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OTTO LIEBMANN
Die Klimax der Theorien
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"Nun definiere man immerhin ein Wort wie man will; nur halte man dann auch an der Definition fest. - »Das erste steht uns frei / Beim zweiten sind wir Knecht.« - Denn Eindeutigkeit und Konsequenz des Wortgebrauchs gehört unter die obersten Bedingungen nicht nur der wissenschaftlichen Verständigung, sondern überhaupt jedes vernünftigen Gedankenaustauschs. In welchem Sinn also soll ein Wort gebraucht werden."

"Es ist kaum glaublich, welche Menge an dialektischem Unfug, welcher Wust an steriler Wortweisheit aus der Sucht hervorgegangen ist, in solchen Dingen, für die eigentlich das ernste Interesse und echte Fähigkeit fehlt, dennoch mitsprechen zu wollen."


Fünftes Kapitel
Die Theorien dritter Ordnung

Ein schöner Gedanke, die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung zu ziehen! Aber schwer ausführbar! Vielleicht nicht überall ausführbar! Es hat eine Zeit gegeben, wo man die tägliche Umdrehung des Universums und die periodischen Kreisläufe der Planeten mit der Bemerkung erklärt zu haben meinte, der Kreis sei die vollkommenste und ebenmäßigste aller Bahnen, daher es der Welt und den Gestirnen sich im Kreis zu drehen gebührt. (6) Es hat eine andere Zeit gegeben, und sie liegt uns nicht sehr fern, wo von verdienstvollen Gelehrten die Parole ausgegeben wurde, die Fabelgestalten der griechischen Mythologie seien durchweg als allgorische Sinnbilder von physikalischen Kräften und Naturereignissen zu erklären, und wo es dann beispielsweise als sinnreiche Erklärung galt, wenn man sagte, die Dioskuren, jenes göttliche Zwillingspaar, sind nichts anderes als der Nordpol und Südpol des Magneten, oder als die positive und negative Elektrizität. In welche wissenschaftliche Kategorie Erklärungen dieser Art einzuordnen sind, das bleibt hier dem Geschmack und Scharfsinn anderer überlassen. Wir wenden uns jetzt zu einem schwierigeren Fall.

Die Theorien der ersten Ordnung waren immanent-empirische. Die der dritten Ordnung sind nicht nur transzendent, sondern sogar metaphysische; ein Prädikat, welches allerdings eines besonderen Kommentars bedarf. Ich meine: sie greifen ins Unbedingte hinein; sie wollen Alles, was an unserer Erkenntnis empirisch und hypothetisch ist, also in Relationen befangen bleibt, aus einem Unbedingten ableiten.

Daß der etwas mystische Glorienschein, von dem die Metaphysik, als angeblich höchste aller Wissenschaften, ehemals umstrahlt war, sich längst in eine Dornenkrone umgewandelt hat, ist allbekannt, kommt aber für meine Untersuchung, welcher die verschiedenen Arten von Theorie zunächst nicht als Objekt einer sachlichen Kritik, sondern nur als Gegenstand einer Klassifikation und vergleichenden Charakteristik gegenüberstehen, vorläufig gar nicht in Betracht. Als historische Tatsache, als intellektuelles Gebilde des menschlichen Geistes ist nun einmal die Metaphysik in einer größeren Anzahl individuell verschiedener Exemplare vorhanden; auch gibt es noch immer solche Denker, die ihr einen berechtigten Platz im Gebäude menschlicher Wissenschaften vindizieren [zuschreiben - wp] wollen. Hiermit ist zu rechnen; und wir werfen daher die unumgängliche Vorfrage auf: Was heißt eigentlich Metaphysik? Welche Erkenntnisart ist die metaphysische?

Die Bedeutung ist einigermaßen schwankend und zweifelhaft.

Dasjenige monumentale Werk, welches zuerst und zwar, wie man behauptet, durch ein sonderbares Spiel des Zufalls, diesen Namen erhalten hat, ist die Fundamentalphilosophie "Prima Philosophia" des ARISTOTELES. Dieselbe handelt über Substanz und Akzidenz, über Materie und Form der Dinge, über wirkende Kraft und Zweck, über Keimanlage und Entwicklung, d. h. über solche Gegenstände und Begriffe, von denen in der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart gleichfalls außerordentlich viel die Rede ist. Während des Verlaufs zweier Jahrtausende hat sich jedoch der Sinn des Wortes so oft und nach so vielen Richtungen hin modifiziert und ist dadurch so elastisch geworden, daß es heutzutage fast im Belieben jedes einzelnen Schriftstellers zu liegen scheint, welche Bedeutung er ihm vermöge einer willkürlichen Definition beilegen will, um dann über die Metaphysik entweder Lobeshymnen anzustimmen oder, was häufiger ist, die Schale seiner Verachtung auszugießen. Nun definiere man immerhin ein Wort wie man will; nur halte man dann auch an der Definition fest.
    "Das erste steht uns frei;
    Beim zweiten sind wir Knecht."
    - Goethe, Faust
Denn Eindeutigkeit und Konsequenz des Wortgebrauchs gehört unter die obersten Bedingungen nicht nur der wissenschaftlichen Verständigung, sondern überhaupt jedes vernünftigen Gedankenaustauschs. In welchem Sinn also soll ein Wort gebraucht werden.

BACON von VERULAM identifiziert die Metaphysik mit der Lehre von den Zweckursachen (causis finalibus), welche er nicht ohne treffende Ironie den Verstalinnen, den heiligen aber unfruchtbaren Jungfrauen vergleicht; Metaphysik ist ihm, offen gesagt, eine unersprießliche Träumerei; und er will sie von der Physik, der seiner Meinung nach allein förderlichen Wissenschaft der wirkenden Ursachen (causae efficientes) im Interesse des intellektuellen und praktischen Fortschritts auf das Strengste ausgeschieden wissen. Diese Worterklärung ist sehr eng gefaßt; im Hinblick auf entschieden zweckleugnende, anti-teleologische Systeme, wie den Epikureismus und den später aufgetretenen Spinozismus, ist sie offenbar zu eng. Andere haben gesagt, Metaphysik sei eine Pseudowissenschaft von Demjenigen, was jenseits aller Erfahrung liegt, eine Lehre von den übersinnlichen und überempirischen Dingen, z. B. von Gott, der Willensfreiheit und Unsterblichkeit oder vom substanziellen Verhältnis zwischen der materiellen und der geistigen Welt; wobei dann neuerdings meistens inter lineas [zwischen den Zeilen - wp] zu verstehen gegeben wird, es handle sich in dieser Pseudowissenschaft um lauter Chimären und gegenstandslos Wahnvorstellungen. Diese Definition leidet jedoch am entgegengesetzten Fehler; sie ist unvollständig und viel zu weit. Denn wollte man sie im Ernst nehmen, dann würden der Lichtäther und die elektrischen Fluida unserer Physiker, die Atome, Moleküle und Affinitäten unserer Chemiker durchaus in die Sphäre der Metaphysik hineinfallen; jede Hypothese, die das nicht unmittelbar Empirische betrifft, wäre dann eo ipso [schlechthin - wp] schon ein metaphysisches Dogma; eine Konsequenz, die sich schwerlich eines allgemeinen Beifalls erfreuen wird. Universeller und bestimmter dagegen, zugleich der geschichtlichen Gesamtüberlieferung am meisten adäquat scheint mir die folgende Definition:
    Metaphysisch ist eine Spekulation, eine Theorie, oder auch eine vereinzelte Behauptung, welche sich über alles Relative hinausversetzen zu können, folglich etwas absolut Reales geistig zu erfassen glaubt.
Diese Nominaldefinition ist in der Tat auf sämtliche historisch vorliegenden Spezialfälle gleich gut anwendbar; und in diesem Sinn wollen wir hier das Wort gebrauchen. Offenbar entspricht sie schon der Absicht des ARISTOTELES, wenn derselbe seine Prima Philosophia als Wissenschaft von den ersten Prinzipien und obersten Gründen betrachtet. Sie paßt gleichermaßen auf PLATONs Ideenlehre und auf SPINOZAs anti-teleologischen Naturalismus, auf den okkasionalistischen Dualismus der Cartesianer wie auf LEIBNIZ' Monaden und prästabilierte Harmonie, auf HEGELs "Wissenschaft der absoluten Idee" wie auf SCHOPENHAUERs "Welt als Wille und Vorstellung" und auf HERBARTs pluralistische Realentheorie. Sie also wird von uns akzeptiert. Wenn oben gesagt wurde, die Theorien der dritten Ordnung seien metaphysische, so sollte dies heißen, es sind solche Theorien, die aus angeblich obersten, unbedingten Prinzipien irgendeinen Erscheinungskreis der gegebenen Welt begreiflich zu machen bemüht sind.

Hiernach aber wäre es aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen Wissenschaftslehre und Erkenntniskritik sofort klar, daß der Unterschied zwischen den Theorien der zweiten und denen der dritten Ordnung zunächst nur auf subjektiver Seite gesucht werden darf. Wenn ein Theoretiker seine Realerklärungsprinzipien für schlechthin ursprünglich, für allen Relationen enthoben, für nicht ableitbar aus noch höheren Prinzipien, für dem inneren Kern und Wesen der Dinge vollständig kongruent hält, dann wäre er Metaphysiker; wenn er dies hingegen nicht tut, wenn er den problematischen und provisorischen Charakter seiner Prinzipien zugesteht und die Möglichkeit ihrer Zurückführung auf noch höhere, dem Wesen der Dinge näherkommende, bis jetzt noch unentdeckte Realgründe offen läßt, so wäre er es nicht. Ferner aber würde klar sein, daß jener Unterschied ein flüssiger, kein fester ist, daß jede Theorie der zweiten Ordnung sich sogleich in Metaphysik, d. h. in eine Theorie dritter Ordnung umwandelt, sobald sie sich unter Ableugnung oder Verkennung ihrer bloß relativen Gültigkeit und hypothetischen Beschaffenheit für absolut gültig und dem "ansich" Realen kongruent erklärt. Es kann beispielsweise HERBARTs mathematische Psychologie als bloße Hypothese hingestellt werden; seine Mechanik der Störungen und Selbsterhaltungen, der Hemmungen und Hebungen, seine Theorie des Gleichgewichts und der Bewegung, des Sinkens und Steigens, der Assoziation und Reproduktion der Vorstellungen, seine deduktive Erklärung des unwillkürlichen Gedankenablaufs im persönlichen Bewußtsein repräsentiert dann eine sehr scharfsinnige, des ernsten Studiums durchaus würdige Theorie der zweiten Ordnung und steht in dieser Hinsicht ungefähr ebenbürtig neben der Undulationstheorie der physikalischen Optik.

Aber von ihrem Urheber wird sie kategorisch zur Metaphysik gestempelt, indem derselbe seine Prinzipien in das Gebiet des absolut Realen versetzt und mit dem Anspruch auf apodiktische Gewißheit ausspricht. Dasselbe gilt von der chemischen Atomistik, insofern sie von Manchen nicht nur, was jeder Mensch anerkennen müßte, als sehr brauchbare Annahme betrachtet, sondern, woran gerechte Zweifel möglich sind, für das intellektuelle Abbild des innersten Kerns der Dinge gehalten wird. Ja sogar der allernaivste Realismus, den es gibt, diejenige Weltauffassung, welche bei einem sinnlichen Wahrnehmungsbild der Welt einfach stehen bleibt und ihm, in Ermangelung des Gedankens an tieferliegende Bedingungen, eine absolute Realität zuschreibt, folglich allen skeptischen Skrupeln und phänomenalistischen Reflexionen, physikalischen Protesten und physiologischen Experimenten zum Trotz, ohne Rücksicht auf entoptische Sensationen, auf Rotblindheit, Grünblindheit und andere Sinnesanomalien, unter Nichtbeachtung der Jllusionen, Halluzinationen, der visionären und hypnotischen Zustände, das spezifisch menschliche Anschauungsbild des Universums mit allen seinen formalen und qualitativen Prädikaten aus dem menschlichen Bewußtsein hinausversetzt und hypostasiert (vergegenständlicht - wp], ja ausdrücklich das Sinnenfällige und Augenscheinliche allein für Wirklichkeit, alles Übrige für Chimäre und abstraktes Hirngespinst erklärt, - selbst diese ganz naive Sorte von Realismus ist nichts anderes als eine absonderliche Art von Metaphysik. Denn obwohl sie, wie es scheint, die Sphäre des Tatsächlichen, empirisch Gegebenen gar nicht verläßt, vielmehr, unter Ausschluß alles Nichtempirischen und Hypothetischen, an ihr festklebt, so überschreitet sie doch gerade dadurch die Empirie, daß sie das angeführte Faktum für absolut hält, wobei Letzteres sich ja auf keine Weise empirisch erkennen läßt, sondern lediglich ein transzendentes, der Wucht so vieler kontradiktorischer Instanzen gegenüber kaum begreifliches Dogma involviert.

Genug, wenn eine Hypothese zur Tatsache wird, wenn Etwas, das bisher nur eine Vermutung war, sich plötzlich (etwa infolge einer starken Verschärfung unserer optischen Instrumente) in ein Beobachtungsfaktum umwandelt, dann rückkt die darauf gebaute Theorie aus der zweiten in die erste Ordnung hinüber. Wenn umgekehrt eine bloße Hypothese, die sich der Kontrolle durch die Beobachtung bis jetzt oder für immer entzieht, zum Rang eines unbedingten Dogmas erhoben wird, dann rückt die darauf gebaute Theorie aus der zweiten in die dritte Ordnung, d. h. sie verwandelt sich in Metaphysik. An historischen Beispielen für beide Arten von Rangverschiebung fehlt es durchaus nicht.

Allein das Bisherige ist noch ungenügend. Es bedarf eines wesentlichen Zusatzes. Durch die oben ausgesprochene Definition des Prädikats "metaphysisch" wird der Sinn des Substantivums "Metaphysik", so wie er dem gebildeten Bewußtsein klarer oder verschwommener als Gegenstand entweder der Verehrung oder der Verwerfung vorschwebt, noch nicht in erschöpfender Weise wiedergegeben. Wir müssen weit mehr sagen; wir müssen offen eingestehen: Metaphysik als Ganzes genommen ist oder will sein nicht nur eine absolute, aus absoluten Prinzipien entwickelte Theorie, sondern zugleich die Universaltheorie, die Welttheorie kat exochen [an und für sich - wp]. Sie unterscheidet sich von ihren Schwesterwissenschaften nicht bloß durch den Anspruch auf absolute Gewißheit, sondern auch durch den absoluten Umfang. Sie möchte Alles erklären, den Vorhang der Erscheinungen definitiv lüften, das Wesen und den inneren Zusammenhang aller Dinge enthüllen, die Tatsache der Welt im Ganzen begreiflich machen, für sämtliche Endprobleme des inneren und des äußeren Universums den Generalschlüssel liefern. Kurz, sofern sie überhaupt möglich ist, dann würde von ihr in das vielgegliederte Gebäude unserer Wissenschaften der Schlußstein eingesetzt.

Das ist sehr kühn gedacht; - eine Vermessenheit! Und doch, wie sich zeigen läßt, als Norm, Musterbild, Ziel, als regulativer Gedanke vollständig gerechtfertigt.

Die Gesamtheit aller empirischen und hypothetischen Einzelwissenschaften führt anerkanntermaßen eine rein ideelle Existenz, während tatsächlich nur größere oder kleinere Wissensfragmente in den Köpfen so und so vieler Spezialgelehrter hierhin und dorthin verteilt und daselbst durchaus nicht immer aktuell und präsent sind. Diese ideelle Gesamtheit bildet, aus der Froschperspektive angesehen, eine Anarchie, nicht ein logisch zusammenhängendes, wohlgeordnetes System. Jede einzelne, auf irgendein Bruchstück der Innen- oder Außenwelt beschränkte Theorie soll in sich logisch kohärent sein und ist dies günstigenfalls. Aber die teils empirischen, teils hypothetischen Prinzipien dieser Theorien stehen, deren sporadischer Entstehungsweise gemäß, zuvörderst rein zufällig nebeneinander, befinden sich auch nicht immer und nicht durchgängig in einem wünschenswerten Verhältnis gegenseitiger Kompatibilität. Diese Isolierung und unvollkommene Verträglichkeit der Prinzipien muß von uns als Übelstand empfunden werden; und sie wird es. Unsere Vernunft muß, unter unbeschränkter Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund auf die Totalität alles Wißbaren überhaupt, eine Fundamentalwissenschaft fordern, in welcher der logische Zusammenhang über die Spezialprinzipien der Einzelwissenschaften hinaus bis zu irgendwelchen, sei es im Singularis, sei es im Pluralis vorhandenen Schlußpunkt aller Erkenntnis fortgesetzt und hergestellt wird. Sie muß eine letzte und höchste Theorie postulieren, worin die Gesamtheit der Prinzipien der Einzelwissenschaften, sofern sie überhaupt kompatibel, folglich zur Koexistenz logisch berechtigt sind, als ein System von Folgesätzen aus schlechthin unbedingten Prinzipien vor uns tritt. Angenommen, alle menschlichen Einzelwissenschaften hätten ihre definitive Gestalt erreicht; angenommen ferner, auf dem Piedestal [Sockel - wp] dieser fertigen Einzeldoktrinen wäre auch jene höchste aller Theorien in ewig gültiger Form konstruiert, dann, und dann erst, und dann allein würde jenes Ideal verwirklicht sein, welches dem menschlichen Forschen und Denken auf allen seinen mühseligen Wegen, Irrwegen und Umwegen am fernen Horizont als ein Riesenbild entgegenleuchtet und uns mit erhobenem Siegeskranz zu sich lockt.

Diese Wissenschaft wäre nun eben die Metaphysik. Ihre Prinzipien und sie selbst wären im subjektiven wie im objektiven Sinn absolut. Insbesondere müßte und würde sie uns auch über die letzten Urrelationen, die radikalsten Gegensätze, die wir kennen, hinaushelfen; über den transzendentalen Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt der Vorstellung, der all unserer Erkenntnis auf Schritt und Tritt innewohnt, über den immanenten Gegensatz zwischen materieller und geistiger Realität, von dem die uns gegebene Welt in zwei so gründlich heterogene Hälften zerschnitten wird. Irgendein Unbedingtes müßte sie aufweisen, als dessen Konsekutiva [Folgenden - wp] erst diese zwei Grundgegensätze, deren wechselseitiges Verhältnis und weiterhin das ganze Netz von Relationen, in denen unsere empirische und hypothetische Erkenntnis der Außen- und Innenwelt hängen bleibt, logisch deduziert und begriffen würden.

Das ist die allerdings höchst prometheische Idee der Metaphysik. Was sie anstrebt, ist wirklich die intellektuelle Gottähnlichkeit. Nicht umsonst erklärt ARISTOTELES den nous poetikos, die im Menschen denkende und prinzipienerkennende Vernunft in ihrer Reinheit für unfehlbar und für etwas Göttliches im Sterblichen; nicht umsonst identifiziert HEGEL unter pantheistischer Wendung seine Dialektik der absoluten Idee mit der absoluten Weltvernunft. Sehr wohl begreiflich bei der Größe des Gedankens jener dauerhafte Enthusiasmus, jener tiefe Ernst, jene beharrliche Geistesanstrengung, womit alle echten, überzeugten, großen Metaphysiker sich ihrem Lebenszweck gewidmet und geopfert haben. Wohl begreiflich selbst dann, wenn wir nach einer gewissenhaften Prüfung dieser ganzen Titanenarbeit mit dem skeptischen Spruch "In magnis voluisse sat est" [In großen Dingen genügt es, auch nur gewollt zu haben. - wp] abschließen und das resignierte Eingeständnis ablegen müßten, daß kein babylonischer Turmbau bis zum Himmel reicht.

Die rein intellektuelle, oder die bloß szientifische Motivierung des Ideals der Metaphysik wäre hiermit im Umriß skizziert. Es ist genau jenes von der logischen Natur unserer Vernunft geforderte Abhängigkeitsverhältnis der Einzelwissenschaften zu einer alles begründenden Fundamentalwissenschaft, welches ARISTOTELES im zweiten Kapitel des ersten Buchs seiner Metaphysik, DESCARTES in der "Dissertatio de methodo" und in den "Regulis ad directionem ingenii" geschildert hat. Dabei soll durchaus nicht geleugnet werden, daß hiermit nur die eine Seite der Sache hervorgehoben ist. Außer der szientifischen gibt es noch eine ganz andere, in der Gefühlssphäre wurzelnde Motivierung, die auf genau dasselbe Ideal hinzielt. Aber wir ignorieren sie hier; vom Standpunkt der Wissenschaftslehre aus kommt sie nicht in Betracht.

Daß nun die Aufgabe der Metaphysik, wenn auch sehr hoch, möglicherweise zu hoch gegriffen, doch sachlich vollkommen berechtigt ist, läßt sich überall ohne Schwierigkeit nachweisen. Bei jedem beliebigen Anlaß, von den alltäglichsten Gegenständen aus kann der denkende Kopf zu immer tiefer greifender Reflexion angeregt, sich sehr schnell durch die ganze Klimax der Theorien bis ins oberste Gedankenstockwerk emporgetrieben sehen. Zum Beispiel wir erblicken einen am Weg liegenden Chausseestein oder in der Luft einen emsig hin und her fliegenden Vogel. An dem Stein tritt eine charakteristische Kristallgestalt oder eine petrifizierte Muschel zutage; der Vogel sucht Futter für seine im Nest harrenden Jungen. So werden wir dort durch die Sphären der Geologie, Physik und Astronomie, hier durch die Gebiete der Zoologie, Physiologie und Psychologie sehr schnell zu immer höheren Problemen vorwärtsgedrängt. Erstgenanntes Objekt, der Stein, vergegenwärtigt uns die geologischen Erklärungen und Theorien über die Entstehung der Erdrinde und ihrer Gesteinsschichten teils vermöge der Erkalkung, Erstarrung und Kristallisation glühend geschmolzener Substanzen, teils durch die Verhärtung schlammartig aufgelöster Stoffe; der Streit des Neptunismus mit dem Plutonismus erhebt sich und verlangt eine Entscheidung; eine Menge physikalischer Probleme, wie etwa die Frage nach dem unbekannten Grund der Kohäsion fester Körper, melden sich und wollen beantwortet sein; wir geraten auf die KANT-LAPLACE-Theorie der Entstehung des Planetensystems, welche samt der Spektralanalyse und Astrophysik dem geologischen Plutonismus als Unterlage und Ausgangspunkt dient; bis hierher mit unseren Gedanken gelangt, sehen wir im Geist die weite Perspektive auf den ungeheuren Prozeß abwechselnder Weltentstehungen und Weltuntergänge eröffnet und fragen uns, ob dieser makrokosmische Prozeß als ein absolutes, durch nichts Höheres oder Tieferes mehr Bedingtes Geschehen aufzufassen ist, oder als Ausfluß der spontanen Wirksamkeit irgendwelcher dem Geschehen zugrunde liegenden Weltsubstanz betrachtet werden muß.

Hiermit wären wir dann schon vom Chausseestein aus mitten im Bereich der Metaphysik angelangt. Das zweitgenannte Objekt, der futtersuchende Vogel, wird uns, falls wir den Vorgang zunächst nur äußerlich ins Auge fassen, also von den psychologischen Triebfedern und Funktionen dieses emsig und mit offenbarer Absichtlichkeit hin und her eilenden Geschöpfs gänzlich abstrahieren, sogleich in die wunderbare Werkstatt und das verborgene Getriebe des sich spontan bewegenden Organismus hineinversetzen. Leben ist, wie ARISTOTELES urteilt, Selbstbewegung; lebendig ein Wesen, das sich von selbst bewegt. Die neuere Wissenschaft hat dies zum bloßen Schein erklärt, denselben eliminiert und jeden, auch den organischen Bewegungsprozeß in den universellen Weltmechanismus der durchgängig wechselwirkenden Körperelemente des Universums aufgenommen. Wir verfolgen in Gedanken die physikalisch und chemisch bis jetzt unaufgeklärten, aber der Erklärung dringend bedürftigen Bewegungsprozesse im Nerven- und Muskelsystem des Tieres, nicht weniger das wundersame Getriebe vegetativer Funktionen, vermöge dessen das Tier die aufgenommenen Nahrungsstoffe unwillkürlich und automatisch assimiliert, in organische Form bringt, die animalische Lebenswärme und die Bewegungskraft erzeugt, wobei es sich der letzteren bei seiner willkürlichen Lokomotion nach Belieben und eigener Auswahl bedienen kann; wir erkennen in diesem Wesen ein lebendiges physikalisch-chemisches Laboratorium, eine sich frei durch den Raum bewegende Maschinerie, gleich der Lokomotive und dem Dampfschiff, nur daß sie sich von der ersten, geringfügigen Keimzelle an durch mannigfaltige Zellenteilung in ihrer typischen Form selber aufgebaut hat, sich selber heizt, sich selber von Ort zu Ort dirigiert. Wir schieben ungern, aber vom Zug unserer Vernunft unweigerlich fortgezogen, die ungelösten Rätsel der natürlichen Erzeugung, Entwicklung und Selbstbildung des organischen Individuums und des ganzen Tierreichs überhaupt beiseite, geraten in die Psychologie hinein, bemerken, daß der fliegende Vogel, wenn auch durch einen völlig blinden Mechanismus ins Leben gerufen und gerade jetzt durch die Luft hin und her getragen, doch bei seinem gegenwärtigen Geschäft einen Zweck verfolgt, an seine Jungen denkt, für diese sich eifrigst abmüht und dabei, freilich ohne ein klares Bewußtsein hiervon, einem höheren Naturzweck, nämlich der Erhaltung seiner Art, dienstbar zu sein scheint.

Sofort steht vor uns das harte Problem: Verhältnis zwischen materiell-körperlicher und psychologisch-geistiger Realität; steht vor uns die große Antinomie zwischen mechanistischer und teleologischer Weltauffassung. Gesetzt nun aber, die Härte dieser Grenzfragen, die Unfaßlichkeit eines anfangs- und endlosen Naturlaufs, der Widerstreit zwischen dem Begriff eines blindmechanischen und dem eines teleologisch geordneten Geschehens, die Unvereinbarkeit der Auffassung eines animalischen Geschöpfs als bloße physikalisch-chemische Maschinerie mit seiner Auffassung als beseeltes, durch Wille und Absicht sich selbst lenkendes Wesen, - gesetzt das alles hätte den Effekt, daß wir, gleichsam zurückgeschreckt vor dem großen Geheimnis, auf uns selbst reflektierten, mit einer Wendung zur Selbstkritik unser intellektuelles Verhältnis zur rätselvollen Außenwelt in Betracht zögen, so gerieten wir in die bekannte Korrelativität zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis hinein, müßten uns mit der Kontroverse zwischen Idealismus und Realismus auseinander zu setzen suchen, und würden hierbei gewahr, daß die Wurzel unseres eigenen Daseins zweifellos eine metaphysische, nicht eine physische ist, weil für die ganz einseitige Betrachtungsweise der Physik das Geistige, welches doch als Urtatsache gegeben ist, so gut wie gar nicht existiert, sondern allein Körperliches da ist. So stünden wir dann mitten im Wirrsal der Metaphysik mit ihren ungeheurern Welträtseln und Weltantinomien. Wir tasten nach dem "Nagel, an dem das Universum hängt" und fragen nach der Mauer, in der er befestigt ist.

Auf diese Art eilt unser Denken, durch die innere Unruhe der Frage nach dem Erklärungsgrund rastlos vorwärtsgedrängt, von Problem zu Problem, von Reflexionsstufe zu Reflexionsstufe empor, läßt bei diesem unaufhaltsamen Regreß, aus Sehnsucht nach Stellung und Auflösung des Endrätsels, manche Fragen niederer Ordnung unerörtert beiseite liegen, vollzieht den Fortschritt vom Empirisch-Gegebenen zum schlechthin Hypothetischen, vom Gewissen zum Ungewissen und Zweifelhaften, ohne sich in der Regel diese scharfen Modalitätsunterschiede zu einem deutlichen Bewußtseins zu bringen; die Probleme niederen und höheren Rangs ordnen sich dem Grad ihrer Allgemeinheit und ihrer näheren oder entfernteren Verwandtschaft entsprechend, von der empirischen Basis bis zur transzendenten Spitze hinauf, unschwer in einer Art von logischer Hierarchie an; und so ist dann, falls nicht irgendwelche Reflexionen ganz anderer Herkunft und Tendenz störend und zerstörend intervenieren sollten, das Postulat, das Ideal, das Programm einer metaphysischen Universaltheorie vollständig gerechtfertigt. Große Gedankenbaumeister aller Zeiten, denen neben der Weite des geistigen Horizontes die spekulative Kraft kombinatorischer und synthetischer Gedankenbildung zu Gebote steht, kommen diesem Vernunftbedürfnis entgegen; sie stellen uns mit der Selbstgewißheit des Genius und der Zuversicht subjektiver Überzeugtheit ihre weltumfassenden Lehrgebäude hin, denen der Anspruch auf absolute Wahrheit als selbstverständliches Attribut innewohnt. Da stehen sie dann als monumentale Geisteswerke da und harren der Gläubigen, die sich um sie versammeln werden.

Der logische Baustil eines metaphysischen Systems kann übrigens sehr verschiedenartig ausfallen. Nicht jedes tritt in der einfachen typischen Grundform eines vom transzendenten Prinzip bis zur Breite der empirischen Basis lückenlos herabgeführten Deduktionsschemas auf. Die individuelle Geistesart des Baumeisters macht sich geltend. Anders verfährt PLATON, der seinen Lehrling mittels einer kunstvollen Dialektik, indem er den Maßstab eines idealen Erkenntnisbegrifs an die wechselnden und vergänglichen Tatsachen der Sinnenwelt anlegt, von der Scheinbarkeit der letzteren überzeugen und zu einem übersinnlichen Reich nur begrifflich erkennbarer ewiger Substanzialformen hinaufgeleiten will. Anders ARISTOTELES, der, zugleich vielseitiger Empiriker und gelehrter Literaturkenner, stets auf die Fülle konkreter Einzelheiten in der physischen und moralischen Welt hinblickt, ihnen die für gewöhnlich angenommene, von PLATON bestrittene Realität beläßt und zugesteht, aber sie überall sofort mit dem Stempel seiner schon in Bereitschaft gehaltenen ontologischen Grundbegriffe abstempelt. Anders wiederum DESCARTES, der, ein durchaus mathematischer Kopf, auf die Evidenz, die Gewißheit den Hauptwert legt, der die Metaphysik nach dem formellen Musterbild der Mathematik von den ersten Fundamenten aus neu begründen will, der, die ganze Wissenschaft der Vergangenheit als unzulänglich über Bord werfend, nach langem Zweifeln, Forschen und Suchen in der unbestreitbaren Grundtatsache unseres Selbstbewußtseins den absoluten Standpunkt gefunden zu haben glaubt und von hier aus durch strenggefügte Schlußketten das von seinem Zweifel für ihn erschütterte Universum zu rekonstruieren unternimmt. Den Eindruck der größten Einheitlichkeit und formellen Vollendung machen die Systeme des SPINOZA und des FICHTE. Aber bei allen Stildifferenzen herrscht doch überall dasselbe Ideal: Absolute, ewig gültige Deduktion des Stammbaums sämtlicher Einzelwahrheiten aus absolut gültigen Prinzipien, und damit absolute Welterkenntnis.

Dies ist die prometheische Idee der Metaphysik. Daß sie zur Skepsis herausfordert, liegt auf der Hand. Je größer eine Aufgabe, umso zweifelhafter ihre Ausführbarkeit. Philosophisch ist es, nach dem Höchsten zu streben; philosophisch aber auch, sich über seine Leistungsfähigkeit Rechenschaft zu geben. Indessen, wie schon früher bemerkt, ich referiere hier, ich kritisiere noch nicht; und zwei Punkte mögen jetzt nur erwähnt werden, deren Erörterung für eine spätere Stelle aufgespart bleibt. Ich meine erstens die Frage, ob sich Metaphysik wirklich in dem Grad gänzlich ausschließen und vermeiden läßt, in welchem man so oft von skeptischer Seite ihre Ausschließung verlangt hört; zweitens den Umstand, daß es einen gewissen Unterschied gibt zwischen dogmatischer und kritischer Metaphysik.


Sechstes Kapitel
Die Kriterien

Es ist kaum glaublich, welche Menge an dialektischem Unfug, welcher Wust an steriler Wortweisheit aus der Sucht hervorgegangen ist, in solchen Dingen, für die eigentlich das ernste Interesse und echte Fähigkeit fehlt, dennoch mitsprechen zu wollen. Ein Gelehrter, der sich in dieser unerquicklichen Lage befindet, wird eben trotz allen Aufwandes an Sagazität [Scharfsinn - wp] und Gelehrsamkeit immer nur über den Gegenstand reden, ohne je in ihn einzudringen; er wird einen ähnlichen Eindruck hinterlassen wie jener miles gloriosus [prahlerischer Soldat - wp] , der zwischen den Lagerzelten bramabarsierend [weitschweifig und salbungsvoll schwadronieren - wp] mit der Klinge spielt und Fechterkunststückchen vorführt, sobald aber das Zeichen zur Schlacht gegeben wird, seinen Degen einsteckt und sich säuberlich in den Hintergrund zurückschleicht. So erging es zur Zeit des Herabsinkens attischer Geisteskultur, nachdem PLATON und ARISTOTELES das Höchste, was die Weisheit des klassischen Altertums darbietet, ersonnen hatten, den zahlreichen Spätlingen und Marodeurs [Plündernder Nachzügler einer Truppe - wp] der griechischen Philosophie. In Ermangelung eigener Originalgedanken, unfähig etwas Neues als philosophische Wahrheit auf den Markt zu bringen, begannen sie einen endlosen Streit darüber, ob es denn überhaupt Wahrheit gibt, worin deren Kriterium besteht und ob irgendein Kriterium aufzutreiben ist. Das Kriterium ist ihr stehendes Thema. Hierüber verlieren sie sich in ewige Präambeln und Präliminarien [Einleitungen - wp] und kommen der Sache selbst gar nicht an den Leib; ein sprechendes Zeugnis des Marasmus [Schwachwerden - wp] und der geistigen Impotenz. Wenn man die weitschweifigen Debatten der späteren Akademiker, Stoiker, Epikureer und Skeptiker über das delikate Thema "Kriterium der Wahrheit" durchmustert, so wird man sich eines förmlichen Ekels über all das unfruchtbare Gerede kaum erwehren können.

Man wird finden, daß die Mehrzahl dieser Sekten, wenn nicht alle, in der seit dem Sophisten PROTAGORAS landläufigen Voraussetzung einig sind, der Mensch, als Gattung und Individuum, ist ein für allemal in den unüberschreitbaren Kreis seiner subjektiven Vorstellungen hineingebannt; die Natur der Dinge "ansich", wenn es eine solche gibt, steht ihm als etwas völlig Anderes, direkt nicht Erfaßbares, ihm Unnahbares fremd gegenüber; also kann nur ein Dritter, ein sowohl über der menschlichen Vorstellungswelt als auch über der Welt der Dinge erhabener Richter zum unparteiisch objektiven Urteil über Wahrheit oder Falschheit unserer Vorstellungen befähigt sein. Trotzdem sind sie aber bemüht, durch allerlei künstliche Subtilitäten oder unmotivierte Machtsprüche in und an den menschlichen Vorstellungen selbst ein Merkmal ausfindig zu machen, an dem deren Wahrheit oder Falschheit so zu unterscheiden sein soll, wie am Probierstein das Gold vom Messing. Wenn dann hierbei bald die unmittelbar zwingende Evidenz (enargeia) und unterschütterliche Tatsächlichkeit der Sinneswahrnehmung, bald der consensus omnium, [allgemeine Übereinstimmung - wp] bald die sogenannte phantasia kataleptike [Beifall erzwingende Anerkennung - wp] als das gesuchte Kriterium angepriesen wird, so scheinen sie gar nicht zu bemerken, daß dergleichen Auskünfte sämtlich mit der einmal gemachten Voraussetzung in einem flagranten Widerspruch stehen; und deshalb behält dann der Meister aller Skeptiker, SEXTUS EMPIRICUS, obwohl seine Strategie durch manche ganz grobe Sophismen verunziert wird, vollkommen Recht, indem der jedes Kriterium der Wahrheit für unmöglich erklärt. Recht nämlich solange, als man, in ein völlig abstraktes Erkenntnisideal verliebt, mit Diskussionen über die Erreichbarkeit dieses Ideals Zeit und Mühe vergeudet, anstatt, wie es sich gehört, den Gegenständen dort, unserem Gedankenapparat hier energisch auf den Leib zu gehen und festzustellen, unter welchen Umständen und in welchem Grad der menschliche Gedanke vom wirklichen Verlauf der Dinge faktisch bewährt wird, bewährt werden muß, bewährt werden kann, oder faktisch widerlegt wird, widerlegt werden muß, widerlegt werden kann.

Heutigen Tages pflegt man, geschult durch eine mehrhundertjährige Praxis fruchtbarster wissenschaftlicher Forschung, zwei Kriterien der Wahrheit anzuerkennen; einmal die logische Korrektheit, sodann die empirische Verifikation einer Theorie. Dies ist richtig, muß aber etwas genauer expliziert werden.

Verstehen wir der hergebrachten Schuldefinition gemäß unter materialer Wahrheit die inhaltliche Übereinstimmung subjektiver Gedanken mit dem objektiven Sachverhalt, unter formaler Wahrheit hingegen die Übereinstimmung subjektiver Gedanken und Gedankengänge mit den logischen Denkvorschriften unseres eigenen Verstandes, dann gibt es drei allgemeine Regeln, die als Summe und Schlußmoral der Logik betrachtet werden dürfen, und denen überdies unter einer gewissen Voraussetzung eine hohe metaphysische Bedeutsamkeit nicht abzusprechen ist. Sie lauten folgendermaßen:
    Erstens: Was aus materiell falschen Prinzipien logisch korrekt, d. h. widerspruchslos, erschlossen ist, das ist materiell falsch. Denn gerade wegen der logischen Korrektheit der dazu hinleitenden Schlüsse muß sich der materiale Fehler der ersten Prämissen von Glied zu Glied durch die ganze Schlußkette forterben; noch die letzte Konklusion ist mit dem Grundirrtum behaftet und wird deshalb von den Tatsachen der Erfahrung dementiert.

    Zweitens: Was aus materiell wahren Prinzipien logisch inkorrekt, d. h. durch Paralogismen, erschlossen ist, das kann materiale Wahrheit entweder nicht besitzen oder doch besitzen. Letzteres nämlich dann, wenn die begangenen Schlußfehler einander entgegengesetzt und gleich groß sind, dergestalt, daß sie sich kompensieren.

    Drittens: Was aber aus materiell wahren Prinzipien logisch korrekt erschlossen ist, das muß materiell wahr sein, d. h. die Erfahrung muß es bestätigen; sie kann nicht anders.
In diesen drei so pedantisch aussehenden Regeln haben wir das Fundament und die Grundbedingung aller wissenschaftlichen Erkenntnis vor uns. Nur dann, wenn sie gültig sind, ist Wissenschaft möglich; nur dann, wenn das aus materiell wahren Prinzipien logisch korrekt Erschlossene von den Tatsachen der Erfahrung auf das Strengste bestätigt wird. Unmöglich wäre jede Wissenschaft, sollte diese Voraussetzung täuschen, durch die Tatsachen selbst widerlegt würde. Sofern aber dieses letztere nicht der Fall ist, herrscht im natürlichen Weltlauf eine der korrekten Logik menschlichen Denkens korrespondierende objektive Logik. Die Natur der Dinge besitzt für uns, vermutlich also auch "ansich" insofern eine logische Struktur, als sie unter der Herrschaft eines Systems allgemeinerer und speziellerer, sich stets gleich bleibender Gesetze steht und diesen konstanten Gesetzen entsprechend gezwungen ist, dasjenige, was der Mensch durch folgerichtige Schlüsse aus den richtig erkannten Gesetzen deduziert hat, faktisch zu bestätigen. Logik der Tatsachen habe ich das genannt und diesen inhaltreichen Begriff anderwärts ausführlich exponiert. (7)

Weiter aber, sobald der Wahrheitsbegriff definiert und nach einer gewissen Richtung hin noch feiner eingeteilt ist, enthalten obige drei Regeln implizit all das, was als allgemein gültiges Wahrheitskriterium einer menschlichen Theorie vernünftigerweise betrachtet und verlangt werden kann. Fügen wir also noch hinzu, daß es zwei Unterarten der materialen Wahrheit gibt, die empirische und die metaphysische; daß unter empirischer Wahrheit die inhaltliche Übereinstimmung des Gedankens mit dem als Erscheinung wahrnehmbaren Sachverhalt, unter metaphysischer Wahrheit aber die Übereinstimmung des Gedankens mit dem sich durch die Erscheinung manifestierenden absolut Realen verstanden wird; dann ist alles in der Kriterienfrage nötige Begriffsmaterial beieinander und wir können zu dessen praktischer Handhabung fortschreiten. Hierbei aber zeigt sich, daß in dieser Hinsicht zwischen den drei Stockwerken wissenschaftlicher Theorie ein gewaltiger Unterschied besteht, indem diejenigen der ersten Ordnung vor denen der zweiten und dritten Ordnung aus logischen Gründen enorm bevorzugt sind.

Eine Theorie erster Ordnung, deren Erklärungsprinzipien selbst empirisch gegeben, der Welt tatsächlicher Phänomene entnommen sind, ist vom Kopf bis zu den Füßen, vom Prinzip bis zu den abgeleiteten Folgesätzen hinunter, empirisch kontrollierbar. Mit oder ohne Zuhilfenahme des Experiments kann sie stets den Beobachtungstatsachen konfrontiert und durch unmittelbaren Vergleich des subjektiven Gedankengebäudes mit der realen Abfolge der Erscheinungen verifiziert werden. Ja, es genügt streng genommen die einmalige Entdeckung, Konfrontierung und Verifikatioin. Alles weitere Beobachten und Experimentieren hat dann entweder nur den didaktischen Zweck, das bereits als wahr Erkannte durch eine Autopsie lebendig zu vergegenwärtigen, oder den heuristischen Zweck, von der Operationsbasis der bereits errungenen Wahrheit aus neue, noch undurchforschte Nebengebiete in Angriff zu nehmen. Ist einerseits die logische Korrektheit des Schlußgefüges am Grundmaßstab des principii contradictionis geprüft und bewährt, ist andererseits die empirische Wahrheit des Prinzips und seiner Folgesätze von den Beobachtungstatsachen verifiziert, dann werden wir die einmal als wahr erkannte Theorie als für immer wahr, als veritas aeterna [ewige Wahrheit - wp] betrachten dürfen, - vorausgesetzt nämlich den schlechthin gleichförmigen Gang der Natur, vorausgesetzt die konstante Gesetzlichkeit des Geschehens, die Logik der Tatsachen. Nur durch ein Wunder, eine Weltrevolution, einen totalen Umsturz der bestehenden Naturgesetze könnte eine so bewährte Theorie ungültig werden. Mit Wundern aber rechnet die Wissenschaft zumindest nicht.

Wenn wir also dem radikalen Skeptiker das Zugeständnis entgegenbringen, daß man die reale Unmöglichkeit eines solchen Wunders zu beweisen außerstande ist, so muß er seinerseits sogleich den Zusatz akzeptieren, daß eine im oben angegebenen Sinn bewährte Theorie nur mit der Naturordnung selber umgestoßen werden könnte. Dessen aber dürfen wir getrost harren. Ein Irrtum wäre es, wenn man etwa befürchten wollte, aus einer solchen Zuversicht könnte eine chinesische Stagnation [Vermittelmäßigung - wp] der empirischen Forschung hervorgehen. Dies durchaus nicht! Denn über die bloße Bestätigung des bereits Erkannten hinaus gewährt die nie rastende, nie erschöpfte Erfahrung auf allen Forschungsgebieten schon insofern die Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts, als immer mehr Spezialtatsachen derselben Gattung entdeckt, zum Teil an ganz unvermuteter Stelle und unter fremdartiger Hülle hervorgezogen und dann günstigenfalls auf die schon früher her bekannten Urphänomene zurückgeführt werden können. So wußte man schon seit LAVOISIER, daß das Verbrennen entzündbarer Stoffe, die Verkalkung der Metalle, das Verrosten des Eisens lauter Spezialfälle desselben Urphänomens sind, nämlich der Oxydation oder Verbindung mit Sauerstoff; später hat man auch den Prozeß der Respiration, die Entstehung der animalischen Eigenwärme, die Verwesung absterbender organischer Stoffe und andere dem Augenschein nach sehr fernliegende Erscheinungen aus demselben Urphänomen zu erklären vermocht. Übrigens gibt es neben den definitiv gesicherten auch provisorische Theorien der ersten Ordnung, welche so entstanden sind, daß man eine in einzelnen Spezialfällen einer homogenen Erscheinungsklasse wirksame Ursache über diese ganze Klasse hin generalisiert und die durchgängige empirische Verifizierung der Zukunft vorbehält. So z. B. in der Sprachwissenschaft die Theorie der Lautverschiebung, in der Paläographie die phonetische Theorie der ägyptischen Hieroglyphen, in der Medizin die Pilztheorie der Infektionskrankheiten, wozu es auf sämtlichen Spezialgebieten der empirischen Forschung Analoga gibt. Genug, die Wirklichkeit ist zu reich und das aktuelle Erfahrungswissen des Menschen zu beschränkt, als daß in irgendeiner absehbaren Frist ein Stillstand zu befürchten wäre.

Ganz anders schon mit den Theorien zweiter Ordnung. Hier gehören nur die Konsequenzen der Sphäre des tatsächlich Gegebenen an; nur sie liegen innerhalb der beobachtbaren Erscheinungswelt; nur sie sind empirisch kontrollierbar und einer empirischen Verifikation fähig. Die Prinzipien hingegen sind hypothetisch und liegen in der Region des Unerfahrbaren. So die Ätheroszillationen der Optik, so die elektrischen Fluida, so die Atome und Moleküle der Chemie. Bei ihnen kann nur von einem Kriterium der formalen Wahrheit die Rede sein, während ihre materiale Wahrheit für immer problematisch bleibt. Entsprechend der wissenschaftlichen Fundamentalvoraussetzung vom ausnahmslosen Obwalten einer Logik der Tatsachen wird einer solchen Theorie nur dann objektive Geltung zuerkannt werden können, wenn ihr vom Prinzip zu den Folgesätzen hinabführendes Schlußgewebe Schritt für Schritt den Anforderungen der Logik entspricht. Aber dieses Können ist kein Müssen, die logische Korrektheit noch keine sachliche Richtigkeit. Denn die alte Regel posita conditione ponitur conditionatum [Wenn die Bedingung gesetzt ist, so wird auch das Bedingte gesetzt. - wp], deren spezielle Anwendung auf den Kausalitätsgedanken den Satz "aus gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen" ergibt, läßt sich zwar dahin kontraponieren sublato conditionato tollitur conditio [Ist die Bedingung aufgehoben, so fällt auch das Bedingte weg. - wp], d. h. speziell "wo die Wirkung unterbleibt, kann auch die Ursache nicht wirksam sein", aber keineswegs dahin umgestalten "sublata conditione tollitur conditionatum", da ja sehr gut dieselbe Folge einmal aus diesen, das andere Mal aus ganz anderen Gründen entspringen könnte. Daher bleibt der Schluß von einer empirisch gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache stets unsicher und mißlich. Schon auf dem der Beobachtung zugänglichen Gebiet werden wir ja auf das Mannigfltigste überzeugt, daß ein und dieselbe Wirkung durch gänzlich verschiedene Ursachen herbeigeführt werden kann. So bei Gelegenheit jeder optische, akustischen oder sonstigen Sinnestäuschung, beispielsweise beim Sehen durch das Stereotyp oder bei der Betrachtung eines guten Panoramas, wo wir, von der Identität der optischen Wirkung verführt, auf die Existenz plastischer Gegenstände schließen, während doch nur Flächenbilder vorhanden sind.

Wenn nun aber die aus dem gegebenen Effekt rückwärts erschlossene bestimmte Ursache ihrer Natur nach völlig unerfahrbar, bloß in Gedanken konstruiert und als Hypothese angesetzt ist, wie der schwingende Äther, die chemischen Atome und Atomgruppen und dgl. mehr, dann fehlt selbstverständlich das materiale Kriterium der empirischen Verifikation des Prinzips, und trotz aller logischen Korrektheit unserer Theorie könnte diese doch an der objektiven Logik der Natur gänzlich vorbeischlagen, könnte im nächsten Moment durch eine logisch ebenso korrekte, aber aus völlig anderen Prinzipien abgeleitete Theorie verdrängt und ersetzt werden. Daher die behutsame Reserve gerade des sachkundigen Forschers, der, aus Gewissenhaftigkeit, auf die Gewißheit seiner hypothetischen Erklärungsart zu pochen wohlweislich unterläßt. Nur soviel kann, im Hinblick auf die Fundamentalvoraussetzung einer allgemein herrschenden Logik der Tatsachen, als Kanon für die Beurteilung einer Theorie zweiter Ordnung gültig sein: Wenn sie eine formale Wahrheit besitzt, solange das System ihrer Konsequenzen mit dem Komplex bekannter Erfahrungstatsachen koinzidiert, solange außerdem keine in irgendeiner Hinsicht plausiblere Theorie ersonnen ist, dann und solange haben wir das Recht, sie als provisorischen Bestandteil dem Körper unserer wissenschaftlichen Überzeugungen einzuverleiben. Wohl gemerkt: das Recht; aber nicht die Pflicht.

Am Schlimmsten schließlich ist es mit den Theorien der dritten Ordnung bestellt. Sie teilen das Schicksal derjenigen der zweiten Ordnung, daß ihre Prinzipien in der Region des Unerfahrbaren gelegen sind, haben aber vor jenen den fatalen Vorzug des Absolutseinwollens voraus. Gerade das, was in ihren eigenen Augen ihr eigentümliches Privilegium und Monopol ausmacht, erweist sich vor dem Richterstuhl logischer Kritik als ihre Achillesferse. Sagen wir es gleich kurz: Ein Wahrheitskriterium metaphysischer Systeme, sofern sie mit dem Anspruch eine apodiktische Wissenschaft vom absolut Realen zu sein auftreten, existiert nicht und kann gar nicht existieren. Hierin hat SEXTUS EMPIRICUS vollständig Recht. Wenn man einmal gänzlich davon abstrahiert, daß einige dieser Systeme, das System HEGELs zum Beispiel, sich von dem bindenden Zwang der formalen Verstandeslogik emanzipieren oder genauer: im Besitz einer angeblich höheren Methode der Gedankenentwicklung etwas über die gemeine Verstandeslogik Erhabenes mitzuteilen versichern, also für das sonst allgemein anerkannte, jeder Spezialwissenschaft gegenüber sakrosankte Kriterium der formalen Wahrheit unzugänglich sind, so gehören die Realgründe der metaphysischen Welttheorien, wiewohl mit ihren Konsequenzen schließlich in die tatsächlich gegebene Erscheinungswelt einmündend und auslaufend, samt und sonders dem Gebiet des Überempirischen an, während sie doch, getragen vom Bewußtsein ihrer Unbedingtheit, den Titel bloßer Hypothesen auf das Entschiedenste zurückweisen.

Ein Kriterium ihrer materialen Wahrheit würde daher nur dann vorhanden sein können, wenn es irgendwelche Sätze von axiomatischer Evidenz gäbe, die gleich den Grundsätzen der reinen Logik und reinen Mathematik, eine über das aktuelle Erfahrungswissen hinausreichende absolute Überzeugungskraft besitzen, gleichzeitig aber zum Unterschied von jenen nicht nur etwas Formales, sondern etwas Materiales aussagen. Wäre nun dies der Fall, machte man außerdem die transzendente Konzession [Zugeständnis - wp], daß das für Menschen intuitiv und begrifflich Undenkbare auch "ansich" unmöglich ist, dann allerdings würde, wie es scheint, ein System der Metaphysik herstellbar sein, welches, wie die bloß formellen Theorien der Logik und reinen Mathematik, die Garantie seiner unerschütterlichen Richtigkeit in sich selber trägt. Und in der Tat haben alle großen metaphysischen Gedankenbaukünstler dieser Überzeugung gelebt, haben derartige Grundsätze teils explizit, teils implizit aufgestellt. So die Eleaten den Satz von der Unentstandenheit, Unzerstörbarkeit, Unveränderlichkeit des wahren Seins. [...] Woraus PARMENIDES die bloße Scheinbarkeit des Werdens, die Phänomenalität der Zeit und alles Veränderlichen in ihr erschließt. So ARISTOTELES neben dem ontologisch gedeuteten Prinzip des Widerspruchs den Satz, daß jedes Ding und jedes Ereignis in der Welt nicht nur aus einer wirkenden Ursache hervorgeht, sondern auch einen zweckmäßigen Typus zu verwirklichen bestrebt ist. So DESCARTES das Prinzip der Kausalität, mittels dessen er sich aus der Einsiedelei des cogito ergo sum heraushilft, zuerst ontologisch die Existenz der Gottheit, dann weiter aus einem Attribut Gottes die Realität der materiellen Außenwelt, aus einem anderen Attribut die Gültigkeit der obersten Naturgesetze deduziert. So SPINOZA eine ganze Menge Axiomata und Definitiones. So LEIBNIZ neben dem principium Contraditionis den Satz des zureichenden Grundes, der ja auch für uns ein unumgängliches Denkpostulat ist, ihm aber als transzendentes Weltgesetz gilt. -

Wie gesagt, gäbe es dergleichen materiale Grundsätze, die über alles Erfahrbare hinausgreifend auch jenseits der menschlichen Anschauungs- und Gedankenwelt eine unbedingte Gültigkeit besäßen und, wie die Grundsätze der Logik und Mathematik unmittelbar apodiktisch gewiß wären, dann würde auch ein ewig gültiges System der dogmatischen Metaphysik denkbar sein, und wir hätten dessen materiales Wahrheitskriterium schon in der Hand. So wie ARCHIMEDES nur einen festen Punkt verlangt, an den er seinen Hebel ansetzen kann, um die ganze Welt aus den Angeln zu heben, so hätte die Metaphysik in ihren ontologischen Axiomen den intellektuellen Stützpunkt, an den sie den Hebel streng logischer Schlußfolgerung nur anzusetzen brauchte, um die ganze Welt deduktiv begreiflich zu machen. Allein, der feste Punkt des ARCHIMEDES existiert nirgeds in Wirklichkeit; er ist nur ein Ideal, ist ein imaginärer Punkt; nur in Gedanken, nicht in der Tat können wir uns von unserer Erde hinwegversetzen; faktisch sind wir überall hineinverflochten in ein System relativer Bewegungen; daher auch der ganze Hebelapparat und sein Effekt lediglich in der Einbildung vorhanden ist. Und ebenso ergeht es der dogmatischen Metaphysik. In der Idee versetzt sie sich aus dem Gewebe von Relationen, in welches unser Anschauen, Denken und Erkennen unentrinnbar verflochten ist, hinaus, wie ARCHIMEDES sich in der Idee von der Erde, an die wir für immer leiblich gefesselt sind, hinwegversetzt. Sie will absolute Axiome zur Welterklärung liefern; aber die Festigkeit und Stützkraft dieser Axiome ist imaginär.

Daß sie dies ist, daß weder der Satz von der Ewigkeit und Unveränderlichkeit des wahrhaft Seienden, noch der von der Zweckmäßigkeit allen Geschehens, noch das Prinzip der Kausalität, noch die von SPINOZA proklamierten zahlreichen Grundsätze eine axiomatische Evidenz, geschweige denn die innere Bürgschaft einer über die menschliche Vorstellungs- und Gedankenwelt hinausgehenden Gültigkeit besitzen, dies ist verhältnismäßig leicht nachweisbar: durch ein psychologisches Experiment. Ich reflektiere nicht auf das von sophistischer und skeptischer Seite so oft gegen die Möglichkeit der Metaphysik ins Feld geführte argumentum e dissensu argumentum e dissensu [Argument Uneinigkeit - wp]. Es hält nicht Stand, weil es auch gegen ganz andere, anerkannt solide Wissenschaften ebenso anwendbar ist. Aber man mache das Experiment; man versuche es sich das kontradiktorische Gegenteil jener angeblichen Axiome, z. B. eine Entstehung des Realen aus Nichts, oder eine Welt, i der ein völlig regelloser Zufall herrscht oder ein wirkliches Wunder vorzustellen. Und siehe da: Es geht! Axiom aber und apodiktisch gewiß ist nur dasjenige, wovon das kontradiktorische Gegenteil nicht denkbar und nicht vorstellbar ist, wie z. B. der Satz des Widerspruchs. Also verlieren die metaphysischen System, sofern sie den Anspruch absolute Welttheorien zu sein erheben, ihren Halt. Ihre angebliche Absolutheit ist eben der Hauptgrund, weshalb es für sie nicht so, wie für die Theorien erster und zweiter Ordnung, ein Kriterium geben kann. Ja, wenn sich der Metaphysiker dazu verstünde, seine Prinzipien nur als Hypothese hinzustellen, dann würde sich mit ihm reden lassen. Aber daß er das nicht kann, daran ist eben der von gewählte Standpunkt schuld. Er muß kategorisch sprechen, weil er die endgültige Lösung des Welträtsels geben will; er kann nicht anders. Er darf keinen Widerspruch, keinen Zweifel, kein Bedenken gelten lassen; denn die vermeintliche Absolutheit seines Standpunktes verbietet das. Vergegenwärtige man sich doch den überschwänglichen Enthusiasmus, mit welchem PLATON, die mathematische Zuversichtlichkeit, mit der CARTESIUS, die tiefe ernste Überzeugtheit, womit SPINOZA, den doktrinären Starrsinn, mit dem HERBART, die feurige, jeden Skrupel über den Haufen rennende Beredtsamkeit, mit der FICHTE, die eigensinnige Rechthaberei mit welcher SCHOPENHAUER das souveräne Diktatorenbewußtsein, mit dem HEGEL ihre eigenen Welterklärungsprinzipien der Welt verkündet haben, man vergleiche hiermit die geradezu befremdliche Bescheidenheit, mit welcher NEWTON am Ende seines klassischen Werkes, nachdem er die Menschheit mit einer wirklich universellen mathematischen Weltwissenschaft beschenkt hat, das Eingeständnis ablegt, die "causa vera" der Planetenbewegung sei ihm unbekannt (8) - und man wird sogleich gewahr, hier, in der dogmatischen Metaphysik, handelt es sich eigentlich gar nicht um ein Wissen, ein objektiv begründbares Wissen, sondern um einen Glauben, eine zwar feste, aber doch lediglich subjektive Überzeugung, genauso wie in der Religion; um ein Credo, das sich der wissenschaftlichen Kritik ohne weiteres entzieht, dessen Wahrheit nur nachempfunden, nachgefühlt, aber ebenso wie die Schönheit eines Kunstwerks, nie streng bewiesen werden kann; um eine Konfession, die zwar Proselyten [Anhänger - wp] zu machen und Sekten zu stiften, aber ihre Gegner nur als Ketzer zu verurteilen, nimmermehr ad absurdum zu führen imstande ist. Metaphysische Systeme wie religiöse Konfessionen sind intolerant. Beide aus demselben Grund. Beide deshalb, weil sie auf Glauben, nicht auf Wissen gegründet sind, auf ein Fürwahrhaltenwollen, nicht ein Fürwahrhaltenmüssen. Die objektive Unsicherheit ihrer subjektiv für absolut wahr gehaltenen Position macht ihnen die Toleranz unmöglich. Denn wegen jener Unsicherheit gilt ihnen ein wissenschaftlicher Angriff nicht als diskutierbares Argument, sondern als Beleidigung; und da sie sie sich nicht durch eine strenge Widerlegung zur Wehr setzen können, so wehren sie sich durch Verdammung.

Ob also die in einem rastlosen Werdefluß begriffene, dabei jedoch auffallenderweise konstanten Gesetzen gehorchende Erscheinungswelt mit PLATON für eine Art Schattenspiel und flüchtig vorüberschwebender Nachbildung eines vorbildlich feststehenden Reiches ewiger Gattungstypen zu halten ist, oder mit ARISTOTELES für das reale Produkt einer Stufenfolge den Einzeldingen immanenter zielstrebiger Substanzen (Entelechien), ob man das empirische Faktum der zeitlichen Veränderung, des Werdens, des Geschehens mit HERAKLIT als absoluten Prozeß betrachten soll, oder mit den Eleaten, PLATON und HERBART als bloß phänomenale Manifestation eines konstant und unveränderlich beharrenden Realen, ob die Epikureer im Recht sind mit ihrer Behauptung, daß der Vielheit, Mannigfaltigkeit und dem Wechsel der Erscheinungen eine anarchische Vielheit gleich selbständiger Substanzen zugrunde liegt, oder PARMENIDES, die Neuplatoniker, SPINOZA, HEGEL und SCHOPENHAUER mit ihrem hen kai pan [Eins und Alles - wp], der Lehre von der substanziellen Welteinheit, ob man mit CARTESIUS den empirisch gegebenen Dualismus des Geistigen und des Materiellen auf zwei toto genere [völlig - wp] verschiedene Arten des Seienden, oder mit LEIBNIZ auf die prästabilierte Harmonie zwischen bloß graduell verschiedenen Monaden zu reduzieren hat, ob irgendeine dieser metaphysischen Theorien die von ihr selbst in Anspruch genommene absolute Wahrheit wirklich besitzt, dafür fehlt uns jedes entscheidende Kriterium. Die Spekulatioin über diese Probleme verbleibt für immer in der Region des schlechthin Problematischen. Möglicherweise besteht der sichere Ertrag metaphysischer Spekulationen nur darin, daß wir durch sie bis zu gewissen Grenzbegriffen menschlichen Nachdenkens hingeführt und mit gewissen universellen, einander antithetisch gegenüberstehenden Gesichtspunkten bekannt gemacht werden, aus denen der Mensch das Universum auffassen kann, aber nicht auffassen muß.
LITERATUR Otto Liebmann, Die Klimax der Theorien, Straßburg 1884
    A n m e r k u n g e n
    6) Platon, Timaeus, 34. - Aristoteles, De Coelo, II, 4; Metaphysik XII, 8.
    7) Analysis der Wirklichkeit, zweite Auflage, Seite 187-207 und 556-560; Gedanken und Tatsachen, Heft 1, Seite 18-20; a. a. O.
    8) Causam harum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere; et hypotheses non fingo. [Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht. - wp]