ra-3Bahnsenvon JheringLundstedtRadbruchSternPoincaré    
 
KARL GROOS
(1861 - 1946)
Nutzlose Wissenschaft

"Die reine Forschung um der Erkenntnis willen stößt immer und immer wieder auf Ergebnisse, die sich nachträglich in oft überraschender Weise als nützliche bewähren. Und man kann gewöhnlich durchaus nicht a priori etwas darüber wissen, ob nicht irgendeine Feststellung, die mit praktischen Zwecken anscheinend gar nichts zu tun hat, auf einmal dennoch der Praxis zugute kommt.

Zwischen den Errungenschaften der Forschung bestehen bemerkenswerte Unterschie, die uns auffallen müssen, sobald wir die Frage stellen: Was nützt das Wissen? Manche Erkenntnisse greifen sofort ins praktische Leben hinüber und sind für dieses von umwälzender Bedeutung; andere, die dem Gelehrten vielleicht genauso wichtig erscheinen, berühren zwar die innersten Interessen des Wissenstriebes selbst, aber daußen im Leben der kämpfenden und strebenden Menschheit geht alles seinen unveränderten Gang weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Entzifferung der Keilschrift war gerade so gut eine wissenschaftliche Großtat wie die Entdeckung, daß das Einimpfen gewisser Stoffe vor den Pocken schützt. Aber wem hat jene Entzifferung das Leben gerettet oder die Gesundheit erhalten? Die Eigenschaften eines nicht-euklidischen Raums können das wissenschafliche Denken ebenso intensiv beschäftigen wie die Gesetze, denen die physischen und chemischen Vorgänge in der Natur unterworfen sind. Aber die Kenntnis dieser Gesetze führte zur technischen Beherrschung der Erde, während jene anderen Resultate im großen Meer des Lebens anscheinend kein noch so kleines Wellchen erzittern lassen. Und doch kann sich die reine Theorie dem einen wie dem andern Gebiet mit gleicher unparteiischer Liebe zuwenden.

Angesichts solcher Unterschiede ist es dem Forscher, der über den Wert seiner Lebensarbeit nachdenkt, ein unabweisbares Bedürfnis, das Problem der nutzlosen Wissenschaft möglichst scharf ins Auge zu fassen. Dieses Bedürfnis ist gerade gegenwärtig besonders lebhaft. Denn die Einschätzung des Wissens nach seiner "praktischen" Bedeutung liegt jetzt nicht nur den außerwissenschaftlichen Kreisen nahe, in denen der reine Theoretiker von jeher die Frage hören konnte: "Ja, was soll denn das nützen?" Sie ist vielmehr durch die "pragmatistische Bewegung, von der ich früher in dieser Zeitschrift gesprochen habe) zu einer philosophisch begründeten Forderung erhoben worden, und wenn ein Philologe oder Historiker manche Äußerungen OSTWALDs liest, so mag es ihm zuweilen scheinen, als sei dieser berühmte Chemiker sozusagen farbenblind für die Werte, denen die Sprach- und Geschichtsforschung nachstrebt.

Nun ist es eine der wichtigsten methodischen Regeln, daß man bei Streitfragen nicht ohne weiteres in den Kampf eingreift, sondern sich vor allem, so gut es möglich ist, über die Begriffe klar wird, die dabei vorausgesetzt werden. Wir haben unserer Erörterung den Titel gegeben: "Nutzlose Wissenschaft". Ehe wir entscheiden können, inwieweit ein solches Wissen existiert, müssen wir angeben, was wir im Folgenden unter "Nutzen" verstehen wollen. Eine allgemeine Definition der Nützlichkeit gibt uns WILHELM LEXIS in seiner "Volkswirtschaftslehre" (HINNEBERGs "Kultur der Gegenwart", 1910, Seite 28): "Die besondere Beziehung der Güter als solcher zum Menschen nennen wir Nützlichkeit, indem wir unter dieser Bezeichnung jede Art von Brauchbarkeit für einen menschlichen Zweck verstehen." Man könnte demzufolge ganz kurz sagen: nützlich ist jedes "geeignete Mittel". Aber die Definition von LEXIS enthält auch die Beziehung auf den Begriff der "Güter". Damit führt sie auf die weitere Frage, welche Güter denn hauptsächlich in Betracht kommen, wenn wir etwas "nützlich" nennen. Suchen wir in dieser Hinsicht bei denjenigen Philosophen Auskunft, die uns über den Begriff des Nutzens am genauesten Auskunft geben sollten, nämlich bei den "Utilitaristen", so finden wir ein Gut ganz besonders herausgehoben, nämlich das menschliche Glück. Wollte man sich darauf beschränken, so würde damit eine Verengung des Begriffs verbunden sein, die dem tatsächlichen Sprachgebrauch nicht gerecht wird. Auch BENTHAM selbst, der Führer der Utilitaristen, sagt daher in einer weiteren Fassung, "utility" sei die Eigenschaft eines Objekts, wodurch dieses die Tendenz hat, "benefit, advantage, pleasure, good or happiness" hervorzubringen. Hier werden wir genauere Bestimmungen suchen müssen. Ehe wir es tun, möchte ich aber noch auf einen bei den Utilitaristen hervortretenden Unterschied hinweisen, der auch für unsere Untersuchung wichtig ist. Indem diese Philosophen ihre Ethik utilitaristisch begründen, denken sie nicht an das Glück des Einzelnen, sondern an das der Gesamtheit. Ihr "greatest happiness principle" setzt als das im sittlichen Handeln zu verwirklichende Gut "das größte Glück der größten Zahl" fest. An dieses Hinausgreifen über das bloß individuell Nützliche werden wir uns erinnern müssen, wenn wir das Problem der nutzlosen Wissenschaft aufrollen.

Soviel ich sehe, wird der Begriff des Nützlichen hauptsächlich im Hinblick auf drei Güter angewendet. Als nützlich gilt nämlich,
    1) was der Erhaltung des Daseins überhaupt dient. Die englische und die amerikanische Biologie sprechen in diesem Zusammenhang von einem "survival value". Dabei stoßen wir sofort auf den eben hervorgehobenen Unterschied: es kann etwas der Erhaltung des Individuums dienen, wie z. B. die Schutz- und Angriffsmittel der Tiere; oder der Nutzen bezieht sich nur auf die Erhaltung der Gattung - so hat die Ausübung der die Fortpflanzung ermöglichenden Instinkte bei manchen Tieren den Tod des Individuums zur Folge. -
Nützlich nennt man
    2) was das Dasein glücklicher macht. Auch hierbei braucht das Glück des Individuums und das Glück der Gesamtheit nicht zusammenzufallen. Es ist aber ein Irrtum, im Glück das einzige Mittel des Strebens sehen zu wollen.
Außer der Erhaltung des Daseins überhaupt kommt neben dem Glück noch ein weiteres Gut für uns in Betracht. Nützlich ist nämlich,
    3) was die Macht im Lebenskampf steigert. Dabei handelt es sich einmal um die Macht über die Artgenossen. Dieses wird für das Individuum etwa durch die Berufskenntnisse oder durch die Ausbildung für den körperlichen und geistigen Kampf vermehrt. Daneben kommt die Macht der Gemeinschaft im Wettbewerb mit anderen Gemeinschaften in Betracht, z. B. mit Völkern oder Rassen. Der Macht über die Artgenossen tritt außerdem die Macht über die Natur zur Seite. An sie hat BACON gedacht, als er die Methode suchte, die zum "regnum hominis" [Herrschaft des Menschen - wp] führen sollte.
Sie meint man vielleicht in erster Linie, wenn man nach dem Nutzen der Wissenschaft fragt. Dabei darf uns die genetische Frage, ob nicht vielleicht ursprünglich die Luft oder das Glück doch das einzige Gut gewesen ist, nicht verwirren. Das mag sich entwicklungsgeschichtlich verhalten; aber tatsächlich schätzen wir die Macht ebenso wie die Erhaltung des Daseins auch ohne Rücksicht auf das Glück.

Nehmen wir einmal an, wir hätten damit die wichtigsten Beziehungen des Wortes "nützlich" angeführt. Als nützlich gelten uns demnach (ohne daß diese Einteilung auf Vollständigkeit Anspruch erhebt) hauptsächlich die zur Erhaltung des Lebens, die zur Glücksförderung und die zur Machtvermehrung dienlichen Mittel. Nach dieser Feststellung wenden wir uns dem Problem der nutzlosen Wissenschaft zu und fragen an erster Stelle, ob und wieweit man überhaupt von einer solchen reden kann.

Vor allem erledigt sich nun ohne Schwierigkeit die Beziehung auf das forschenden Individuum selbst. An den Nutzen für den Gelehrten denkt man bei unserem Problem überhaupt nicht. Daß der wissenschaftliche Arbeiter als solcher durch Forschungen von rein theoretischem Wert sein Leben erhalten kann, verdankt er den Einrichtungen des Kulturstaates. Auch eine gar nicht unbeträchtliche Machtstellung kann ihm seine Arbeit verleihen. Und daß sie zur eigenen Glücksförderung ganz besonders geeignet ist, weiß jeder, der die Fähigkeit zum Studium besitzt. Wenn es sich also nur um den Nutzen für das forschenden Individuum selbst handeln würde, so läge gar kein Problem vor. Wer manchen Forschungszweigen den Wert abstreitet, der denkt dabei an die praktischen Interessen der Gesamtheit. Wir gelangen demnach schon hier zu dem Ergebnis, daß eine absolut nutzlose Wissenschaft gar nicht existiert. Und dieses Ergebnis gewinnt durch die weitere Erwägung an Bedeutung, daß die Förderung des Einzelnen mittelbar sehr oft eine Förderung der Gesamtheit mit sich bringt. Inwieweit das für den Gelehrten zutrifft, dem es z. B. seine Wissenschaft ermöglich, eine Familie zu erhalten, bedarf keiner näheren Ausführung.

Wie steht es nun mit dem Nutzen für die Gesamtheit? Nehmen wir als Beispiel irgendein "wichtige" Erkenntnis der geschichtlichen Wissenschaften. Man hat etwa mit bedeutendem Geldaufwand die prähistorischen Ringwälle auf den Berggipfeln eines Landes untersucht und dabei festgestellt, daß es sich um keltische Niederlassungen aus der La-Téne-Zeit
handelt. Als Gegenbeispiel wählen wir die Erkenntnis, daß Chloroformdämpfe ein starkes narkotisches Mittel darstellen, welches sich bei vorsichtiger Anwendung gut für Operationen eignet. Das Gegenbeispiel ist in jeder der von uns angeführten Beziehungen nützlich. Es dient der Erhaltung der Art, da es heilende Eingriffe ermöglicht, die ohne Narkose nicht ausführbar wären. Es dient der Glücksförderung, da es Schmerzen ausschaltet und die Gesundung fördert. Es dient schließlich der Machtvermehrung, indem es einen gewaltigen Sieg des menschlichen Geistes über einen seiner furchtbarsten Feinde, die Krankheit, darstellt. Wie verhält es sich dagegen mit der prähistorischen Erkenntnis? Sie dient nicht in demselben Sinn der Erhaltung der Art. Sie bedeutet auch keinen Zuwachs unserer Macht über Gefahren und über Mitbewerber im Kampf ums Dasein. Zwei wichtige Bedeutungen des Wortes "nützlich" fallen also hier, wenn wir vom Nutzen für den Forscher selbst absehen, hinweg; oder wenn das zuviel gesagt ist (ich erinnere an die vorhin erwähnte Ausstrahlung des individuell Nützlichen): sie treten doch gegen den "survival value" und die Machtförderung unseres medizinischen Beispiels stark in den Hintergrund. Es bleibt aber noch das Ziel der Glücksförderung übrig, das von den Utilitaristen besonders betont wird. Träg das rein theoretische Wissen, auch wenn es gar nichts für die Erhaltung der Art und für die Vermehrung unserer Macht über die Natur und über andere Völker oder Rassen leisten sollte, zum "größten Glück der größten Zahl" bei? Diese Frage ist zu bejahen.

Der Begriff der "Güter" wird gewöhnlich mit dem der "Bedürfnisse" in Zusammenhang gebracht. Wir können angeborene und erworbene Bedürfnisse unterscheiden. Zu den unserer Natur angeborenen Bedürfnissen gehört auch das Verlangen nach Wissen. Aus der instinktiven "Neugier" hat sich (vielen Sprachen fehlt dieser Unterschied) die auf Urteile abzielende "Wißbegier" entwickelt. Sie ebensogut ein Bedürfnis der menschlichen Natur wie der Hunger oder der Durst oder soziale und sexuelle Bedürfnisse. Die reine Wißbegier um des Wissens willen tritt schon beim Kind mit einer Gewalt hervor, die dem Biologen zu denken gibt. Hier genügt es, einfach auf die Tatsache als solche hinzuweisen. Die Menschheit will wissen. Nur weil die Gesamtheit dieses Interesse hat, werden Millionen ausgegeben, um die ältesten Spuren der menschlichen Kultur zu erforschen oder die wüsten Polargebiete kennen zu lernen. Das Wissen als solches, auch wenn es weder der Erhaltung des Daseins, noch der Förderung des technischen regnum hominis dient, hilft doch auf dem Weg zum größten Glück der größten Zahl, weil die Menschheit nun einmal tatsächlich den Willen zum Wissen in sich trägt. Wir werden hinzufügen dürfen, daß es sich dabei um eine der reinsten, wenn auch nicht um eine der intensivsten Beglückungen handelt.

So können wir also von einem nutzlosen Wissen nur dann reden, wenn wir den Begriff des Nutzens auf das für die Gesamtheit Nützliche einschränken und dabei wieder die weitere Verengung eintreten lassen, daß sich das allgemein Nützliche nur auf die Erhaltung der Art und die Vermehrung der Macht im Kampf ums Dasein beziehen soll. Der Glücksförderung des Ganzen dient aber auch die reinste Wissenschaft - allerdings allgemein nur in dem eigenartigen Sinn, daß es sich nicht um die Erreichung von anderweiten Genüssen (man denke etwa an wohlschmeckende Nahrung, angenehmes Wohnen und dgl.) handelt, sondern allein um die Freude der Menschheit am Wissen selbst. In dem so genauer umschriebenen relativen Sinn gibt es nun allerdings weite Gebiete eines "unpraktischen" Wissenserwerbs. Hierher gehören beträchtliche Teile der Logik, Metaphysik und Mathematik, hierher die geschichtlichen Wissenschaften (bei denen doch nur in ganz besonderen Fällen eine tatsächliche Nutzanwendung auf die Zukunft stattfindet, und die klassische Philologie, hierher aber auch sehr viele Errungenschaften der Naturforschung, wie z. B. die Entdeckung neuer Arten, die Beantwortung entwicklungsgeschichtlicher Fragen usw. Dabei mögen überall auch Funde und Feststellungen vorkommen, die einen gewissen praktischen Wert haben - auch die "formale" Übung des Geistes werden wir nicht vergessen dürfen; aber der ungeheure Unterschied gegenüber einer für die Medizin oder die Technik oder die Staatseinrichtung wichtigen Erkenntnis bleibt dennoch bestehen.

Daher wird uns das Ergebnis dieser ersten Untersuchung kaum ganz befriedigen können. Wir sehen zwar deutlich, daß eine absolut nutzlose Wissenschaft nicht existiert. Aber der eben noch einmal festgestellte Unterschied läßt uns doch nicht zur Ruhe kommen. Die Schwierigkeit zeigt sich wohl am klarsten, wenn wir von der Annahme ausgehen, daß ein für wissenschaftliche Studien wohl veranlagter junger Mensch sich für ein Studiengebiet zu entscheiden hat und dabei an seine Pflichten für die Gesamtheit denkt. Wenn er die Wahl zwischen zwei wissenschaftlichen Lebensberufen hat, von denen der eine zur Erhaltung, Machtsteigerung und Glücksförderung der Menschheit beiträgt, während der andere im Wesentlichen nur der Glücksförderung dient und auch dieses nur durch die Befriedigung noch so viel anderes leistet? Ja, ist er nicht bei klarer Erkenntnis der Verhältnisse geradezu verpflichtet, vom zweiten Beruf abzusehen, falls er es als eine sittliche Aufgabe anerkennt, ein möglichst wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden?

Diese Schlußfolgerung scheint ganz klar und unausweichlich zu sein. Und doch käme sie auf die Verurteilung oder zumindest auf die Herabwertung unzähliger, in mühevoller Arbeit verbrachter Lebensläufe hinaus. Sie gibt vor allem dem Angehörigen einer "philosophischen Fakultät" zu denken, und zwar in erhöhtem Maß da, wo die Naturwissenschaften mit der Mathematik eine selbständige Fakultät bilden, so daß zur philosophischen außer der Philosophie selbst nur die historischen und die philologischen Wissenschaften zählen. Alle diese Wissenszweige mögen ihren relativen Nutzen haben; aber für den Studierenden, der sich erst entscheiden soll, bleibt die Frage bestehen, die wir eben gestellt haben. Der künftige Jurist kann ein Gesetzgeber oder Staatsmann werden, der das Leben der Nation umgestaltet. Der Mediziner und Naturforscher kann durch seine Wissenschaft zum Wohltäter der Menschheit werden. Auch den Theologen verweist sein Amt nicht nur auf das Heil der Seele, sondern zugleich auf den Kampf gegen soziale Schäden. Die philosophische Fakultät bildet eigentlich nur Gelehrte und Lehrer aus, dient also rein dem Wissen als solchem und dessen Übertragung auf die heranwachsende Generation. Schon KANT hat sich in seinem "Streit der Fakultäten" mit diesen Verhältnissen beschäftigt. In der Gegenwart aber tritt das Problem drängender als je zuvor hervor, seit es durch den Pragmatismus zur Weltanschauungsfrage geworden ist, ob die alten Forderungen noch gelten sollen: la science pour la science, das Wissen soll Selbstzweck sein, die Forschung muß ohne Rücksicht auf einen Nutzen betrieben werden!

So sehen wir uns gezwungen, unser Problem noch weiter zu verfolgen. Bisher haben wir die Frage zu beantworten gesucht, ob und inwiefern es eine nutzlose Wissenschaft gibt. Nun stellen wir die zweite Frage: inwieweit ist eine vom Nutzen absehende Forschung berechtigt, also eine Forschung, die sich mit Absicht um nichts bekümmert als um die Vermehrung und Sicherung des Erkennens selbst?

Man kann auf sehr verschiedenen Wegen zu einer Antwort auf diese Frage gelangen. Die erste Antwort erhalten wir dadurch, daß wir uns selbst auf den Nützlichkeitsstandpunkt stellen; sie besteht in einer utilitaristischen Begründung des Standpunktes "la science pour la science". Man kann nämlich eine hundertfach durch die Tatsachen bestätigte Erkenntnis in dem paradox klingenden Satz zum Ausdruck bringen: es ist nützlich, wenn die Forschung sich ohne Rücksicht auf den Nutzen ihre Probleme stellt. Die Erfahrung belehrt uns darüber, daß eine sehr beträchtliche Anzahl, vielleicht die meisten von den großen Errungenschaften der wissenschaftlichen Arbeit aus reinem Erkenntnistrieb heraus, ohne den Leitgedanken einer nützlichen Anwendung hervorgetreten sind - erst nachträglich zeigte es sich, daß die Entdeckung einen bedeutenden "praktischen" Wert hatte. So ist es z. B. mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Eigenschaften radioaktiver Substanzen gegangen. Das erste Wissen von diesen merkwürdigen Erscheinungen erwuchs aus rein theoretischer Beschäftigung heraus; erst hinterher zeigte sich ihre große, noch gar nicht abzusehende Bedeutung für die Zwecke der medizinischen Wissenschaft. Hätte sich dagegen ein phantasievoller Chirurg gesagt: "es müßte doch sehr nützlich sein, wenn man schon vor dem operativen Eingriff die Gestalt eines gebrochenen Knochens oder die Lage eines in den Körper eingedrungenen Fremdkörpers mit dem Auge wahrnehmen könnte; ich will also einmal versuchen, ob sich da nichts erfinden läßt" - so säße er, wenn man ihm das Leben so weit verlängern könnte, vielleicht noch nach tausend Jahren vor diesem ungelösten Problem, und zwar säße er vermutlich in einer Anstalt für harmlose Geisteskranke. Die reine Forschung um der Erkenntnis willen stößt dagegen immer und immer wieder auf Ergebnisse, die sich nachträglich in oft überraschender Weise als nützliche bewähren. Und man kann gewöhnlich durchaus nicht a priori etwas darüber wissen, ob nicht irgendeine Feststellung, die mit praktischen Zwecken anscheinend gar nichts zu tun hat, auf einmal dennoch der Praxis zugute kommt. So hat z. B. die experimentelle Psychologie jahrzehntelang geduldig gearbeitet, ehe ihr Wichtigkeit für die Pädagogik mit voller Klarheit erkannt wurde.

Vom Standpunkt des Biologen aus kann man daher die schon beim Kind so deutlich hervortretende Wißbegier um des Wissens willen geradezu als eine Anpassung auffassen, die dazu bestimmt ist, zur Herrschaft der Intelligenz über die Natur zu führen. Aus der Erkenntnis dieser Verhältnisse heraus erklärt sich die Anerkennung der Universitäten als unabhängiger Pflegestätten der Wissenschaft. Der Staat hat natürlich die Aufgabe, auch rein ideale Ziele zu fördern. Aber die verhältnismäßig großen Summen, die z. B. für naturwissenschaftliche Institute aufgebracht werden, würden trotz allen Idealismus doch kaum zur Verfügung stehen, wenn man sich nicht in der Regierung und im Parlament sagte: diese ganz rein auf die Ergründung der Wahrheit gerichtete Forschung - schließlich macht sie sich doch bezahlt!

Damit ist der Wert einer von praktischen Zwecken freien Forschung vom utilitaristischen Standpunkt aus nachgewiesen; sie kann praktische Werte erzeugen, die nur so erreichbar sind. Aber gilt diese Rechtfertigung so allgemein, daß wir uns dabei völlig beruhigen können? Ich bezweifle es. Es gibt eben doch weite Gebiete wissenschaftlicher Arbeit, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach niemals "bezahlt" machen. Es ist z. B. nicht abzusehen, wie die prähistorische Forschung oder - um ein mir näher liegendes Beispiel zu nennen - die psychologisch-statistische Untersuchung der Literatur der Menschheit im angegebenen Sinn des Wortes "nützen" sollen: daß sie jemals zur Erhaltung des Daseins oder zur Förderung des regnum hominis oder zum Sieg einer Nation im Kampf mit anderen Nationen etwas leisten werden, können wir kaum hoffen. Hier versagt also der aus der utilitaristischen Erwägung fließende Trost. Und es erhebt sich immer wieder die Anklage: warum wählt ihr nichts Nützlicheres? Mit welchem Recht führt ihr den Pflug über so wenig ergiebigen Boden, wenn doch fruchtbares Ackerland von euch bebaut werden könnte?

Die zweite Rechtfertigung ruht auf einer ethischen Grundlage. Die einseitige Einschätzung des Wissens nach seiner "praktischen" Bedeutung enthält eine falsche Voraussetzung, nämlich diese: "was nichts nützt, ist nichts wert". Dieser Satz widerspricht den Tatsachen. Neben oder über den praktischen Werten erkennt die Menschheit ideale Werte an - das ist ein unbestreitbares Faktum. Die nutzlose Wissenschaft dient ebensogut wie die nützliche dem Ideal der vollkommenen Humanität. Dieses Ideal zu verwirklichen ist eine von der Menschheit anerkannte sittliche Aufgabe. - Der hiermit festgestellte Zusammenhang läßt sich so begründen: Wir definieren die Humanität im Anschluß an die grundlegenden Bestimmungen PLATOs als eine harmonische Entfaltung all unserer Anlagen unter Führung der Vernunft. Die sittliche Kultur erstrebt kein bloßes Vorherrschen der sympathischen und sozialen Triebe über die egoistischen und die Kampftriebe. Sie will volle Bewußtheit des Handelns, Führung durch die Vernunft, also Grundsätze oder Maximen, die vom Intellekt anerkannt werden. Die Pflege des Erkennens ist daher eine ideale Aufgabe, die ihren Wert nicht aus der Rücksicht auf einen praktischen Nutzen zu entnehmen braucht. Zu demselben Ergebnis gelangen auch die religiösen Bestimmungen der sittlichen Forderungen. So lautet ein bekanntes Wort: "Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist". Dasselbe Postulat formuliert PLATO als "homoionothai theo". Da nun das vollkommenste Wesen seit ANAXAGORAS als allwissend gedacht wird, ergibt sich auch hieraus wieder die Folgerung, daß die reine, um keine praktische Konsequenzen bekümmerte Pflege des Wissens zu den sittlichen Aufgaben gehört, die der Menschheit gestellt sind. Wollte man sich auf das, was im vollen Sinn des Wortes nützlich ist oder einen möglichen Nutzen in Aussicht stellt, beschränken, so würde man diese Aufgabe nicht erfüllen.

Die letzten Erwägungen führen aber schon auf eine dritte, nämlich eine metaphysische Rechtfertigung zu. Wir haben gesagt, vollkommenes Menschentum und damit vollkommene Bewußtheit im Hinblick auf unsere Stellung in der Natur, auf die Beschaffenheit dieser Natur und auf unseren eigenen Aufstieg aus der Natur zur Kultur ist hier eine ideale Aufgabe. Manchen wird es genügen, hierbei stehen zu bleiben. Aber es erhebt sich doch noch einmal die bange Frage. Wozu dieses Streben? Betrachtet man die kraftlose Arbeit am Fortschritt der Kultur - hier also der intellektuellen Kultur - rein erfahrungsmäßig, bleibt man dabei "innerhalb der Grenzen der Humanität", so kommt man zu einem Schluß, der wenig befriedigt. Denn der Fortschritt der Kultur, an dem wir arbeiten, kann nach allem, was wir wissen, nicht dauernd sein. Wie der Einzelne altert und stirbt, so altern und sterben die Völker, so wird auch die Menschheit einmal, wenn die Lebensbedingungen auf der erkaltenden Erde fehlen, zugrunde gehen. Mag es auch unberechenbar lange dauern, einmal wird die Menschheit sterben. Dem ermüdeten Kämpfer gleiten die Waffen, mit denen der Sieg des Geistes über die Natur errungen wurde, aus der erstarrenden Hand, die Natur verschling in einem eisigen Grab das Leben, das ihr entsprungen war, mit ihm erlöscht die strahlende Flamme der Wissenschaft, und auf der öden Oberfläche des Planeten ist es, als ob nichts gewesen wäre.

Man fragt sich also: wozu das Weiterkämpfen und Vorwärtsstreben, wenn das letzte Ziel ein alles verschlingender Abgrund ist? Ich habe das eine "bange" Frage genannt. Es gibt Naturen, die solche Stimmungen nicht in sich aufkommen lassen. Sie werden mit einem tapferen Entschluß sagen: "Wohlan! wir ringen uns mit den Waffen des Intellekts hinauf auf die Sonnenhöhe der Kultur und suchens uns möglichst lange auf dieser Höhe zu erhalten. Mag dann der Untergang kommen, wenn es sein muß - die Menschheit kann im Sterben dennoch befriedigt sein; sie besaß es doch einmal, was so köstlich ist." Aber nicht alle Menschen vermögen sich in dieser Weise von einem trostlosen Eindruck loszureißen, den ihnen das Leben innerhalb der Grenzen der bloßen Humanität macht. Solche Naturen können eine Stütze nur in der Metaphysik finden, sei es, daß es sich für sie um die metaphysischen Unterlagen einer bestehenden Glaubensgemeinschaft handelt, sei es, daß sie ihre Zuflucht in einer unabhängigen philosophischen Weltanschauung suchen. In beiden Fällen stoßen wir auf eine gemeinsame Grundüberzeugung, nämlich den Glauben an übermenschliche Zwecke. Wenn das Leben der Menschheit umfassenderen geistigen Zusammenhängen angehört, dann kann man hoffen, daß die Kulturarbeit, auch wenn sie, mit einem irdischen Maß gemessen, wieder ins Nichts versinkt, doch nicht umsonst getan ist.

Ein solcher Glaube kann sehr unbestimmt und völlig frei von egoistischen Motiven sein. Er bedarf z. B. nicht notwendig der Annahme einer persönlichen Fortdauer. Man kann sich das dadurch klar zu machen suchen, daß man von einer einzelnen Vorstellung in einer einzelnen Seele ausgeht. Ein guter oder böser, schöner oder häßlicher Gedanke steigt in der Seele auf, erreicht die Höhe des Bewußtseins und sinkt wieder ins Unbewußte hinab. Er ist als solcher tot und unwiederbringlich dahin; vielleicht regt sich auch niemals eine Erinnerung an den vergangenen. Aber er ist dagewesen und hat in einem Zusammenhang des Seelenlebens gewirkt und wirkt immer noch nach, wenn er längst versunken ist. die Seele würde nicht dieselbe sein, wenn er nicht dagewesen wäre. So verhält es sich in einem größeren Maßstab auch mit der einzelnen Seele selbst. Auch sie taucht aus einem unerforschlichen Dunkel empor, erhebt sich auf die Höhen des Daseins und sinkt wieder ins Dunkel zurück. Aber sie hat auf die Menschheit gewirkt, und diese wäre nicht ganz dieselbe, wenn die Seele nicht existiert hätte. So könnte es sich auch mit der ganzen Menschheit und ihrer Kulturarbeit verhalten. Sie entsteht und blüht und reift und stirbt. Aber sie gehört irgendwie einem dauernderen Konnex übermenschlicher Zwecke an, und dieser Konnex - vielleicht ist auch er nur der "Saum des Kleides" - würde nicht ganz derselbe sein, wenn nicht das Ringen der Menschen um eine Bewußtheit des Daseins gewesen wäre.
LITERATUR - Karl Groos, Nutzlose Wissenschaft,Internationale Zeitschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, 6. Jhg. Nr. 7, Berlin 1912