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FRITZ MAUTHNER
Begriffe der Tiere
II-26

"Das verlobte Mädchen bleibt auf der Straße vor jeder Auslage stehen und denkt an eine Hauseinrichtung, und schwatzt von ihr, wenn sie darf. Die Vögel tun mehr, sie bauen das Nest wie die Menschen, ähnlich, nur im Naturzustand."

Gerade die Gabe der wirklichen unmetaphorischen Schallnachahmung besitzen manche Tiere: der Papagei, die Spottdrossel. Und gerade diese "sprechenden" Tiere beweisen nichts dafür, daß Tiere Sprache haben. Die Sprache besteht  nicht  in Schallnachahmung. Um den Tieren ihre offenkundige Sprache abzusprechen, hat man vielmehr so weit gehen müssen, ihnen auch die Artbegriffe zu bestreiten. Der Gedanke dieser Theorie ist der: Anschauungen von Allgemeinem, von Arten gibt es nicht. Folglich kennen Tiere, die nur Anschauungen und keine Begriffe haben, nur Einzelne, keine Arten. Versteckt liegt in diesem Gedankengange das Eingeständnis, daß Begriffe Worte sind, daß die Tiere nur wegen ihres Sprachmangels keine Begriffe haben können. Das nebenbei. Nun steht aber dieser Konstruktion die Tatsache gegenüber, daß nicht nur einige besonders kluge (nach unserem Ermessen kluge) Tiere wohl Arten unterscheiden. Die Hunde unterscheiden oft deutlich zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Bourgeois und armen Teufeln, zwischen Weißen und Schwarzen; dann aber, je nach ihrer Abrichtung, kennen sie Hasen, Hirsche, Rebhühner, Enten usw. Unzählige andere Tiere haben ebenso den Artbegriff der nützlichen und schädlichen Nahrungsmittel, ferner den ihrer eigenen Art, endlich den ihrer Feinde. STEINTHAL, der sich recht gegen die Tierseele erhitzt, fragt ganz witzig, ob denn der Hund, wenn er auch die Hündin unterscheide, in seinem Bewußtsein ein männliches und ein weibliches Geschlecht trenne? Mit diesen Worten gewiß nicht, und auch vielleicht nicht so gründlich und zeitlos wie ein Professor. Aber der Einwurf, der Hund unterscheide auch das Weib vom Manne, die Kuh vom Stier, fasse aber Hündin, Kuh und Weib nicht unter dem Begriff des Geschlechtes zusammen, dieser Einwurf ist mehr geistreich als richtig. Denn Unwissenheit ist noch nicht Sprachlosigkeit. ARISTOTELES hat gewiß den Begriff des weiblichen Geschlechtes gehabt, ihn aber auf sehr viele Tierarten noch nicht anzuwenden gewußt. Man kann den Begriff auch von einem Falle her haben. Und dann ist es noch nicht erwiesen, daß der Hund das weibliche Geschlecht beim Weibe nicht merkt; es spricht doch manches für diese Annahme. Und ob er den Begriff sich mit Hilfe eines Sprachschalles gemerkt hat, oder mit Hilfe eines Riechzeichens, das ist doch wohl gleichgültig. STEINTHAL fragt dann ganz töricht: "Weiß der Hund, indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? Von Erhaltung seiner Art?" - Ja , was "weiß" denn der Bauernbursche, wenn er zum erstenmal hinter dem Zaun der Natur gehorcht, von Geburt und von Erhaltung seiner Art? Überdies ist aber "weibliches Geschlecht" schon ein komplizierter Begriff, zu dem die Menschheit gewiß recht spät gelangt ist. Es ist also hart, dem Hund gerade solche Doktorfragen vorzulegen. Und daß der Hund etwa Stein und Pflanze nicht der Art nach unterscheide, das glaube ich einfach nicht. Man zeige mir erst einmal einen Hund, der jemals Stein und Pflanze verwechselt hat, wie das selbst bei Kandidaten der Medizin vorkommen kann. Es ist wohl wahr, daß der Hund kein so reiches und kein so wohl gegliedertes  Gedächtnis  besitzt, wie wir. Er kann die römischen Könige nicht nacheinander aufsagen. Aber selbst seine Verleumder leugnen nicht, daß er Gedächtnis besitzt. Und im Gedächtnis liegt nicht nur die Möglichkeit der Sprache, nein, Gedächtnis  ist  Sprache. Nun bildet der Hund allerdings keine Sätze oder Urteile nach der Logik des ARISTOTELES. Es fehle ihm das Subjekt; "die Kategorie Ding sei noch nicht wirksam geworden," sagt STEINTHAL. Ob der Hund in seiner Sprache nicht dennoch mustergültige Urteile bildet? Ob er nicht sagt (in seiner Sprache): Brot ähx! Knochen gut! Peitsche schmerzt! -? Ich glaube doch, in der Peitsche dürfte die Kategorie  Ding  schon wirksam geworden sein. Und hat STEINTHAL niemals den zusammengesetzten Satz gehört, den der Hund sogar mitzuteilen versteht? "Es ist kalt; ich bitte darum, mir die Tür zu öffnen!" Der Hund heult und kratzt freilich nur. Das ist aber Sprache, und wenn die Logik sie nicht verdauen kann, so mag das schlimm sein, doch nur für die Logik. STEINTHAL meint (nach HERBART), der Hund halte sein Kratzen für die Klinke, für das Öffnungsmittel. Da hat er ja recht, der Hund nämlich. Ich rufe "Kutscher" und halte den Ruf für das Mittel, die Droschke zum Stehen zu bringen. Versteht der Hund die Zwischenglieder nicht, so mag er ein dummer Hund sein, aber noch lange kein stummer Hund. Ist Sprache dasselbe wie Denken, und ist Denken nichts als tätiges Gedächtnis, so ist nicht der kleinste Grund vorhanden, am Denken der Tiere zu zweifeln. Jedermann hat schon beobachtet, daß Tiere träumen, das heißt doch wohl, daß sie sich vergangener Wahrnehmungen erinnern. Und den Mangel des Bewußtseins wird man nicht zum Vorwand nehmen wollen, um den Traum gedankenlos zu nennen. Richtig ist nur gewiß, daß die Sprache der Tiere für die meisten Menschen unverständlich ist, so unverständlich wie für den Slawen die deutsche Sprache, die Sprache der Stummen, der  nemci.  Daß der Hund sogar abstrakt denken könne, hat DARWIN einmal selbst beobachtet. Da er von der Neigung der Wilden spricht, natürliche Vorgänge für Werke der Geister auszugeben, erzählt er: "Mein Hund lag an einem heißen ruhigen Tag auf dem Rasen. In einer geringen Entfernung wurde ein offener Sonnenschirm vom leichten Lüftchen zuweilen leise in Bewegung gesetzt, was der Hund unbeachtet gelassen hätte, wenn jemand dabei gestanden hätte. Jetzt aber knurrte und bellte der Hund heftig, so oft sich der Sonnenschirm bewegte. Ich glaube, er muß in einer rapiden und unbewußten Weise sich gedacht haben, daß Bewegung ohne sichtbare Ursache die Anwesenheit irgend einer fremdartigen, lebendigen Kraft bekunde, und daß kein Fremder das Recht habe, sich auf seinem Gebiete aufzuhalten." Die ganze Stelle ist ein gutes Beispiel für die Art, wie menschliche Erkenntnis sich erweitert; ein ungewöhnlicher Mann macht eine neue Beobachtung oder vergleicht vielmehr eine bisher vernachlässigte Tatsache zuerst mit anderen. Aber die Erklärung DARWINs verrät doch auch, wie der meistgenannte Begründer der Entwicklungstheorie dennoch durch physiologische Unterschiede verlegen gemacht wurde. Denn es ist ein Verlegenheitswort, wenn er den Hund in einer rapiden und unbewußten Weise "denken" läßt. DARWIN kann oder will nicht daran erinnern, daß der Hund ohne unsere Worte denkt, und setzt anstatt Verworrenheit Schnelligkeit, weil Rapidität ebenfalls zur Unklarheit führen kann. Stellen wir uns aber den Begriff, den sich der Hund von der Bewegung des lebendig gewordenen Sonnenschirms macht, stellen wir uns diesen mythologischen Kraftbegriff noch so dunkel vor, er wird nicht dunkler sein, als der Kraftbegriff seinem eigentlichsten Wesen nach einem NEWTON war. NEWTON benennt die Kraft mit einem Wort und legt sich ruhig hin; der Hund knurrt sie an, weil er unsere Worte nicht hat. In ihrer Art verstehen sich die Tiere sogar schon auf Naturgesetze. Wenn die Gesetzmäßigkeit der Natur erst aus den menschlichen Wissenschaften klar würde, wenn wir die Regelmäßigkeit der Natur erst beschwatzen müßten, um uns nach ihr zu richten, so hätte die Wissenschaft und die Sprache überhaupt dem Leben der Menschen vorausgehen müssen. Die Menschen haben aber gewiß, noch bevor sie sprechen konnten, schon mit apodiktischer [unumstößlicher - wp] Sicherheit gewußt, daß es in der Sonne wärmer ist als im Schatten, wie denn auch ein neugeborenes Kücken die Sonne aufsucht, wenn es seine Glucke nicht gleich finden kann. Die Tiere nehmen die apodiktische Wahrheit der ihnen interessanten Naturgesetze als gegeben an. Die Schwimmbewegungen des Hundes, der Flügelschlag des Vogels, die Wanderungen der Zugvögel, die Benützung der Luftblase durch die Fische, alles geht auf unfehlbare Wahrheit physikalischer Naturgesetze zurück, ohne daß das unerforschte Denken dieser Tiere (welches man darum Instinkt nennt) zu sprachlichen Urteilen gediehen wäre. Für den Hund ist es eine apodiktische Wahrheit, daß ihm sein Herr, der Hundegott, jeden Tag um 12 Uhr sein Fressen vorsetzen wird. Geschieht das einmal nicht, so macht der Hund zuerst ein dummes Gesicht und wird dann wild. So verläßt sich der Mensch darauf, daß der Erdboden im ganzen und großen fest bleiben werde, daß es im Sommer abwechselnd warmen Sonnenschein und Regen geben werde. Bleibt einmal Sonne oder Regen ganz aus, so macht er ein dummes Gesicht und wird wild wie ein hungriger Hund. Und wackelt die Erde gar, so wird er an seinem Gotte irre. Das Erdbeben von Lissabon hat dem Glauben an die Teleologie mehr geschadet als der Darwinismus. Ich will also sagen: Das berühmte metaphysische Problem von der Zusammenstimmung unseres Denkens mit der Wirklichkeit stimmt wieder einmal am unrechten Ende. Die oberflächlichsten Gesetze der Wirklichkeit kennt und befolgt auch das Tier; der Mensch hat namentlich mit Hilfe seiner Experimente auch verborgene "Gesetze" zu erkennen und zu benützen gelernt, und hat damit seinen Komfort auf Erden in mancher Beziehung vermehrt. Die Sprache war dabei nicht ganz unnütz, insofern die Kenntnis der ersten Beobachter Gemeingut werden konnte. Aber so wenig zwischen der Naturerkenntnis des Hühnchens und seinem Handeln das Picken von Bedeutung ist, so wenig ist die Sprache ein wichtiges Bindeglied zwischen der weit reicheren Naturerkenntnis des Menschen und seinem Handeln. Als EULER blind geworden war, vermehrte er noch unsere optischen Wirklichkeitskenntnisse. So kann auch ein Taubstummer nicht nur logisch handeln, sondern auch, wenn er darauf dressiert wird, ein tüchtiger Philologe werden. Kehren wir zu den Tieren zurück. Es kann uns jetzt nicht mehr überraschen, daß sie, die in ihrer Art Naturwissenschaft treiben, ohne Menschensprache, auch Logiker sind, wieder ohne Menschensprache. Sie ziehen Schlüsse. DARWIN erzählt (nach Professor MÖBIUS) die Geschichte von einem Hecht, der einen falschen Schluß zog. Man teilte seinen Behälter durch eine Glasplatte und setzte einige Fische in den benachbarten Raum. In seiner Jagd auf die Fische stieß der Hecht bis zur Betäubung gegen die unsichtbare Glasplatte. Drei Monate marterte er sich, bevor er durch Schaden klug wurde. Dann aber brachte er die empfangenen Stöße mit den Fischen in logische Verbindung, hielt sie für Zauberer und rührte sie auch nicht mehr an, als die Glasplatte entfernt worden war. Jeder Tierfreund kann ähnliche Züge an unseren Hunden und Katzen beobachten. Wir sind geneigt, diesen klugen Hecht für dumm zu halten, weil er seinen falschen Schluß wohl ohne ARISTOTELES und ohne Sprache vollzogen hat. Die Menschen aber haben trotz ARISTOTELES und trotz ihrer Sprache immerzu solche Schlüsse gezogen. Sie haben jahrhundertelang an die Astrologie geglaubt, und heute noch vermeiden die Juden das Schweinefleisch und fürchten die Christen die Zahl dreizehn, weil irgend ein kluger Hecht unter ihren Vorfahren sich einmal den Schädel an einer unsichtbaren Glasscheibe eingerannt und den Grund hinter ihr gesucht hat. In der Astronomie ist der geozentrische Standpunkt längst verlassen, in der Naturgeschichte seit kurzem auch der anthropozentrische. Man glaubt nicht mehr, das Pferd sei um des Menschen willen geschaffen. Aber in allen Fragen der Psychologie und Logik denkt man immer noch anthropozentrisch, als ob das Menschengehirn das einzige Denkwerkzeug der Natur wäre, während es vielleicht nicht einmal ihr feinstes ist. So blickt man auch verächtlich auf die Leistungen der Ameisen als auf eine Tätigkeit des "Instinkts" hinunter. Man ist so beschränkt in seinem Menschendünkel, daß man die erstaunlichen Leistungen des winzigen Tierchens als Mechanismus zu deuten sucht und vergißt, wie sehr das ein noch größeres Wunder wäre. Der Mensch, der die verhältnismäßig größere Arbeit des Ameisenhirns mit dem Worte Instinkt abtut, ist ebenso klug wie der Bauer, der das verrostete Schlagwerk seiner Kirchturmuhr anstaunt, aber über die Taschenuhr als ein Kinderspielzeug lächelt, oder wie der Australneger, der auf seine zentnerschwere Kriegskeule stolz ist, aber den Taschenrevolver des Feindes so lange nicht achtet, bis er eine Bleikugel im Leibe hat. Alle diese Beispiele hätten freilich vor zweihundert Jahren besser gepaßt, als auch die Gelehrten einen Schöpfer des Menschengehirns wie den Verfertiger einer Turmuhr anstaunten und die kleinen Taschenührchen noch kaum bekannt waren. Seitdem man die Erklärung der Tierinstinkte durch göttliche Pfiffigkeit hat aufgeben müssen, steht man allen diesen Erscheinungen ganz ratlos gegenüber. Das verlobte Mädchen bleibt auf der Straße vor jeder Auslage stehen und denkt an eine Hauseinrichtung, und schwatzt von ihr, wenn sie darf. Die Vögel tun mehr, sie bauen das Nest wie die Menschen, ähnlich, nur im Naturzustand. Unter uns wird höchstens noch die schwangere Frau so instinktmäßig, daß sie an der Ausstattung häkelt und stickt und näht, für das kommende Kind. Die Kleinigkeiten, die da die Frau wie im Traume leistet, nennt man Werke der Intelligenz. Die Meisterwerke des Nestbaues sind Instinkt. Und so nennt man die Organisationen des Bienenstaats und der Ameisenvölker Schöpfungen des Instinkts, würde aber einem Menschen, der ähnliches zu stande brächte, um seiner hohen Gaben willen Denkmäler setzen. Dabei wollen sich die Menschen nicht klar darüber werden, daß sie solche Tierleistungen nicht wegen der mangelnden Intelligenz Instinkt nennen, sondern deshalb, weil diese Leistungen, namentlich im Verhältnis zu den angewandten Werkzeugen, übergroße Intelligenz verraten. Man könnte sich also damit begnügen festzustellen, daß der eitle Mensch die Tiere fressen, werfen und instinktmäßig handeln läßt, wo er sich selbst das Essen, das Gebären und den Verstand zuschreibt. Damit wäre aber die erstaunliche Tatsache außer acht gelassen, daß die Tiere, wie gesagt, mit mangelhaften Werkzeugen arbeiten, das heißt, daß ihr Gehirn, anatomisch betrachtet, nicht die Komplikation des menschlichen besitzt und daß auch ihre körperlichen Werkzeuge nicht, wie beim Menschen, über den eigenen Leib hinaus projiziert sind. Die menschliche Maurerkaste hat Kelle und Senkblei, der Biber hat nur einen Schwanz. Da man aber das menschliche Denken, welches ja doch nur am Faden der Sprache aufgereihte Erinnerung ist, zu den Werkzeugen rechnen kann, so ließe sich das instinktmäßige Arbeiten der Tiere als die sprachlose Intelligenz erklären. Der Mensch hat sich ganz willkürlich, oder vielmehr nach dem Standpunkt seiner eigenen Beschränktheit, eine Stufenreihe des Wunderbaren aufgebaut. Daß ein Huhn sich selbst im Ei Augen bildet aus der organischen Masse, das findet der Mensch nicht wunderbar, weil auch er sich im Mutterleibe Augen gebildet hat. Daß aber das Huhn sehr bald nach dem Auskriechen pickt, das staunt er an und nennt es Instinkt, weil das menschliche Kind erst viel später picken lernt. Daß die neugeborenen Mädchen breitere Hüften haben als neugeborene Knaben, das wundert ihn gar nicht; daß aber die Larve des Hirschkäfers (wenn dieser berühmte Fall von Instinkt übrigens richtig beobachtet ist), weil sie männlichen Geschlechts werden soll, sich um des künftigen Geweihs willen ein größeres Loch buddelt als die Larve des weiblichen Hirschkäfers, das findet der Mensch wunderbar und nennt es Instinkt. Nur die menschliche Sprache, welche ihrem Wesen nach das Zweckmäßige aus dem Zukünftigen erklären muß (weil die Sprache auf den Verstand und seine Kausalität gegründet ist), schafft diese wunderliche Einteilung des Wunderbaren. Übrigens will mir scheinen, als ob sich an einigen der am häufigsten zitierten Instinktäußerungen die einfache Erklärung leichter finden ließe, wenn man bei der Beobachtung nicht dächte, das heißt nicht spräche. Man bewundert die regelmäßigen, sechseckigen Zellen des Bienenstocks. Ja, wunderbar wär's freilich, wenn die Bienen Geometrie studiert hätten. Wie aber, wenn die Bienen nur auf die (auch geometrisch) bequemste und kürzeste Weise Behälter bauen wollten, also natürlich runde Behälter, und diese Form, wenn jede Wand nach beiden Seiten dienen soll, von selbst zur sechseckigen Zelle werden müßte? Übrigens sind die Zellen gar nicht so schön regelmäßig, wie man behauptet. Der Wassertropfen, der zu Schneekristallen zusammenschießt, wählt ebenso instinktmäßig das Sechseck und hat auch nicht Geometrie studiert. In den Zahlen wie in den geometrischen Formen steckt eben die Gesetzlichkeit sprachlos drin, die der Mensch so schwer mit seinem Denken begreift. Eine andere Gruppe der Instinkthandlungen läßt sich wieder aus der Begegnung zweier Bedürfnisse ohne Worte besser erklären als durch die gewagtesten Abstraktionen. So das Saugen des neugeborenen Kalbes. Das Kalb sucht nach Nahrung, die Kuh drängt es, ihr Euter leer zu kriegen; da wäre es doch wunderbar, wenn Maul und Zitze einander nicht finden sollten. Nur weil die Sprache unvermögend ist, da die immanente Form, dort die gemeinsame Bedürfnishandlung zweier Individuen (ganz ähnlich liegt es beim Instinkt des Geschlechtstriebs) auszudrücken, nur darum vollführt sie ihre Worttänze um die Rätsel des Instinkts. Man hat von jeher die Instinkte der Tiere mit dem Verstande des Menschen verglichen und konnte auf diesem Wege deshalb nicht vorwärts kommen, weil der Unterschied den Verstand eigentlich gar nichts angeht, sondern nur das Bewußtsein. Es kann gar keine Frage sein, daß der Vogel sein Nest mit derselben Art Verstand baut wie der Mensch sein Haus, nur ob der Vogel das Bewußtsein seiner Überlegung besitzt, ob er seine Arbeit mit den munteren Reden der logischen Sprache begleiten kann, das ist natürlich fraglich. Nicht die Werkzeuge der Instinkthandlungen scheinen uns unerklärlich, sondern ihre Triebfedern, die Federn der Triebe; nicht theoretischer, sondern praktischer Art ist die Frage. Und da sagt uns der erste Blick, daß wir unter uns nur andere Bezeichnungen führen. Was wir beim Tiere fressen nennen, das heißt unter uns essen oder gar soupieren. Was dort Du heißt, das heißt hier Ich. Was wir bei den Ameisen verwundert Instinkt benennen, das heißt Moral, wenn es uns selber zwingt. Die Bienenkönigin muß es Moral nennen, wenn sie alljährlich wie eine russische Messalina die Drohnen nach getaner Arbeit umbringen läßt; und sie mag es einen wunderlichen menschlichen Instinkt nennen, wenn sie beobachtet, daß so eine zweibeinige Drohne eine zweibeinige Königin für Lebenszeit in ihre Wanderzelle aufnimmt, dazu als Mitgift einen Honigtopf bekommt und diesen Vorgang durch ein zweibeiniges Geschöpf der Schwarzbienen geheimnisvoll betasten läßt. Man hat früher geglaubt, daß die Moral oder der Instinkt der Tiere durchaus unveränderlich sei. Man weiß jetzt, daß bestimmte Vogelarten neue Gespinste mit Vorliebe für ihren Nestbau benutzen, die sie vor ein paar hundert Jahren noch nicht kannten. KURT GRAESER ("Der Zug der Vögel") hat uns davon überzeugt da sich doch solche Dinge nicht nachweisen lassen wie physikalische Gleichmäßigkeiten -, wie der Wanderinstinkt der Vögel in der Zeit, in langen Zeiten geworden ist und wieder vergehen wird. Wir dürfen nur die Entfernung zwischen Mensch und Tier nicht gewaltsam vergrößern. Das Wandern hat zu neuen Gewohnheiten der Vögel geführt. Ganz ebenso hat die Moral der Menschen seit der Invasion des römischen Rechts ein Wechselrecht erzeugt, und vor zwanzig Jahren ist es eine Sittlichkeitsfrage gewesen, ob Damen auf dem Zweirad fahren dürfen oder nicht.

Man mache sich klar, welche Kluft der Sprachgebrauch zwischen die synonymen Worte Instinkt und Moral geworfen hat, und man wird leicht begreifen, daß die gleiche Sprache noch nicht hinreicht, um einander zu verstehen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906