tb-3p-4HeringWundtHelmholtzMüllerStumpfÜberhorst    
 
WILHELM TOBIAS
Grenzen der Philosophie
[konstatiert gegen Riemann und Helmholtz,
verteidigt gegen von Hartmann und Lasker.]

[7/7]

"Was wir uns hinter den Erscheinungen vorstellen, existiert eben nur in unserem Verstand, hat für uns nur den Wert einer Gedächtnishandhabe oder Formel, deren Gestalt, weil sie willkürlich und gleichgültig ist, sich sehr leicht mit unserem Kulturstandpunkt ändert."

"Für Kant ist hinter den Erscheinungen gar Nichts vorstellbar, sondern sämtliches daselbst etwa Befindliche ist überall und immer = X."

"Welcher Erkenntniswert den Erscheinungen für uns zu kommt; inwiefern wir hoffen dürfen, uns durch sie dem Ziel der Wahrheit zu nähern, dem Ziele, das uns wie zum ersten Schritt so zu allen folgenden Regungen in jeder Art von theoretischem Wissensgebiet als das alleinige Ziel bestimmen sollte, - das zu beurteilen, dürfte nicht so ohne weiteres als willkürlich und gleichgültig abzutun sein, wenn man sich nicht mutwillig zum bloßen Techniker und Handlanger in der Wissenschaft stempeln will."


III. Empirismus und Nativismus
[Fortsetzung 2]

Zu Wahrnehmungen gestalten sich eben die Empfindungen nicht bloß durch die Anschauungsform Zeit, sondern auch durch Anschauungsform Raum, welche beide Formen aber nicht zu verwechseln sind mit geformten, d. h. begrenzten Zeiten und Räumen. Der Ansicht aber, daß etwas für Tastempfindungen ein anderer Gesamtraum in unserer Anschauung vorhanden ist als für Gesichtsempfindungen, - dieser Ansicht begegnet sehr treffend die folgende Frage von STUMPF:
    "Sollen wir glauben, daß auch die Dauer einer Tastempfindung und die einer Gesichtsempfindung heterogene Inhalte sind?" (Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, Seite 287)
Die Unmöglichkeit einer solchen Zumutung ist hoffentlich außer Frage, und ebenso darf es wohl axiomatisch sicher genannt werden, daß es der identische Gesamtraum ist, in welchen sowohl Tastempfindungen als Gesichtsempfindungen hineingetragen, d. h. durch welchen sie zu Wahrnehmungen gestaltet werden. JOHNSON fährt nun (a. a. O., Seite 165) so fort:
    "Es leuchtet demnach wohl ein, daß der Mangel eines Widerspruches zwischen der Lokalisation beider Sinne durchaus keine Gewähr für die Übereinstimmung der Bewußtseinsorte mit den realen Orten sein kann. Der Tastsinn und der Gesichtssinn reden beide eine verschiedene Sprache. Wird der Blinde sehend, so findet eine förmliche Übersetzung seiner Kenntnisse statt. So wenig aber der Umstand, daß eine Sentenz im Original und in der Übersetzung übereinstimmend denselben Sinn gibt, beweisen kann, daß der Sinn materiell wahr ist, so wenig beweist die "Übereinstimmung" der Tast- und Gesichtslokalisation die objektive Gültigkeit der Lokalisation. Nach all dem wird die Annahme, daß wir die Dinge viel zu klein sehen, durch den Tastsinn nicht widerlegt."
Somit darf man also an JOHANNES MÜLLERs Hypothese festhalten, und zwar darf man sie noch strenger beim Wort nehmen als MÜLLER selbst. Denn dieser läßt noch Folgendes zu (Handbuch II, Seite 359):
    "Wirkt auch die Vorstellung nach außen, und projiziert sie die Affektionen der Netzhaut nach außen, so bleibt sich die Relation der Bilderchen gleich, und die Gesichtsvorstellung kann gleichsam als eine Versetzung des ganzen Sehfeldes der Netzhaut nach vorwärts gedacht werden, wobei die Seiten dieselben bleiben, das oben erscheinende oben, das unten erscheinende auch unten vorgestellt wird."
Diese "Versetzung nach vorwärts" ist nun nach ÜBERWEG eine entbehrlich, ja unmögliche Annahme. Denn für ihn ist vielmehr (a. a. O. Seite 274)
    "eine Projektion im eigentlichen Sinne des Wortes, die ein wirkliches Versetzen der Empfindungen in einen Raum jenseits des eigenen Organismus sein sollte, ein Unding"
und für ihn ist also dies das Richtige: da wir von den Dimensionen sowohl unseres Körpers als aller Dinge der Außenwelt nur Bilder kennen, und da wir folglich durch diese Bilder ganz ebenso wie durch Tastempfindungen nur etwas Indirektes erfahren, nämlich nur darüber belehrt werden, wie wir das relative Größenverhältnis aller in uns abgebildeten und von uns betasteten Dinge vorzustellen haben, während uns die absoluten Maße der Dinge selbst ganz verborgen bleiben, so ist kein Hindernis, über die absolute Größe der Dinge diejenige Annahme zu machen, aus welcher sich die Folgerung ergibt, daß die Netzhauterregungen da geschehen, wo wir ihre Ursachen hineinverlegen: das Bild des Mondes ist also da, wo wir den Mond selbst zu sehen glauben, und eben das Bild in unserem eigenen Kopf.

"Absolute Größe der Dinge" muß aber hier keineswegs gleichbedeutend sein mit transzendental-realer Raumgröße, sondern der Ausdruck besagt: eine empirisch reale Größe, unabhängig von ihren optischen Bildern vorgestellt, aber darum noch nicht unabhängig in ihrer Existenz von unserer subjektiven Vorstellung, nicht eo ipso [schlechthin - wp] unabhängig von der Bedingung, unter welcher die optischen Bilder zu räumlichen Wahrnehmungen werden. Ob also durch die subjektive Vorstellung allein das Wesen der Dinge als Raumgrößen bedingt ist oder nicht, bleibt dabei ganz unberücksichtigt.

So abenteuerlich auch die Theorie ÜBERWEGs erscheinen oder re vera [tatsächlich - wp] sein mag: man muß eben doch zugeben, daß es eine ganz konkrete naturwissenschaftliche Theorie ist. Sie geht aus von lauter empirischen Argumenten, und die Wahl zwischen ihr und irgendeiner anderen hergehörigen Theorie kann nur aufgrund der logischen und kritischen Verwertung dieser empirischen Grundlage erfolgen. Ja, ich bekenne von mir selbst, daß es nicht irgendein logisches Bedenken ist, was mich bestimmt, die Theorie ÜBERWEGs für die unwahrscheinlichere zu halten gegenüber dem Empirismus, wie ihn CLASSEN vertritt, sondern nur deshalb scheint mir der letztere Standpunkt der mehr annehmbare, weil er - ohne Vermehrung fundamentaler Voraussetzungen, worin der Standpunkt ÜBERWEGs ihm aber gleichkommt, - in Übereinstimmung bleibt mit der gewöhnlichen empirischen Anschauung der Raumverhältnisse, während nach ÜBERWEGs Theorie zwischen dieser Anschauung und der postulierten Vorstellung vom empirisch objektiven Maß derselben Raumverhältnisse Quantitätsunterschied von solcher Enormität bestehen sollen wie der vorhin angegebene, daß das ganze Fundament, das der Einzelne erblickt, in derselben Ausdehnung, in welcher es ihm erscheint, von seinem eigenen Kopf umspannt wird. Da der Empirismus es vermeidet, der Vorstellungsfähigkeit eine so schwere Leistung zuzumuten, so darf er ceteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp] als der plausiblere anerkannt werden. Aber vor dem Nativismus ÜBERWEGs hat er nicht denselben Vorzug wie vor den übrigen nativistischen Theorien; denn ÜBERWEG braucht nicht mehr Grundannahmen als die Empiristen; dem Postulat von der Sparsamkeit in den Prinzipien genügt ÜBERWEG mehr als HERING, PANUM und alle sonstigen Anhänger des Nativismus, und wem die Logik seiner Deduktion so unangreifbar erscheint wie mir, der muß zugestehen: es ist mehr die Schwerfälligkeit der Imagination als ein streng wissenschaftliches Bedenken, wodurch die Ablehnung dieser extremsten Form des Nativismus motiviert wird.

Jedenfalls aber gilt auch für dieses Extrem dasselbe wie für das empiristische: die Frage, ob der Raum, der alle körperlichen, alle begrenzten Einzeldinge, alle noch so großen Räume in sich faßt, unabhängig von unserer Vorstellung existiert oder nicht, - diese Frage bleibt ganz für sich bestehen: theoretische Philosophie und Physiologie sind und bleiben Forschungsgebiete völlig voneinander getrennt.

Die Physiologie aber ist hierin nicht vereinzelt, sondern koordiniert jeder anderen empirischen Wissenschaft. Im Angesicht des jetzt beständig genährten Irrtums von der sachlichen Zusammengehörigkeit der beiden Erkenntnisbestrebungen darf es wohl zeitgemäß erscheinen, umso entschiedener auf ihre Sonderung zu dringen, so oft die Gelegenheit dazu Anlaß bietet. Ist es doch, als bediene man sich für gewisse allgemeine Fragen eines intellektuellen Apparates, welcher für das sogenannte "Grenzgebiet" dasselbe leistet, wie AUBERTs Episkotister (Verfinsterer, Verdunkler) für optische Untersuchungen, nur allerdings mit dem nicht gleichgültigen Unterschied, daß AUBERTs Instrument körperliches Licht verdunkelt im Interesse geistiger Klarstellung, während die latenten Verdunkelungsapparate der modernen Philosophie-Freunde in der Naturwissenschaft auf eine definitive Trübung der Begriffe hinarbeiten, natürlich wider besseres Wollen. Selbst einen so eigenständigen Denker und Forscher wie ZÖLLNER müssen wir auf derselben Fährte finden. Denn in seinem nach vielen Richtungen so hochverdienstlichen Werk "Über die Natur der Kometen" verstärkt er den allgemeinen Chor durch seine Stimme leider sehr kräftig. Würde der letzte Abschnitt des genannten Werkes unter der Überschrift "Immanuel Kant und seine Verdienste um die Naturwissenschaft" dem gerügten Vorurteil nicht Sukkurs [Unterstützung - wp] bieten, so wären ohne Frage auch die philosophischen Verehrer KANTs dem Verfasser zu uneingeschränktem Dank verpflichtet. Denn allerdings, unter den Philosophen würde es vermutlich noch lange am Mann gefehlt haben, um mit Sachverständnis die überraschenden Resultate ans Licht zu stellen, welche KANT lediglich als Naturforscher ermittelt hat, Resultate, die erst lange Zeit nach ihm und unabhängig von ihm durch Andere reproduziert und zum anerkannten Besitz der Naturwissenschaft geworden sind. Denn nicht nur "die Hypothese über den Ursprung und die Entwicklung des Planetensystems" hat KANT 42 Jahre vor LAPLACE aufgestellt, und zwar aufgrund einer Beschäftigung, welche nach ZÖLLNERs mit Nachweisen belegten Worten (Seite 463) "viel gründlicher und umfassender" war als die von LAPLACE, sondern auch Tatsachen (Seite 467), welche viel später Beobachtung und Theorie als sicher begründete Wahrheiten erwiesen haben", hat bereits KANT "aus physischen Ursachen als wahrscheinlich zu folgern verstanden." So ist in Bezug auf den Mond 1794 von KANT die Hypothese ausgesprochen (Seite 468),
    "daß der Mittelpunkt der Schwere mit dem der Größe dieses Körpers nicht zusammentreffen, sondern zu der abgekehrten Seite hin liegen wird, welches dann zur Folge haben würde, daß Wasser und Luft, die sich etwa auf diesem Erdtrabanten befinden möchten, die erstere Seite verlassen, und indem sie auf die zweite abfließen, diese dadurch allein bewohnbar gemacht hätten",
eine Meinung, welche durch HANSEN im Jahre 1854 aufs Neue begründet ist. In Bezug auf andere nicht weniger merkwürdige Folgerungen - nicht etwa Divinationen [göttliche Offenbarungen - wp] -, zu welchen KANT gelangt ist, verweise ich auf ZÖLLNERs übersichtliche und quellenmäßige Darstellung. Man findet daselbst (Seite 469) die "Verzögerung der Rotationsgeschwindigkeit der Erde durch den Einfluß von Ebbe und Flut" von KANT 1754, von MAYER motiviert; (Seite 477) "die Theorie der Winde und das Drehungsgesetz", von KANT 1757 ausgesprochen in Übereinstimmung mit DOVE 1835 und so noch manche andere Manifestationen der ungewöhnlich großen Befähigung KANTs für produktive Forschung auf dem Feld empirischen Wissens.

Diese bisher so gut wie verborgenen Wunder schöpferischer Sagazität [Scharfsinn - wp] zur allgemeinen Kenntnis gebracht zu haben, ist sicherlich eine Leistung, durch welche ZÖLLNER der Verehrung KANTs fruchtbaren und weit ausgedehnten Boden bereitet hat. Von den Philosophen wußten es bisher ohne Zweifel sehr wenige, in welch großartigem Stil KANT auch nach der Seite der Naturforschung begabt war, und die Naturforscher haben gleichfalls nur ausnahmsweise von KANTs Zugehörigkeit zu ihnen mehr erfahren, als daß er die bekannte LAPLACEsche Hypothese vorher verkündet habe. Bei dieser doppelseitigen und wohlmotivierten Erweiterung von KANTs Ansehen läßt es nun aber ZÖLLNER nicht bewenden, und da die Opposition gegen ihn im Interesse der Wahrheit geboten erscheint, so tritt das Folgende ihm selbst gewiß ebensowenig zu nahe wie dem allseitig gefeierten, aber durch Studium seiner Werke noch lange nicht genug gewürdigten KANT. ZÖLLNER sagt nämlich (Seite 428, 429):
    "Während also in der Vorrede der Glaube an die wissenschaftliche Unfehlbarkeit mathematisch-physikalischer Köpfe induktiv als eine Jllusion erwiesen worden ist, soll der heranwachsenden Generation der Naturforscher das ihnen eingeimpfte Vorurteil gegen alles was Philosophie heißt, genommen und ihnen ebenfalls induktiv der verloren gegangene Glaube an die Fruchtbarkeit und Notwendigkeit einer rationalen philosophischen Ausbildung auch für die Fortschritte in den Naturwissenschaften wieder ans Herz gelegt werden.

    Als erste Frucht eines solchen wieder erwachenden Glaubens wird sich dann auch eine kräftige Reaktion gegen das Versinken in einen unwürdigen Materialismus des Lebens einstellen und die edle und reine Begeisterung für die Wahrheit wird die Verstandeskräfte wieder zu derjenigen Höhe bei den Vertretern der exakten Forschung erheben, welche sie befähigt, die Kontinuität der Gesamtheit aller wissenschaftlichen Bestrebungen anzuerkennen."
Daß meine Absicht nicht die vandalische sein kann, der Tendenz dieser Worte entgegen zu treten, das hoffe ich, nicht versichern zu sollen. Aber ich richte mich dagegen, daß diese Bestrebung sich durch unrichtige Mittel zu betätigen sucht. ZÖLLNER läßt auf die obigen Worte eine Skizze vom Leben KANTs folgen und sodann jene sehr willkommenen Mitteilungen von den naturwissenschaftlichen Funden des großen Mannes. Aber wird dadurch
    "der heranwachsenden Generation der Naturforscher das ihnen eingeimpfte Vorurteil gegen alles, was Philosophie heißt, genommen und ihnen ebenfals induktiv der verloren gegangene Glaube an die Fruchtbarkeit und Notwendigkeit einer rationalen philosophischen Ausbildung auch für die Fortschritte in den Naturwissenschaften wieder ans Herz gelegt?"
Nein; durch eine tatsächliche Begründung nicht. KANTs Ermittlungen in der Naturwissenschaft sind Erfolge seines Scharfsinns und seiner individuellen Beanlagung auch für empirische Wissensgebiete, in welche er so viel wie möglich auf deduktivem Weg einzudringen suchte. Aber ebensowenig wie man berechtigt ist, VOLTA wegen seiner a priori konstruierten Säule oder J. R. MAYER wegen seiner deduktorischen Entwicklung des Äquivalenzgesetzes in die Reihe der Philosophen zu stellen und zu sagen, die Naturwissenschaft sei in diesen und ähnlichen Fällen durch Philosophie befruchtet oder gefördert worden, ebensowenig ist an allem naturwissenschaftlichen Denken KANTs seine Philosophie irgendwie beteiligt gewesen. Ja, wenn man die weitumhergreifende Konfusion betrachtet, welche in unseren Tagen dadurch entsteht, daß Theorien der empirischen Wissenschaft mit mißverstandenen, halb erfaßten Philosophemen verflochten und verquickt werden, dann liegt es nahe, sich bei KANT gerade daran zu erfreuen, daß ihm sein Philosophieren nicht hinderlich war, um in der Naturwissenschaft einen hellen und durchdringenden Blick zu behalten. Aber freilich, wenn man hierin etwas Auszeichnendes für KANT finden wollte, so würde man ihm gegenüber leicht einem Mann ähnlich werden, der für die Sicherheit eines vorzüglichen Schützen die Tatsache anführt, daß er auf zehn Schritte Entfernung einen unbewegten Kürbis zu treffen weiß. Da nun aber die gegenwärtig bestehende Neigung zu wissenschaftlichem Synkretismus [Vermischung - wp] so stark ist, daß auch Philosophen von Fach und tüchtige Physiologen gelegentlich derartige Fehlschlüsse tun, wie sie in dieser Schrift an einigen Beispielen demonstriert werden, so sei für die behauptete Unabhängigkeit der kantischen Naturforschung von der kantischen Philosophie statt aller begriffliche Motivierung ein über aller Diskussion stehendes historisches Argument gewählt. Unter allen von ZÖLLNER angeführten Resultaten des naturforschenden KANT rührt nur eines aus einer Zeit her, in welcher die kantische Philosophie bereits existierte, nämlich die von 1794 datierte Hypothese über den Schwerpunkt des Mondes. Alle übrigen Anführungen ZÖLLNERs von den kantischen Ergebnissen sind aus den Jahren 1754 und 1757. Daß aber zu dieser Zeit von kantischen Philosophie auch noch nicht einmal die Fundamente gelegt waren, beweist ein Aufsatz KANTs aus dem Jahr 1768, welcher betitelt ist: "Von dem ersten Grund des Unterschieds der Gegenden im Raum", Werke Bd. V, Seite 291. Hier wird von KANT noch der Versuch gemacht, denjenigen Lehrbegriff zu verteidigen, welchem er später als dem transzendentalen Realismus des Raumes auf das Entschiedenste alle Berechtigung aberkennt. In jenem Aufsatz sagt KANT (Seite 301):
    "Es ist hieraus klar, daß nicht die Bestimmungen des Raumes Folgen von den Lagen der Teile der Materie gegeneinander, sondern diese Folgen von jenen sind, und daß also in der Beschaffenheit der Körper Unterschiede angetroffen werden können, und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen." . . .

    "Ein nachsinnender Leser wird daher den Begriff des Raumes, so wie ihn der Meßkünstler denkt, und auch scharfsinnige Philosophen ihn in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufgenommen haben, nicht für ein bloßes Gedankending ansehen" etc. etc.
Also elf Jahre nach der naturwissenschaftlichen Theorie, welche ZÖLLER zuletzt von KANT anführt, war dieser noch der Antipode seiner späteren Philosophie, und erst im Jahr 1770 begegnen wir dem ersten Grundriß zu dem 1781 vollendeten Gebäude der "Kritik der reinen Vernunft". Die Schrift von 1770 ist die beim Antritt der Professur verfaßte Dissertation: "de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" (Werke I, Seite 301). Namentlich in den §§ 14, 15 und 26 sind hier die ersten Verkündigungen der neuen Lehre enthalten. - So weit auseinander liegen auch äußerlich die naturwissenschaftlichen und die philosophischen Resultate desselben Forschers. Wer also in diesem Fall den ersten (mit der einen Ausnahme vom Jahr 1794) einen inneren Zusammenhang zuschreibt mit der Philosophie ihres Urhebers, der empfiehlt damit gerade eine der gereiften Überzeugung desselben entgegen gerichtete, von dieser bekämpfte Philosophie; denn in der Tat, der philosophische Standpunkt KANTs, wie er zur Zeit der naturwissenschaftlichen Arbeiten war, 1754 und 1757, ist mit aller Kraft von dem eigentlich historischen KANT von 1781 bis 1798 desavouiert [heruntergewürdigt - wp] worden.

Demnach kann gerade das Beispiel KANTs als Beleg für den Satz angeführt werden, daß die Vertretung eines unhaltbaren Standpunkts in der Philosophie kein tatsächliches Hindernis bildet für die Erzielung ansehnlicher Erfolge in der empirischen Forschung. Viel näher aber als das Beispiel KANTs bietet sich ZÖLLNER selbst zur Bekräftigung dieses Satzes dar. Mir steht zwar eine lobende Beurteilung der exakten Leistungen dieses Forschers nicht zu; ich kann nur als Zeuge der allgemeinen Anerkennung sprechen und freilich hinzufügen, daß mir das Werk "Über die Natur der Kometen" durch einige Partien, deren Würdigung nicht an den Besitz spezieller astronomischer und mathematischer Kenntnisse gebunden ist, die unmittelbare Überzeugung gegeben hat, man befinde sich einem Mann gegenüber, der aus vollkommen lauterem Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit und, unbekümmert um äußere Folgen unwillkommener Art, ganz allein der Sache hingegeben ist, die ihm vorliegt, und der folglich auch kein inneres Hindernis findet, "contra eos scribere, qui proscribere possunt [gegen diejenigen schreiben, die schreiben können - wp], wie es in einem Brief von LOBECK heißt. Dieser Eindrucm von der Lektüre von ZÖLLNERs Buch erleichtert es sehr wesentlich, in aller Unbefangenheit oppositionell zu sein; denn auch bei der entschiedensten Gegnerschaft in Bezug auf die Sache darf man sich gegenüber einem Mann von persönlicher Unparteilichkeit vor jeder Mißdeutung sicher fühlen. Die Sache aber, um die es sich hier handelt, ist die wiederholt urgierte [mit Nachdruck - wp], die so sehr beliebt gewordene Stellung des Naturforschers zur Philosophie, und zwar speziell zur theoretischen Philosophie, zu den Grundlagen der Erkenntnistheorie.

In der Vorrede sagt ZÖLLNER (Seite VIII):
    "Ich bin zu dem Resultat gelangt, daß es der Mehrzahl unter den heutigen Vertretern der exakten Wissenschaften an einer klar bewußten Kenntnis der ersten Prinzipien der Erkenntnistheorie gebricht."
Und ebenda (Seite LXXI) heißt es:
    "Ahnungsvoll trennte beim Beginn dieses Jahrhunderts der Seherblick Schillers die Philosophen von den Naturforschern, indem er ihnen gebieterisch aber verständnisvoll die Worte zurief: «Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündnis zu früh! Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt!» - - - Wie aber nun zwei Liebende nach langem und unfreundlichem Schmollen, an äußerer und innerer Erfahrung bereichert, endlich ihr beiderseitiges Unrecht erkennen und, von unwiderstehlicher Sehnsucht ergriffen, sich zum ewigen Bund die Hände reichen, - so verkünden der Gegenwart tausend vernehmbare Zeichen den herannahenden Tag der Versöhnung!"
Wenn nun in dem Werk selbst besonders KANT und SCHOPENHAUER als verdienstliche Denker und Forscher anerkannt werden, wenn, wie bereits mitgeteilt, angelegentlich und eingehend auf KANT als auf ein Vorbild hingewiesen wird, um die "heranwachsende Generation der Naturforscher" wieder zur rechten Würdigung der Philosophie anzuleiten, - muß da nicht jedem mit KANT unvertrauten Leser die Vermutung nahe liegen, daß der eifrige Verehrer von KANT und auch von SCHOPENHAUER wenigstens den Grundpfeiler als gut befestigt anerkennt, welcher gerade diesen beiden Denkern gemeinsam ist und mit dem jeder von ihnen den wichtigsten Teil seiner systematischen Schöpfung gestützt hat? Ja, noch mehr: ZÖLLNER gibt dieser Vermutung einen ganz direkten Halt. In der "Beilage zur zweiten unveränderten Auflage" seines Werkes lesen wir auf Seite II:
    "Obschon ich keineswegs zu den blinden Verehrern Schopenhauers gehöre, so sind mir doch neben seinen großen Schwächen auch seine großen Verdienste bekannt und zu einem dieser Verdienste glaube ich seine Theorie der sinnlichen Wahrnehmungen und seinen Beweis für die Apriorität des Kausalgesetzes rechnen zu müssen."
Die Theorie der sinnlichen Wahrnehmungen erwächst bei SCHOPENHAUER eingeständlich und bekanntlich auf dem Grund des uneingeschränkten kritischen Idealismus KANTs. Und da nun ZÖLLNER mit keinem Wort andeutet, er sei der Ansicht, man könne die Theorie der sinnlichen Wahrnehmungen auch rein naturwissenschaftlich auffassen, d. h. ganz abgesondert halten von der Frage nach der Erklärung von Raum und Zeit, - ist es da wohl möglich, etwas Anderes für sicher zu halten als dies, daß wir in diesem Autor einen Repräsentanten vorauszusetzen haben von der KANT-SCHOPENHAUERschen Erkenntnistheorie? Und doch erweist sich diese Voraussetzung als irrtümlich. Der kritische Idealismus von Raum und Zeit, durch KANT entdeckt, von SCHOPENHAUER ohne Rückhalt als Wahrheit akzeptiert, gerade diese Hauptbedingung "einer klar bewußten Kenntnis der ersten Prinzipien der Erkenntnistheorie", wird von ZÖLLNER einfach ignoriert, trotzdem, daß gerade für ihn der Anlaß ein sehr dringender war, von dieser Grundlage allen Philosophierens im Sinne von KANT und SCHOPENHAUER Notiz zu nehmen. Denn durch den Gegenstand der Untersuchung wird ZÖLLNER veranlaßt (Seite 299), "über die Endlichkeit der Materie im unendlichen Raum" Betrachtungen anzustellen. Ohne auf KANT Bezug zu nehmen, begründet ZÖLLNER eine physikalische Antinomie, welche als Analogon zu der ersten von KANTs Antinomien der reinen Vernunft kann angesehen werden. Denn KANT beweist in dieser Antinomie die Thesis, welche so lautet (Kr. d. r. V., erste Auflage, Seite 426):
    "die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen" und ebenso die Antithesis: "Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raum, sondern ist, sowohl in Anbetracht der Zeit als des Raumes, unendlich."
Ganz analog führt ZÖLLNER mit physikalischen Gründen den Beweis, daß sie (Seite 299)
    "auch die größten Massesn, solange sie endlich sind, im euklidischen Raum nach unendlicher Zeit bis zum Verschwinden verflüchtigen müssen."
Die Antithesis hierzu lautet so (Seite 300):
    "Angenommen die Quantität der die Welt bildenden Materie ist keine endliche sondern eine unendliche. Unter dieser Voraussetzung glaube ich durch folgende Betrachtung zeigen zu können, daß alsdann an jeder Stelle des materiell erfüllten Raumes der Druck der Materie unendlich groß sein müßte."
Während nun aber KANT seinen Widerstreit durch den transzendentalen Idealismus auflöst, heißt es bei ZÖLLNER (Seite 304):
    "Wie man aber auch diese Betrachtungen anstellen mag, man wird, wie mir scheint, stets auf derartige Widersprüche geführt, sobald man unter der Voraussetzung der als fundamental betrachteten Eigenschaften der Materie die Quantität derselben im unendlichen Raum als unendlich annimmt."

    "Es fragt sich daher, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen kann den empirisch gegebenen Tatsachen eines endlichen Druckes und einer endlichen Dichte unter Voraussetzung der bisherigen fundamentalen Eigenschaften der Materie genügt werden."

    "Die erste Bedingung würde die Annahme einer endlichen Quantität der Materie sein. Dann würde aber unter Voraussetzung des unendlichen euklidischen Raums und einer unendlich langen Zeit der Existenz der Materie nach dem Obigen der Raum mit materiellen Molekülen erfüllt sein, deren mittlerer Abstand unendlich groß ist, d. h. es müßte dann die Dichte der Materie an allen Stellen des Raumes unendlich klein sein, was wiederum der Erfahrung widerspricht. Folglich müßte unter Annahme einer endlichen Quantität der Materie, wenn den fundamentalen Tatsachen der empirischen Welt genügt werden soll, eine oder mehrere der übrigen Voraussetzungen modifiziert oder verworfen werden."

    "In welcher Weise dies durch die Annahme einer physischen Begrenzung des euklidischen Raums geschehen könnte, ist bereits im zweiten Teil durch den dort Seite 93 hierüber ausgesprochenen Satz angedeutet worden."
Und damit hat nun der Autor sich und die Leser jenem Phantom des empirischen Idealismus überantwortet, dessen Nichtigkeit nachzuweisen ich vorhin bemüht war. Das Garn zu diesem Truggewebe, in welches sich das mathematische Vernünfteln bei dieser Gelegenheit verstrickt, ist herausgesponnen aus einem Problem, das SCHOPENHAUER als "Niaiserie" [Dummheit - wp] speziell verspottet (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kapitel 13, dritte Auflage, Leipzig 1859, Seite 143), und dessen inneres Wesen bereits von KANT in genere als eine der "Schikanen einer falsch belehrten Vernunft" charakterisiert ist. So äußerst unverträglich ist der erkenntnistheoretische Standpunkt ZÖLLNERs mit den "ersten Prinzipien der Erkenntnistheorie" sowohl von KANT als von SCHOPENHAUER:

Damit aber der eigentliche Zielpunkt meines Angriffs nicht verkannt werden kann, so will ich zu größerer Sicherheit noch hervorheben, daß es nicht etwa ZÖLLNERs philosophische Entscheidung ist, gegen welche ich mich vorzugsweise hier richte; denn diese Angelegenheit halte ich durch das früher darüber Gesagte für erledigt. Sondern hier habe ich speziell die Vermengung von Spekulation und empirischer Forschung im Auge, welche ZÖLLNER - in diesem Punkt vielen andere Forschern der Gegenwart leider sehr ähnlich - nicht vermieden hat. Denn angenommen auch, daß die metamathematischen Spekulationen von RIEMANN und seinen Gefährten der allerbesten Rechtfertigung fähig wären, so würde dadurch Nichts an der Forderung geändert, welche vom Interesse der Klarheit des Gegenstandes diktiert bleibt. Dieses Interesse verlang, daß die Stelle genau markiert wird, wo empirische Forschung und Spekulation aneinander grenzen. Zu verfehlen ist die Stelle in diesem Fall nicht: sie ist überall da, wo sich der Begriff "unbegrenzt" bei der Untersuchung einstellt. Also schon die von ZÖLLNER aufgestellte Antinomie gehört nicht mehr dem empirischen Teil seiner Untersuchung an, obgleich sie auf physikalischen Gründen ruht. Der Widerspruch kommt dadurch zustande, daß Materie in bekannten Aggregatzuständen, also ein Gegenstand der Erscheinung, in Relation gesetzt wird zur Unendlichkeit des Raumes, welche niemals Gegenstand der Erscheinung sein kann, ebensowenig, wie der Raum als solcher jemals "einen Inhalt bezeichnet", oder als Raum von uns angeschaut wird, in dem Sinne nämlich, daß wir ihn selbst mit den sehenden Augen erblicken, - Unmöglichkeiten, welche allerdings auch noch von einem der neuesten Autoren über die Raumfrage behauptet werden (Carl Stumpf, "Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung", Seite 26, 27). Was wir räumlich und als außerhalb unseres Ich befindlich anschauen oder wahrnehmen, sind immer begrenzte Dinge, gesehene, also irgendwie gefärbte und geformte oder getastete, Grenzen darbietende Objekte, und diesen empfundenen Objekten geben wir eine Anordnung im allgemeinen Raum. Nimmermehr können wir ihn, den allgemeinen Raum, "so gut wie" Qualitäten vorstellen, nach STUMPFs Ausdruck (Seite 14). Denn zugleich mit der Bezeichnung Raum, abgesehen von allem qualifizierten Inhalt, ist auch die Forderung gegeben, die Unbegrenztheit als ein Faktum zuzulassen, - eine Forderung, welche von unserer Vorstellung weder zu erfüllen noch zu vermeiden ist: Beweis genug, daß der Raum nicht in der Vorstellung enthalten sein kann.

Sehr beachtenswert ist eine in Bezug auf ZÖLLNER hergehörige Bemerkung von MACH, welche so lautet ("Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit", Seite 25):
    "Das Eine wollen wir aber festhalten, daß es bei der Naturforschung nur auf die Erkenntnis des Zusammenhangs der Erscheinungen ankommt."
Alle Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen dem Gebiet der Erscheinungen und jedem anderen Gebiet sind nicht mehr physische Untersuchungen, gehören nicht mehr vor das Forum des Naturforschers, und wenn dieser aus natürlichem Interesse es nicht vermeiden kann oder will, sich Untersuchungen metaphysischer oder metamathematischer Art zuzuwenden, so soll er vor Allem sich selbst volle Rechenschaft davon geben, daß er nunmehr den Boden des Erfahrungswissens verläßt. Tut er dies, so wird es auch zur Pflicht der Gewissenhaftigkeit für ihn, dafür zu sorgen, daß Jeder, der seiner Untersuchung folgt, immer in Klarheit über die Qualität der Resultate erhalten bleibt; denn das Recht der subjektiven Entscheidung ist im empirischen Gebiet ein qualitativ anderes als im metaphysischen: dort, in der Naturforschung, bleibt alle Zustimmung und Opposition abhängig von einem Appell an sinnliche Beobachtung und Logik; hier, in der Metaphysik, tritt statt der sinnlichen Beobachtung das Prüfen der ausschließlich inneren, von sinnlichem Empfinden freien Wahrnehmungen als Quelle der Rechsprechung in Kraft.

Wie wenig es aber MACH gelungen ist, sich seinem eigenen "festzuhaltenden" Regulativ gemäß zu zügeln, lehrt die Tatsache, daß er in demselben Vortrag in Räume mit mehr als drei Dimensionen hinausschwärmt (Seite 27f), eine Extravaganz, welche in diesem Fall weder durch RIEMANN noch durch HELMHOLTZ verschuldet ist; denn der Autor sagt (Seite 55), er habe die hergehörigen Resultate seiner Betrachtungen "in Form kurzer Notizen in FICHTEs (Zeitschrift für Philosophie, 1865, 1866") publiziert. Er fährt fort: "Hierbei fehlte mir vollständig jede äußere Anregung, indem die Abhandlung Riemanns, welche erst 1867 erschienen ist, mir ganz unbekannt war."

So weiß sich auch hier die Metaphysik dafür zu rächen, daß man sie als eine vermeidenswerte Charybdis [gestaltloses Meeresungeheuer aus der griechischen Mythologie - wp] behandelt: der Verkenner ihres wahren Wesens gerät in die wirklichen Strudel der metamathematischen Skylla [anderes Meeresungeheuer - wp]. Wie sehr aber MACH in der Tat über willkürfreie Metaphysik im Unklaren ist, ist außer mehreren anderen Stellen seines übrigens sehr interessanten Vortrages auch folgenden Sätzen zu entnehmen, welcher unmittelbar auf den zuerst zitierten folgt:
    "Was wir uns hinter den Erscheinungen vorstellen, existiert eben nur in unserem Verstand, hat für uns nur den Wert einer Gedächtnishandhabe oder Formel, deren Gestalt, weil sie willkürlich und gleichgültig ist, sich sehr leicht mit unserem Kulturstandpunkt ändert."
Würde in diesem Satz der Nachdruck auf die Worte "für uns" gelegt sein; sollte also gesagt werden: als Naturforscher sollen und wollen wir nicht Metaphysiker sein, so wäre auch von diesem Satz wenigstens der erste Teil in voller Übereinstimmung mit dem Sinn meiner Opposition. aber es ist wohl schon aus dem Tenor des ganzen Satzes klar, daß MACH keineswegs mit dieser Deutung einverstanden ist; sondern er will überhaupt von der Metaphysik nichts wissen, und daß er von der Erkenntnistheorie KANTs sehr wenig Ahnung haben muß, verraten die Worte gleichfalls. Denn sie würden es sonst nicht als selbstverständlich behandeln, daß jede Metaphysik sich mit dem zu schaffen macht, "was wir hinter den Erscheinungen uns vorstellen." Für KANT ist vielmehr hinter den Erscheinungen gar Nichts vorstellbar, sondern sämtliches daselbst etwa Befindliche ist überall und immer = X. Welcher Erkenntniswert aber den Erscheinungen für uns zu kommt; inwiefern wir hoffen dürfen, uns durch sie dem Ziel der Wahrheit zu nähern, dem Ziele, das uns wie zum ersten Schritt so zu allen folgenden Regungen in jeder Art von theoretischem Wissensgebiet als das alleinige Ziel bestimmen sollte, - das zu beurteilen, dürfte nicht so ohne weiteres als willkürlich und gleichgültig abzutun sein, wenn man sich nicht mutwillig zum bloßen Techniker und Handlanger in der Wissenschaft stempeln will. Mit dem zuletzt zitierten Satz von MACH ist also die allervollkommenste Sinnesverschiedenheit ausgedrückt, sowohl gegen ZÖLLNER als auch gegen die hoffentlich durchweg erkennbare Tendenz dieser Schrift.

Denn nicht für das menschliche Interesse im Naturforscher scheint mir die theoretische Philosophie vermeidenswert, sondern nur für seine spezifische Arbeit als die eines Förderers von empirischem Wissen. Ist diese Arbeit mit Fernhaltung aller fremdartigen Einflüsse geleistet, dann wird sich der Mensch im Naturforscher sicherlich gerade sehr lebhaft dadurch betätigen, daß er seinem metaphysischen Verlangen gerecht wird. Je mehr er dafür gesorgt hat, daß im Fachmann das rein menschliche Element, das Leben in Ideen, wach geblieben ist, umso mehr wird er die Philosophie als eine Stätte der Sammlung und inneren Erhebung immer wieder aufsuchen, um mit dem eingeborenen Heimatrecht daselbst nicht gleichzeitig sich zu verlieren, - nämlich die Entwicklung seines mit gutem Grund sogenannten "besseren Selbst", dessen Wesen es ist, nicht am Äußeren haften zu bleiben und darin aufzugehen, sondern dem Geheiß zu folgen, dessen würdige Verkündigung uns durch den Mund des Dichters zuteil wird:
    "Denket und duldet - und in eurer eigenen Brust gestaltet
    eine innere Welt, wenn sich die äußere euch versagt;
    so werdet ihr der geistigen Natur näher sein
    und siegreich gegen eure eigene kämpfen." [Byron, Cain]
Auch dem Drang nach wissenschaftlicher Wahrheit gelten diese Worte: unausbleiblich ist gerade für den exakten Forscher die Erfahrung, daß "the outward fails [die Äußere versagt - wp]: die Beobachtung läßt ihn nicht nur in enge Grenzen gebannt bleiben, nein, sie verwickelt sein Denken sogar notwendig in Widersprüche, die nimmermehr auf dem Boden der Empirie auszugleichen sind, sondern auf einem anderen Grund, - eben dort, wo jenes "bessere Selbst" zu walten hat.

In der "inneren Welt", die von diesem Selbst kann gestaltet werden, hört das "Dulden" auf, ein Schmerzempfinden zu sein; denn das "endure" [dulden - wp], das mit dem "think" als eine notwendige Folge verbunden ist, bedeutet in der emprisch wissenschaftlichen Sphäre das Resignieren auf Lösung skeptischer Fesseln; aber in der "inneren Welt", in der Philosophie, verlieren die Schranken des Wissens die Bedeutung des von außen Einengenden, des äußerlich gewaltsam Widerstehenden - man erkennt die innere Notwendigkeit ihrer Existenz und wird, was Faust vergebens durch Magie erstrebt: "näher der geistigen Natur". In diesen Bereich dringt das empirische, das geringere Ich niemals; es trägt auch kein Verlangen danach; zur Entstehung dieses Verlangens fehlt es ihm schon an "Zeit", einem Gut, dem es nicht bloß empirische, sondern transzendentale Realität beimißt; ruhelos ist es, vielgeschäftig bewegt und erachtet die Philosophie als gründlichen Zeitverderb, - es wäre denn, daß die Aussicht auf Ziele wie Nachruhm oder auch "Gut und Geld" und "Ehr' und Herrlichkeit der Welt" die Beschäftigung zu entschuldigen vermöchte. Aber mag dieser "praktische", diesr sehr erfolgbeflissene Eifer auch noch so nützliche Dinge zutage fördern, - für Alles, was dabei zu leisten ist, genügt doch schon der Teil des Menschen, wegen dessen wir ihn niemals als den Träger höherer, verehrungswürdiger Bestimmung ansehen. Erst die Erfüllung allen Tuns und Strebens mit ideellem Gehalt erhebt den bloßen Allerwelts-Utilitarier zum Menschen in der nicht zoologischen Bedeutung des Wortes. Was aber bei dieser Erhöhung virtuell oder aktuell zur Wirkung gelangt: es ist nichts Anderes als gerade Philosophie, in welcher Form es auch sei.

Und den Grundlagen der Erkenntnistheorie darf man wohl eine ganz besonders nahe Beziehung zu den allgemeinen Interessen des Intellekts zuschreiben. Denn dieser Teil der Philosophie ist nicht bloß für jene weihevolle Erbauung da, welche vielen Menschen als eine Art Feiertagsstimmung gilt, die, wenn nicht ganz zu verschmähen, so doch ein Luxus bleibt, der ihnen die Zeitkosten nicht gehörig durch Genuß aufwiegt. Sondern von den kantischen Fragen: "Was kann ich wissen?" - "Wie ist Erfahrung möglich?" - von diesen Fragen darf man wohl behaupten, daß sie dem allgemeinen Interesse jedes wissenschaftlichen Menschen mindestens ebenso nahe liegen wie z. B. die allgemein interessierende Frage nach der Beschaffenheit unseres Planetensystems. Mindestens ebenso nahe! Denn allerdings halte ich es nicht für eine willkürliche oder zu weit gehende Annahme, daß jeder wissenschaftliche Arbeiter mit lebhafterem Anteil interessiert sein muß, die Wahrheitsdignität seiner Kenntnisse beurteilen zu können, als zu erfahren, wie die Körper des Weltraums sich zueinander verhalten, - die Kenntnis von diesem Verhalten ist ja gleichfalls jenen Fragen unterworfen; erst durch ihre Beantwortung wird aus allen möglichen Kenntnissen Erkenntnis: ein organisch assimilierter Bestandteil des eigenen Innern, und folglich haben jene Fragen eine wichtigere Beziehung zum selbstbewußten Einzelnen als alles durch Beobachtung Vermittelte.

Nur aus der verhältnismäßig noch großen Jugend der kantischen Errungenschaft vom Jahr 1781 wird das Mißverhältnis erklärbar, welches darin liegt, daß der Kulturgang die kopernikanische Lehre zum wirklichen Allgemeingut des zivilisierten Bewußtseins hat werden lassen, während die kardinaleren Angelegenheiten der Erkenntnistheorie selbst den meisten unserer hochstudierten Universitätslehrer keineswegs als unerläßlich und unentbehrlich für ihre Notiznahme erscheinen und in diesem Sinne behandelt werden. Im Bestehen dieses Mißverhältnisses scheint mir deutlicher als in irgendeinem anderen Symptom die tröstliche Sicherheit ausgesprochen zu sein: daß wir uns noch in sehr frühen Anfängen wahrer Geisteskultur befinden, und daß daher wenigstens für die intellektuelle Sphäre eine sehr viel geläuterte Entwicklungsstufe in Aussicht steht. Denn unmöglich kann es beim jetzigen Verhältnis der Vertreter empirischer Wissenschaften zur Philosophie verbleiben. Mag man auch immerhin in allen sonstigen Entwicklungsfragen dem empirischen Pessimismus zuneigen und gleich mir überzeugt sein: die Durchschnittsanlage der Menschen, um ideellen Gehalt in sich zu hegen und zu realisieren, diese Durchschnittsanlage hat während historischer Zeiträume keine wesentliche Steigerung erfahren und ist auch für viele Jahrtausende keiner Gesamterhöhung fähig, - dennoch halte ich die Prophezeiung für nicht zu kühn: es kommt die Zeit, in der die Ignoranz in der kritischen Philosophie für ein weit beschämenderes Zeichen von Unkultur gelten wird als die völlige Unbekanntschaft mit der Lehre des KOPERNIKUS - nicht etwa aus dem Grund, weil diese Lehre nur über empirische, äußere Weltordnung aufklärt, jene Philosophie aber eine Weltanschauung in viel umfassenderem Sinn gibt, nämlich Einsicht in das Doppel-Ding von Ich und Nicht-Ich: - nicht aus diesem Grund; denn darin läge freilich ein unmittelbarer Widerspruch gegen den Unglauben an die allgemeine Wertschätzung des Ideellen, - wohl aber aus einem Grund, der nach KANT (Werke VII, 1, Seite 33) als "vom Vorteil hergenommen (argumentum ab utili) . . . der überzeugendste unter allen ist", - deshalb nämlich, weil die empirische Forschung von allen Seiten auf die logische Notwendigkeit geführt werden wird, jene bereits hervorgetretenen unlösbaren Antinomien auf verständlichere Weise zum Abschluß zu bringen, als es durch den empirischen Idealismus der GAUSS-RIEMANN-HELMHOLTZschen Metamathematik geschehen ist.

In ZÖLLNERs Kometen-Werk und in dem erwähnten Vortrag von MACH liegen bereits sehr deutliche Spuren von der Bedrängnis zutage, in welche das empirische Wissen durch unabwehrbare Konsequenzen geraten muß. Gegenwärtig aber wird diese Prophezeiung noch für Viele das Gepräge des Phantastischen haben. Denn wenn sich auch die grundsätzliche Feindschaft gegen alles Philosophieren heute nur selten in ihrer wahren Rohheit ans Licht wagt, so herrscht doch desto mehr die oben mit Beispielen belegte Neigung zu wissenschaftlicher Interessen-Mengerei. Die Verkennung des Wirkungsbereiches für die kantische Lehre vom Raum ist keineswegs auf die hier vorgeführten Forscher beschränkt, sie ist im Gegenteil so sehr das Gewöhnliche, daß man wie durch einen wohltuenden Kontrast überrascht wird, wenn man einmal durch eine Bemerkung des Autors im Voraus erfährt, daß er zumindest die Existenz gewisser Grenzen anerkennt und folglich ihre Verwischung zu vermeiden wünscht. Die Schrift von FRESENIUS über "Die psychologischen Grundlagen der Raumwissenschaft", Wiesbaden, 1868 gehört zu diesen rühmlichen Ausnahmen. So wenig man sich auch mit mehreren Begriffsanalysen des Verfassers einverstanden erklären mag, so erfreulich muß es doch jedem auf das Gegenteil Vorbereiteten sein, daß gleich im Anfang die gewöhnliche Konfusion ausgeschlossen wird.
    "Indem es" - so lautet der zweite Satz des Vorworts - "dabei völlig ununtersucht bleibt, ob diesen Ergebnissen unseres Bewußtseins eine objektive Realität entspricht, bewegt sich unsere Betrachtung nicht auf einem Boden, den man in engerem Sinn einen philosophischen nennen könnte." -
Unter den Physiologen ist es AUBERT, welcher sich dieser selten geübten Enthaltsamkeit befleißigt (Physiologie der Netzhaut, Breslau 1865). Denn wenn ihm auch (Seite 21)
    "die Existenz eines Realen mit Relationen, welche den Relationen unserer Wahrnehmungen entsprechen, zur höchsten Wahrscheinlichkeit wird",
so finden wir es doch gleichzeitig hervorgehoben,
    "daß wir von unserem Standpunkt aus die Qualität des Realen gänzlich unbestimmt lassen müssen."
Und vorher heißt es von diesem diskreten Standpunkt: er
    "ist ein wesentlich idealistischer, denn er stellt in weiterer Konsequenz unseres Sinneswahrnehmungen nur als Tätigkeiten unserer Sinnesorgane gegenüber sonst gänzlich unbekannten und unerkennbaren Vorgängen in der Außenwelt hin, ja er macht schließlich die Existenz der Welt von unserer Sinnestätigkeit abhängig, da ja Alles für uns nur insofern existiert, als es von unseren Sinnen und unserem Verstand erfaßt wird, das Reale aber, wenn es existiert, durchaus unbestimmt und unbestimmbar bleibt."
Und diese klare Stellung gegen die Philosophie macht sich nicht etwa bloß in der Einleitung zu dem an empirischen Beobachtungen so reichen Werk geltend, sondern auch während der Detailforschung erinnert der Verfasser gelegentlich sehr präzise daran, daß es nur eine empirische Realität ist, wass er seiner Außenwelt vindiziert [zuspricht - wp]; § 76 (Seite 154) beginnt:
    "Die Disharmonie zwischen unseren Sinnesempfindungen und den objektiven Vorgängen in der Außenwelt, wie wir sie uns aufgrund vielfacher Kombinationen als bestehend denken müssen, macht sich bei den Farben überhaupt und besonders im Verhältnis der Farben zum Schwarz und Weiß fühlbar."
Die Außenwelt, "wie wir sie uns denken müssen", - das ist die unüberschätzte Außenwelt, und mit diesem empirisch-realen Standpunkt ist es nicht unvereinbar, wenn AUBERT an einer späteren Stelle (Seite 267) erklärt, ihm scheine die Auffassung der Raumwahrnehmung von VOLKMANN-LOTZE
    "durchaus notwendig, wonach derselben eine qualitative Empfindung zugrunde liegt, welche durch psychische Tätigkeit zu einer extensiven Anschauung umgewandelt wird" -
nur möchte man freilich den Ausdruck "umgewandelt" entweder ganz entbehren oder durch einen anderen wie "geformt" ersetzen. Eine Disharmonie gegen die sonst von AUBERT beobachtete Schonung kantischer Philosophie liegt aber darin, daß (Seite 307) von einem "KANT-MÜLLERschen Standpunkt" die Rede ist, und daß dieser vermeintliche Standpunkt mit CLASSEN ein "idealistischer" genannt wird. Doch diese Stellen machen eher den Eindruck der Konnivenz [Nachsichtigkeit - wp] gegen einen fast allgemein rezipierten Fehler der Terminologie, - findet doch auch der Philosoph STUMPF, JOHANNES MÜLLER habe STEINBUCH "vom kantischen Standpunkt aus bekämpft"! (a. a. O., Seite 37, Anm.) Wenigstens wird das Irrtümliche dieser Stellen bei AUBERT hinreichend kompensiert durch andere, in welchen wie in den angeführten die Grenzen der Empirie korrekt innegehalten werden, oder wo, wie (Seite 187, 272, §§ 90, 121 und Seite 312, § 137), der "uns innewohnenden reinen Vorstellung vom Raum" völliges Genüge geschieht. Wenn jedoch AUBERT in seiner ohne Präjudiz [Vorurteil - wp] charakterisierten Außenwelt die "meisten Physiologen" (Seite 21) auf einem ebenso mit KANT noch verträglichen Standpunkt findet wie sich selbst, und wenn von dieser Majorität kein Einspruch gegen eine solche Beurteilung erhoben wird, - nun, so beruth dieses Verhalten wohl darauf, daß man in dieser Außenwelt jeden beliebigen Grad von günstiger Meinung im Allgemeinen ohne Beschwerde vertragen kann. Solange es aber an Belegen für AUBERTs wohlwollende Beurteilung so ganz gebricht wie bisher, wird man, wenn nicht Pflichten der Höflichkeit es verhindern, durch Wahrnehmungen wie die mehrfach angeführten zu dem ganz entgegengesetzten Induktionsschluß legitimen Grund haben.

Nun kann zwar die Annahme, daß, wie HELMHOLTZ meint, der "durchgreifende Gegensatz der verschiedenen philosophischen Systeme" auch in das Gebiet der Naturwissenschaft wirklich "eingreifen" kann, das heißt doch also, daß bestimmte Systeme die Resultate des exakten Forschens zu beeinflussen imstande sind, und zwar so, daß die streitigen Sätze der Naturforscher den streitigen Systemen korrespondieren, - diese Annahme kann zwar mit manchen Beispielen belegt werden, aber für die Transzendentalphilosophie trifft sie nur insofern zu, als tatsächlich ihre Gedanken auch mißbrauch werden können; man kann sie halb erfassen, also mißverständlich behandeln, wie es z. B. mit dem kantischen Idealismus geschehen ist, und dann tritt noch überdies die Möglichkeit hinzu, daß der individuelle Forscher zugunsten seiner unechten Kantgedanken und, "im Auslegen munter", seine bereits fertige Erklärung den empirischen Tatsachen "unterlegt". Aber weder ist das Individuum dann hierin in Wahrheit ein exakter Forscher, noch ist es eine Konsequenz des philosophischen Gedankens, daß er der Befangenheit und willkürlichen Deutung Dienste leistet. Der "Eingriff" in die exakte Arbeit fällt also stets auf die Subjektivität des Arbeiters zurück, und wenn der Einfluß eines philosophischen Gedankens sich etwa so vorteilhaft geltend macht wie bei JOHANNES MÜLLER, so liegt das Verdienst des Naturforschers darin, daß der fremde Gedanke immer nur die Anregung für ihn geblieben ist, um aus empirischem Material eine neue und exakte Wahrheit zu entwickeln, - eine Wahrheit von so großer Selbständigkeit, daß sie ganz unabhängig zu halten ist von dem urheberischen Gedanken, wie ja die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien mit dem transzendentalen Realismus ebenso wohl vereinbar bleibt wie mit dem transzendentalen Idealismus. Eine sachliche Zusammengehörigkeit zwischen dem letzten und MÜLLERs Theorie besteht so wenig wie etwa zwischen der theologischen und der naturwissenschaftlichen Parthenogenesis [Jungfrauengeburt - wp]; die Tatsache, daß die letzte von einem Theologen, dem Pfarrer DZIERDZON, entdeckt ist, bleibt für die innere Beziehung zweier Beurteilungen verschiedener Ereignisse völlig nebensächlich; denn nicht dem Theologen, sondern dem denkenden Beobachter verdanken wir die anerkannte Wahrheit, und es wäre eine übel angebrachte Satire, wenn man, ohne durch eine Aussage DZIERDZONs berechtigt zu sein, in diesem Fall sagen würde: das Leben in theologischen Ideen hat einmal auch einen naturwissenschaftlichen Segen gewirkt.

Und weil nun eben der tatsächliche Einfluß der transzendentalen Philosopheme auf naturwissenschaftliche Resultate nur ein äußerlicher ist, da er nur insofern besteht, als das naturwissenschaftliche Denken durch persönliche Sympathie des Einzelnen mit diesr oder jener philosophischen Idee angeregt und in der Wahl der Objekte bestimmt werden kann, während doch nach der Entstehung der Intuition die spezielle Bearbeitung der Probleme, je exakter sie ist, umso ausschließlicher geleitet wird durch den Scharfsinn in der Kombination empirischer Elemente, sowie durch sorgfältiges und unbefangenes Beobachten und Urteilen, deshalb ist die besprochene irrtümliche Schätzung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Naturforschung bei den Naturforschern selbst von wenig nachteiligen Folgen und bleibt bei ihnen im Wesentlichen ohne Einfluß auf die Ergebnisse für die Wissenschaft, nicht freilich auf die Auffassung von diesen Ergebnissen, auf ihre Verwertung für allgemeine Gedanken.

Anders aber ist es auf anderen Gebieten, nämlich erstens in der Philosophie selbst und zweitens in denjenigen Zweigen der nicht, oder doch zumindest noch nicht exakten Wissenschaften, in welchen sich aus der zu ergründenden Wahrheit Grundsätze für das ethische Handeln ergeben, also z. B. in der Pädagogik und ganz besonders in den Staatswissenschaften, in der Volkswirtschaft und überall, wo die Fragen nach Wohlfahrt, Macht und Recht nicht auszuschließen sind.

In der theoretischen Philosophie also und in den Staatswissenschaften muß die Vermengung der innerlich nicht zusammengehörigen Forschungsrichtungen noch viel tiefer greifende Übel mit sich führen als in der Naturwissenschaft. Die folgenden Abschnitte sind dazu bestimmt, diese Behauptung an geeigneten Beispielen aus unserer Zeit zu erproben.


Zusatz zu Helmholtz' Bemerkung in Anmerkung 3: Es möge hier, als in dem Zwischenraum, welcher die beiden auf dem Titel bezeichneten Teile dieser Schrift voneinander trennt, eine nachträgliche Bemerkung Platz finden, welche vielleicht geeignet ist, einem für manche Leser nahe liegenden Einwand zu begegnen. Im Text der betreffenden Anmerkung, daß in der mit RIEMANN überkommenden Arbeit von HELMHOLTZ "der Raum aus den Größenbegriffen abgeleitet wird", und diese, in dem dort Vorhergehenden ausführlich besprochene Tatsache wird in der Anmerkung auf derselben Seite noch überdies durch Worte von HELMHOLTZ selbst bekräftigt. Der letzte Satz des daselbst gegebenen Zitates ist aber so geformt, daß es nicht überflüssig erscheint, die Unzweideutigkeit des Gesagten besonders hervorzuheben. HELMHOLTZ findet:
    "Es konnte ... der Weg betreten werden, nachzusuchen, welche analytischen Eigenschaften des Raumes und der Raumgrößen für die analytische Geometrie vorausgesetzt werden müßten, um deren Sätze vollständig von Anfang her zu begründen."
Hiernach könnte es den Anschein erwecken, daß in der erwähnten Arbeit, ganz entgegen der Bemerkung des Textes, die Sätze der analytischen Geometrie aus den analytischen Eigenschaften des Raumes und der Raumgrößen haben abgeleitet werden sollen. Doch dies wäre eben eine unrichtige Deutung, zu welcher nur die Schlußworte des Zitates Anlaß geben könnten. Faktisch läßt auch diese Stelle nur einen Sinn zu, selbst wenn man von allem im Text Besprochenen absieht, wodurch diese Auffassung als selbstverständlich erscheint: die reinen Größenbegriffe und Sätze der analytischen Geometrie werden als ein zuerst Gegebenes, zuerst Vorhandenes betrachtet. In der Anlehnung an sie ist der Versuch unternommen worden, für die analytischen Eigenschaften des Raumes und der Raumgrößen Voraussetzungen von solcher Art zu machen, daß auch die Sätze der analytischen Geometrie durch diese Voraussetzungen begründet werden können. Sachlich also werden die Raumgrößen zugunsten der reinen Größenbegriffe konstruiert, sie werden den letzten anbequemt, d. h. eben: der Raum wird angeblich aus den abstrakten Größenbegriffen abgeleitet.
LITERATUR - Wilhelm Tobias, Grenzen der Philosophie, Berlin 1875