p-4ra-3Lew WygotskiErnst MeumannClara u. William SternGustav Lindner    
 
JOSEPH CHURCH
Die Anfänge des Sprechens

Begriffsbildungstests
Präverbale Wahrnehmung
Schließlich ist es uns natürlicher zu sagen, das Pferd und die Kuh seien Tiere, als daß man sie als domestizierte vierfüßige säugende Pflanzenfresser bezeichnete.

Das Lernen von Sprache hat seinen Ursprung bereits im frühen Säuglingsalter, lange bevor das Kind ein Wort gesagt hat. Schon wenige Wochen nach der Geburt, in denen es zunächst aus Not, dann aus Ärger und Widerwillen schreit, wechselt diese rein symptomatische Äußerung in eine expressive und kommunikative hinüber. Weitere Ansätze zur Kommunikation kann man im frühen sozialen Spiel des Babys sehen, vor allem im Anspruch von Geplapper, das zwischen Kind und Eltern wie eine Art Gespräch hin und her geht.

Die erste quasi-symbolische Kommunikation tritt in der zweiten Hälfte des ersten Jahres auf, wenn das Kind Mittel herausfindet, um den anderen mitzuteilen, daß es etwas wünscht, und was es ist, das es wünscht. Der Säugling tut das durch konkrete Darstellung. Um aufgenommen zu werden, streckt er dem Erwachsenen seine Arme entgegen; um einen erneuten Ausbruch allgemeiner Heiterkeit bei den gemeinsamen Mahlzeiten herbeizuführen, simuliert er Gelächter; um einen Erwachsenen zum Spielen zu veranlassen, übergibt er ihm das Spielzeug oder führt dessen Hand an das Spielzeug heran; um das Spiel, bei dem der Erwachsene ihm folgen und ihn fangen soll, in Gang zu bringen, startet er auf allen vieren kriechend, und schaut über seine Schulter zurück, ob der Erwachsene ihm wohl folgt.

Mit ungefähr neun Monaten beginnt das Kind zu kreischen, um etwas zu bekommen. Richtet es seinen Wunsch auf ein Ding innerhalb seines Sehbereichs, so streckt es den Arm danach aus; andernfalls hat man zu raten und bietet ihm das an, wovon man meint, es sei das Gewünschte. Falsches Raten wird mit erneutem Gekreisch und richtiges mit einem befriedigendem Grunzen quittiert. Auf einer fortgeschritteneren Kommunikationsstufe im frühen Kleinkindalter sehen wir das Kind dann ein Objekt als Zeichen für das benutzen, was es sagen möchte:

Wünscht es, daß man ihm eine Grammophonplatte vorspiele, so holt es eine und übergibt sie, möchte es hinausgehen, so bringt es seinen Mantel. Verhaltensweisen dieser Art liegen innerhalb der Möglichkeiten höherer Säugetiere. Der Hund, der hinaus will, kratzt an der Türe; will er auf einen Spaziergang mitgenommen werden, bringt er seine Leine; ist er hungrig, holt er seinen Napf. Ein im Hause aufgezogener Schimpanse, der sich mit einer zu schwierigen manuellen Aufgabe konfrontiert sieht, dirigiert die Hand seines Herrn zu dem betreffenden Gegenstand hin.

Was wir bisher beschrieben haben, waren die ersten Versuche des Kindes zu aktiver Kommunikation. Was nun die echte Symbolsprache betrifft, so verhält es sich so, daß das passive Verstehen dem aktiven Sprechen lange vorausgeht. Die ersten Reaktionen dieser Art erfolgen weitgehend auf Forderungen und Bitten hin, etwa in der Form von: "Gib mir das ..."; aber das Kind  reagiert  auch in entsprechender Weise auf eine Reihe von Stichworten, die an vertraute Spiele anknüpfen ("Guck-guck: da ...") oder auch an regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten (Essenszeit, Badezeit) und an Menschen und Dinge ("Gib's dem Papi!")

Am Ende des ersten Jahres reagiert das Kind auch adäquat, wenn man ihm etwa sagt: "Zeig mir deine Augen!" usw. Eine fixierte Reihenfolge für passiv Verstehbares vermochte der Autor nicht zu entdecken; bis jetzt können wir nur sagen, daß alle diese Reaktionen mehr oder weniger gleichzeitig auftreten - am Ende des ersten oder zu Beginn des zweiten Jahres.

Auch bei Tieren sind Reaktionen der beschriebenen Art nicht unbekannt; allerdings gibt es dabei den außerordentlich wichtigen Unterschied, daß das Kind, anders als das Tier,  ohne  spezifisches Training und  ohne  Belohnung lernt, auf Stichworte und Bitten zu reagieren; zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erfahrung weiß es einfach, was sie bedeuten. Beide, Kinder und Tiere, lernen das Befolgen von Befehlen ("Steh!", "Sitz!", "Warte!", "Sag bitte!"), das Reagieren auf Signale, z.B. in den klassischen Konditionierungsexperimenten, wo ein Wort zum auslösenden Reiz für Futter oder für den elektrischen Schlag wird, und von Verweisungswörter ("Stock", "Ball").

Wie Tiere und auch das Kind dieser Entwicklungsstufe Nuancen im Klang der Stimme, den beruhigenden und liebevollen, den scherzhaften und neckenden, den nüchternen, den ärgerlichen, den vorwurfsvollen oder traurigen und den Klang des Verletztseins. Viel früher schon, vielleicht vom dritten Monat an, konnte das Baby bereits zwischen gespieltem und wirklichem Ärger unterscheiden; nun aber unterscheidet es auch, ob etwas in spöttischer Weise nachgeahmt oder ernsthaft gesprochen wird.

Es gibt tatsächlich Kinder, die, noch bevor sie sprechen gelernt haben, spaßhalber Emotionen simulieren. Ein vierzehn Monate altes Kind, z.B., das seinen Kopf an der Schranktüre gestoßen hatte und von der Mutter getröstet worden war, kehrte dreimal zum Schrank zurück, bumste vorsichtig mit dem Kopf dagegen, blickte zur Mutter mit einem halb schmerzlichen und halb amüsierten Ausdruck hinüber und lief dann jammernd zu ihr, um sich wieder trösten zu lassen. Interessant ist jedoch, daß Kinder vor dem Schulalter Ironie und Sarkasmus nicht verstehen.

Schon bevor ein Kind ein aktives Vokabular richtiger Wörter zur Verfügung hat, unternimmt es den Versuch zu sprechen; es deutet auf etwas, das es wünscht, und bewegt angestrengt den Mund, als wäre es auf der Suche nach Wörtern. Es liefert auch deutliche Hinweise darauf, daß es noch vor dem Sprechen ein Vokabular aufbaut. Mit einem namenheischenden Laut (in einem Fall "Buh?" "Buh?") zeigt es auf ein Objekt; hat man ihm dessen Namen gesagt, so deutet es in der gleichen Weise auf ein anderes.

Ferner gibt es das unter dem Namen "expressiver Jargon" bekannte Phänomen. Bevor das Kind über irgendwelche Wörter verfügt und manchmal auch, nachdem es schon mit dem Gebrauch einzelner begonnen hat, versucht es, in einem übersprudelnden Kauderwelsch etwas zu erzählen, was durchaus den expressiven Tonfall echter Sprache hat und von ausdrucksvollen Gesten begleitet wird; es scheint fast, als würde das Kind etwas Sinnvolles sagen, das nur darum nicht verständlich wird, weil es so überstürzt spricht.

Diese Beobachtungen und andere, noch folgende, weisen auf ein sehr wichtiges Prinzip hin: Das Kind lernt nicht bloßes Sprechen oder Wörter verstehen oder einen Wortschatz bilden - es lernt einen ganzen Verhaltensmodus, nämlich den linguistischen als solchen; und dieser geht allen einzelnen Symbol- oder Sprechakten voraus.

Wann eigentlich das Kind zu sprechen beginnt, ist nicht immer leicht festzustellen. Es kann einen anscheinend sachlich passenden, wortähnlichen Laut produzieren, der dann aber nicht wiederholt wird, weder spontan noch auf Bitten hin. Was vielleicht ein Wort sein mag, kann auch nur aus einem Laut bestehen, der in seinem Geplapper dominiert; auch das zu unterscheiden ist schwierig.

Ein Kind z.B. kündete seine Badezeit stets mit lautem "Ba-Ba" an, aber auch die Zeit, zu der es seine Flasche bekommen sollte; es rief darüber hinaus auch sonst ausgiebig "Ba-Ba", allerdings nicht so konsequent wie bei diesen Gelegenheiten. Das Kind mag wohl für eine gegebene Situation einen Standardlaut haben, einen, der ungefähr die Mitte hält zwischen einem ausdrucksvollen Laut und einem richtigen Wort. Ein anderes Kind meldete z.B. seinen Hunger mit "Maamaamaa" an, was jedoch linguistisch gesehen mehrdeutig ist.

Solche Unwägbarkeiten dürfen uns nicht glauben machen, Verbalisierung und Vokalisierung liefen kontinuierlich nebeneinander her. Vor allem spricht dagegen, daß viele Kinder einen scharfen Übergang vom Plappern zum Gebrauch wirklicher Wörter zeigen, zuweilen - wenn man der Literatur glauben darf - sogar zu ganzen Sätzen. Außerdem tritt auch in Fällen, wo die Grenzen verwischt erscheinen, sehr bald ein Verhalten ein, das ganz deutlich verbal ist.

Daß die ersten Wörter des Kindes in der Regel  Mama  oder  Papa  seien, ist nur ein traditioneller Glaube. Diese beiden Laute sind fast immer Bestandteile kindlichen Plapperns; höchst wahrscheinlich hören die Eltern diese Lall-Laute als Wörter. Tatsache ist, daß der sinnvolle Gebrauch von  Mama  und  Papa  hinter dem Auftreten anderer Wörter zurückbleiben kann - oft hinter sehr unähnlichen.  Fisch  war beispielsweise das allererste Wort eines Mädchens (ausgesprochen "hiifs"); es benannte mit diesem Wort eine japanische Zeichnung eines Fisches, die and er Wand seines Zimmers hing. Später wurde das Wort verallgemeinert und bezeichnete auch eine ganze Reihe anderer Dinge - ausgenommen den Fisch. Das erste Wort eines anderen Kindes, das im Zusammenhang mit anderen Lauten auftrat, die auch Wörter hätten sein können, war  Banane  ("na-na-na"). Wenn Kinder erst anfangen, in einen Schwall von "expressivem Jargon" einzelne echte Wörter einzubetten, verschwindet der Jargon meist rasch, und die kindliche Sprache konzentriert sich auf Einwortsätze (Holophrasie). Diese frühen Sätze scheinen vor allem in drei Formen vorzukommen: als Interjektionen ("ei-ei", "ada-ada" und "nein"), als Benennungen oder einfach Objektnamen und als Aufforderungen ("Essen!", "Milch!", "Auf!", "Raus!").

Der nächste Schritt im Sprechen ist das Kombinieren von Wörtern zu ganzen Äußerungen. Zuerst werden zwei Wörter nebeneinander gesetzt, dann drei und so fort - bis zu einem Punkt, wo wir dem Sinn nicht länger folgen können. Einige Autoren vertreten die Ansicht, die zunehmende Komplexität solcher Äußerungen beruhe auf der zunehmenden Definition und Artikulation von jargonähnlichen Einheiten. Tatsächlich sind jedoch schon die ersten Zwei-Wort-Sätze des Kindes gewöhnlich mühevoll zusammengestückelte prädikative Einstellungen, wobei die Wörter mehr nebeneinander gestellt als miteinander verbunden sind wie etwa: "Junge. Laufen", oder "Fliege. Stechen."

Das Kleinkind verfügt wohl über Wörter für Objekte und Tätigkeiten, aber sein Vokabular für Attribute beschränkt sich weitgehend auf solche für Tastqualitäten: heiß-kalt, hart-weich, rauh-sanft usw.  Groß  und  klein  tauchen erst später auf, ebenso  gut  und  schlecht,  welche gewöhnlich zuerst für die Begutachtung von Speisen verwandt werden. Das Kind kann ohne weiteres die Namen für Formen mit unabhängiger Identität richtig anwenden lernen - Herz, Stern, Dreieck und sogar einzelne Buchstaben und Zahlen -, doch über die Form von Objekten wie Klotz oder Ball vermag es keine genauen Angaben zu machen.

Diese Formen kann es auch weder zeichnen noch sie - bis zu einem viel späteren Zeitpunkt - in ein Formenbrett einpassen. Das alles spricht dafür, daß es sie physiognomisch sieht, ohne wahrzunehmen. wie sie in ihrem Aufbaue zusammengesetzt sind. Es fällt ihm sehr schwer, den Kreis und den Würfel als rein abstrakte Formen zu begreifen, denn für das Kind kann der Kreis nur Mond oder Ball oder Gesicht oder der Buchstabe O sein und eine Würfel nichts anderes als Tisch oder Fenster oder Holzklotz oder Schachtel. Nur aus diesem Grund und unter der Voraussetzung, daß die Formen als konkrete Dinge benannt sind, kann es sie auch zeichnen. Ebenso unmöglich ist es ihm, ein Kreuz nachzuzeichnen, wenn es nur Kreuz heißt, wohl aber, wenn es z.B. Flugzeug benannt wird.


Generalisation

Die Art und Weise, wie kleine Kinder und Tiere generalisieren, ist gänzlich verschieden von denjenigen, welche zur Formulierung - sagen wir, des Gravitätsgesetzes auf Grund vieler spezifischer Beobachtungen führte. Die kindliche Methode wäre am besten als ein Wiedererkennen zu denken - ein Wiedererkennen nicht etwa desselben Dinges, dem man erneut begegnet, sondern ein Erkennen von etwas Neuem, das aber auf eine entscheidende Weise mit etwas bereits Bekanntem Ähnlichkeit hat.

So gesehen ist die Generalisation nicht eine erhebliche geistige Leistung; es wird nur festgestellt, daß das Objekt B in uns eine Reaktion auslöst, die der durch Objekt A ausgelösten sehr ähnlich ist. Zur Erklärung der Gleichartigkeit des reaktiven Verhalten gegenüber zwei Objekten genügt als Begründung eine gewisse wahrnehmbare Gleichartigkeit. Wir brauchen hierfür nicht die Kategorien  Begriff  und  Abstraktion  einzuführen. Wenn aber unser reaktives Verhalten dem neuen Objekt gegenüber darin besteht, daß wir ihm einen neuen Namen geben, dann können wir sagen, dieser Name sei ein Begriff oder repräsentiere einen solchen.

Doch auch das führt uns nicht viel weiter. Denn was hat es eigentlich mit dieser Begriffsbildung auf sich? Bei zwein Dingen suchen wir nach Ähnlichem und machen es explizit; das setzt die Abstraktion gemeinsamer Eigenschaften voraus. Wir haben keinen Gurnd, dem achtzehn Monate alten Kind einen solchen Prozeß zuzuschreiben. Dagegen kann ein Akt des Wiedererkennens stattfinden, ohne daß der Beteiligte auch nur die geringste Ahnung davon hat, welche Eigenschaften es sind, auf die er reagiert. Generalisation spiegelt - wie in den PAWLOWschen Konditionierungsexperimenten - oft lediglich einen Mangel an Differenzierung und ist weit davon entfernt, ein Produkt von Abstraktion zu sein.

Im allgemeinen kann physiognomisches Wiedererkennen die logischen Attribute, diejenigen also, welche die Dinge zu Gliedern einer Klasse stempeln, vollständig außer acht lassen, selbst dann, wenn die logischen und physiognomischen zusammenfallen. Das Kleinkind erkennt eine Katze an der Katzenhaftigkeit, genau so wie es auch Knaben und Mädchen unterscheiden kann, lange bevor es eine Ahnung von deren anatomischer Ungleichheit hat.

Die deutliche Aversion kleiner Kinder gegen Friseure deutet darauf hin, daß für sie der Friseurladen und das Behandlungszimmer des Arztes eine globale Ähnlichkeit haben. Natürlich können bisweilen die logischen Determinanten einer Klasse für praktische Zwecke irrelevant sein: Für den Zoologen ist der Tasmanische Wolf ein Beuteltier; aber dem Schafhirten sieht er wie ein Wolf aus, benimmt sich wie ein Wolf und wird demgemäß auch so behandelt.

Oft sehen wir, die Erwachsenen, nur ein einziges Merkmal, das einen Akt des Wiedererkennens beim Kind erklären könnte; aber dann entdecken wir an seinen Unterscheidungen noch andere Möglichkeiten, und sogar Möglichkeiten auf Grund echter Klassenrepräsentanz. Ein Beispiel: Nachdem ein Kleinkind einmal die altersschwache, mit Schindeln gedeckte Windmühle zum Kornmahlen gesehen hatte, gebrauchte es diesen Namen auch für ein großes, unregelmäßig gebautes Haus mit einem Schindeldach, ferner für das skelettartige Windrad einer modernen Wasserpumpe, für eine Fernsehantenne und einen Wassertank.

Solche abweichenden Generalisationen sind Ausnahmen; sie kommen am häufigsten bei Objekten vor, mit denen das Kind praktisch nichts zu tun hat; allerdings gibt es oft höchst unerwartete Generalisationen, so die von attributiven Wörtern, Adjektiven und Adverbien: Eine Mutter, die dem Kind eine Tasse Wasser bringt, mt dem Ruf "Zuviel! Zuviel!" empfangen wird und nun etwas Wasser abgießen will, löst damit bei dem Kind einen Wutanfall aus. Hier scheint "zuviel" "eine ganze Menge" zu bedeuten. Natürlich ist "zuviel" auch eine Menge, nur - darin bestand der Fehler des Zweijährigen - eine Menge ist nicht immer "zuviel".

Ein anderer Zweijähriger weill nach einem Spielzeug auf dem Bord hinlangen und sagt: "Das ist mir zu schwer!"; er meint natürlich "zu hoch". Ein paar Tage später erklärt er: "Das ist ein schwerer Hügel"; diesmal meint er "steil ansteigend". Aber solche Mißverständnisse bleiben nicht nur auf die Anfangsstadien des Sprechens beschränkt. Ein fünfjähriges Kind fragt bei einem Verkaufsstand "Ist er schwer?" und meint "stark"; ein gleichaltriges sagt zu seinem Spielkameraden beim Abschied: "Ich schäme mich zu gehen" und meint "Ich bin traurig...".


Verbaler Realismus

Gleich dem Egozentrismus zeigt auch ein primitiver Realismus im Sprachgebrauch des Kindes eine gewisse Beharrlichkeit, besonders in Form des sogenannten Wort- und Symbolrealismus. Die bisweilen vorkommende enge Interpretation von Wortrealismus bedeutet, daß das Kind den Namen als einen dem benannten Ding inhärenten Bestandteil denkt. Doch ist dies nur eine der Erscheinungsweisen des Wortrealismus. Seine zentrale Manifestation liegt in der Macht über die Wirklichkeit durch das Wort.

Wortrealismus ist auch im Euphemismus (Schönrederei) erkennbar: Eine unangenehme oder undelikate Wirklichkeit vertuschen wir mit einem gefälligen oder neutralen Wort; mit Umschreibungen reden wir um ein heikles Thema herum, ohne direkt darauf eingehen zu müssen. Ebenso beruht die Verdinglichung auf Wortrealismus: Wir behandeln eine hypothetische Konstruktion, als wäre sie ein substantielles Ding.

Es ist nicht wahr, daß "Worte" uns nichts anhaben können". Mit Worten vermag man durchaus und sogar sehr wirksam zu quälen: Sie können jemanden erröten machen, in Wut versetzen, ihm den Magen umdrehen, ihm eine Gänsehaut machen - sogar Worte, die nicht einmal eine faktische Realität ausdrücken. Wortrealismus zeitigt Wirkungen in verschiedensten Formen. Wir können das Wissen um eine unangenehme Realität umgehen, indem wir sie unbenannt lassen oder ihr einen Namen geben, der ihre wahre Natur verbirgt, oder wir distanzieren uns durch eine gänzlich neutrale Benennung.

So kann ein Verhaltensforscher ohne weiteres abweichende Sexualformen im Detail beschreiben, wenn nur seine Sprache kühl, neutral medizinisch, als rein  wissenschaftlich  bleibt, ohne plumpe, anschauliche Wendungen aus der Vulgärsprache und ohne eine leichte, amüsange Ironie literarischer Tönung. Ferner empfinden wir eine Idee der wir Ausdruck gegeben haben, als sei sie eine von uns erschaffene Wesenheit, die nun im Bereich der Wirklichkeit denselben Raum beanspruchen darf wie andere Objekte auch.

Die Liste solcher rein verbaler Entitäten, die von Weisen, Gelehrten und auch vom Durchschnittsmenschen ernst genommen werden - und bisweilen ernst genug, um für sie zu töten und getötet zu werden -, ist schier endlos: der Äther, das Feuer, die Heilige Dreifaltigkeit, Konsubstantiation und Transsubstantiation, nationale Ehre, Gedächtnisengramme, Triebe, Instinkte, Subjektivität, Vorstellungsbilder, Persönlichkeit usw.

Ein eng damit verwandtes Phänomen ist die Personifizierung unbeseelter Objekte, wie wir sie in der Ehrenerbietung gegenüber der Nationalfahne finden. Die Fahne ist es, dem das Schulkind erstmalig Gehorsam gelobt. An  Old Glory  und an das Sternenbanner sind Hymnen gerichtet worden. Es gibt einen komplizierten Code für das Ritual des Flaggenhissens. Wollen Demonstranten eine Nation beschimpfen, so verunglimpfen sie deren Fahne, und die Beschimpfung wird von den Betroffenen als solche aufgefaßt.

Auch die Treue der ehemaligen Studenten zu ihrer geliebten Alma mater kann man als symbolische Personifikation ansehen. Schließlich geibt es den Fall des  negativen  Wortrealismus. Fehlt für irgend etwas ein Wort (oder eine Formulierung), so glauben wir selbst nicht recht an dieses Etwas. Fällt uns im Gespräch ein Wort nicht ein, so fühlen wir uns wie gelähmt; die Substitution durch Verbalien wie "Dingsda" oder "Ding" oder "na ... wie heißt es doch gleich" ist dermaßen unbefriedigend, daß wir oft der Unterhaltung nicht mehr folgen, bis das fehlende "mot juste" uns nach vielem Bohren wieder einfällt.

Doch der Wortrealismus hat nicht durchweg negative Seiten; sein positiver Wert liegt in der anscheinend grundlegenden Bedeutung für die verbale Kommunikation schlechthin. Den größten Teil unserer Bildung - und auch Unbildung - vermittelt verbales Lernen von Dingen, die wir niemals gesehen haben und wohl niemals sehen werden, die aber lebenslänglich in unserem Denken eine Rolle spielen und mit denen wir rechnen müssen.

In unserer modernen Zeit sind Wörter im präzisen Sinn offenbar nicht immer das zweckmäßigste Kommunikationsmittel; für die Beschreibung und Demonstration vieler Dinge sind andere Symbole günstiger: mathematische Zeichen, Karten, Tabellen, Diagramme usw. Aber auch diese Kunstgriffe basieren auf dem verbalen Medium und werden erst verwendbar, nachdem die Definition durch das Wort vorangegangen ist. Desgleichen sind Feldforschung, Lehrfilme und Demonstrationen am realen Objekt für die Erziehung wertlos, solange dem Lernenden nicht mit Worten auseinandergesetzt wird (oder er sich selbst damit auseinandersetzt), was es ist, das er sieht, was es bedeutet und in welchen Beziehungen es zu anderen Dingen steht.

Eng verbunden mit dem Wortrealismus un in ihm verwurzelt ist die Wortmagie. Abgesehen von den reichlich primitiven Äußerungen in Beschwörungen und Zaubersprüchen, kann die Wortmagie durchaus alltägliche Formen annehmen: Man redet Tatsachen fort, flüchtet sich in Phantasien, macht sich selbst großartige Versprechungen und fühlt sich dabei so tugendhaft, daß reales Handeln sich erübrigt; man erfindet ein Argument, um einen Beweis zu führen; man gestaltet, ganz allgemein gesagt, mit Worten die Wirklichkeit um, damit sie den eigenen Wünschen entspricht.

Die Phänomene Wortrealismus und Wortmagie weisen auf eine sonderbare Dominanz der Sprache über die konkrete Wahrnehmungswirklichkeit hin. Das wichtigste Moment der Wortmagie ist jedoch, daß sie im Grunde fast ständig am Werk ist. Um spätere Ausführungen in einem kurzen Satz vorwegzunehmen: Die Worte der anderen und später unsere eigenen Formulierungen werden zu einer stabilen physischen Realität, die weiterer verbaler Umgestaltung widersteht und zu unserem primären Bezugssystem wird.

Selbst der strengste Verbalist und Psycholinguist kann keinesfalls das Ganze seiner Erfahrung auseinandersetzen; er wird implizit und in Form von Schemata stets weit mehr wissen, als er explizit und symbolisch zu wissen vermag. Wenn er erst einmal angefangen hat, einige Thematisierungen bald zum schematischen Bezugssystem, nach dem die Erfahrung geordnet wird. Es kommt die Zeit, da das Individuum eine so fest gegründete Orientierung auf eine geordnete, voraussagbare, konkrete Wirklichkeit erworben hat, daß es etwaige seinem Wissen widersprechende verbale Formulierungen als "Unsinn" und "leeres Geschwätz" abtun kann. Sein Wissen kann selbstverständlich irrig sein, doch das steht hier nicht zur Diskussion.
LITERATUR - Joseph Church, Sprache und die Entdeckung der Wirklichkeit, Über Spracherwerb des Kleinkindes, Ffm 1971