als nur eine Sache der inneren Sprache? Dieses Problem ist von WYGOTSKI sehr klar dargestellt worden: Der Ablauf des Gedankens fällt nicht direkt mit der Entwicklung der Sprache zusammen. Beide Prozesse lassen eine Einheit, aber keine Identität erkennen. Sie sind durch komplizierte Übergänge und Umwandlungen miteinander verbunden, decken sich aber nicht. Am leichtesten kann man sich davon überzeugen, wenn die Gedankenarbeit mit einem Mißerfolg endet, wenn sich herausstellt, daß der Gedanke, wie DOSTOJEWSKI sagt, nicht in ein Wort paßt.WYGOTSKI erfaßt das Problem gut, wenn er sagt: "Denken wird nicht nur durch Wörter ausgedrückt; es erhält seine Existenz erst durch sie." Für WYGOTSKI ist die innere Sprache nicht nur ein subvokales (nicht laut werdendes) Äußern von Sätzen, was WATSON annahm: es ist eine besondere Form des Sprechens, die zwischen Denken und vokalem Sprechen liegt, wie er in seinem klassischen Buch, "Denken und Sprechen", so klar darlegt: Das Denken besteht - ebenso wie die Sprache - nicht aus einzelnen Wörtern. Wenn ich den Gedanken wiedergeben will, daß ich heute gesehen habe, wie ein Junge barfuß in einer blauen Bluse die Straße entlanglief, sehe ich nicht einzeln den Jungen, einzeln die Bluse, einzeln, daß sie blau ist, einzeln, daß der Junge keine Schuhe anhat, einzeln, daß er läuft. Ich denke das alles zusammen, aber ich zergliedere es in der Sprache in einzelne Wörter. ... Ein Redner entwickelt häufig im Verlauf mehrerer Minuten denselben Gedanken. ... Was im Denken simultan enthalten ist, entfaltet sich in der Sprache sukzessiv. Den Gedanken könnte man mit einer hängenden Wolke vergleichen, die sich durch einen Regen von Wörtern entleert.Andere sehr stichhaltige Argumente für die Unabhängigkeit eines großen Teils des Denkens von sprachlichen Formulierungen finden sich in Berichten großer Wissenschaftler, Mathematiker und Künstler über ihr kreatives Denken. Ein kleines Buch von BREWSTER GHISELIN "The Creative Process", bringt zahlreiche Beispiele für die anfängliche Phase des "Brütens" über einem Gedanken oder Problem, auf die dann die plötzliche Erkenntnis der Lösung folgt; hierauf sieht sich der kreative Mensch mit der ungeheuren Schwierigkeit konfrontiert, die Ergebnisse seines Denkens in das Medium der Sprache umzusetzen. Die Selbstbeobachtungen ALBERT EINSTEINs sind in dieser Hinsicht besonders aufschlußreich: "Die Wörter oder die Sprache spielen, so wie sie geschrieben oder gesprochen werden, anscheinend keinerlei Rolle in meinem Denkmechanismus. Die psychologischen Entitäten, die als Denkelemente zu fungieren scheinen, sind bestimmte Zeichen und mehr oder weniger klare Bilder, die "bewußt" reproduziert und kombiniert werden können.Dies sind nur einige der Argumente gegen die Identität von Denken und Sprechen. Es ist klar, daß man Denken weder mit Sprechen noch mit Sprache gleich setzen kann. ![]() |