cr-3 
 
GERSHON WEILER
Fritz Mauthner

"Wissen ist Wortwissen.
Wir haben nur Worte,
wir wissen nichts."


Ist MAUTHNER ein Sprachphilosoph? Anstatt diese Frage direkt zu beantworten, möchte ich darauf hinweisen, daß es kein Zufall ist, daß MAUTHNER sein Unternehmen als  Kritik  der Sprache und nicht als Philosophie betrachtet hat. Der Begriff einer "Philosophie der/des..." zielt typischerweise darauf hin, die Frage "Was macht etwas zur/zum...?" zu beantworten, wobei immer notwendige und zureichende Bedingungen gemeint sind. Diese Bedingungen wiederum können nicht zufriedenstellend spezifiziert werden, ehe das Verhältnis zwischen ... und "allen" anderen Dingen "der Welt" bis zu akzeptierbaren Einzelheiten hin geklärt worden ist. Daß keine Philosophie der/des ... jemals vollständig sein kann, ist folglich der Unmöglichkeit zuzuschreiben, alle solche notwendigen und zureichenden Bedingungen, das heißt die vollkommene Beziehung zwischen ... und der Welt, zu spezifizieren. So muß etwa die Rechts-Philosophie eine Menge über Ethik, Politik, Soziologie usw. aussagen und, zumindest in einer minimalen Weise, auch über die physische Welt, weil diese das  Forum  und die Totalität der einschränkenden Bedingungen menschlicher Handlungen verkörpert, die eben das zentrale Thema des Rechts sind.

In gleicher Weise beschäftigt sich die Philosophie der Sozialwissenschaften charakteristischerweise mit ihrer Ähnlichkeit mit und ihrer Verschiedenheit von den Naturwissenschaften und somit mit deren Wesen. Diese Erwägungen treffen in verstärktem Maße auf die Philosophie der Sprache, die diesen Namen mit Recht trägt, nicht auf eine permanente Untersuchung der Sprache beschränkt werden, sondern muß ihre Aufmerksamkeit auf den metaphysischen Status der Sprache oder zumindest auf ihre erkenntnistheoretische Nützlichkeit richten. Dies war MAUTHNERs Einstellung, und ich glaube, es ist die richtige. Aus solchen Überlegungen heraus wurde mein Lehrer, der verstorbene GILBERT RYLE, niemals müde zu erklären, warum sich die Arbeit des Philosophen so gründlich von den Bemühungen des Grammatikers, des Lexikographen usw. unterscheidet. Damit soll jedoch nicht abgestritten werden, daß nützliche, nicht-philosophische Untersuchungen zur Natur und Struktur der Sprache möglich sind. Ich behaupte nur, daß eben hier der Unterschied zwischen einer philosophischen und einer nicht-philosophischen Bearbeitung der Sprache liegt.

"Die Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt." Ähnliche Gedanken folgen aus MAUTHNERs Einschätzung von NIETZSCHE und BISMARCK. Beide lehrten durch Wort oder Beispiel den Primat der Tat und des Willens als des Menschen wahres Mittel zum Kontakt mit der Wirklichkeit. Es folgt daraus, daß Worte bestenfalls - und dabei unrichtige Schatten der wirklichen Dinge sind. MAUTHNERs Ausgangspunkt war die fundamentale Einsicht, daß da nicht nur ein eingewurzelter Defekt in unseren Ansprüchen auf Wissen steckt, sondern auch, daß dieser Defekt eine direkte Folge der Natur der Sprache ist. Die Kritik der Sprache, wie sie MAUTHNER ausgearbeitet hat, ist nichts anderes als eine Rechtfertigung dieser fundamentalen Einsicht.

Um zu verstehen, wie die Sprache unsere Bemühungen um Wissen systematisch behindert, führt MAUTHNER eine Untersuchung des Wesens der Sprache durch. Sprache wird als keine innere Einheit besitzend dargestellt, woraus folgt, daß der Begriff der  Sprache  kein echter Referenzbegriff ist; Sprache wird eher als eine Art  Handeln  und  Tätigkeit  gesehen, die allein  zwischen den Menschen  existiert. Mit anderen Worten: Sprache ist kein Gebrauchsgegenstand oder -instrument, sondern selbst Gebrauch.

MAUTHNER war nicht nur ein nicht-akademischer Philosoph, sondern nahm auch der Tradition gegenüber eine eigentümliche Stellung ein. In der Geschichte der Philosophie können wir ihn der extremen Linken der linken Tradition des Empirizismus und Sensualismus zuzählen, obgleich seine gescheiterten Ambitionen eigentlich platonisch waren. Am deutlichsten wird dies am Begriff des  Wortaberglaubens Im wesentlichen ist dieser Begriff gleichbedeutend mit der Ablehnung aller möglichen ontologischen (1) Ansprüche - denn immer, wenn solche Ansprüche erhoben werden, müssen sie sich auf Worte stützen, um auf ein so  bezeichnetes  Sein hinzuweisen.

Es ist dabei ohne Gewicht, ob dieses  Sein  ein materielles Objekt ist, dessen Existenz hinweisend behauptet wird, oder ob das  Sein  eine Bedeutung ist, deren Existenz sich irgendwo hinter dem Wort verborgen hält. So faßt MAUTHNER in dem Begriff  Wortaberglaube  eine Vielzahl von Praktiken und Theorien zusammen: von der Personifikation und Vergöttlichung von Dingen und Kräften, die ein sie anzeigendes Wort besitzen, bis hin zu philosophischen Theorien, wie z.B. der Lehre PLATONs, die der  wahren Bedeutung  von Worten Existenz zuspricht. Solche Zuschreibungen, in welcher Form auch immer sie erscheinen, sind für MAUTHNER nichts anderes als Zeichen einer menschlichen Schwäche, einer Art  angeborener geistiger Schwäche. 

Nach MAUTHNERs Ansicht ist dieser  Wortaberglaube  nicht nur ein Zeichen von Verdummung, sondern auch ein Mittel zur Unterdrückung: die jeweils herrschenden Mächte stützen sich auf Kräfte, die, wenn alles gesagt und getan ist, nur in Worten existieren  (Gnades Gottes, Wille der Nation  usw.). Darauf ist MAUTHNERs Bestehen auf der systematischen Verbindung zwischen  Wortaberglauben  und  Wortmacht  zurückzuführen.

Nun wäre es angemessen, anzunehmen, daß MAUTHNER von einem solchen extremen Nominalismus zu einem praktischen Reformprogramm fortschreitet, dessen Ziel die Zerstörung dieses schädlichen Wortaberglaubens ist. Aber wie seine Diskussion künstlicher Sprachen mit außerordentlicher Klarheit zeigt, stand ihm das fern. Sprache ist zugegebenermaßen irreführend, aber daraus läßt sich nicht schließen, daß ein menschlicher Kunstgriff die Dinge richtigzustellen vermag. Was wir brauchen, ist keine Reform, sondern ein andauerndes philosophisches Bewußtsein, ein unaufhörliches Bemühen, uns daran zu erinnern, daß wir uns vor der Aberglauben erzeugenden Macht der Sprache in acht nehmen müssen, ohne dabei zu vergessen, daß uns die Sprache mit all ihren Täuschungen unentbehrlich ist.

MAUTHNER lehnte ohne Zögern alle Kunstsprachen ab, besonders das  Volapük  und  Esperanto,  die er beide genauer bedacht hatte. Er sagt: "Ich glaube aber nicht, daß die künstlichen Universalsprachen auch nur die kleinste Hoffnung erfüllen werden, die ihre Erfinder und Anhänger auf sie setzen." Der Grund dafür ist einfach: Sprache ist ein organisches Gewächs: "Eine Sprache muß leben zwischen den Genossen eines Volkes, zwischen den Menschen." Mit dem Ausdruck "zwischen den Menschen" sind wir nun schon bekannt: MAUTHNER benutzte ihn, um die  Unwirklichkeit  der Sprache auszudrücken; hier aber gebraucht er ihn, um auf die höchste Realität der Sprache, das heißt die einzige Realität, die ihr zugesprochen werden kann, hinzuweisen. Sprache wächst "zwischen den Menschen" durch die Klassifizierungsbegriffe, die von den gemeinsamen Lebenserfahrungen ausgewählt werden. Künstliche Sprachen haben keine natürlichen Sprecher, die diese Selektion für sie durchführen könnten, und MAUTHNER drückt den berechtigten Verdacht aus, daß Dr. ZAMENHOF sich das Vokabular des Esperanto ausdachte, indem er es einfach aus den Vokabularien existierender Sprachen auslas und übertrug.

Aber führt uns diese Art von Denken nicht zu einer neuen Stufe des Wortaberglaubens? Vielleicht ist eine solche geistige Schwäche unvermeidlich: jedenfalls scheint MAUTHNER nun selbst in diese Falle zu gehen. Wenn das natürliche Zuhause der Sprache das Volk ist, dann ist es vielleicht kein bloßer Wortaberglaube, wenn man diesem Begriff Wirklichkeit zuerkennt. MAUTHNER will jedoch von all dem nichts wissen. Er ringt mit diesem Problem, und der Gedanke ist nicht ganz abzuweisen, daß MAUTHNERs Zurückführung der Vaterlandsliebe auf eine Liebe zur Muttersprache nicht erfolgreicher war, als seine Reduktion des Begriffes  Volk  als einer Illusion eines kollektiven Ego. Vielleicht war mehr negative wie unvermeidliche Wahrheit in MAUTHNERs Begriff  Wortaberglaube  zu finden, als er dachte.

Im Mittelpunkt des MAUTHNERschen Denkens steht seine vereitelte Suche nach Wissen, aber welche originellen Einsichten auch immer er aus diesem Sachverhalt gewonnen haben mag, er ist zentral genug, daß jene Einsichten nie als Antworten, sondern immer nur als Teil  der  unbeantworteten Frage zu betrachten sind. So sind Nominalismus, Funktionalismus, Psychologismus, sein Begriff des Urteils usw. keine Zeichen des Gelingens, sondern Teil des großen Versagens. Obwohl es zutrifft, daß die zuletzt genannten Begriffe Fragen beantworten, so sind doch diese Fragen nicht jene, welche von MAUTHNER als die wichtigsten betrachtet wurden.

Was MAUTHNERs Sensualismus betrifft, so betrachtet er unsere Grundausrüstung als die einer im Laufe der Evolution zufällig entstandenen Kreatur, deren unmittelbarer und undeutlicher Kontakt mit ihrer Umgebung durch einige wenige Sinne stattfindet, die sich zufällig während des gleichen Evolutionsprozesses entwickelt haben. Deshalb spricht MAUTHNER von der Gesamtheit unseres  Sensoriums  als von  Zufallssinnen  - ein Begriff, den er geprägt hat. Der Zweck dieser Betonung der Schlüsselrolle der  Zufallssinne  ist es, jeden Anspruch darauf, daß wir korrekte Informationen über das haben, was da ist, auszuschließen.

Die Gründe für diesen Zug in MAUTHNERs philosophischem Verfahren sind zweifach: Erstens haben wir nur eine ausgewählte Anzahl von Sinnen, und MAUTHNER schlägt das größtmögliche Kapital aus der damals sich entwickelnden Tierpsychologie, um zu zeigen, daß sogar niedrige Tiere Sinnesdaten aufnehmen können, die zu registrieren unser Aufzeichnungsapparat zu grob ist. Zweitens ist da die Tatsache, daß die Sinnesorgane selbst schon das Material prägen, so als würden wir mit einem Netz fischen, dessen Maschen eine bestimmte Größe haben, oder als ob wir eine Brille von bestimmter Färbung trügen. Sinnesempfindungen sind nicht artikuliert, und sie werden nicht  in puro  registriert. Eine  Vorstellung  ist nur dann klar und deutlich, wenn sie - und nur  sie  - durch ein Wort gekennzeichnet ist. Eine Wahrnehmung, so verstanden, ist daher nicht sehr verschieden vom Urteil. Indem wir einen Begriff Kants aus einem ähnlichen Kontext benutzen, können wir sagen, daß jeder Wahrnehmung von Anfang an ein Urteil beigemischt ist.

Wahrheit ist - ideal gesprochen - Übereinstimmung mit den Tatsachen. In dieser Hinsicht war MAUTHNER ein sehr traditioneller Philosoph. In seiner absoluten Ablehnung der Möglichkeit einer solchen Übereinstimmung entfernte er sich jedoch weit von der Tradition. Aus Gründen, die sich auf die Vergeblichkeit aller Versuche eines Brückenbaus zwischen menschlicher Beschaffenheit und Wirklichkeit beziehen, ist das, was da ist, und das, was wir über  es  aussagen, niemals ein und dasselbe. Aus erkenntnistheoretischer Sicht betrachtet, sollte es nun offenbar sein, daß diese Position aussichtslos ist. MAUTHNERs Bedeutung liegt aber nicht hier. Sein origineller Beitrag zur Philosophie ist vielmehr die Diagnose, daß der Grund unseres erkenntnistheoretischen Versagens in unserem Mange an Aufmerkasamkeit gegenüber und unserem Mißverstehen der Beschaffenheit des Berührungspunktes zwischen Mensch und Umgebung - der Sprache - liegt.

MAUTHNER nimmt sicher eine ganz eigene Haltung zu philosophischen Problemen ein, aber man kann ebenso sicher nicht sagen, daß seine Lehre zusammenhängend wäre ("Ich bin kein Systematiker"). Ungeachtet der Frage jedoch, ob System oder nicht, liegt der fundamentale Makel seiner Philosophie darin, daß er wohl die Theorie der privaten, psychologischen Tatsachen, die durch Sprache bezeichnet werden - kurz, den Sensualismus-, vertritt, aber zugleich auch eine Theorie der Öffentlichkeit der Sprache, wenn auch nur auf der Stufe ihrer rein funktionellen Verständlichkeit. Dieser Mangel erschien erstmals in der Philosophie LOCKEs, der niemals zufriedenstellend Rechenschaft über den Übergang von privaten Ideen zu dem Wissen von diesen Ideen abgelegt hat, nicht zu erwähnen den Übergang zu dem, was Ideen wohl zu vertreten haben und was sicherlich öffentlich ist.

Wenn wir nur Ideen kennen und wenn die Ideen privat sind, dann ist alles Wissen in ernsthaften Schwierigkeiten. Diesen Schluß zog HUME aus LOCKEs Privatisierung der Ideen, und dies war genau der Punkt, den KANT in der  transzendentalen Deduktion  zu korrigieren versuchte. Während KANT Privatisierung bis zu dem Ausmaß akzeptierte, daß er ein unzugängliches  Ding ansich  anerkannte, dachte er, daß Objektivität durch Konzentration auf die urteilfällende Fähigkeit des Verstandes und auf den Status der Urteile als Verkörperungen von Wissensansprüchen mit Gewißheit etabliert werden könne. Wenn man sagt, "Dieser Baum ist grün", dann macht die Tatsache, daß das ein Urteil  über  den Baum ist und daher andere zur Zustimmung oder Ablehnung auffordert. Dieses Urteil ist gänzlich verschieden von dem Bericht einer Person über Ideen in ihrem Kopf. Das Urtel ist  objektiv,  weil es ein Urteil  ist,  ungeachtet der subjektiven Basis, auf der es gefällt wird.

MAUTHNERglaubt nicht, daß kantianische Objektivität das ist, was Objektivität sein müßte. Damit geht er sozusagen zu HUME oder sogar zu LOCKE zurück. Sollte von den privaten Ideen LOCKEs darauf geschlossen werden können, daß auch Sprache irgendwie privat sei, dann ist MAUTHNER bereit, mit diesem Schluß übereinzustimmen. Denn wenn wir - wie wir eigentlich müßten - akzeptieren, daß uns die Sprache sagt, was da ist, dann muß, vorausgesetzt, daß nur private Ideen da sind, auch Sprache privat sein.

MAUTHNER übernahm von HUME auch den Gedanken, daß es bezüglich des  Dings ansich,  der Substanz, keine Gewißheit gibt, und so wird er, eben wie LOCKE und HUME, mit dem unlösbaren Problem konfrontiert, wie denn etwas Privates in etwas augenscheinlich Öffentliches, nämlich die Sprache, münden kann. Von hierher rührt MAUTHNERs Pragmatismus an die ihm zugrundeliegende Schicht tiefen, erkenntnistheoretischen Skeptizismus.

Was MAUTHNERs Skeptizismus seine individuelle Färbung gibt, ist seine Verkettung LOCKE-HUMEscher Einsichten mit einer Untersuchung des Wesens der Sprache, vor allem der Frage, ob sie sich auf etwas bezieht. Nur wenn Bezüge und Zuschreibungen von Eigenschaften usw. der Dinge, die richtig bezeichnet sind, angemessen aufgeführt werden können, nur dann dürfte man im Sinne von MAUTHNERs  desiderata (2) von Wahrheit sprechen.

MAUTHNER weist der Idee der Wahrheit als einen Kernpunkt aller möglichen Erkenntnistheorie den Platz zu, der ihm, seiner Meinung nach, eigentlich zukommt. "Objektive Wahrheit ist nur in der Sprache zu suchen, warum sie eben nichts sei, als der gemeine Sprachgebrauch."(3) Die gewichtigen Fragen sind deshalb die nach dem Zustandekommen des gemeinen Sprachgebrauchs, nach seiner eigentlichen Funktion und - vom philosophischen Blickpunkt aus gesehen wohl die interessanteste Frage - nach der sich daraus ergebenden Wahrheit über die Welt und unseren Platz darin.
LITERATUR - Gershon Weiler, Fritz Mauthner - Leben und Werk, Salzburg/Wien 1986
    Anmerkungen
    1) Ontologie = Lehre vom Sein ( von KANT als unhaltbare Metaphysik abgetan)
    2) Gewünschtes, Fehlendes, Lücke
    3) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Leipzig 1923, Nachdruck Hildesheim 1969, Seite 693