ra-2R. LazarsfeldM. Rumpfvon Kirchmannvon RümelinF. DahnE. Müller    
 
ANDERS VILHELM LUNDSTEDT
(1882-1955)

Die Unwissenschaftlichkeit
der Rechtswissenschaft

[1/3]

"Steckte in der vernunftlosen Phrase von der Notwendigkeit der Neutralität des Staates im Kampf zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein realer Gedankenkern, dann müßte sie fast jede sogenannte soziale Gesetzgebung ausschließen. Sich den Staat als einen dritten, neben Arbeiter und Unternehmer vorhandenen Faktor zu denken, ist logisch unmöglich. Denn was würde wohl vom Staat übrig bleiben da, wo man die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer eliminierte, das heißt, wo Erzeugung wie Umsatz der Güter weggedacht wären? Nichts als Ödland und tote Existenz! Der Staat ist ja nichts als eine Bezeichnung der ganzen Gesellschaftsorganisation. Abstrahiert man von Unternehmern und Arbeitermassen, dann ist diese Organisation in demselben Augenblick undenkbar. Woraus sich ergibt, daß es neben Arbeitgebern und Arbeitnehmern keinen dritten Faktor, etwa den Staat, geben kann."

"Legt man alle mystischen Vorstellungen ab und betrachtet man den Gesetzgeber nicht als eine übernatürliche Kraft, sondern als einen in der Menschenwelt existierenden Faktor, dann versteht man, daß das Gerede von einem Anspruch der Rechtsordnung (oder der Gesellschaft oder des Gesetzgebers) nur hohle Phrase bleiben muß ... Ohne den Zuzug abergläubischer und wortmagischer Vorstellungen können die bloßen Worte des Gesetzgebers - mögen sie nun auf dem Papier noch so sakral formuliert sein - so wenig den Charakter eines Anspruchs in irgendeinem realen Sinn des Wortes annehmen, wie irgendein beliebiger privatpersönlicher Ausdruck imperativen Sinnes einen solchen Charakter haben könnte."


Der Rechtspositivismus
und das Rechtsbewußtsein


Das unvernünftige des Versuches, subjektive Rechte
auf dem Weg Rechtspflichten aus Rechtsnormen abzuleiten.


Die Sinnlosigkeit des
Begriffs der Rechtswidrigkeit

Infolge der Ausbreitung des Rechtspositivismus dürfte man jetzt gewöhnlich annehmen, daß wenigstens gewisse subjektive Rechte durch das rechtliche Gebot oder Verbot entstehen. Durch einen solchen Imperativ soll unmittelbar eine Rechtspflicht geschaffen werden. Falls nun diese Rechtspflicht ein Verhalten zugunsten bestimmter einzelner Personen einschließt, soll der Imperativ auch ein subjektives Recht dieser letzteren erzeugen. Soweit die Grundlage der subjektiven Rechte und Rechtspflichten in diesen rechtlichen Imperativen bestehen soll, ergibt sich ihre Nichtexistenz nicht nur daraus, daß es solche Imperative, wie wir soeben gesehen haben, nicht gibt, sondern auch daraus daß, wie schon SIGWART (1) dargetan hat, der Imperativ nur eine einfache Tatsache sein kann. Der Imperativ ist keinerlei Urteil darüber, daß ich befehle oder daß dir befohlen wird. Er ist nur ein Faktum, das vielleicht vom Befehlsadressaten erfahren wird und ihn möglicherweise beeinflußt. Mit der Konstatierung dieses Faktums ist der ganze Sachverhalt erschöpft. Daher ist es logisch ausgeschlossen, eine Analyse vorzunehmen. Eine solche müßte inhaltslos bleiben, weil es nichts zu analysieren gibt. Deshalb kann sich die Jurisprudenz in ihren Imperativtheorien natürlich nicht mit der Feststellung dieser bloßen Befehlssituationen begnügen, sondern  schmuggelt  indieselben das  Urteil  über eine besondere Wirkung des Imperativs  ein, das Urteil, daß dem Adressaten befohlen sei,  sowie daß  dadurch  für ihn eine  Pflicht  und für einen anderen ein entsprechendes  Recht enstehe.  Damit hat man aus einem  erdichteten  Imperativ etwas ganz außerhalb eines Imperatives Liegendes fabriziert, nämlich die Urteile, teils daß einer Person befohlen sei, teils daß diese nun eine Pflicht und ein anderer ein Recht habe. Es liegen also bereits drei Irrtümer vor. Aber damit ist das Sündenregister der Imperativtheorie keineswegs erschöpft. Diese Theorie behauptet nämlich, daß der "Imperativ" - wenn wir nun die unrichtige Annahme machen, daß diese "Imperative" überhaupt existieren -diese Wirkung auch in dem Falle habe, in welchem er  in concreto,  d. h. für den Befehlsadressaten, überhaupt unmöglich vorhanden sein kann. Mit anderen Worten: man sagt, daß auch jemandem, der gar keine Kenntnis von diesem Imperativ erhalten hat und also vernünftigerweise nicht von ihm betroffen sein kann, gleichwohl befohlen und durch den Befehl eine Verpflichtung auferlegt worden sei. Natürlich macht die Imperativtheorie auch keinen Unterschied, ob die ganze moralische Einstellung des Befehlsempfängers dem "befohlenen" Verhalten direkt widerspricht oder ob das nicht der Fall ist. Aber Pflicht verliert ja allen Sinn ohne ein Pflicht gefühl.  Hieraus folgt, daß im ersteren Fall unmöglich eine Pflicht als Folge des "Befehls" entstehen könnte. Allerdings hat die Rechtswissenschaft hier versucht, sich durch Einführung einer "objektiven Pflicht" zu helfen. Aber das ist eine reine Gedankenlosigkeit, denn der Pflichtbegriff ist unmöglich, wenn er sich nicht auf das Pflicht gefühl  bezieht. daß aber etwas  objektiv  ist, bedeutet ja gerade, daß es unabhängig von unseren Gefühlen existiert. (2) Von objektiver Pflicht zu sprechen, ist deshalb dasselbe, wie zu sagen, daß das Subjektive objektiv sei, d. h. daß etwas der konträre Gegensatz von sich selbst sei. "Objektive Pflicht" ist deshalb nur eine sinnlose Wortzusammenstellung, durch die man sich nicht täuschen lassen darf, wie sehr sie auch den bescheidenen Ansprüchen der Jurisprudenz an gedankliche Klarheit genügen mag.

Damit haben wir bei ein und derselben Theorie bereits nicht weniger als fünf voneinander verschiedene Unrichtigkeiten festgestellt. Erstens soll der Imperativ eine vom Gesetzgeber gesetzte historische Tatsache sein. Das ist falsch. Ferner soll der Imperativ, dessen Existenz zu Unrecht angenommen wird, über sein Dasein als Faktum hinaus bedeuten, daß den Adressaten "befohlen" ist und daß sie hierdurch verpflichtet und andere berechtigt sind. Beide Sätze sind unlogisch. Viertens ist es eine besondere Sinnlosigkeit, daß der Imperativ jemanden verpflichten soll, der ihn gar nicht vernommen oder nicht verstanden hat. Fünftens könnte der Imperativ nur bei einem Teil derer, die ihn aufgefaßt haben, eine Pflicht erzeugen, nämlich bei denen, deren moralische Einstellung mit der des Gesetzgebers übereinstimmt oder doch jedenfalls so ist, daß die Gebote des Gesetzgebers ihnen moralischen Respekt abnötigen.

Die Phantasie von den rechtlichen Imperativen hat zur Aufstellung des unglückseligen Begriffes der  Rechtswidrigkeit  geführt, der in der nordischen Rechtswissenschaft seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in besonderer Weise gepflegt wird. (3) Durch diesen sind das Strafrecht und das Schadensersatzrecht in eine besondere scholastische Begriffszwangsjacke eingezwängt worden. Die "Rechtswidrigkeit" der Handlung soll nämlich die Voraussetzung für ihre Strafbarkeit sowie für Schadensersatzzwang bei "unerlaubten Handlungen" bilden. Der Gedankengang ist kurz folgender. Delikte und "unerlaubte Handlungen" erhalten ihren rechtlich bedeutsamen Charakter dadurch, daß sie rechtlichen Verboten oder Befehlen des Staates widerstreiten. Solche Verbote oder Befehle erzeugen - da sie vom Staat ausgehen, der autoritative Macht über den einzelnen hat - eine rechtliche Pflicht für diesen, ihnen gemäß zu handeln. Der Ungehorsam gegen den rechtlichen Imperativ, die Rechtswidrigkeit, ist also zugleich die Verletzung einer Rechtspflicht gegenüber dem Staat. Diese Pflichtwidrigkeit soll die Strafe und den Schadensersatzzwang  rechtfertigen,  die also in der Schuld des Täters einen inneren Rechtfertigungsgrund haben müssen. In dieser Weise soll die Rechtswidrigkeit eine notwendige Voraussetzung der Strafbarkeit und des Schadensersatzzwang in den genannten Fällen sein. Diese Auffassung ist reiner Unsinn, wie nun in folgenden Punkten nachgewiesen werden soll. (4) Wenn in diesem Zusammenhang von Schadensersatzzwang gesprochen wird, so meine ich natürlich nicht Schadensersatzzwang bei sogenannten rechtmäßigen Handlungen, ein Begriff, der doch in Nordeuropa eine ganz andere und größere Rolle als anderswo spielt. (5)

1. Zunächst muß ich Einspruch erheben dagegen, daß die Gemeinschaft und das Individuum derart einander gegenübergestellt werden. Diese Gegenüberstellung kehrt ja in den juristischen Systemen beständig wieder. Überdies spricht man wie von Rechten der Gemeinschaft im Verhältnis zum Individuum auch vom Recht des Individuums im Verhältnis zur Gemeinschaft. Man meint offenbar, die Gemeinschaft sei eine Größe für sich mit ihrer eigenen, abgegrenzten Rechtssphäre und die Individuen ihrerseits hätten ihre gegenüber der Gemeinschaft fest umrissene Rechtssphäre. Betrachten wir diese Frage aber einmal genauer. Schließlich ist ja die Gemeinschaft nichts als eine Organisation von Individuen, aus denen die Gemeinschaft besteht. Verschwinden die Individuen, so verschwindet auch die Gemeinschaft. Ebenso, wie es unmöglich ist, das Gesamte seinen einzelnen Teilen anders denn in einer - jeder Realitätsmerkmale baren - Einbildung gegenüberzustellen, ebenso unmöglich ist es, die Gemeinschaft den Individuen gegenüberzustellen. Das bedeutete einfach eine logische Unmöglichkeit. Daraus folgt aber auch, daß das Gerede, die Individuen hätten Rechte gegenüber der Gemeinschaft, jeder realen Grundlage entbehren muß. Das irrtümliche Räsonnement nimmt aber besonders komische Gestalt an, wenn man erwägt - was im vorhergehenen entwickelt ist - daß der Begriff des subjektiven Rechts in Wirklichkeit nichts anderes sein kann als der Inbegriff sozusagen gewisser Folgeerscheinungen, die dem Einzelnen daraus erwachsen, daß er dieser Gemeinschaft angehört, das heißt: eine gewisse sichere Position, die einer Person aus der Aufrechterhaltung des Rechtsgetriebes erwächst und zwar besonders durch den Druck, den diese Aufrechterhaltung auf das Verhalten anderer ausübt. Da somit das, was unter subjektivem Recht verstanden wird, nur verschiedene Vorteile bedeutet, die dem einzelnen  dank dem gemeinschaftlichen Rechtsgetriebe  zukommen, ist es ganz besonders komisch, von seinen Rechten zu reden, die ihm  gegen  die Gemeinschaft zustünden: die Gemeinschaft sollte  gegen sich selbst  die zwingende Kraft spielen lassen, deren Auslösung dem subjektiven Recht der Individuen Bestand verleiht! - Man mag sich ja der Bequemlichkeit halber im täglichen Leben solcher Ausdrucksformen wie vom Recht des Staates gegenüber dem Individuum und umgekehrt unbeschadet bedienen. Nur muß man sich dabei dessen bewußt sein, daß diese Ausdrucksformen falsch sind, so daß da auf sie nicht abgestellt werden kann, wo man etwas auf seine Realität untersuchen will. Dies übersehen, wächst sich zu praktisch großen Bedenklichkeiten aus. Als Jllustration dessen sei die in Schweden vor kurzem aktuelle Diskussion über die Frage der Arbeitslosenversicherung herangezogen. Diese Erörterung ist mit der vernunftlosen Phrase von der "Notwendigkeit der Neutralität des Staates im Kampf zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber" verdreht worden. Steckte in so einer Phrase ein realer Gedankenkern, dann müßte sie fast jede sogenannte soziale Gesetzgebung ausschließen. Sich den Staat als einen dritten, neben Arbeiter und Unternehmer vorhandenen Faktor zu denken, ist logisch unmöglich. Denn was würde wohl vom Staat übrig bleiben da, wo man die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer eliminierte, das heißt, wo Erzeugung wie Umsatz der Güter weggedacht wären? Nichts als Ödland und tote Existenz! Der Staat ist ja  nichts  als eine  Bezeichnung  der ganzen Gesellschaftsorganisation. Abstrahiert man von Unternehmern und Arbeitermassen, dann ist diese Organisation in demselben Augenblick undenkbar. Woraus sich ergibt, daß es neben Arbeitgebern und Arbeitnehmern keinen dritten Faktor, etwa den Staat, geben kann. (6)

2. Faktisch bestehen keinerlei rechtliche Imperative gebietender oder verbietender Art. Derartige Normen können gedanklich gar nicht erfaßt werden, ohne daß ein Wille bestände, der verböte oder geböte. Nach einem solchen Willen ist von juristischen Autoren wiederholt geforscht worden, in Wirklichkeit aber konnten sie ihn nicht erforschen. Als ob aber juristische Autoren an die Realität gebunden war oder sich bänden! Wo die Realität ihren Untersuchungen nicht paßt, wird sie auf dem Papier einfach zusammengedichtet, um dem, wonach geforscht wird, konform zu werden. Die Jurisprudenz verspürt nun einmal, insofern sie einigermaßen konsequent zu verfahren wünscht, das unerläßliche Bedürfnis nach einem imperativen Willen in der Gemeinschaft, von dem aus sich diese rechtlichen Normen ableiten ließen. Die Annahme vom Nichtvorhandensein eines solchen Willens würde den Zusammenbruch der eigentlichen Fundamente des scholastischen Gerüsts der Rechtswissenschaft mit sich bringen. Unter dem Druck derartig vitaler Konsequenzen ist eine fiktiv-imaginäre Säule dieses unerläßlichen Willens nach der andern konstruiert worden. Daran, daß eine solche Säule existiert, wagt man nicht zu zweifeln. (7) Nur über die Beschaffenheit lassen zahllose Kontroversen aus und dem wird so sein bis zum jüngsten Gericht. Zu diesem Gegenstand muß ich im weiteren auf HÄGERSTRÖMs schon oben und noch ausführlicher unten berührte Untersuchungen verweisen. Vorläufig hier nur noch folgende allgemeine Bemerkung zu dieser Frage. Die Phantasien von den Rechtsnormen der Gesellschaft bilden eine  äußerst  primitive Vereinfachung einer übermäßig komplizierten Maschinerie, die sich während vieler Jahrtausende aufgebaut und fortentwickelt hatte. Jedes friedliche  Zusammenleben mehrerer  Menschen setzt unbedingt die Aufrechterhaltung  gewisser sog. Regeln  für das Verhalten von Mensch zu Mensch voraus. Zudem muß man sich vergegenwärtigen, daß im Kampf gegen die Naturkräfte der einsame Mensch zugrunde ginge. Damit hängt natürlicherweise zusammen, daß die Menschen tatsächlich - wie die Erfahrung uns lehrt - sozusagen einen gesellschaftlichen Trieb, einen sozialen Instinkt besitzen. Man kann also sagen, daß die Menschen für eine Gesellschaftsordnung von jeher instinktiv veranlagt oder prädisponiert gewesen sind. Wenn es nun auch dieser soziale Instinkt des Wilden ist, der im Untergrund liegt und die nötige Triebfeder zur Gestaltung der ursprünglichen menschlichen Gesellschaft bildet, so sind es aber doch ganz andere Faktoren, die  unmittelbar  von Anfang an den Inhalt der Verhaltensregeln bestimmt haben und zwar vor allem des Wilden religiöse und andere abergläubische Vorstellungen. Während des solchermaßen zustandegekommenen ursprünglich primitivsten Gesellschaftslebens haben die Menschen jedoch allmählich das Gesellschaftsleben zu entwickeln vermocht. Dies ist eine Entwicklung, die unter ständiger Wechselwirkung zwischen abergläubischen Vorstellungen einerseits und dem Gesamtwohl entsprechenden Rücksichten andererseits vor sich ging. Im Verlauf des derart sich entwickelnden Zusammenlebens der Menschen erwuchs ein  Komplex psychischer Faktoren,  von dem wie von einem Gangliensystem aus unzählige Nervenleitungen gehen, die die Maschinerie der modernen Gesellschaft in Gang halten. In diesem Komplex hat man nun als besonders wichtig den Druck zu beachten, der auf das menschliche Verhalten ausgeübt wird, einen Druck, der - dank einer Menge von Reaktionen, die mit  praktisch  genommen unwiderstehlich konsequenter Gewalt gewissem Verhalten begegnen, das heißt, dank dem Rechtsgetriebe - zustande gebracht wird teils durch bewußte Pflichtgefühle des Handelnden, teils durch gewisse in ihm unbewußt fungierenden Moralinstinkte. Diese letzteren haben ihren unmittelbaren Grund im sozial-psychischen Druck, den die Gesamtheit der Pflichtgefühledes ganzen Milieus auf ein bestimmtes Verhalten ausübt. Soweit die ganze Frage in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, kann sie kurz dahin zusammengefaßt werden: Die Wissenschaft vom Recht glaubt, daß derartige Reaktionen, z. B. Strafe oder Culpa-Schadensersatz, gegen gewisses Verhalten aus Übertretung eines Gebotes, somit aus der Nichterfüllung einer Pflicht sich rechtfertigen ließen. In Tat und Wahrheit verhält es sich aber so, daß diese Pflicht nur aufgrund, somit nur als  Folge  derartiger Reaktionen dasteht und existieren kann. Verwechslung von Ursache und Folge! Dermaßen komisch, wie diese Wissenschaft vom Recht die ganze Frage auf den Kopf stellt, daß die Verbrecher - weit davon, sich gegen gewisse Pflichten vergangen zu haben - im allgemeinen gerade solche Leute sind, bei denen die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung das nötige Pflichtgefühl zu erzeugen und zu erhalten nicht vermocht hat! Ignoriert man, gleich der Jurisprudenz, die grundlegende Einsicht in dieses komplizierte Rechtsgetriebe und geht man dafür von der Phantastik der rechtlichen Imperative aus, dann können die Untersuchungen - mögen sie ansich noch so scharfsinnig sein - nie wissenschaftlichen Wert erreichen. (8)

3. Setzen wir einmal, daß die unter Punkt 1 und 2 erhobenen Einwände nicht bestehen. Dann können die rechtlichen Imperative sich jedoch nur auf die Person beziehen, die die Norm entgegengenommen und erfaßt hat. Also müssen sie auch als nicht vorhanden gelten, falls jemand ihr Vorhandensein nicht bekannt ist. Mithin ist die Ansicht, wonach eine Norm den Anlaß gebildet habe zu jemandes Pflicht, ein gewisses Verhalten zu beobachten, ebenfalls ausgeschlossen. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Einem Kind wird ein bestimmtes Verhalten vorgeschrieben, doch war es nicht imstande, das Gebot zu erfassen. Niemand wird vernünftigerweise behaupten können, daß das Kind zu bestrafen sei  zufolge seines Ungehorsams  gegen das Gebot. Es sei, um jedem Einwurf vorzugreifen, darauf hingewiesen, daß nicht selten eine besondere Rechtskenntnis erforderlich ist, um den Sinn eines vermeintlichen Verbots einer Tat zu erfassen. Diese Sachlage ist mit dem Beispiel des Kindes vollkommen vergleichbar. Wenn dann das Gerede vom Ungehorsam gegenüber einer Rechtsnorm als der Grundlage der Strafe etwas anderes sein soll als eine Art Beschwörungsformel, an die zu rühren aus gewissen geheimnisvollen Gründen Gefahr bringt, so muß doch dieses Gerede zur Voraussetzung haben, daß der Imperativ von demjenigen erfaßt wurde, an den er sich richtete. Indessen ist es ja allgemein bekannt, daß man - von einzelnen Sonderfällen abgesehen - bestraft wird, ganz unabhängig davon, ob man den Sinn eines Gebotes oder Verbotes richtig erfaßt habe oder nicht. Daraus folgt unweigerlich, daß der Strafe etwas  anderes  zugrunde liegt als der Umstand, daß gegen die "Norm" verstoßen wurde. Das Entsprechende gilt selbstverständlich auch beim Zwang, Schadensersatz zu zahlen.

4. Selbst wenn aber jemand eine "Rechtsnorm" mißachtet und sich dabei  ihres Sinnes völlig bewußt  war, kann auch darüber die darauf stehende Strafe nicht begründet werden, etwa so, als ob die  Schuld  des Täters eine gerechte Vergeltung erfahren sollte. Schuld muß ja jemandes Tat voraussetzen, die jemandes Pflicht zuwiderläuft. Einer Rechtsnorm aber zuwiderhandeln, ist etwas für sich und etwas anderes ist es, wenn jemand pflichtwidrig handelt. Denn wer eine Rechtsnorm nicht zu billigen vermag, braucht sich auch keineswegs  verpflichtet  zu fühlen, ihr Gehorsam zu leisten. Nun steht es indessen außer allem Zweifel, daß ein Angeklagter der Strafe nicht zu entgehen vermag, indem er nachweist, daß er die Rechtsnorm nicht billigte, gegen die er verstieß und daß seine moralische Überzeugung nichts ausfindig zu machen wußte, das seiner Tat hätte im Wege stehen können. Infolgedessen ist auch zu verstehen, daß von Vernunft wegen die Tatsache, daß eine Tat der Norm zuwiderläuft, nicht ausreicht, um die Strafe aus moralischer Grundlage heraus zu rechtfertigen. Den Täter braucht ja nicht einmal im Fall eines  bewußten Verstoßes  gegen die in Betracht kommende "Rechtsnorm" eine moralische Schuld zu treffen. Das Gesagte bezieht sich natürlich auch auf den Zwang zum Schadensersatz.

5. Die beiden unter Punkt 3 und 4 erhobenen Einwände sind juristischen Autoren zwar nicht entgangen, doch glauben diese, sie wegargumentieren zu können. Man beruft sich auf den Begriff der  Rechtspflicht  und behauptet, sie sei, wo nicht subjektiv vorhanden, doch immer objektiv existent. In den unter Punkt 3 und 4 erwähnten Fällen meint man nun, daß der Täter eine  objektive Rechtspflicht  verletzt habe. Eine solche könne da sein, auch wenn der Täter die Norm nicht gekannt oder obgleich er sie moralisch mißbilligt habe. Jedenfalls habe er doch einer objektiven Rechtspflicht zuwidergehandelt. So etwas ist indessen eine leere Redensart und zeugt höchstens davon, daß die juristischen Autoren lieber an ihren eingenommenen Positionen um jeden Preis festhalten wollen als den Gegenstand tiefer durchdringen. Was im Hintergrund liegt und die Rechtswissenschaft zu dem Irrtum verleitet, daß die Strafe - wie auch der Schadensersatz wegen "unerlaubter Handlung" - sich auf widerrechtliches Tun gründen lasse, ist ja die Vorstellung, daß sich aus einer Rechtsnorm eine wirkliche Pflicht zum Gehorsam gegen diese Norm ergebe und daß also die  Rechtswidrigkeit  eine  Pflichtverletzung  einbegreift, auf welche die Strafe als eine Reaktion zu folgen habe. Obenhin betrachtet, sieht dieses Räsonnement ganz plausibel aus, vorausgesetzt, daß der Täter die Norm gekannt und erfaßt und sie von seinem moralischen Standpunkt aus gebilligt habe oder sich wenigstens dank der Norm einer Pflicht, ihrer Vorschrift gemäß sich zu verhalten, bewußt gewesen sei. Das Gerede aber vom objektiven Bestand einer Pflicht setzt den Glauben voraus, daß eine Pflichtwidrigkeit dasein könne, ohne daß einem Gefühl von einer Pflicht zuwidergehandelt worden sei. Dann schwebt die scheinbar vernunftgemäße Grundlage jedoch in der Luft. Das Widerspruchsvolle an diesem Argument kann nicht kritisch genug hervorgehoben werden. Etwas sei objektiv, heißt doch, es lasse sich mit Argumenten stabilisieren, die logisch begründet sind, unabhängig von unserem Gefühls- und Gemütsregungen. Allein, das Urteil vom Bestand einer Pflicht  kann  sich, wie jedes andere moralische Werturteil,  nicht  auf Argumente stützen, die logisch begründet sind, sondern beruth auf individuellen Gefühlen, ist also seiner eigentlichen Natur nach das Gegenteil von objektiv, nämlich subjektiv. Das ganze Gerede von  objektiver Pflicht  ist somit bloß eine absurde Kombination zweier Worte, so inhaltslos wie etwa die Bezeichnung "wasserloser Ozean", "trockenes Wasser" oder dergleichen (selbstverständlich nicht zu verwechseln mit einem Ausdruck wie "trockener Sekt", wo "trocken" in einem übertragenen Sinn verwendet wird.) Pflicht ist das  Gefühl  von einem Sollen, das uns gewisse Handlungen begehen oder unterlassen macht. Allerdings ist mit diesem Gefühl jeweils die  Vorstellung  verknüpft, daß die pflichtgefmäße Handlung  objektiv richtig  sei und daß daher  jedermann  dieses Verhalten als Pflicht auffassen solle. Das ist indessen etwas ganz anderes, als daß jedermann dieses Pflichtgefühl wirklich habe. (9)

6. Die Rechtswidrigkeit einer Tat setzt ja voraus, daß die "Rechtsordnung", die  Gesellschaft,  der Gesetzgeber, oder wie man es auszudrücken pflegt, vom Täter das entgegengesetzte Verhalten  verlangt  und  beansprucht.  Ebenso klar ist, daß z. B. die "Rechtsordnung", insofern sie  wirklich  irgendwie fordernd auftritt, als eine  Macht  in Erscheinung treten muß. Dermaßen erscheinen kann sie aber nicht, ohne daß sie ihr Verlangen, ihren Anspruch, durch irgendeine, auf die Übertretung der Rechtsnorm folgende, rechtliche Reaktion gegen den Täter effektiv machen würde. Wie sollte wohl anders ein  Anspruch  der Rechtsordnung, ihren Vorschriften zu gehorchen, stabilisiert werden können, als indem auf die Übertretung einer solchen Vorstellung eine dem Täter nachteilige Reaktion folgte! Legt man alle mystischen Vorstellungen ab und betrachtet man den Gesetzgeber nicht als eine übernatürliche Kraft, sondern als einen in der Menschenwelt existierenden Faktor, dann versteht man, daß das Gerede von einem  Anspruch der Rechtsordnung  (oder der Gesellschaft oder des Gesetzgebers) nur hohle Phrase bleiben muß, wenn man diesen Anspruch auf die  nackte Nomenklatur  des Gesetzes (oder der dahinter steckenden "Normen") abstellt, unbeschadet des Umstandes, ob die Verletzung der Vorschrift irgendeine rechtliche Reaktion auslöse oder nicht. Ohne den Zuzug abergläubischer und wortmagischer Vorstellungen können  die bloßen Worte  des Gesetzgebers - mögen sie nun auf dem Papier noch so sakral formuliert sein - so wenig den Charakter eines Anspruchs in irgendeinem realen Sinn des Wortes annehmen, wie irgendein beliebiger privatpersönlicher Ausdruck imperativen Sinnes einen solchen Charakter haben könnte. Daraus folgt, daß die Entscheidung darüber, ob eine Tat widerrechtlich sei oder nicht, vollkommen bedeutungslos sein muß, wo wir zu unterscheiden haben zwischen einer strafbaren und einer nichtstrafbaren Tat. Um entscheiden zu können, ob eine Tat widerrechtlich sei, muß man ja  schon vorher wissen,  ob sie strafbar sei! Denn wohl verstanden: Man kann die Strafbarkeit einer gewissen Tat nicht mit dem Nachweis feststellen, daß die Tat in bezug auf  andere  rechtliche Reaktionen rechtswidrig sei. Deshalb, weil auf eine Tat die rechtliche Reaktion einer gewissen Art folgt, braucht die Tat sicherlich noch von einer andersartigen Rechtsreaktion heimgesucht zu werden. Mit anderen Worten: Deshalb, weil eine Tat strafbar ist, ist sie selbstverständlich nicht noch anderen Rechtsreaktionen anheimgefallen. Nach welch anderem Rechtsgebiet sollte man sich auch noch umsehen können? Soweit ich zu sehen vermag, nahezu ausschließlich nach dem Schadensersatzrecht! Das heißt: Mit dem Begriff des Rechtswidrigen gelangt man höchstens dahin, daß die Strafbarkeit einer Tat voraussetzt, daß die Tat auch Zwang zu Schadensersatz nach sich ziehe. Dagegen erheben sich freilich mannigfaltige Einwände. Indessen kann ich mich auf folgende zwei Punkte beschränken. Ist der Schaden - wie dies hier der Fall sein muß - die Folge kriminellen Verhaltens, dann wird ja die  Schadensersatz-Reaktion selbst  von der Jurisprudenz doch auf die Rechtswidrigkeit der Tat gegründet! Im weiteren ist es bei zahlreichen Verbrechen unmöglich, von Schadensersatzpflicht zu reden oder überhaupt von irgendeiner anderen rechtlichen Reaktion, als die Strafe es ist. Aus dem vorher Gesagten ergibt sich, daß die Rechtswidrigkeit einer Tat als Determinante ihrer Strafbarkeit nichts anderes bedeutet, als den völlig inhaltslosen Gedanken von der Strafbarkeit der Tat. So drehen sich diese juristischen Theorien in einem ewigen Kreislauf herum. Strafbarkeit setzt Rechtswidrigkeit voraus. Rechtswidrigkeit kann aber in irgendeiner realen Hinsicht betrachtet nichts anderes bedeuten als Strafbarkeit. - Genau dasselbe trifft in bezug auf den Zwang zum Schadensersatz wegen "unerlaubter Handlung" zu. Es wäre vollständig unsinnig, nach der Strafbarkeit der Handlung oder anderen rechtlichen Reaktionen auf dieselbige zu forschen, um ihre Rechtswidrigkeit festzustellen. Gewisse krampfhafte Versuche, die in einer solchen Hinsicht in der nordischen Rechtsliteratur geleistet wurden, sind zu lächerlich, um näher aufgeführt zu werden. Die Rechtswidrigkeit der Handlung als Voraussetzung des Zwangs zum Schadensersatz setzt den Zwang zum Schadensersatz voraus!

Alle diese sechs Einwände gegen die Anwendbarkeit des Rechtswidrigkeitsbegriffs gelten ebensowohl bei Strafe als auch bei Schadensersatzzwang. Gegen die Basierung des  Schadensersatzzwangs  auf die Rechtswidrigkeit lassen sich jedoch noch zwei  weitere  wichtige Gesichtspunkte anführen.

7. Der Schadensersatz ist faktisch eine Zahlung  an den Geschädigten, nicht an den Staat.  Aber durch das rechtswidrige Verhalten sollen ja die "Verbote und Befehle" des Staates übertreten werden. Folglich muß dieser durch dasselbe verletzt worden sein. Daher müßte der Schadensstifter zur Leistung an den Staat, nicht an den Geschädigten, verpflichtet sein. Die Jurisprudenz würde hier vielleicht einwenden, daß der Staat kraft seiner Souveränität eine  cessio legis  [Forderungsübertragung kraft Gesetz - wp]anordnet, derzufolge die Zahlung an den Geschädigten, statt an die Staatskasse erfolgen müsse. Aber das ließe sich niemals sachlich begründen, sondern wäre zu jenen leeren Konstruktionen zu rechnen, die keine andere Bedeutung haben, als den Lehren der Jurisprudenz einen  Schein  von Logik zu verleihen. Man würde damit eine besondere magische Kraft der "Souveränität" voraussetzen. Eine solche Konstruktion unterliegt denselben Einwänden, wie sie nachstehen gegen den Gedanken erhoben werden, daß der sogenannte Berechtigte bevollmächtigt sei, die Befehlsgewalt des Staates auszuüben. Außerdem müßte man die fragliche Konstruktion noch in besonderer Weise verrenken, um erklären zu können, warum sich der Zahlungszwang nach der Größe des Schadens richtet.

8. Der Schadensersatzzwang bestimmt sich faktisch im allgemeinen nur nach der Größe des Schadens. Hätte die Rechtswidrigkeitskonstruktion eine reale Bedeutung, so müßte sich der Schadensersatz - analog der Strafe - nach dem Grad der "Pflichtwidrigkeit", nach dem Grad der "Schuld" des Schadensstifters richten. (10)

Zum Schluß ist zu beachten, daß es gleichgültig ist, ob diese ungeschriebenen Normen, die als Begründung der Strafe und des Schadensersatzes herhalten sollen, einer, wie im vorausgehenden angenommen ist, rechtlichen Natur wären oder bloß moralischer, wie ab und zu behauptet wird. Selbst wenn dem so wäre, muß der oben erwähnte Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Individuum doch unhaltbar sein. Auch das Willenssubjekt dieser mystisch-moralischen Normen läßt sich nicht ausfindig machen. Im weiteren muß sich die Annahme, daß die Strafe oder der Zwang zu Schadensersatz als Vergeltung der Verletzung einer bloß moralischen Norm rechtfertigen, logischerweise zum Freispruch des Untäters führen, sobald sich seine Unkenntnis der Norm oder der Mangel einer moralischen Abneigung gegen die Untat herausgestellt haben. Ebenso bleiben die Gründe unter den Punkten 7 und 8 gültig. Mit der fraglichen Annahme wird freilich der unter Punkt 6 kritisierte Trugschluß vermieden. Denn der charakteristische Unterschied zwischen moralischen und rechtlichen "Regeln" soll ja gerade darin bestehen, daß diese mit einer von außen her wirkenden Kraft erzwungen werden, jene aber nicht. Gerade dadurch würde jedoch die Annahme von Normen nur moralischer Art zur  unumwundenen  Anerkennung führen, daß die Norm nicht mehr bedeutete, als irgendeine privatpersönlich-imperative Äußerung. Gerade um zu vermeiden, daß die "grundlegenden Normen" solchermaßen blutleer bleiben, ist man ja auf den Gedanken gekommen, sie als "rechtliche" darzustellen.

Der Vollständigkeit halber wäre noch mit Rücksicht auf das Strafrecht zu erwähnen, daß man sich selbstverständlich aus dem Netz all dieser absurden Vorstellungen nicht befreien kann, wenn man geradezu auf das positive Strafrecht als der Grundlage der Strafe abstellt. Jeder derartige Versuch bedeutet, die Strafe, das ist das Postulat, aus sich selbst erklären, sie also nicht erklären. In der Tat findet sich ein derartiger Irrtum manchmal in der Strafrechtslehre, indem die Strafe vom Strafgesetz unterschieden wird, als ob letzteres Grund oder Ursache der ersteren wäre. Wo sich doch ein geltendes Strafgesetz getrennt von der Strafe gar nicht denken läßt! Der Begriff der Strafe ist eben mitenthalten in unserer Vorstellung von einem Strafgesetz als einem in Kraft befindlichen Recht. Daß zwischen Strafrechtsordnung und Strafe unterscheiden zu wollen, absurd ist, erhellt sich zudem besonders aus der Erörterung der ganzen, hier zu Diskussion stehenden Frage. Es handelt sich ja gerade darum, die Tatsache zu erklären oder zu "rechtfertigen", daß sich das Individuum dem Strafübel zu unterwerfen hat. Eine derartige Erklärung muß doch offenbar identisch sein mit derjenigen, durch die die  Aufrechterhaltung einer Strafrechtsordnung  motiviert werden kann. (11)

Auf diesem Verhältnis beruth, daß den weniger oberflächlichen Strafrechtslehrern kein anderer Ausweg mehr übrig blieb, als die Flucht zur Annahme von diesen  hinter  dem ganzen Strafgesetz liegenden ungeschriebenen Normen. Nicht eine einzige der zahlreichen Varianten dieser Normentheorie dürfte vor den obigen Ausführungen bestehen bleiben können. So ist, um nur einen Fall herauszugreifen, die Polarität, die auf diesem Gebiet zwischen einem BINDING und einem von LISZT besteht, in dieser Hinsicht ganz ohne Belang. Bemerkt sei nur, daß von LISZT hier besonders scharf  zwei  Grundbegriffe hervorhebt, die "Norm" und das "Rechtsgut". (12) Dieser letztere Begriff kann selbstverstänlich nichts daran ändern, daß das Operieren mit der Norm als einem Grundbegriff dem zuvor Gesagen zufolge falsch sein muß. Glaubt man, daß eine Normentheorie dank der Heranziehung des Rechtsgut-Begriffes in irgendeiner Weise verbessert werden könne, irrt man sich jedoch gründlich. Denn was man noch in die Zugrundelegung hineingezogen hat, ist das buchstäbliche -  Nichts.  Das "Rechtsgut" ist nämlich das "rechtlich geschützte Interesse", also JHERINGs "subjektives Recht", das, wie ich oben gezeigt habe, durchwegs ein Phantasiebegriff ist. Man nehme sich doch wieder einmal das Eigentum vor. Dieses "Recht" ist nur eine gewisse Seite der Tatsache, daß eine Menge Regeln durchgeführt werden. Von größter Bedeutung unter diesen Regeln sind in dieser Hinsicht die Straf- und Haftungsbestimmungen über Raub, Diebstahl, Unterschlagung, Gebrauchsanmaßung, Sachbeschädigung und so fort. Erst  durch die Aufrechterhaltung  des Strafrechts (und des Schadensersatzrechts) erhalten somit die "Rechtsgüter" ihre Konsistenz. Wie sollte da das "Rechtsgut" einen Grundbegriff des Strafrechts abgeben können!

Schließlich mag erwähnt werden, daß auch die letzte mir bekannte Arbeit auf diesem Gebiet die hier kritisierte Anschauungsweise vertritt. (13) Es liegt dem betreffenden "modernen" Verfasser sogar viel daran, in wesentlichen Stücken seine Übereinstimmung mit der BINDINGschen Scholastik hervorzuheben. In diesem Zusammenhang dürfte es genügen, dies zu erwähnen. (14)


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Soviel an dieser Stelle über die "Rechtswidrigkeit" (15). Indessen gibt es nun auch sehr angesehene Autoren, welche die Theorie, daß die Rechtsnormen Imperative seien, ablehnen. Zu diesen gehört ein so berühmter Rechtslehrer wie ZITELMANN. Unter Berufung auf SIGWART hebt ZITELMANN hervor, daß der Imperative "ein individuelles und unübertragbares Moment" enthalte. Die Rechtsnormen könnten jedoch schon aus dem Grund keine Imperative sein, weil sie  allgemeine  Gültigkeit hätten. Sie seien Urteile und die Verwechslung beruhe auf einem zufälligen Sprachgebrauch, der es ermögliche, den Imperativ, wenig korrekt, in Urteilsform auszudrücken (statt "töte nicht!" sagt man bisweilen "du sollst nicht töten!"). Daß die Rechtsnorm kein Imperativ sei, gehe daraus hervor, daß sie sich stets formulieren lasse: "Du bist verpflichtet", während eine solche Umschreibung des Imperatives niemals möglich sei. Jede Rechtsnorm sei "ein Urteil, und das Eigentümliche hat dieses Urteil, daß die Synthese der Begriffe in ihm bloß deshalb gültig ist, weil der Gesetzgeber es will: der Gesetzgeber hat die Macht, durch seinen Willen dem Subjekt (Du) ein Prädikat (Verpflichtetsein) beizulegen, das dem Subjekt vorher nicht zukam; im Aussprechen der Norm vollzieht mithin der Gesetzgeber zu gleicher Zeit die Verknüpfung der Tatsachen in Wirklichkeit, welche er zugleich im Urteil als verknüpft ausspricht." (16) Welche wunderbare Kraft muß der Gesetzgeber besitzen! Sein Wille wird durch das  Aussprechen  desselben  realisiert!  Das Urteil, daß ein gewisses Prädikat mit einem Subjekt verknüpft sei, soll dadurch  wahr  werden, daß es vom Gesetzgeber  ausgesprochen  wird. Das ist ja die reine Wortmagie. (17) "Es werde Licht! und es ward Licht." - Daß ZITELMANNs Lehre nicht mit der Metaphysik in bezug auf das subjektive Recht bricht, ist hiernach klar. Hieraus folgt auch, daß er historisch-positivistische Standpunkt in keiner Weise dadurch aufgebessert werden kann daß man die Imperativtheorie durch ZITELMANs Lehre ersetzt.

Der Vollständigkeit halber sei auch an die vielfach (z. B. von WINDSCHEID) vertretene Ansicht hingewiesen, wonach die Imperative des Gesetzgebers in der Weise Rechte gegen die Befehlsadressaten begründen, daß die Berechtigten  ermächtigt werden, die Befehlsgewalt des Staates  gegenüber den Befehlsadressaten  auszuüben.  Gegen eine solche Konstruktion sei über das bereits Gesagte hinaus noch bemerkt, daß hierbei eine weitere Schwierigkeit übersehen wird, nämlich die Frage, woher diese Ermächtigung ihre rechtliche Wirkung erhalte. Mit anderen Worten: man scheint bei dieser Konstruktion zu überseen, daß sie mit einer Rechtskategorie, der Ermächtigung, arbeitet, deren Grund seinerseits unerklärt bleibt. Ich vermute jedoch, daß die Vertreter dieser Ansicht durch diesen Einwand nicht in Verlegenheit gesetzt werden, sondern rasch mit der Antwort bei der Hand sein werden: Kann der Gesetzgeber befehlen, so kann er auch ermächtigen. Aber eine solche Analogisierung ist nicht zu billigen, nicht einmal von dem Standpunkt aus, den die Jurisprudenz selbst in bezug auf den Befehl einnimmt. Von diesem, allerdings ganz unbegründeten, Standpunkt aus besteht die besondere Realität, daß den Menschen befohlen ist und daß sie damit  verpflichtet  sind. Aber die Ermächtigung einer Person dürfte, auch wenn man die Anschauung der Jurisprudenz selbst zugrunde legt, bedeuten, daß die Handlungen gewisser Personen eine besondere Rechtswirkung erlangen teils aufgrund vorliegender Tatsachen, teils infolge (der Aufrechterhaltung) einer Rechtsregel, nach der beim Vorliegen dieser Tatsachen die Handlung der fraglichen Person faktisch die besondere Rechtswirkung hat. Damit entsteht dann die Frage, woher sich diese Rechtsregel ableitet, eine Frage, welche die Jurisprudenz bisher unbeantwortet gelassen hat. Kehren wir indessen zu der vermuteten Erklärung zurück - die wohl in WINDSCHEIDs Anschauung enthalten ist -, daß der Gesetzgeber ebensogut ermächtigen könne, wie er zu befehlen vermöge. Hiernach würde der Grund für die Rechtserscheinungen einfach und leichtverständlich in der Macht des Gesetzgebers liegen. Dann sollte aber die ZITELMANNsche Wortmagie zur ständigen Losung der Rechtswissenschaft erhoben werden und der Umweg über Imperativtheorien wäre ganz überflüssig.

Aber sehen wir einen Augenblick von der nachgewiesenen Unmöglichkeit ab, das Recht im Willen des Gesetzgebers zu begründen und betrachten wir BERGBOHMs Ansicht einmal von einem neuen Standpunkkt. Gehen wir einen Augenblick von der - freilich unmöglihen - Annahme aus, daß gewisse "Gemeinschaften" durch ihre "Willensorgane und sonstige Instanzen" wirklich Recht setzen, wirklich "Rechtszeugnisse", diese "formellen Rechtsquellen", schaffen  wollten.  Wie könnten sie dann die nötige  Macht  besitzen, um, wie BERGBOHM es nennt, "materielle Rechtsquellen" zu sein,  wenn nicht  die ganze Rechtsmaschinerie aufrechterhalten würde? Die einzelnen Rechtsregeln werden leere Worte, wenn sie gedanklich von der Rechtsorganisation als Ganzem isoliert werden. Die Wirkung eines neuerlassenen Gesetzes setzt in erster Linie voraus, daß dasselbe dem Rechtssystem einverleibt werde, d. h., daß es wie andere entsprechende Gesetze von der Staatsanwaltschaft, den Gerichten, Vollstreckungsorganen und eventuell anderen Behörden respektiert und befolgt werde. Das aber beruth wiederum auf der Aufrechterhaltung der ganzen Rechtsmaschinerie. Diese Aufrechterhaltung geschieht durch einen Komplex von Kräften, der gerade die "Gemeinschaft" zusammenhält, von der BERGBOHM spricht und ohne den deren "Willensorgane und sonstige Instanzen" nicht existieren würden. BERGBOHMs Denken bewegt sich also in folgendem Zirkel: Der mächtige Wille des Gesetzgebers macht ihn zur Kraftquelle für das Recht, aber die macht des Gesetzgebers, ja seine Existenz, beruth auf dem Recht! Dieser Einwand tritt, wie ich wiederhole, zu den obigen Darlegungen  hinzu,  nach denen es überhaupt sinnlos ist, daß das Recht seinen Grund im Willen des Gesetzgebers habe.
LITERATUR Anders Vilhelm Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, Bd. 1, Berlin-Grunewald 1932
    Anmerkungen
    1) CHRISTOPH SIGWART, Logik I, erste Auflage 1873, Seite 17; vierte Auflage 1911, Seite 18. - Siehe auch HÄGERSTRÖM, Der römische Obligationsbegriff, 1927, Seite 39f. - Der psychologische Charakter des Imperativs und die in dieser Beziehung von der Rechtswissenschaft begangenen Irrtümer sind indessen in einer ganz neuen Weise von HÄGERSTRÖM, Till fragan om den objektiva rättens begrepp, Seite 51 - 162, analysiert worden. Diese Ausführungen von HÄGERSTRÖM liegen auch dem unmittelbar Folgenden zugrunde.
    2) Siehe HÄGERSTRÖM, Objektiva rätten, besonders Nr. 5. Auch ohne das Studium seiner eingehenden Analyse sollte man einsehen, daß der Begriff  Pflicht  von einer theoretischen Betrachtung logisch ausgeschlossen sein muß, die unabhängig von allen Gefühlen nur vorhandene Fakta konstatiert. Mit anderen Worten: für den, der nicht irgendwie in seinem Gefühl durch die Vorstellung von einer Pflicht beeinflußt wird, ist diese  nichts.  Vgl. meine "Principinledning. Kritik av strafrättens grundaskadningar", Seite 52, sowie hier weiter unten.
    3) Als die hervorragendsten Vertreter der nordischen Rechtswissenschaft bezeichnet man den Norweger GETZ, die Dänen GOOS und TORP sowie den Schweden THYREN.
    4) Während die Lehre von der Rechtswidrigkeit in Deutschland historisch ihr Gepräge dadurch erhalten hat, daß der Begriff der Rechtswidrigkeit sozusagen als Ergänzung des Begriffes Gesetzwidrigkeit aufgestellt wurde, ist die nordische Jurisprudenz durch Untersuchungen über die Kausalität und die Voraussehbarkeit an das Problem der Rechtswidrigkeit angelangt. Siehe hierüber besonders BJERRE, Om rättstridighetsrektvisitet vid förtalsförbrytelserna, 1910. Diese Differenzen wie auch die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der deutschen und der nordischen Jurisprudenz sind für meine folgende Kritik ohne Bedeutung.
    5) Vor allem in der dänischen und norwegischen Literatur spricht man, sobald es sich nicht um die Culpa-Regel handelt, von der "Haftung für rechtmäßiges Handeln. Hierin liegt eine gewisse scholastische Konsequenz, die aber zu neuen Absurditäten führt.
    6) Über die Falschheit der Idee: Gesellschaft kontra Individuum, siehe HÄGERSTRÖM, Svensk Juristtidning, 1920, Seite 324f
    7) Es sei denn ein Rechtslehrer wie KELSEN, der mit einer juristischen Welt als einer von der natürlichen Welt völlig getrennten rechnet und dessen Lehren somit für eine auf nichts anderes als auf Realitäten zu gründende Untersuchung belanglos bleiben. Vielleicht ist hierher auch ein DUGUIT zu zählen. Von beiden näheres unten. Es dürfte ruhig gesagt werden, daß auch die "radikalsten" Rechtslehrer dermaßen in die scholastischen Netze verwickelt seien, daß sie nichts als neue Absurditäten leisten können, wenn sie sich von diesem übergeordneten Willen zu befreien versuchen.
    8) Das Nähere hierüber siehe teils weiter unten und vor allem meine Strafrechtskritik, sowie meine Erkenntniskritik der Gerechtigkeitsvorstellungen, beide im 2. Band.
    9) Siehe betreffs der Falschheit des juristischen Schuldbegriffs und betreffs den Aberglauben der objektiven Werturteile überhaupt meine Auseinandersetzungen im 2. Band.
    10) Ansätze zu Abstufungen oder einer Ermäßigung des Schadensersatzes nach dem Grad der "Schuld" finden sich zwar in den Gesetzen gewisser Staaten. Die Art, wie man dabei die Sache betrachtet, ist natürlich Ausdruck einer gewissen Konsequenz in der falschen Grundanschauung. Doch ist zuzugeben, daß eine Abstufung des Schadensersatzes auch auf  realer  Grundlage diskutierbar ist.
    11) Vgl. meine strafrechtliche Kritik im 2. Band.
    12) Siehe von LISZT, Lehrbuch § 13, besonders Anmerkung 2
    13) MEZGER, Strafrecht, 1931, Seite 162f
    14) In der strafrechtlichen Kritik im 2. Band werde ich einige Äußerungen von MEZGER näher erörtern.
    15) In meiner Polemik gegen THYREN habe ich die Unvernünftigkeit dieser ganzen Lehre weit ausführlicher nachgewiesen. Sie mein "Svar till professor Thyren", 1921, Seite 8 - 74. Siehe auch meine Darstellung über Rechtswidrigkeit und Gesetzeswidrigkeit in meiner Principinledning, 1920, Seite 69f
    16) ZITELMANN, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1879, Siete 222f. Daß das Aussprechen der Rechtssätze durch den Gesetzgeber nach ZITELMANN nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte einer Person begründen muß, liegt ja auf der Hand. Siehe übrigens seine Abhandlung "Gewohnheitsrecht und Irrtum" im Archiv für zivile Praxis, Neue Folge, Bd. 16, Seite 449: "Indem wir also von einem Satz des Rechts sagen, er gelte, stellen wir eine eigentümliche Art seiner Wirklichkeit vor, die Wirklichkeit nämlich, daß überall wo die von jenem Satz bezeichneten Voraussetzungen eintreffen, auch die von jenem Satz bezeichnete Folge - ein Berechtigt- oder Verpflichtetsein einer Person - eintritt" (vgl. a. a. O. Seite 463).
    17) Siehe HÄGERSTRÖM, Till fragan om den objektiva rättens begrepp, Anm. Seite 129f.