cr-3 
 
ELISABETH LEINFELLNER
Fritz Mauthner

Mauthner im hist. Kontext
Sprachkritik als Erkenntnistheorie
Sprachkritik und Atheismus
Fritz Mauthner ist der eigentliche Begründer der philosophischen Sprachkritik.

Einleitende Bemerkungen
FRITZ MAUTHNER ist der eigentliche Begründer der philosophischen Sprachkritik; auf seine sprachkritischen Vorgänger weist er selbst häufig hin. Für lange Zeit trat sein philosophisches Werk kaum in Erscheinung. Zu seinen Lebzeiten war es zwar noch recht gut bekannt, fand aber viele Kritiker. Als Journalist und Schriftsteller hingegen war MAUTHNER sehr angesehen. Hundert Jahre nach seiner Geburt war er so gut wie vergessen, was auch politische Gründe - MAUTHNER war Jude - hatte.

Noch 1971 schrieb GERSHON WEILER - damals völlig zu Recht - daß ERNST MACHs Voraussage von 1902, MAUTHNERs Philosophie werde eine zwar langsame, aber unaufhaltsame Wirkung haben, sich nicht erfüllt habe. Eines der größten, wenn nicht das größte, Hindernis für seine philosophische Anerkennung war - zu seiner Zeit und zum Teil auch noch heute -, daß er als philosophischer Autodidakt betrachtet wurde, unbeschadet dessen, daß viele bedeutende Philosophen auch kein ordnungsgemäßes Studium der Philosophie absolviert haben.

MAUTHNER hat diesen Eindruck vermutlich zum Teil selbst verursacht: erstens hat er immer darauf hingewiesen und zweitens formulierte er seine Werke nicht in der traditionellen Sprache der Philosophen. Denn er lehnte es ab, eine verengende philosophische Fachterminologie zu verwenden, wenn es nicht unbedingt notwendig war - wie im Fall seines Gebrauchs von  Kategorie.  Auf ihn paßt, was er von BOLINGROKE gesagt hatte: BOLINGBROKE hatte sehr viel gelernt, nahm aber niemals die Maske eines Gelehrten vor."

MAUTHNERs Philosophie und seine offene und nüchterne Art zu philosophieren wären im englischen Sprachraum wahrscheinlich besser aufgenommen worden. Seine philosophische Wiederentdeckung verdankt er denn auch der Analytischen Philosophie. Ein anderer oder zusätzlicher Grund zu einer neuerlichen Beschäftigung mit MAUTHNERs Werk ist der kryptische Satz des wittgensteinschen  Tractatus  (4.0031), daß alle Philosophie Sprachkritik sei, wenn auch nicht im Sinne MAUTHNERs.

Heute wird bereits manchmal die Analytische Philosophie als ganzes mit Sprachkritik identifiziert, ohne daß jedoch immer MAUTHNERs Name genannt wird. Da MAUTHNER seine sprachphilosophischen Ansichten in ihren Grundzügen nie geändert, sondern nur ausgebaut hat, können sie hier als Ganzes dargestellt werden.


Voraussetzungen der Sprachkritik
In MAUTHNERs Philosophie gibt es acht wichtige, miteinander verflochtene sprachphilosophisch -erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Sprachkritik:
  • der Psychologismus
  • die Zufallssinne und die humesche statistische Auffassung alles Naturgeschehens und der Kausalität
  • der metaphorische Charakter der Sprache
  • die sprachliche Relativität
  • die Sprache ist stets Individualsprache /Dualsprache, bzw. Sprachgebrauch
  • die Identifikation von Sprache und Denken
  • die Rolle der Bedeutung in der Sprache
  • die drei Bilder der Welt
Der Psychologismus
Psychologismus ist in der Philosophie die Auffassung, daß alle unsere Erkenntnis, bzw. die Formen der Erkenntnis, von unseren psychologischen Gegebenheiten abhängen, seien diese nun angeboren oder nicht. Es wird dann die Logik meist zur Lehre von den Gesetzen des Denkens, die traditionellen philosophischen Kategorien werden zu Produkten des Verstandes, die Bedeutung wird zur Vorstellung oder mentalen Proposition.

Der Wiener Kreis, die Analytische Philosophie und verwandte Richtungen lehnten zunächst einmal den extremen Psychologismus vor allem auch wegen der empirisch nicht einlösbaren Gleichung  Logik = Gesetze des Denkens  ab; denn in  den Geist  könne man empirisch nicht hineinsehen. An seine Stelle setzte man behavioristische Konzepte, oder man berief sich auf die wittgensteinsche Reduktion des Denkens auf die Sprache. Verbunden mit der rationalistischen Annahme, daß sich alles klar sagen läßt, was zu sagen ist, ist diese Art der  reduzierenden  Identifikation von Sprache und Denken eigentlich nur empiristisch -heuristische Prophylaxe - das psychologische Problem wird ausgeklammert.

Nach MAUTHNER kommt man aber nicht darum herum, daß Sprechen (Sprache) - worunter er natürlich nicht nur die Betätigung der Artikulationsorgane, die er für akzidentell (zufällig) ansieht, versteht - und Denken empirisch verknüpft sein müssen, auch wenn wir über diese Verknüpfung wenig wissen. MAUTHNER hat die Notwendigkeit eines solchen empirischen Psychologismus, den er  Hominismus  genannt hat, klar erkannt.

Einerseits lehnt MAUTHNER aus empirischen bzw. empiristischen Gründen die traditionelle Form der Psychologie ab: die Introspektion sei unwissenschaftlich und unsere sensualistische, nach außen gerichtete Sprache könne auf unser Innenleben nur völlig uneigentlich, d.h. poetisch angewandt werden; weiters könne nicht Sprache durch Sprache erkannt werden. In der Psychologie ist demnach, wie in der Philosophie, für MAUTHNER die Sprache zugleich Objekt und Mittel der Analyse. Andererseits aber konnte MAUTHNER aus empirischen und erkenntnistheoretischen Gründen den Psychologismus nicht ablehnen.

MAUTHNER war davon überzeugt, daß unsere psychologischen Funktionen unsere Auffassung der Welt bestimmen, und daß die Sprache mit diesen psychologischen Funktionen, dem Denken (als Vernunft) mehr oder minder identisch sei. Ein wichtiges Element des mauthnerschen Psychologismus ist: die Logik ist ein Teil der Psychologie. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, daß die Logik die Gesetze des Denkens aufzeigt, sondern nur so, daß sie von psychologischen Bedingungen abhängt. Auch die Bedeutung wird psychologistisch erklärt.

Zufallssinne und humesche induktive Auffassung des Naturgeschehens
MAUTHNER relativiert unsere Sinne: sie sind Zufallssinne, d.h. wir könnten auch andere Sinne haben, oder unsere jetzigen Sinne könnten andere Grenzen haben. Er bemerkt, daß wir zum Beispiel keine Sinne für Elektrizität und Radioaktivität haben; er spekuliert, daß Tiere ganz andere oder anders begrenzte Sinne als wir haben könnten, eine Spekulation, die heute experimentell bestätigt ist.

Obendrei führen diese Zufallssinne in jedem Menschen zu verschiedenen Erinnerungen. Dadurch entsteht aber ein erkenntnistheoretisches Problem, nämlich, wie intersubjektive Erkenntnis überhaupt möglich ist: wenn unsere Sinne Zufallssinne sind, dann muß unser Bild - oder müssen unsere Bilder - der Welt induktiv, statistisch ( zufällig  sagt MAUTHNER) sein. MAUTHNER propagiert daher anstelle des zu seiner Zeit gängigeren  Zurück zu KANT  ein  Zurück zu HUME  und zur humeschen subjektiven Auffassung der Kausalität.

Die Sprache ist stets metaphorisch
Für die Sprache ergibt sich hier folgendes: die Sprache ist durch unsere sinnliche Erfahrung immer - wenn auch manchmal nur mittelbar, indirekt - mit der Wirklichkeit verknüpft; sie ist daher stets unmittelbar oder mittelbar sensualistisch. Die Sprache spiegelt aber nicht objektiv das wider, was sich in der Außenwelt befindet, sondern bildet, gemäß dem mauthnerschen Psychologismus, nur das ab, was
  • unsere Zufallssinne auslesen und als Empfindungen zur Verfügung stellen, und was
  • durch die  drei Kategorien  und die Sprache gefiltert worden ist.
1) ist natürlich konform mit MACHs Ansatz. Dazu kommt noch, daß nur ein Teil der Sprache den Empfindungen, bzw. den Sinnesdaten direkt, d.h. unmittelbar, entspricht. Dieser Teil besteht aus den unmittelbar sensualistischen Adjektiven, die allein  echter,  wenn auch unzugänglicher, Ausdruck des sinnlich Gegebenen sind.

Bei dieser  Übersetzung  oder Umsetzung der Außenwelt in die Empfindungen zeigt sich, daß alle Sprache metaphorisch im eigentlichen Sinn des Wortes, d.h. übertragend oder uneigentlich ist. Letztlich stehen sich Sprache und Welt wie zwei Rastersysteme (Strukturen) gegenüber, die nicht zur Deckung gebracht werden können. Und gäbe es eine Sprache der Natur, so wäre sie unverständlich.

Sprachliche Relativität
Der einzige Zweck unserer Sprache ist zwar die Orientierung in der empirischen Welt - aber diese Orientierung ist ungenau. Da wir auf keine Weise objektiv kontrollieren können, wieweit sich Sprache und Welt decken, können wir gar nicht umhin, die Sprachstrukturen in die Welt zurückzuprojizieren. Noch vor BENJAMIN LEE WHORF und EDWARD SAPIR vertritt MAUTHNER also die Ansicht, daß die jeweilige Sprache (als Resultierende von Individual- bzw. Dualsprachen nach MAUTHNER) das Weltbild der Sprachgemeinschaften beeinflußt, und lange vor WILLARD van ORMAN QUINE und mit ähnlichen Argumenten wie dieser zieht er aus der Verschiedenheit der Weltbilder den Schluß, daß Sprachen, und zwar nicht nur die Nationalsprachen, sondern sogar die individuellen Sprachen nicht völlig ineinander übersetzt werden können.

 D i e  Sprache gibt es nicht.
MAUTHNERs Auffassung von den Zufallssinnen und dem metaphorischen Charakter der Sprache bringt folgende Beschreibung der Sprache mit sich: Sprache existiert prinzipiell nur individuell, als  Individualsprache  (Idiolekt). Unter diesem Aspekt reduziert sich nach ihm die Sprache auf den Sprachgebrauch und aufs Sprechen als das funktionelle Zusammenwirken von Artikulation, Vorstellungen etc. Im Unterschied zum Beispiel zur Analytischen Philosophie betont er so die gesprochene Sprache, in Übereinstimmung mit der Linguistik, nach welcher die geschriebene Sprache eine Reduktion der gesprochenen ist.

MAUTHNER lehnt folgerichtig  die  Sprache (als Ganzes oder als System) ab: die Sprache ist weder ein formal perfektes System, d.h. eine Maschine (ein Kalkül), noch ein ästhetisch perfektes System (ein Kunstwerk), noch ein perfektes lebendiges System, d.h. ein Organismus. Eine allen Völkern gemeinsam sein sollende philosophische Grammatik kann es daher erst recht nicht geben. Sprache ist jeweiliger Sprachgebrauch; die Individualsprachen sind zeitlich instabil, d.h. zeitabhängig. In Wirklichkeit existieren nicht einmal Individualsprachen, sondern nur das jeweilige Sprechen.

Andererseits redet man nicht mit sich selbst - es gibt keine "Sprache in der Einsamkeit"; (hier wird die wittgensteinsche Privatsprache abgelehnt) - sondern mit einem Partner. Die Individualsprachen müssen in situationsbedingte, also soziale, resp. pragmatische, kategorisierbare Kontexte, die den  common ground  der den Dialogpartnern gemeinsamen  Dualsprache  abgeben, eingeordnet werden:  Burgunder  bei Tisch bedeutet etwas anderes als dort, wo es sich um einen Burgunder Ritter handelt, ohne daß wir bei Tisch  Wein  hinzusetzen müßten. Neben diesen sozialen Kontexten betont MAUTHNER auch die Rolle der sprachlichen Kontexte (Kotexte) beim Sprachverständnis.

Für die verschiedenen Kategorien von sozialen Kontexten existieren verschiedene Spielregeln; Spielregeln regulieren auch die (statistischen) Referenzbeziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit. MAUTHNER gebraucht ausdrücklich den Terminus  Spielregel,  z.B. "Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel ...", die Sprache eine  Gesellschaftsspiel.  Regeln werden dynamisch aufgefaßt: eine Regel wird umso zwingender, je mehr sich ihr unterwerfen.

Will man aber doch auf die ganze Sprache reflektieren, dann ergibt sich, daß sie bloß die Gesamtheit ( Resultierende)  von Individualsprachen bzw. deren  Horizont  ist.  Horizont  drückt Relativität aus, denn der Horizont ist für jeden Menschen je nach Standort anders. Weil die Sprache aber dialogisch, sozial und ein Handeln ist, kann man sie auch in die Beziehungen zwischen den Teilnehmern am Diskurs verlegen; Sprache existiert dann "zwischen den Menschen", oder als eine Abfolge von individuellem Sprechen in Diskursen.

So ist z.B. nach MAUTHNER sogar die Negation stets ein dialogisches oder Diskurs-Phänomen. Die Negation ist immer eine Antwort, z.B. auf die Frage, ob etwas schädlich sei. Wie es aber überhaupt möglich ist, daß die Sprache eben doch vielen gemeinsam ist, kann prinzipiell auf zwei, einander nicht unbedingt ausschließenden Grundpfeilern ruhen,
  • dem behavioristisch aufgefaßten Lernen
  • angeborenen Eigenschaften des Menschen.
MAUTHNER hat hier einen Mittelweg eingeschlagen: einerseits betont er die Rolle des Lernens bei Spracherwerb, den er wesentlich als ein Bedeutungserfüllen von zunächst nachgeahmten phonetischen Formen sieht, andererseits sind gewisse Voraussetzungen der Sprache angeboren und für alle Menschen gleich, nämlich die Zufallssinne und die drei kognitiven Kategorien des Adjektivischen, Verbalen und Substantivischen.

Sprache und Denken
Nach MAUTHNER gibt es zwei Formen des Denkens: die sprachliche Vernunft und den praktischen, primär nicht-sprachlichen Verstand. Die Sprache nun ist ihrer Natur nach kein Werkzeug des Denkens (manchmals gebraucht MAUTHNER dennoch  Werkzeug,)  und sie ist auch nicht das Kleid der Gedanken; die Sprache unterscheidet sich vom Denken so wenig wie ein Tuch, aus dem ein Rock gemacht ist, sich vom Rock unterscheidet.

Ja, einmal sagt MAUTHNER sogar, daß es gar kein Denken gäbe, nur Sprechen; das Denken sei das Sprechen auf seinen Ladenwert hin beurteilt. Die Einheit von Sprache und Denken ist das Gedächtnis, eine Auffassung, die stark WILHELM von OCKHAMs Konzept der gedachten Terme ähnelt. Wie LUDWIG WITTGENSTEIN beschleicht jedoch auch MAUTHNER ein Zweifel an dieser radikalen Identifikation und er kommt zu der Annahme, daß Sprechen und Denken Erscheinungen derselben Sache, gesehen von zwei verschiedenen Standpunkten, sind. Daher fällt hier auch das Wort vom "Parallelismus von Sprechen und Denken".

Am vollkommensten ist die Identität von Sprechen und Denken beim - konstruktiv aufgefaßten - Zählen. Worte sind Erinnerungen oder Erinnerungszeichen für sinnliche Eindrücke; die Sprache ist das Gedächtnis eines Individuums, einer Sprachgemeinschaft oder, allgemeiner, des Menschengeschlechts. Die Sprache kann somit Wissen vermitteln und bewahren, aber nicht erzeugen.

Hier erscheinen die Grenzen der Sprache zunächst als die Grenzen der Welt oder, bescheidener ausgedrückt, des Individuums, bzw. als die Grenzen seines Wissens. Diese Grenzen sind aber nur relativ, sind keine Grenzen der Erkenntnis: über das Denken als Vernunft, und damit über die Sprache hinaus, gehen das handelnde Eingreifen und der praktische Verstand als sprachloses Denken, als das nichtsprachliche Verstehen der Außenwelt durch die Sinne.

Sprache und Bedeutung
Daß Sprache nach MAUTHNER Sprachgebrauch ist, legt uns nahe, ihm eine Bedeutungstheorie zuzuschreiben, die der des späten WITTGENSTEIN entspricht, nach welcher die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist. Die Referenztheorie der Bedeutung hat MAUTHNER jedenfalls abgelehnt: wir geben Worte aus wie Banknoten, und fragen nicht, ob dem Wert der Note im Schatz etwas, ein empirisches Referenzobjekt, entspricht.

Es ist eine geistige Schwäche zu glauben, daß jedes Wort etwas Empirisches bedeute. Dafür betont er die sprachliche und soziale Kontextualität als Bedingung des Verstehens. Wenn aber Sprache und Denken prinzipiell im Gedächtnis eins sind, so muß es zumindest eine psychologistische Version der Bedeutung geben, daher: "Die Bedeutung ist ein rein psychologischer Begriff". Das Wort ist dann dazu da, uns an einen bestimmten Gedächtnisinhalt, eine bestimmte Vorstellung zu erinnern.

In der lebendigen Sprache können Wort und Bedeutung nicht getrennt werden; Wörter ohne Bedeutung sind kein Element der Sprache.  Die  Bedeutung eines Terms gibt es nicht, denn nicht alle Sprachbenützer erinnern sich an dasselbe, wenn sie ein bestimmtes Wort hören oder aussprechen. Es ist klar, daß im Rahmen derartiger Auffassungen kein Platz für Synonyme ist.

Die drei Bilder der Welt
Wenn die Sprache Denken ist, dann müssen auf irgendeine Weise die Grundfunktionen aller Sprachen mit erkenntnistheoretisch relevanten kognitiven Funktionen verknüpft sein. MAUTHNER hat drei solcher Grundfunktionen oder Kategorien, wie er sie nennt, unterschieden, die adjektivische, die verbale und die substantivische. Von der adjektivischen und der substantivischen hat er explizit behauptet, daß sie angeboren und vererbt seien. Den drei kognitiven Kategorien entsprechen drei Bilder, die wir uns von der Welt machen, aber nur eine Welt: die adjektivische. (Daneben gibt es noch ein viertes, weder sensualistisches, noch metaphorisches Bild der Welt, das mathematische, d.h. die mathematische Repräsentation, von empirischen Strukturen.)

Diese drei kognitiven Kategorien ähneln den grammatischen Kategorien gewisser Sprachen; man muß sich aber hüten, sie direkt mit den grammatischen Kategorien des Adjektivs, des Verbs und des Substantivs zu identifizieren. Dies ist schon dadurch gegeben, daß sich nach MAUTHNER die grammatischen Kategorien in den verschiedenen Sprachen absolut nicht decken müssen - gerade dies ist ja auch Gegenstand der These von der sprachlichen Relativität -, wohingegen die drei kognitiven Kategorien für alle Menschen gleich sind.

MAUTHNER gibt selbst viele Beispiele, wo grammatische und kognitive Kategorie schon im Rahmen einer Sprache nicht übereinstimmen, etwa: die Substantiva  Blitzen  und  Blitz  gehören ebenso der kognitiven Kategorie des Verbalen an wie das Verb  blitzen.  Auch haben nach ihm die Tiere völlig teil zumindest an der adjektivischen Welt, ohne über die menschliche Sprache und damit eventuell die grammatische Kategorie des Adjektivs zu verfügen. Oder, wie MAUTHNER es ausdrückt: die adjektivisch zu bezeichnenden Empfindungen entsprechen unserer Sinneserfahrung und sind natürlich; Substantiva und Verben entsprechen der Vernunft und sind menschlich.

MAUTHNER bemerkt aber auch, daß schon das Tier instinktiv nach personifizierten Ursachen sucht und damit ebenfalls am substantivischen Bild der Welt teilnimmt. - Mit den drei Kategorien oder Bildern will MAUTHNER also nicht sagen, daß es eine universale Grammatik gibt, sondern bloß, daß in jeder Sprache
  • Sinneswahrnehmungen und Empfindungen
  • das Werden, die Veränderung und zweckgerichtetes Handeln und
  • Ursachen-Wirkungen und  Dinge, Substanzen  als subjektive Grunderfahrungen des Menschen metaphorisch abgebildet werden können, und daß diese Abbildung die kategorialen grammatischen Formen von Adjektiven, Verben und Substantiven annehmen kann, aber nicht muß.
Die drei kognitiven Kategorien des Adjektivischen, des Verbalen und des Substantivischen sind daher nicht apriorische Kategorien der Sprache, sondern kognitive Voraussetzungen jeder Sprache, auch wenn sie sich in verschiedenen Sprachen verschieden manifestieren.

Das adjektivische Bild der Welt ist nach MAUTHNER das einzige, das ein direktes Korrelat in der empirischen Sinnenwelt hat, die adjektivische Welt: Empfindungen sind adjektivisch, und so ist die adjektivische Welt gleichzeitig die psychologische und physiologische. Die adjektivische Welt ist punktuell und ohne Ordnung, sei diese Ordnung nun räumlich, zeitlich oder kausal. Ihren intensivsten Ausdruck findet die im ersten Grad anthropomorphe, adjektivische oder unmittelbar sensualistische Sprache in der Kunst; aber sie ist ebenso ein Bestandteil der Wissenschaften, ja, MAUTHNER sagt manchmal, daß auch die Wissenschaften bloß (unmittelbar) sensualistisch -adjektivistisch seien, d.h. Eigenschaften beschreiben, obwohl er anderswo auch erklärt, daß sie verbale und substantivische Elemente enthalten.

Nach MAUTHNER ist daher das adjektivische Bild der Welt - nicht das Adjektiv als grammatische Form - das älteste, das primitivste. Er nimmt an, daß ursprünglich zwischen Satz und Wort kein Unterschied gemacht wurde, d.h. daß bei der Sprachentwicklung der Satz vorangeht. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Unterscheidung von Wortarten überflüssig und es bleiben, anthropologisch gesehen, nur die kognitive Kategorie des Adjektivischen und die ihr korrespondierenden  Ur-Sätze  übrig.

In der verbalen Welt - die gleichzeitig natürlich das verbale Bild der allein wirklichen adjektivischen Welt ist - der Welt des Werdens, der Veränderung und der Beziehungen, wird die adjektivische geordnet, und zwar dadurch, daß die Apperzeption (bewußte Wahrnehmung) im Gedächtnis die isolierten Empfindungen verknüpft. Die verbale Welt ist kausal und zeitlich geordnet; es liegt ihr DAVID HUMEs Kausalitätsbegriff, d.h. der Begriff einer induktiven, statistischen Kausalität ohne personifizierte Ursachen, zugrunde.

Dies ist auch die Welt, in der wir zweck- und absichtsvoll handeln. MAUTHNER sagt daher, daß dem Verb die  causa finalis  entspreche. Die Wissenschaft, insofern sie von funktionalen Abhängigkeiten handelt, muß eine verbale Komponente haben, welche sich über das adjektivische und das substantivische Bild der Welt erhebt. Denn die Wissenschaft gibt sich letztlich doch mit dem ungeordneten adjektivischen, unmittelbar sensualistischen Bereich zufrieden.

Oder, wie er es ausdrückt: die Naturwissenschaft schwankt stets zwischen dem adjektivischen und dem verbalen Bild der Welt. MAUTHNER erwähnt JULIUS ROBERT MAYER, HERMANN HELMHOLTZ und MACH, weil sie alle die adjektivische Welt in die verbale aufgelöst haben.

Die verbale Welt kann beschrieben werden. Aber das "freche Menschenwort" möchte auch noch erklären und erschafft sich, "das Wort dem Worte", eine im zweiten Grade anthropomorphe Sprache und damit die substantivische Welt. Denn für ein bestimmtes Bündel von Adjektiven, das einem Bündel von empirischen Eigenschaften korrespondiert, substituiert man ein Substantiv, das in die Wirklichkeit zurückprojiziert wird, und dort  Dinge, Substanzen  vortäuscht.

Das substantivische Bild der Welt - oder, was dasselbe ist, die substantivische Welt - verdoppelt das adjektivische Bild, das wiederum die wirkliche, adjektivische Welt verdoppelt, weil alle Sprache verdoppelt - nur weiß man nach MAUTHNER bis heute nicht genau, was da in der Wirklichkeit verdoppelt wird. Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raumes und des Seins; sie ist die Welt der Dinge und der im Alltagsleben, aber oft auch in der Wissenschaft personifizierten Ursachen und Kräfte.

So betrachtet ist es klar, daß MAUTHNER annehmen muß, daß die Tendenz zu substantivieren ein vom Tier ererbter Instinkt ist; auch das Tier sucht nach personifizierten Ursachen. Die substantivische Welt ist weiters die mythologische Welt, die Welt der Metaphysik, der Götter und der Geister, und letztlich auch die "ehrliche ... Scheinwelt" der Mystik. Die substantivische Scheinwelt, "von der das Gedächtnis der Menschheit nichts wußte, bevor es sich das Wort angeschafft hatte", ist also die Welt nicht nur der metaphysischen Dinge, der Götterdinge und der Teufeldinge, der personifizierenden  -heiten, -keiten  und  -schaften  und der personifizierenden Kausalursachen, sondern auch derjenigen Dinge, die wir gewöhnlich - und nach MAUTHNER (und MACH) fälschlicherweise -  empirische Dinge  nennen.

Auch die empirischen Einzeldinge, die wir aus unserer unmittelbaren adjektivischen Erfahrung gewissermaßen zusammensetzen, sind, ebenso wie die Substantive, die sie bezeichnen, nur Symbole; sie sind Täuschungen. Der Verlust der Substanz in der modernen Physik ist hier deutlich vorgezeichnet. Der trügerische Charakter der abstrakten, religiösen und metaphysischen Substantive ist nur leichter aufzuzeigen. Jedes dieser Symbol-Dinge der substantivischen Welt - d.h. jedes beliebige Ding, z.B. ein Atom - ist demnach ein fiktives Ding an sich hinter der adjektivischen Welt, die allein wirklich ist.

Im Falle des Atoms sind es das Wellenfeld und seine invarianten Eigenschaften. - MAUTHNER sagt geradezu, daß sowohl in der Umgangssprache als auch in der Sprache der Wissenschaft die Grammatik die Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat: die "hypothetischen" Dinge werden zu "Hauptsachen", zu Substantiven, und das, was wirklich existiert, die Eigenschaften, beziehungsweise die Empfindungen, werden zur adjektivischen Nebensache, zur Beigabe. Wenn es überhaupt eine substantivische Wissenschaft gibt, dann ist es die Ontologie, die auch die traditionellen Geisteswissenschaften einschließt.
LITERATUR - Elisabeth Leinfellner, Fritz Mauthner in Dascal / Gerhardus / Lorenz / Meggle (Hrsg), Sprachphilosophie - ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 1992