ra-1F. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. Störring    
 
GERHARD RITTER
Nominalismus
- der moderne Weg -

"Die Sache ist immer wichtiger, als der Name dafür."

Über die Kämpfe der Pariser Universität gegen die philosophischen und theologischen Neuerungen OCKHAMs im 14. Jahrhundert stehen uns bisher nur vereinzelte, zufällig erhaltene Zeugnisse zur Verfügung. Die ältesten dieser Quellenstücke lassen sogleich eine doppelte Front der akademischen Körperschaften gegenüber der neuen Lehre erkennen: die theologische Fakultät wehrt sich gegen gewisse radikale Konsequenzen aus der antirationalistischen Gotteslehre OCKHAMs, die artistische gegen eine sophistisch-skeptische Ausnutzung seiner erkenntnistheoretischen Doktrin. Die Verurteilung von 40 Thesen des JOHANN von MIRECOURT aus dem Jahre 1347 durch die Pariser Theologen wendet sich in der Hauptsache gegen eine ethisch bedenkliche Übertreibung des Gedankens der unbegrenzten Willkür Gottes.

Wichtiger für unsere Frage sind deshalb die Beschlüsse der Pariser Artistenfakultät von 1339 und 1340 gegen die OCKHAMistische Logik. Soweit diesen Beschlüssen eine nähere Begründung und Ausführung beigegeben ist, läßt sich erkennen, was den Hauptanstoß erregt: einige Magister üben an den Texten ihrer Vorlagen Kritik, indem sie eine wörtliche (sermozinale) Bedeutung der Text-Worte von einer sachlichen unterscheiden. Vielfach werde dann der "sermozinale" Sinn der betreffenden Stelle als falsch erwiesen, während doch die sachliche Meinung des Autors gar nicht zu mißdeuten und unbezweifelbar richtig sei; der Sprachgebrauch (sermo) besitze ja gar keine selbständige Bedeutung: nur auf den materiellen Inhalt des Textes komme es an; über den Sprachgebrauch entscheide einfach die Absicht des Autors.

In andern Fällen wird die Unterscheidung der verschiedenen Arten von "Supposition" des terminus zu ähnlichen sophistischen Mißdeutungen des Autors benutzt: z.B. wird ihm "personale Supposition" (also unmittelbare Beziehung des Ausdrucks auf ein Einzelding) untergeschoben, während er vielleicht ein ganz anderes Verhältnis von Ausdruck und zugehöriger Sache im Sinne hatte; oder man leugnet die Möglichkeit zu einer Distinktion verschiedener Beziehungen, in denen ein Urteil stehen kann, indem man bloß die nächstliegende Bedeutung (sensus proprius) anerkennt und so das zu erklärende Urteil absichtlich mißversteht. Das alles seien Sophistereien, die sich gewaltsam an den Sprachausdruck klammern, statt sich an die Sache zu halten; damit werde der Wahrheit nicht gedient: in Wahrheit sei die Sache immer wichtiger als der Name dafür.

Man sieht ganz deutlich: hier wird das Aufkommen einer neuen Methode der Textauslegung im akademischen Unterricht bekämpft, die sich nicht mit einer Besprechung des Sachinhalts der Vorlagen begnügt, sondern den Sprachausdruck logisch bearbeitet und alle Hilfsmittel der terministischen Logik dazu benützt, um künstliche Schwierigkeiten der Auslegung zu schaffen und ebenso spitzfindig zu lösen. Zum erstenmal kann man hier das spätere Schlagwort der "Realisten" anklingen hören: Nos imus ad res, de terminis non curamus!" Es richtet sich hier gegen einen übertreibenden Mißbrauch der neuen logischen Hilfsmittel, die der "Terminismus" bot, ohne daß die Träger der bekämpften Methode namentlich sichtbar würden. Zu beachten ist insbesondere, daß weder der Terminismus selbst noch seine übertreibende Anwendung ausdrücklich mit dem Namen OCKHAMs in Verbindung gebracht wird, wenn auch die Fakultät am Schluß des Aktenstückes ein älteres allgemeines Verbot des OCKHAMismus erneuert.

Daß nun gerade die Anfänge der neuen logischen Methode nicht frei blieben von sophistischen Entgleisungen, ist nicht schwer vorzustellen. Dagegen würde ich nach meiner Kenntnis OCKHAMistisch-"moderner" Schriften des 15. Jahrhunderts nicht wagen, die hier gegebene Beschreibung der Methode "terministischer" Kommentare auf die ganze Schule OCKHAMs ohne weiteres für anwendbar zu erklären.

Wesentlich leichter ist die historische Fixierung eines weiteren erkenntnistheoretischen - Differenzpunktes zwischen Herkommen und Reformern. Die Fakultät verbietet nämlich die Verkündung der Lehre, alle Wissenschaft handle nur von den "Zeichen", nicht von den "Dingen"; in Wahrheit seien die "Zeichen" nur als Mittel zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge, nicht selbst als Gegenstand der Erkenntnis züi betrachten. Damit ist ganz eindeutig die Lehre OCKHAMs von dem rein intramentalen Charakter des Erkennens bezeichnet, das Hauptstück der neuen Erkenntnistheorie.

Warum wird sie so lebhaft bekämpft? Der nächste Satz zeigt es deutlich: hinter der Lehre vom subjektiven Charakter der Erkenntnis droht die Leugnung der realen Bedeutung der metaphysischen Begriffe, wie sie eben damals NIKOLAUS mvon AUTRECOURT bis zu extremer Negation aller Metaphysik trieb. Es wird vor einem leicht mißzuverstehenden Lehrsatz gewarnt, der sich in fast wörtlicher Wiederholung unter den ein paar Jahre später zu Avignon verdammten und widerrufenen "Ketzereien" des NIKOLAUS von AUTRECOURT findet. Damit aber wird uns das Interesse der Pariser Aristoteliker an dem Verbote der gefährlichen OCKHAMistischen Doktrin erst ganz deutlich: der in Avignon Verketzerte hatte nichts anderes getan, als mit echt französischem Radikalismus der logischen Konsequenz aus den empiristischen und subjektivistischen Sätzen der Erkenntnislehre OCKHAMs skeptische Folgerungen gezogen, die das Fundament der ganzen aristotelischen Metaphysik über den Haufen warfen. Indem er die Erkenntnis als rein innerseelischen Vorgang von der Einwirkung des "Objektes" völlig loslöste und als einziges Prinzip der logischen Denkoperationen den Widerspruchssatz in logischer und metaphysischer Formulierung gelten ließ, gelangte er zu einem ignoramus gegenüber den fundamentalen Begriffen der Metaphysik: der Substanz, Kausalität, Finalität, der metaphysischen Priorität usw., ja zu einer skeptischen Haltung gegenüber aller Erkenntnis der Außenwelt überhaupt.

Hier haben wir also den Gegensatz der "Realisten", denen es um die Aufrechterhaltung der Grundlagen ihres metaphysischen Systems zu tun ist, und eines höchst zweifelsüchtigen "Nominalismus" in schroffster Form. Die Verkündung des päpstlichen Verdammungsurteils gegen den Magister NIKOLAUS erfolgte im Mal 1346; am 20. desselben Monats erging eine päpstliche Bulle an die Universität Paris, die ohne nähere Bezeichnung vor den unnützen und irrigen Doktrinen gewisser "auswärtiger" Lehrer warnte, insbesondere vor ihrer Verachtung und Vernachlässigung der Texte des ARISTOTELES "und anderer Meister" und der "alten" Kommentatoren. Das wird schwerlich ohne Zusammenhang mit dem Prozeß des NIKOLAUS von AUTRECOURT geschehen sein. Wenn aber gleichzeitig die Theologen ermahnt werden, den Text der Bibel und der Kirchenväter nicht zu vernachlässigen zugunsten höchst unnützer philosophischer Quästionen (und anderer curiosae disputationes et suspectae, opiniones doctrinaeque peregrinae et variae), so muß man sich hüten, auch diesen Tadel ohne weiteres und ausschließlich als Absage an die OCKHAMistische Schule auszudeuten.

Das Überwuchern formallogischer und metaphysischer Argumentationen ist eine Erscheinung, die im späteren Mittelalter in allen Wissensdisziplinen sich bemerkbar macht und nicht auf bestimmte Schulrichtungen beschränkt bleibt. Sie hängt mit dem ganzen scholastischen Lehrbetrieb, insbesondere den Disputationen, auf das genaueste zusammen und hat ihre eigentliche Wurzel, wie die Quellen gelegentlich versichern, in der Pariser Lehrtradition, die das  magisterium in artibus  und damit eine ungemein gründliche formallogische Schulung zur Voraussetzung alles höheren Studiums machte. Der Kampf gegen das Übermaß rein logischer Argumentationen innerhalb der Theologie, aber auch der Jurisprudenz, wird von den Einsichtigen aller Fakultäten und aller Parteilager (auf seiten der "Modernen" ist JOHANNES GERSON das bekannteste Beispiel) immer wieder aufgenommen, offenbar ohne durchgreifenden Erfolg, wie noch zahlreiche Lehrbücher des 15. Jahrhunderts aus allen Parteilagern zeigen. Bemerkenswert ist, daß dieselben Übertreibungen der syllogistischen Methode schon im 13. Jahrhundert den italienischen Juristen Anlaß zu heftiger Polemik gaben gegen die französische Rechtsschule, die ihren Hauptsitz in Orleans hatte. Schon diese Tatsache sollte vor den Versuchen neuerer Darsteller warnen diese gemeinscholastische Entartungserscheinung einseitig auf das Schuldkonto der "terministischen" Schule zu setzen.

Vergeblich blieben aber auch die oben geschilderten Versuche der Pariser Artistenfakultät und des Papstes, den Einfluß OCKHAMistischer Ideen auf die Pariser Lehrtradition zurückzudrängen. Warum? Letzten Endes doch wohl deshalb, weil die OCKHAMistische Strömung sich einzufügen wußte in das eingefahrene Strombett der aristotelischen Traditionen. Die BURIDAN, ORESME, ALBERT von SACHSEN, MARSILIUS von INGHEN und GREGOR von RIMINI waren weit davon entfernt, die peripatetische Metaphysik in ihren Grundlagen anzuzweifeln; die Realität mder Außenwelt und die Zuverlässigkeit physikalischer Erkenntnis stand ihnen ebenso fest wie nur irgendeinem Thomisten der alten Schule. Eine kritische Mißdeutung der überlieferten logischen Lehrbücher mit sophistischen Mitteln und ein grundsätzlicher Zweifel an dem kanonischen Werte der aristotelischen Philosophie und der "alten" Commentatoren findet sich nirgends in ihren Schriften.

Und ebensowenig hielt die OCKHAMistische Theologie an allen extremen theologischen Lehrsätzen OCKHAMs fest, wie man denn überhaupt die theologischen Schulen nicht so einfach nach Schulhäuptern und logischen Prinzipien trennen darf, wie das meist geschieht; der umfassende Gesichtskreis des theologisch-metaphysischen Denkens ermöglichte mannigfaltigere Kombinationen, als sie im Bereich mehr elementarer Disziplinen üblich waren. In diesem eingeschränkten Sinne kann an einem Siege der "OCKHAMistischen Richtung" in Paris etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts kein Zweifel sein; alle wirklich bedeutenden Lehrer gehörten ihr an. Auch nach dem Abzug der Deutschen beim Ausbruch des kirchlichen Schismas vertraten die glänzendsten Häupter der Universität, die neuen Führer der konziliaren Bewegung, PETRUS de ALLIACO und JOHANNES GERSON den "Nominalismus" der Schule OCKHAMs.

Nur ist freilich der Nominalismus GERSONs von eigener Art, und in seinen Schriften spiegeln sich die philosophischen und theologischen Gegensätze der Zeit auf eine so besondere Weise, daß wir einen Augenblick bei ihrer Betrachtung verweilen müssen. Das für uns Wesentliche enthalten die Abhandlungen  De modis significandi  und  De concordia metaphysice cum logica , die zugleich ein helles Schlaglicht auf den Stand der Parteigegensätze um 1426 werfen. Alle Wissenschaft, sagt er, kann sich immer nur auf den subjektiven Vorstellungen (rationes obiectales), nicht auf den Dingen selbst aufbauen. Diese Vorstellungen aber sind nur begriffliche nicht reale "Formen" der Dinge. Es ist darum eine unbegründete Voraussetzung, anzunehmen, daß den logischen Denkoperationen, die der Intellekt mit den Vorstellungen vornimmt (z. B. in der Abstraktion), ohne weiteres gewisse reale Veränderungen oder Unterscheidungen in der Welt des objektiven Seins entsprechen müßten - eine Voraussetzung, die ganz offenbar die (skotistischen) "Formalisten" zu Irrtümern verführt, indem sie ihre logischen Distinktionen ohne weiteres als metaphysische Realitäten in der Welt der objektiven Dinge betrachten, nicht in erster Linie als subjektive Denkgebilde; sie bauen ihre metaphysischen Konstruktionen in die leere Luft, indem sie ihre Gedanken bilden gewissermaßen ohne Rücksicht auf die Natur des Denkens. Anderseits fehlt es nun aber den logischen Operationen des wissenschaftlichen Denkens keineswegs an jeder Beziehung zu den sachlichen Verhältnissen der objektiven Welt. Diese wird vielmehr in der  suppositio personalis  vermittelt, indem jeder Begriff als Zeichen dient für eine durch ihn bezeichnete extramentale Wirklichkeit.

An dieser Stelle spielt die Lehre von der Supposition und den  modi significandi  ihre Rolle; GERSON baut sie, nicht ohne Verwertung skotistischer Gedanken auf, mit der charakteristischen Vermischung sprachlich-grammatischer und logischer Überlegungen, die dem Terminismus eigen ist. Das wissenschaftliche Denken baut sich in seinen letzten Elementen auf sprachlichen Bezeichnungen des Gedachten auf. Jeder Sprachausdruck (dictio) kann aufgefaßt werden entweder als bloßer Schall oder Schriftzeichen oder als Objekt des Willens oder aber als "Bezeichnung" (significatio). Nur in dieser letzten Bedeutung ist der Sprachausdruck hier zu betrachten. Er kann entweder sich selbst (als Sprachausdruck, als Vorstellung oder als Begriff) "bezeichnen" (z. B. der Ausdruck  equus  die Vorstellung "Pferd") oder aber eine (extramentale) Sache für das Bewußtsein "vertreten". Im ersteren Falle findet  suppositio materialis  statt, die zu den Wissenschaften der Logik, Grammatik und Rhetorik, den "sermozinalen" Wissenschaften hinführt; im letzteren liegt  suppositio personalis  vor, auf der sich alle "realen" Disziplinen (Ethik, Mathematik, Physik, Metaphysik) aufbauen. Die Unterscheidung zwischen einem indirekten Verhältnis des Begriffs zur Sache und einem direkten fällt mit der eben genannten Distinktion zusammen. Die Betrachtung dieser verschiedenen Arten der Bezeichnung (modi significandi) und der damit identischen Natur der subjektiven Vorstellungen (rationes obiectales) ist darum für das richtige Verständnis und die gegenseitige Abgrenzung der verschiedenen Disziplinen höchst notwendig.

Auch die Metaphysik und die Realwissenschaft überhaupt darf sich diesen Betrachtungen nicht verschließen, wenngleich sie selbst die Begriffe vermöge der  suppositio personalis  nur nach ihrer real-sachlichen, nicht nach ihrer grammatisch-logischen Bedeutung verwendet. Denn aus der Mißachtung der erkenntnistheoretischen Unterlagen der metaphysischen Konstruktion entsteht nur zu oft heillose Verwirrung: insbesondere die (schon berührte) Verwechselung der Produkte des eigenen Denkens mit metaphysischen Realitäten, die in ihren phantastischen Formen geradezu als Wahnsinn bezeichnet wird. Statt dessen gilt es auch für den Metaphysiker, die Rolle und die Natur des Erkenntnisvermögens zu studieren, um die Tragweite seiner Schlüsse recht zu verstehen. Anderseits ist aber auch vor dem barbarischen Unverstand gewisser "Terministen" zu warnen, die den Begriff nur nach seiner grammatisch-logischen Bedeutung (secundum modum significandi materialiter), nicht nach seiner realen Sachbedeutung zu verarbeiten wissen und deshalb mit gutem Grunde die Verachtung der "Metaphysiker" (metaphysici) sich zuziehen.

In Wahrheit hat die subjektive Vorstellung zugleich ihre Beziehung auf das Objektive, und selbst die Allgemeinbegriffe (der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft), so wenig ihnen als solchen eine reale Existenz außerhalb der Seele zukommt, sind doch sachlich in einer gewissen  aplitudo  der Einzeldinge gegründet. Wir wissen bereits aus der früheren Betrachtung, daß GERSON mit dieser Auffassung innerhalb der OCKHAMistischen Schule keineswegs alleinstand. Die OCKHAMistische Erkenntnislehre hatte längst ihre gefährliche Zuspitzung verloren. Dennoch sind die alten Bedenken gegen sie offenbar noch immer nicht ausgestorben; noch immer scheint der Kampfruf der Gegner zu lauten: reale Sachwissenschaft contra sermozinale Logik. Wir werden ihn bis zum Ende des Jahrhunderts immer wieder ertönen hören.

Was GERSON seinerseits den Gegnern vom andern Lager vorwirft, sind im wesentlichen ihre skotistischen "Subtilitäten", ihre Willkür in der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] logischer Begriffe zu metaphysischen Realitäten. Damit verfallen sie einem viel ärgeren Begriffsspiel als die von ihnen gescholtenen "Terministen", komplizieren willkürlich die echte, einfache aristotelische Logik und verwirren alle Wissenschaften, insbesondere die Theologie, durch die grundstürzende Veränderung der herkömmlichen Bezeichnungen. Also hier erscheinen gerade die "Skotisten", nicht die "Terministen", als die Sophisten, denen die Theologie ihre Überfüllung mit logischen Spitzfindigkeiten verdankt.

Nach alledem kann an dem Wesenskern des Gegensatzes, den GERSON überwinden möchte, kein Zweifel sein: hinter der Auseinandersetzung von Real- und Sermozinalwissenschaften steckt letzten Endes ein Streit um erkenntnistheoretische Grundfragen. Und dieses Ergebnis bestätigt sich dadurch, daß die ganze Auseinandersetzung in eine Besprechung des Universalienproblems ausläuft. Die Behandlung dieses Problems im einzelnen ist durchweg wieder von theologischen, nicht philosophischen Interessen bestimmt. Sie sucht zu erweisen, daß der Realismus leicht zu pantheistischen und damit ketzerischen Konsequenzen, zu einer Vermischung der Unterschiede zwischen Gott und Kreatur in dem allgemeinsten Begriff des "Seins" führe; seine Aufzählung kirchlicher, gegen den extremen Realismus gerichteter Edikte erinnert den Leser sogleich an die Bekämpfung wiklifitisch-hussitischer Lehren auf dem Konstanzer Konzil.

Wir brauchen dem allen in unserem Zusammenhang nicht nachzugehen; wichtig ist indessen die Feststellung der engen, von PRANTL merkwürdigerweise ganz übersehenen Verbindung, die zwischen diesen Erörterungen und der Tendenz der ganzen Betrachtung besteht: wenn der herkömmliche Haupteinwand gegen den Nominalismus OCKHAMistischer Richtung darin bestand, daß man ihm seine angebliche Feindschaft gegen die Metaphysik (und damit gegen die "natürliche Theologie"), seine Beschränkung auf rein "begriffliche" statt "sachliche" Erörterung vorwarf, so suchte GERSON umgekehrt nachzuweisen, daß gerade die Metaphysik der skotistischen Realisten mit ihren "phantastischen" Konstruktionen der wahren Theologie gefährlich werde; in immer neuen Wendungen sucht er die Notwendigkeit zu erweisen, metaphysische Konstruktionen und Glaubenserkenntnis auseinanderzuhalten, die Betrachtung der Glaubenswahrheiten freizuhalten von willkürlichen Erfindungen des natürlichen Scharfsinns. Er ist kein Feind der Metaphysik; aber sie soll sich auf logische und grammatische Einsichten stützen und sich ihrer Grenzen bewußt bleiben; letzten Endes ist die theologische Einsicht doch aus andern Quellen gespeist. Damit ist denn freilich klar, daß wir es hier mit einem Theologen zu tun haben, der (aus wesentlich religiösen Motiven) an der Erweiterung jenes Risses arbeitet, den zuerst OCKHAM in das kunstvoll harmonische Gefüge der hochscholastischen Systeme gesprengt hatte: an der beginnenden Spaltung zwischen Glauben und Wissen.

Über den weiteren Verlauf der Streitigkeiten beider Schulrichtungen an der Pariser Universität steht uns nur eine höchst summarische Darstellung zur Verfügung, die im Jahre 1473 von den Pariser Nominalisten im Rahmen einer apologetischen, für König LUDWIG Xl. bestimmten Denkschrift zur historischen Rechtfertigung ihrer Partei aufgesetzt wurde. Sie berührt auch die Kämpfe des 14. Jahrhunderts und bringt die damalige Verfolgung OCKHAMs an der Pariser Universität mit den kirchenpolitischen Kämpfen zwischen JOHANN XXII. und LUDWIG dem BAIERN in enge Verbindung; die Art, wie hier OCKHAM als Vorkämpfer der königlichen Souveränität in temporalibus gegen den Papst gerühmt wird, ist zu deutlich auf die politischen Wünsche des Adressaten berechnet, als daß uns diese ganze Darstellung unverdächtig erscheinen könnte. Wichtig ist indessen, daß hier - deutlicher als bei GERSON - WILHELM OCKHAM als Urheber der "nominalistischen" Schulrichtung bezeichnet wird; JOHANNES GERSON und PETRUS de ALLIACO erscheinen als seine Parteigänger. Davon, daß der Name  nominales  als Schimpfname oder böswillige Verleumdung der Thomisten empfunden würde, wie PRANTL will, findet sich keine Andeutung; er wird vielmehr als ganz passend und selbstverständlich fortwährend gebraucht.

Folgen wir den Angaben dieser Denkschrift, so ging die nominalistische Lehre in Paris gleichzeitig mit dem allgemeinen Verfall der Hochschule zurück, als dessen Ursache die seit der Ermordung des Herzogs von Orleans (November 1407) einsetzenden französischen Bürgerkriege bezeichnet werden. Damals hätten sich die meisten bedeutenden Lehrer zerstreut, und es blieben nur wenige Albertisten übrig, die, ohne Widerstand zu finden, den Nominalismus beseitigten. Unmöglich erscheint das nicht, wenn man den trostlosen Zustand bedenkt, in den die Pariser Universität während jener Jahrzehnte tiefster politischer Schwäche Frankreichs versank, die das Regiment KARLs VI und die Anfänge KARLs VII kennzeichnet. Ihre würdelose Unterwürfigkeit gegenüber den in Paris einrückenden Engländern und ihre unpatriotische Haltung beim Prozeß der JOHANNA DARC waren nur äußerliche Symptome eines inneren Verfalls, der durch die Ausschließung nichtfranzösischer Kleriker von französischen Pfründen in der pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) und die dadurch veranlaßte Fernhaltung ausländischer Gelehrter noch gesteigert wurde.

Es wird allgemein anerkannt, daß die lebhafte politische Tätigkeit der Universität auf den großen Reformkonzilien der Kirche ihrer wissenschaftlichen Leistung in keiner Weise entsprach. Bemerken wir vor allem, daß die Pariser Nominalisten selbst von einem Überwiegen ihrer Partei während dieser Epoche nichts zu berichten wissen. Den Zustand des Pariser Lehrbetriebes um die Mitte des Jahrhunderts kennzeichnet nichts besser als die große Reform von 1452, die KARL VII. mit Hilfe des päpstlichen Kardinallegaten d'ESTOUTEVILLE durchsetzte. Da ist nicht die Rede von der Erneuerung des Thomismus u. dgl., sondern von weit mehr elementaren Dingen: man müht sich um die Abstellung der schlimmsten Ärgernisse, wie Faulheit, Völlerei, Zuchtlosigkeit der Lehrer, Vernachlässigung aller Statuten insbesondere bei den Anforderungen an Examinanden und Studierende; man verbietet Mißbräuche wie den, statt eigenen Vortrags in den Kollegstunden irgend ein fremdes Heft von einem Studenten vorlesen zu lassen u. dgl.! In der Tat ist es wichtig, bei der Betrachtung der Schulstreitigkeiten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sich stets vor Augen zu halten, daß wir es hier mit einem Geschlecht von Epigonen zu tun haben, deren wissenschaftliche Leistungen aller und jeder Originalität entbehren. Je geringer die eigene Produktivität, um so gläubiger pflegt die Verehrung der Schulhäupter und Vorbilder aus alter Zeit zu sein, um so erbitterter dementsprechend die Parteilichkeit.

Übrigens sollte man nach der These ZARNCKEs, der die Erneuerung des Thomismus seit etwa 1450 mit der Wiedererhebung des Papsttums in enge Verbindung bringt, eigentlich erwarten, daß der päpstliche Legat sich 1452 bemüht haben werde, den Nominalismus in Paris gänzlich zu beseitigen. Statt dessen hören wir gerade umgekehrt, daß von diesem Jahre her die Erneuerung OCKHAMistischer Lehren an der Universität datiere. Das erste Anzeichen neuer Kämpfe zwischen Nominalisten und Realisten (so nennen sie sich auf diesem Boden selbst) stammt aus dem Jahre 1465. Zu größter Erbitterung steigern sie sich 1473 bei der Wahl des Prokurators der gallischen Nation - also zu einer Zeit, als der Gegensatz zwischen  via moderna  und  antiqua  an deutschen Universitäten längst bestand. Um so mehr muß es auffallen, daß diese in Deutschland übliche Bezeichnung in den bisher bekannt gewordenen Pariser Streitakten nicht ein einziges Mal vorkommt. Sollten etwa auch sachlich die Gegensätze hier und dort nicht genau dieselben sein? Darüber wird erst der weitere Verlauf unserer Untersuchung Klarheit bringen. Wichtig ist aber hier schon die Beobachtung, daß den Anlaß zum Ausbruch des Streites in Paris nicht eine Auseinandersetzung der Artistenschulen, sondern eine theologische Streitfrage bildet. Wenigstens führen die Nominalisten den Ausbruch des offenen Kampfes darauf zurück.

In dem Streit der Löwener Theologen  de futuris contingentibus , der sich um eine Spezialfrage bewegte, die zwischen OCKHAMisten und Thomisten seit langem strittig war (1), hatte die Löwener Universität die Pariser Theologen um ein Gutachten angegangen. Die Pariser OCKHAMisten hatten zwar verhindert, daß die Antwort der Fakultät einstimmig ausfiel; doch hatten sich 24 Pariser "Realisten" zugunsten der thomistisch- aristotelischen Lehrmeinung erklärt (1471); als diese dennoch zwei Jahre später in einem Prozeß vor der Kurie für ketzerisch erklärt wurde, waren auch die Pariser "Realisten" öffentlich bloßgestellt, und aus Rache - so behaupten ihre nominalistischen Gegner - unternahmen sie nun einen Vorstoß in der entgegengesetzten Richtung. Es gelang ihnen, den König durch Vermittlung seines Beichtvaters JOH. BOUCARD davon zu überzeugen, daß der unleugbare Verfall der Pariser scholastischen Studien wesentlich auf Rechnung der nominalistischen Neuerungen zu setzen sei, die ein Abweichen von altem Brauch und Herkommen bedeuteten und erst seit 20 Jahren aufgekommen seien. Das war nun freilich eine recht grobe Entstellung der Tatsachen. Aber sie tat gute Wirkung.

Am 1. März 1473 erließ der König nach Anhörung einer aus allen Fakultäten, doch namentlich aus Theologen zusammengesetzten Kommission jenes vielbesprochene scharfe Verbot nominalistischer Lehren, durch das sogar die Einziehung und gerichtliche Verwahrung der sämtlichen Schriften nominalistischer Autoren angeordnet wurde - jene "Ankettung harmloser Bibliotheksbände nach der Art wilder Tiere," über die sich damals der Humanist ROBERT GAGUIN so lustig machte. Der sofort erfolgende Protest der Universität gegen die restlose Beschlagnahme der Bücher, sodann die nur sehr unvollständige Durchführung dieser Bestimmung und ihre erhebliche Milderung im nächsten Jahre auf Betreiben der Universität zeigt, daß die ganze Aktion mit einseitiger Parteileidenschaft betrieben war und der tatsächlichen Bedeutung der nominalistischen Literatur nicht entsprach. Die Pariser Bibliotheken hätten sehr bedenklich entleert werden müssen, wollte man diese gewaltsame "Reinigung" wirklich durchführen. Schon 1481 wurde denn auch das ganze Verbot wieder rückgängig gemacht.

Damit dürfen wir die Untersuchung der scholastischen Parteiverhältnisse auf französischem Boden abschließen. Der Kern des in Frage stehenden Gegensatzes hat sich uns während des ganzen betrachteten Zeitraumes wesentlich unverändert gezeigt: es ist primär ein Streit um die erkenntnistheoretische Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeit. Was diesem Streit seine Schärfe gibt, ist weniger das Universalienproblem an sich, dessen Bedeutung seit dem Auftreten der großen theologischen Systeme und Kämpfe des 13. Jahrhunderts hinter zahlreichen neuen Problemstellungen zurückgetreten war - es ist vielmehr die grundsätzliche Frage nach der Tragweite der "natürlichen" Erkenntnis in Metaphysik und Theologie. Die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis glaubten die Gegner des OCKHAMismus durch die "nominalistische" Lehre bedroht.
LITERATUR, Gerhard Ritter, Via Antiqua und Via Moderna auf den deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts, Darmstadt 1975
    Anmerkungen
    1) Es handelt sich um den Streit zwischen dem Löwener thomistisch-realistischen Artistenmagister PETRUS de RIVO und dem dortigen OCKHAMistischen Theologen HENRICUS de ZOMEREN über die Frage, ob auch zukünftige Zufallsereignisse in der göttlichen Voraussicht enthalten seien. Das war ein von altersher beliebter Zankapfel zwischen Thomisten und OCKHAMisten: OCKHAM stellte an diesem Punkte einen Widerspruch fest, wie er es liebte, zwischen der  veritas fidei , die jede Einschränkung der göttlichen Voraussicht und Willkür leugnen, und der aristotelischen Philosophie, die logische Einwände gegen diese Unbeschränktheit erheben müsse. Für die OCKHAMisten bot sich hier eine günstige Gelegenheit, den strengeren Aristotelismus ihrer Gegner als ketzerisch zu verdächtigen.