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FRANZ von BRENTANO
Psychologie
vom empirischen Standpunkt

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"Wäre das Zeugnis des Gedächtnisses für die Wissenschaft unbrauchbar, so würden mit der Psychologie auch alle anderen Wissenschaften unmöglich werden."

Zweites Kapitel
Über die Methode der Psychologie,
insbesondere die Erfahrung,
welche für sie die Grundlage bildet.


§ 1.
Besonderes Interesse, welches sich an die
Betrachtung der Methode der Psychologie knüpft

Die Methode der Psychologie ist der Gegenstand einer ganz vorzüglichen Aufmerksamkeit geworden. Und in der Tat darf man sagen, daß in dieser Hinsicht keine andere unter den allgemeinen theoretischen Wissenschaften so merkwürdig und lehrreich sei als sie auf der einen und die Mathematik auf der anderen Seite.

Beide verhalten sich zueinander wie entgegengesetzte Pole. Die Mathematik betrachtet die einfachsten, unabhängigsten, die Psychologie die abhängigsten und verwickeltsten Phänomene. Die Mathematik zeigt darum in faßlicher Klarheit die Grundcharaktere jedes wahrhaft wissenschaftlichen Forschens. Nirgends kann man besser die erste deutliche Anschauung von Gesetz, Ableitung, Hypothese und vielen anderen wichtigen logischen Begriffen gewinnen als bei ihr. Und es war ein Zug des Genies, wenn sich PASCAL zur Mathematik wandte, um sich bessere Einsicht in gewisse Grundbegriffe der Logik zu verschaffen und Wesentliches von Unwesentlichem scheidend, die hier entstandene Verwirrung zu lösen. Die Psychologie auf der anderen Seite zeigt allein den ganzen Reichtum, zu welchem die wissenschaftliche Methode sich entfaltet, indem sie den mehr und mehr verwickelten Erscheinungen der Reihe nach sich anzupassen sucht. Beide zusammen werfen ein helles Licht auf alle Weisen der Forschung, die in den vermittelnden Wissensgebieten zur Anwendung kommen. Der Unterschied, den jede folgende gegen die vorangegangene zeigt, und der Grund ihrer abweichenden Eigentümlichkeit, das Wachsen der Schwierigkeit im Verhältnis zur größeren Verwicklung der Phänomene, aber auch das gleichzeitige Wachsen der Hilfsmittel, welches in gewissem Maße wenigstens der Zunahme der Schwierigkeit das Gleichgewicht hält, - das alles tritt natürlich am Deutlichsten dann hervor, wenn man das erste und letzte Gliede der fortlaufenden Kette vergleichend einander gegenüberstellt.

Freilich würde die Fülle des Lichtes eine größere sein, wenn die Methode der Psychologie in sich selbst klarer erkannt und vollkommener ausgebildet wäre. Und in dieser Hinsicht bleibt noch Vieles zu tun übrig, da mit dem Fortschreiten der Wissenschaft auch das wahre Verständnis ihrer Methode sich erst mehr und mehr entwickelt.


§ 2.
Die innere Wahrnehmung als Quelle
psychologischer Erfahrung. Sie darf nicht
mit innerer Beobachtung verwechselt werden.

Die Grundlage der Psychologie wie der Naturwissenschaft bilden Wahrnehmung und Erfahrung. Und zwar ist es vor allem die  innere Wahrnehmung  der eigenen psychischen Phänomene, welche für sie eine Quelle wird. Was eine Vorstellung, was ein Urteil, was Freude und Leid, Begierde und Abneigung, Hoffnung und Furcht, Mut und Verzagen, was ein Entschluß und eine Absicht des Willens sei, davon würden wir niemals eine Kenntnis gewinnen, wenn nicht die innere Wahrnehmung in den eigenen Phänomenen es uns vorführte.

Man merke aber wohl, wir sagten innere  Wahrnehmung,  nicht innere  Beobachtung  sei diese erste und unentbehrliche Quelle. Beides ist wohl zu unterscheiden. Ja, die innere Wahrnehmung hat das Eigentümliche, daß sie nie innere Beobachtung werden kann. Gegenstände, die man, wie man zu sagen pflegt, äußerlich wahrnimmt,  kann  man beobachten; man wendet, um die Erscheinung genau aufzufassen, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. Bei Gegenständen, die man innerlich wahrnimmt, ist dies aber vollständig unmöglich. Dies ist insbesondere bei gewissen psychischen Phänomenen, wie z. B. beim Zorn unverkennbar. Denn wer den Zorn, der in ihm glüht, beobachten wollte, bei dem wäre er offenbar bereits gekühlt, und der Gegenstand der Beobachtung verschwunden. Dieselbe Unmöglichkeit besteht aber auch in allen anderen Fällen. Es ist ein allgemein gültiges psychologisches Gesetz, daß wir niemals dem Gegenstand der inneren Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden vermögen. Wir werden uns später eingehend damit zu beschäftigen haben; für jetzt genüge der Hinweis auf die Erfahrung, die jeder Unbefangene an sich selber macht. Auch die Psychologen, welche eine innere Beobachtung für möglich halten, heben sämtlich wenigstens ihre außerordentliche Schwierigkeit hervor. Und hierin liegt wohl das Zugeständnis, daß eine solche auch ihnen in den meisten Fällen nicht gelungen ist. In den Fällen aber, in welchen sie sie ausnahmsweise gelungen glaubten, sind sie ohne Zweifel einer Selbsttäuschung verfallen. Nur während man mit seiner Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstand zugewandt ist, geschieht es, daß auch die auf ihn bezüglichen psychischen Vorgänge nebenbei zur Wahrnehmung gelangen. So kann die Beobachtung der physischen Phänomene in der äußeren Wahrnehmung, indem sie uns für die Erkenntnis der Natur Anhaltspunkte gibt, zugleich ein Mittel psychischer Erkenntnis werden. Und die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die physischen Phänomene in der Phantasie ist sogar, wenn nicht ausschließlich, doch jedenfalls zunächst und hauptsächlich für psychische Gesetze die Erkenntnisquelle.

Nicht ohne Grund heben wir diesen Unterschied zwischen innerer Wahrnehmung und innerer Beobachtung hervor und betonen mit Nachdruck, daß die eine, nicht aber ebenso die andere bei den in uns bestehenden psychischen Phänomenen statthaben könne. Denn bis jetzt hat dies, meines Wissens, noch kein Psychologe getan, und die nachteiligen Folgen, welche sich an eine solche Vermischung und Verwechslung knüpften, waren beträchtlich. Ich weiß Beispiele von jungen Leuten, die, im Begriff sich mit dem Studium der Psychologie zu beschäftigen, an der Schwelle der Wissenschaft an der eigenen Befähigung verzweifeln wollten. Man hatte sie auf die innere Beobachtung als die vorzüglichste Quelle psychologischer Erkenntnis hingewiesen. Sie hatten sie versucht, sie hatten angestrengt sich darum bemüht und waren wiederholt dazu zurückgekehrt; aber ganz vergeblich hatten sie sich gequält, ein Taumel verworrener Ideen und ein müder Kopf waren das Einzige, was sie davontrugen. So kamen sie denn zu dem allerdings richtigen Schluß, daß sie zur Selbstbeobachtung keine Fähigkeit besäßen, und hieran knüpfte sich ihnen, vermöge der ihnen beigebrachten Meinung, der Glauben, daß es ihnen für eine psychologische Forschung an Begabung fehle.

Andere, die nicht in dieser Weise, wie durch einen Popanz zurückgeschreckt, im Weiterschreiten aufgehalten wurden, kamen zu anderen Irrtümern. Viele fingen an, physische Phänomene, wie namentlich alle diejenigen, welche uns in der Phantasie erscheinen, für psychische zu nehmen und so das Heterogenste bunt durcheinander zu werfen. Die vorausgehenden Bemerkungen über den Vorteil, welchen die Psychologie aus der aufmerksamen Betrachtung der Phantasiegebilde zieht, lassen diesen Mißgriff begreiflich erscheinen. Aber so lange er ohne Berichtigung blieb, konnte natürlich weder die Klassifikation der psychischen Phänomene gelingen, noch der Versuch einer Feststellung der Eigentümlichkeiten und Gesetze für die einzelnen Klassen einen befriedigenden Erfolg haben. Mit der Verwirrung hinsichtlich der Phänomene hingen dann notwendig weitere Unordnungen zusammen, und so konnte es geschehen, daß das angebliche Feld der Beobachtungen oft zum Tummelplatz willkürlicher Einfälle wurde. FORTLAGE in seinem "System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinnes", aber keineswegs er allein, liefert hierfür zahlreiche Belege. Und ganz richtig ist, was LANGE in seiner "Geschichte des Materialismus" über ihn bemerkt: "Zuerst macht er sich den inneren Sinn zurecht, dem er eine Reihe von Funktionen zuschreibt,  die sonst dem äußeren Sinn zugeschrieben wurden;  dann steckt er sich sein Beobachtungsfeld ab" (indem er sagt, das Beobachtungsfeld der Psychologie sei der Mensch, insofern er mit dem inneren Sinne wahrgenommen werde) "un beginnt zu beobachten." Und die Kritik wird scharf, bleibt aber nicht ohne Wahrheit, wenn LANGE fortfährt: "Man würde vergeblich einen Preis darauf setzen, wenn jemand in den beiden dicken Bänden eine einzige wirkliche Beobachtung auftriebe. Das ganze Buch bewegt sich in allgemeinen Sätzen mit einer Terminologie von eigener Erfindung, ohne daß je eine einzelne bestimmte Erscheinung mitgeteilt wird, von welcher FORTLAGE angeben könnte, wann und wo er sie gehabt hätte, oder wie man es etwa machen müßte, um sie auch zu haben. Es wird uns ganz schön beschrieben, wie z. B. bei der Betrachtung eines Blattes, sobald man die Gestalt desselben auffallend findet, diese Gestalt zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, "wovon die notwendige Folge ist, daß die der Gestalt des Blattes nach dem Gesetz der Ähnlichkeit  angeschmolzene Gestaltskala  dem Bewußtsein hell wird". Es wird uns gesagt, daß das Blatt nun "im Einbildungsraum in der Skala der Gestalten zergeht", aber wann, wie und wo dies einmal so begegnet ist, und auf welche Erfahrung sich diese "empirische Erkenntnis eigentlich begründet, bleibt ebenso unklar, wie die Art und Weise, wie der Beobachter den "inneren Sinn" anwendet, und die Beweise dafür, daß er sich eines solchen Sinnes bedient, und nicht etwa seine Einfälle und Erfindungen aufs Geratewohl zum System kristallisieren läßt." (1)

Solche Verirrungen, die keineswegs vereinzelt geblieben sind - war ja doch die innere Beobachtung der in uns gegenwärtigen psychischen Zustände bis zur Stunde ein fast allgemein angenommenes Dogma der Psychologen -, führten auf der anderen Seite zu einer Kritik dieses Begriffs. Man kam zur Einsicht, daß eine solche innere Beobachtung in Wahrheit gar nicht bestehe; aber indem man wiederum die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Wahrnehmung vernachlässigte, leugnete man nun zugleich die Möglichkeit der inneren Wahrnehmung.

COMTE ist in diesen Fehler gefallen. "Jllusorisch" nennt er in seinem "Cours de Philosophie Positive" (2) die Psychologie, welche "den Anspruch erhebe, die Grundgesetze des menschlichen Geistes, indem sie ihn in sich selbst betrachte, zu entdecken." "Durch eine seltsame Spitzfindigkeit hat man in letzter Zeit zwei Arten von Beobachtung von gleicher Bedeutung unterscheiden wollen, eine äußere nämlich und eine innere Beobachtung, von welchen die letztere einzig der Untersuchung der intellektuellen Phänomene geweiht sein sollte. Ich muß mich hier darauf beschränken, nur  einen  Gedanken anzudeuten, der vor anderem deutlich beweist, wie diese direkte Betrachtung des Geistes durch sich selbst eine reine Jllusion ist. Noch vor Kurzem glaubte man, das Sehen erklärt zu haben, indem man sagte, daß die Lichteinwirkung der Körper ein Gemälde von deren äußerer Gestalt und Farbe auf der Retina entwerfe. Und dagegen haben die Physiologen mit Recht eingewendet, daß wenn die Lichteindrücke wie  Bilder  wirkten, ein anderes Auge nötig sein würde, um sie anzuschauen. Liegt aber nicht der gleiche Fall in noch verstärktem Maße auch hier vor? In der Tat ist es offenbar, daß vermöge einer unabänerlichen Notwendigkeit der menschliche Geist alle, nur nicht die eigenen Phänomene direkt beobachten kann, fehlt es ja doc hier an dem, welcher die Beobachtung machen könnte." Hinsichtlich der moralischen Phänomene, meint COMTE, könne man allerdings geltend machen, daß die Organe, deren Funktion sie sind, von denen des Denkens verschieden seien, so daß bei ihnen nur der Umstand hinderlich werde, daß sich ein sehr ausgesprochener Affekt nicht mit dem Zustand der Beobachtung vertrage. "Was aber die Beobachtung eigener intellektueller Phänomene während ihres Verlaufs anlangt, so besteht dafür eine offenbare Unmöglichkeit. Das denkende Individuum kann sich nicht in zwei zerteilen, von welchen das eine nachdenkt, während das andere es nachdenken sieht. Das Organ, welches beobachtet, und das, welches beobachtet wird, sind in diesem Fall identisch, wie könnte also die Beobachtung stattfinden? Diese angebliche psychologische Methode ist also schon von der Wurzel aus nichtig in ihrem Prinzip. Und zu welchen ganz widersprechenden Weisen des Verfahrens wird man nicht alsogleich dadurch geführt! Auf der einen Seite wird man angewiesen, sich von jeder äußeren Wahrnehmung möglichst zu isolieren und insbesondere jede intellektuelle Arbeit sich zu untersagen; denn was sollte, wenn man sich auch nur mit dem einfachsten mathematischen Exempel beschäftigte, aus der inneren Beobachtung werden? Auf der anderen Seite, wenn man endlich durch solcherlei Maßnahmen zu diesem Zustand vollkommenen intellektuellen Schlafes gelangt ist, soll man sich mit der Betrachtung der Tätigkeiten abgeben, die sich im Geist abspielen, wenn nichts mehr in ihm vorgeht. Unsere Nachkommen, ohne Zweifel, werden ein Unternehmen wie dieses zu ihrer Belustigung einmal auf die Bühne gebracht sehen."

So verwirft denn COMTE nicht bloß die innere Beobachtung, deren Unmöglichkeit er richtig erkannt hat, wenn auch die Erklärung, die er davon gibt, von zweifelhaftem Wert ist, sondern mit ihr zugleich und unterschiedslos auch die innere Wahrnehmung der eigenen intellektuellen Phänomene. und  was  soll für sie einen Ersatz geben? "Ich schäme mich fast, es zu sagen," bemerkt JOHN STUART MILL, wo er über ihn berichtet, "es ist die Phrenologie!" Und leicht gelingt es seiner Kritik, zu zeigen, wie aus den Phänomenen, die sich uns äußerlich darbieten, eine Vorstellung von Urteil oder Schluß nie hätte gewonnen werden können. Allein MILL ist seinerseits dem, was Wahres in den Bemerkungen von COMTE liegt, nicht vollkommen gerecht geworden; und so vermochte sein Ansehen nicht zu verhindern, daß die von ihm bekämpfte Ansicht bei vielen seiner Landsleute Eingang fand. So verwirft z. B. auch MAUDSLEY in seiner "Physiologie und Pathologie der Seele" das Selbstbewußtsein als eine Quelle psychologischer Erkenntnis. Und sein wesentlichster Grund ist das Argument von COMTE, auf welchen er auch ausdrücklich hinweist. (3) Da MAUDSLEY, hierin vom französischen Denker abweichend, dieselben Nervenzentren als den Sitz der moralischen wie intellektuellen Phänomene betrachtet, so hat bei ihm das Argument eine noch größere Tragweite. Doch hält er sich nicht streng an die Konsequenzen, die sich ergeben müßten, fest, und hie und da erkennt er dem Zeugnis des Selbstbewußtseins (welches er eigentlich ganz leugnen sollte) wohl auch eine gewisse untergeordnete Bedeutung zu.

In Deutschland wurde F. A. LANGE durch die Verwechslung von innerer Beobachtung und innerer Wahrnehmung und die daran sich knüpfende Verwirrung, von der oben die Rede war, ebenfalls zur Leugnung der inneren Wahrnehmung geführt. Daß es nicht richtig sei, wie KANT neben dem äußeren einen inneren Sinn zu unterscheiden, der ebenso die psychischen Phänomene wie jener die physischen beobachte, scheint ihm schon aus dem, was KANT selbst über die Folgen solcher innerer Beobachtungsversuche berichtet, hervorzugehen. Sagt er ja doch, sie seien "der gerade Weg, in Kopfverwirrung zu geraten", und wir machten hier "vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben". Die Vermengung aber, die LANGE bei FORTLAGE findet, bringt ihn auf den Gedanken, daß "zwischen innerer und äußerer Beobachtung in keiner Weise eine feste Grenze zu ziehen" sei. Bezüglich der sogenannten subjektiven Farben oder Töne z. B. wirft er die Frage auf, in welches der beiden Gebiete sie zu zählen seien. Er würde aber nicht so fragen, wenn er nicht gefunden hätte, daß man die Betrachtung der Farben, die in der Phantasie erscheinen, zu den Beobachtungen des inneren Sinnes rechnete. Indem er nun mit Recht die Verwandtschaft der aufmerksamen Betrachtung solcher Phänomene, welche wir in der Phantasie vorstellen, mit der Beobachtung beim Sehen geltend macht, kommt er dazu, zu erklären, "daß die Natur aller und jeder Beobachtung dieselbe ist, und daß der Unterschied hauptsächlich nur darin liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, daß sie von anderen gleichzeitig oder später ebenfalls gemacht werden kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung entzieht." (4) Mit der inneren Beobachtung gibt er gerade so wie COMTE die innere Wahrnehmung auf und hält die äueßre allein fest, indem er bei ihr nur den Namen als unstatthaft tadelt.

So führt hier dieselbe Unterlassung einer einfachen Unterscheidung Verschiedene nach verschiedener und entgegengesetzter Seite in Irrtümer. Denn, daß es wirklich Irrtümer sind, dürfte schon aus dem bisher Gesagten erhellen, deutlicher aber noch wird es sich zeigen, wenn wir vom Unterschied der physischen und psychischen Phänomene und vom inneren Bewußtsein handeln werden.

Also die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind. Und diese innere Wahrnehmung ist nicht mit einer inneren Beobachtung der in uns bestehenden Zustände zu verwechseln, da eine solche vielmehr unmöglich ist.


§ 3.
Betrachtung früherer psychischer
Phänomene im Gedächtnis

Es ist offenbar, daß hier die Psychologie den anderen allgemeinen Wissenschaften gegenüber in großem Nachteil erscheint. Denn ohne Experiment sind zwar manche unter ihnen, wie namentlich die Astronomie; ohne Beobachtung aber ist keine.

In Wahrheit würde die Psychologie geradezu zur Unmöglichkeit werden, wenn sich für den Mangel kein Ersatz böte. Einen solchen findet sie aber, bis zu einem gewissen Grad wenigstens durch die Betrachtung früherer psychischer Zustände im  Gedächtnis Dieses wurde schon oft als das vorzüglichste Mittel, sich von psychischen Tatsachen Kenntnis zu verschaffen, geltend gemacht, und Denker ganz verschiedener Richtungen stimmten darin überein. HERBART hat nachdrücklich darauf hingewiesen, und JOHN STUART MILL bemerkt in seiner Schrift über COMTE, es sei möglich, eine psychische Erscheinung im darauffolgende Augenblick mittels des Gedächtnisses zu untersuchen. "Und dieses ist", fügt er bei, "in Wahrheit die Weise, in der wir gemeiniglich den besten Teil unserer Kenntnis psychischer Akte uns erwerben. Wir reflektieren auf das, was wir getan, wenn der Akt vorüber, aber sein Eindruck noch frisch im Gedächtnis ist."

Wenn der Versuch, den Zorn, der uns bewegt, beobachtend zu verfolgen, durch Aufhebung des Phänomens unmöglich wird, so kann dagegen ein Zustand früherer Aufregung offenbar keine Störung mehr erleiden. Auch gelingt es wirklich, dem vergangenen psychischen Phänomen so wie einem gegenwärtigen physischen mit Aufmerksamkeit sich zuzuwenden und es in dieser Weise sozusagen zu beobachten. Ja, man könnte sagen, daß sogar das Experiment mit eigenen Seelenerscheinungen auf diesem Weg möglich werde. Denn wir können absichtlich durch mannigfache Mittel gewisse Seelenerscheinungen in uns hervorrufen, um zu erfahren, ob sich diese oder jene Erscheinung als Folge daran knüpfe, indem wir dann das Resultat des Versuches mit aller Ruhe und Aufmerksamkeit im Gedächtnis betrachten.

So schiene denn  einem  Übelstand wenigstens abgeholfen. Das Gedächtnis, wie es in allen Erfahrungswissenschaften die Ansammlung beobachteter Tatsachen zum Zweck der Feststellung allgemeiner Wahrheiten möglich macht, ermöglicht in der Psychologie zugleich die Beobachtung der Tatsachen selbst. Und ich zweifle nicht, daß die Psychologen, welche ihre eigenen psychischen Phänomene in innerer Wahrnehmung beobachtet zu haben glaubten, in Wahrheit das getan hatten, wovon MILL in der angezogenen Stelle sprach. Sie hatten jüngst vergangenen Akten, deren Eindruck noch frisch im Gedächtnis war, ihre Aufmerksamkeit zugewandt.

Freilich ist das, was wir in dieser Weise Beobachtung im Gedächtnis nennen könnten, offenbar kein volles Äquivalent für die eigentliche Beobachtung gegenwärtiger Ereignisse. Das Gedächtnis ist, wie jeder weiß, in vorzüglichem Maße Täuschungen unterworfen, während die innere Wahrnehmung untrüglich ist und jeden Zweifel ausschließt. Indem die Erscheinungen, welche das Gedächtnis bewahrt, für die der inneren Wahrnehmung als Ersatz eintreten, kommt mit ihnen zugleich Unsicherheit und die Möglichkeit vielfältiger Selbsttäuschungen in das Gebiet. Und ist einmal die Möglichkeit dafür gegeben, so liegt auch die Wirklichkeit nicht fern, da gewiß hinsichtlich der eigenen psychischen Akte jene vorurteilslose Stimmng, deren Beobachter bedarf, am Schwersten zu erreichen ist.

So kommte es, daß, während die Einen die Untrüglichkeit des Selbstbewußtseins anpreisen, Andere, wie z. B. auch MAUDSLEY (5), ihm die größte Unzuverlässigkeit zum Vorwurf machen. Und wenn die Ersteren sich auf die Evidenz der inneren Wahrnehmung berufen, so können dafür die Letzteren auf die häufigen Jllusionen hinweisen, denen nicht etwa bloß Geisteskranke, sondern, man darf sagen, in gewissem Grad alle Menschen hinsichtlich ihrer selbst sich hingeben. Auch wird es so begreiflich, wie sich unter den Psychoologen oft Streit erhob, obwohl die Lösung der Frage in der inneren Wahrnehmung, mit unmittelbarer Evidenz gegeben, vorlag. Daß die Beobachtung nur im Gedächtnis stattfinden konnte, hatte dem Zweifel die Tür geöffnet. Wenn man noch heute über die Frage uneinig ist, ob eine Gefühlserregung, Lust oder Unlust, jedes psychische Phänomen begleite, so ist dies die Folge der eben angedeuteten Verhältnisse. und die grundlegende Frage über die höchsten Klassen der psychischen Phänomene würde ohne sie längst zur Entscheidung und zum Abschluß gebracht worden sein. Das Hinernis ist so bedeutend, daß wir uns öfter in die Notwendigkeit versetzt sehen werden, durch förmliche Beweisführung und durch reductio ad absurdum Meinungen zu widerlegen, welche eigentlich durch die Evidenz der inneren Wahrnehmung unmittelbar als falsch zu erkennen sind.

Doch wie groß auch immer der Nachteil sein mag, der sich an die mangelhafte Zuverlässigkeit des Gedächtnisse knüpft, es wäre offenbar eine törichte Übertreibung, wenn man der eigenen inneren Erfahrung deshalb allen Wert absprechen wollte. Wäre das Zeugnis des Gedächtnisses für die Wissenschaft unbrauchbar, so würden mit der Psychologie auch alle anderen Wissenschaften unmöglich werden.


§ 4.
Indirekte Erkenntnis fremder psychischer
Phänomene aus ihren Äußerungen

Aber ein anderer Umstand bleibt, der die Psychologie den Naturwissenschaften gegenüber mehr noch in Nachteil zu bringen droht. Was immer wir innerlich wahrnehmen und nach der Wahrnehmung im Gedächtnis beobachten mögen, sind psychische Erscheinungen, die in unserem eigenen Leben aufgetreten sind. Jede Erscheinung, welche nicht zum Verlauf dieses individuellen Lebens gehört, liegt außerhalb des Gesichtskreises. Aber wie reich auch ein Leben an merkwürdigen Phänomenen sein mag - und jedes, auch das ärmste, zeigt eine wunderbare Fülle -, ist es nicht offenbar, daß es arm sein muß im Vergleich mit dem, was in tausend und abertausend anderen beschlossen, unserer inneren Wahrnehmung entzogen ist? Diese Beschränkung ist umso fühlbarer, als das Verhältnis des einen zum anderen menschlichen Individuum, was das innere Leben angeht, nichts weniger als demjenigen gleicht, welches zwischen zwei Individuen derselben Species unorganischer Körper, z. B. zwischen zwei Wassertropfen, besteht. Vielmehr, wie auf physiologischem Gebiet zwei Individuen derselben Art immer gewisse Abweichungen zeigen, so ist dies, und in noch viel höherem Maße, auch auf psychischem Gebiet der Fall. Auch da, wo zwischen zwei Menschen, wie man sagt, die innigste geistige Verwandtschaft besteht, bleibt die Verschiedenheit so bedeutend, daß es Gelegenheiten gibt, bei welchen der eine mit dem anderen weder übereinzustimmen, noch sein Verhalten zu begreifen vermag. Und wie groß sind nicht die Unterschiede und Gegensätze in Talent und Charakteranlage, die sich in anderen Beispielen zeigen, wenn wir die individuelle Begabung eines PINDAR und ARCHIMEDES, eines SOKRATES und ALKIBIADES vergleichen, oder auch allgemein den männlichen und weiblichen Charakter einander gegenüberstellen? von Erscheinungen an Kretinen und Wahnsinnigen, die wir als anormal und krankhaft bezeichnen, gar nicht zu sprechen. Wenn wir nun in unserer Beobachtung auf ein einziges Individuum beschränkt sind, ist es dann anders denkbar, als daß unsere Übersicht über die psychischen Phänomene eine äußerst unvollständige sein werde? Und werden wir nicht unvermeidlich in den Fehler fallen, individuelle Eigenheiten mit allgemeinen Zügen zu verwechseln? Unleugbar ist dies der Fall, und der Übelstand scheint umso größer, als nicht einmal das eigene Seelenleben in seiner ganzen Entwicklung unserer Untersuchung vorliegt. Wie weit auch der Blick unseres Gedächtnisses zurückreiche, die ersten Anfänge sind in undurchdringlichen Nebel gehüllt. Und doch würden gerade diese am Besten die allgemeinsten psychischen Gesetze uns erkennen lassen, da zu Beginn die Erscheinungen am Einfachsten auftreten, während die spätere Zeit, da jeder psychische Eindruck sich in gewissen Nachwirkungen erhält, einen bis ins Unendliche verwickelten, unentwirrbaren Knäuel unzähliger Ursachen darbietet.

Noch nach einer anderen Seite zeigt sich der Nachteil einer solchen Lage. Wie der Gegenstand der Beobachtung ein einziger ist, - ein einziges und, wie wir sagten, nur teilweise zu überblickendes Leben - so ist auch der Beobachter ein einziger, und kein Anderer ist imstande, seine Beobachtung zu kontrollieren. Denn so wenig ich die psychischen Phänomene eines Anderen, so wenig vermag ein Anderer die meinigen durch innere Wahrnehmung zu erfassen. Die Naturwissenschaft erscheint hier wiederum viel günstiger gestellt. Dieselbe Sonnenfinsternis und derselbe Komet werden von Tausenden wahrgenommen, und eine Beobachtung, die nur Einer gemacht hätte, und die kein Zweiter zu bestätigen vermöchte, wie etwa die eines neuen Planeten, welchen ein Astronom gesehen haben wollte, ohne daß ein Anderer den Stern wiederaufzufinden fähig wäre, würde mit wenig sicherem Vertrauen aufgenommen werden.

So bliebe denn immer noch die Erfahrungsgrundlage der Psychologie eine ebenso ungenügende als unzuverlässige, wenn sie sich allein auf die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene und ihre Betrachtung im Gedächtnis beschänkte.

Dieses jedoch ist nicht der Fall. Zur direkten Wahrnehmung unserer eigenen kommt eine  indirekte Erkenntnis fremder psychischer Phänomene.  Die Erscheinungen des inneren Lebens pflegen, wie man es nennt, sich zu äußern, d. h. sie haben äußerlich wahrnehmbare Veränderungen zur Folge.

Am Vollkommensten äußern sie sich, wenn jemand sie geradezu in Worten beschreibt. Freilich würde diese Beschreibung unverständlich oder vielmehr unmöglich sein, wenn das psychische Leben des Einen von dem des Anderen so verschieden wäre, daß sie keinerlei homogene Phänomene enthielten. Dann wäre der Austausch ihrer Gedanken wie zwischen einem von Geburt Blinden und Geruchlosen, wenn dieser die Farbe, jener den Geruch des Veilchens dem Anderen angäbe. Allein so ist der Fall nicht. Es zeigt sich im Gegenteil, daß unsere Fähigkeit zu gegenseitiger verständlicher Mitteilung sich über alle Gattungen der Erscheinungen erstreckt, und daß wir uns selbst von psychischen Zuständen, die jemand im Fieber oder unter anderen abnormen Bedingungen erfuhr, nach seiner Beschreibung eine Vorstellung machen können. Auch kommt es nicht wohl vor, daß ein Gebildeter, wenn er über seine inneren Zustände berichten will, in der Sprache kein Mittel findet, sich auszudrücken. Und hieraus entnehmen wir einerseits den Beweis, daß die individuelle Verschiedenheit von Personen und Lagen doch keine so tiefgreifende ist, wie man sonst hätte vermuten können, und daß, wenigstens den Gattungen nach, die psychischen Phänomene jedem, der nicht eines Sinnes beraubt, oder sonst abnorm gebildet oder unreif ist, vollzählig in der inneren Erfahrung geboten werden; andererseits aber erwächst uns daraus die Möglichkeit, mit den eigenen inneren Erfahrungen das, was ein Anderer in sich beobachtet hat, zu verbinden und da, wo die Beobachtungen sich auf gleichartige Erscheinungen beziehen, die eigenen durch die fremden in derselben Weise zu kontrollieren, wie das, was ein amerikanischer Forscher mit Licht und Wärme experimentiert, durch den Versuch, den ein anderer in Europa an spezifisch gleichen Erscheinungen macht, bestätigt oder auch erschüttert wird. Auch die Sprache selbst, welche die beiden, die miteinander über ihr Inneres reden, gemeinsam von ihrem Volk oder von der früheren Wissenschaft ererbt haben, kann, wie anderwärts in Bezug auf äußere Phänomene, so hier hinsichtlich der psychischen Erscheinungen ihre Kenntnis fördern, indem sie ihnen in einer Art von vorläufiger Klassifikation die verschiedenen vorzüglichen Klassen von Phänomenen, nach dem Gesichtspunkt besonderer Verwandtschaft übersichtlich zusammengeordnet, vorführt.

Endlich ergibt sich aus dem Gesagten der Wert, den das Studium der Selbstbiographien für den Psychologen hat, wenn man nur dem Umstand, daß der Beobachter und Berichterstatter hier mehr oder minder befangen ist, gebührend Rechnung trägt. FEUCHTERSLEBEN sagt in dieser Beziehung, man dürfe bei einer Selbstbiographie nicht sowohl auf das, was sie berichte, als auf das, was sie unwillkürlich verrate, Acht haben. -

Minder vollkommen zwar, aber dennoch oft in genügend deutlicher Weise können sich die psychischen Zustände auch ohne sprachliche Mitteilung äußerlich kundgeben.

Hierher gehören vor allem die Handlungen und das willkürliche Tun. Ja, der Schluß, den diese auf die inneren Zustände, aus welchen sie hervorgehen, gestatten, ist oft viel sicherer als der, welcher sich auf mündliche Aussagen gründet. Das alte "verba docent, exempla trahunt" [Worte belehren, Beispiele überzeugen! - wp] würde nicht eine täglich sich bestätigende Wahrheit sein, wenn nicht das praktische Verhalten allgemein als der zuverlässigere Ausdruck der Überzeugung betrachtet würde.

Außer diesen willkürlichen gibt es aber auch unwillkürliche physische Veränderungen, welche gewisse psychische Zustände naturgemäß begleiten oder ihnen nachfolgen. Der Schrecken erblaßt, die Furcht zittert, die Röte der Scham überzieht die Wangen. Und schon ehe man, wie es DARWIN in neuester Zeit wieder getan hat, mit dem Ausdruck der Gemütsbewegungen sich wissenschaftlich beschäftigt hatte, war man durch die einfache Gewohnheit und Erfahrung in weitem Umfangs über diesen Zusammenhang belehrt, so daß nun die physische Erscheinung, die man beobachtete, der unsichtbaren psychischen als Zeichen diente. Es ist offenbar, daß diese Zeichen nicht das Bezeichnete selbst ind, und daß darum nicht, wie Manche töricht genug glauben machen wollten, die äußere und, wie man sie rühmend nannte, "objektive" Beobachtung psychischer Zustände losgelöst von der "subjektiven" inneren eine Quelle psychologischer Erkenntnis werden könnte. Aber mit ihr vereint wird sie in hohem Maße dazu dienen, unsere eigenen inneren Erfahrungen durch das, was Anderes in sich erleben, zu bereichern und zu ergänzen, und Selbsttäuschungen, in die wir verfallen sind, zu berichtigen.


§ 5.
Studium eines Seelenlebens,
das einfacher als das unsrige ist

Von einem ganz vorzüglichen Wert wird es sein, wenn wir auf die eine oder andere der angegebenen Weisen uns einen Einblick in die Zustände eines  einfacheren Seelenlebens  als das unsrige verschaffen können, sei nun dasselbe bloß darum einfacher, weil es minder entwickelt ist, oder darum, weil gewisse Gattungen von Phänomenen gänzlich davon ausgeschlossen sind. Das Erste ist insbesondere bei Kindern, und bei ihnen in umso höherem Grad der Fall, je geringerer der Zeitraum, der seit der Geburt verflossen ist. Man hat daher mehrfach an Neugeborenen Beobachtungen und Experimente gemacht. Aber auch die Betrachtung der Erwachsenen bei Völkerstämmen, welche in der Kultur zurückgeblieben sind, ist in dieser Hinsicht wertvoll. Erscheint ihre Bedeutung nach der einen Seite geringer, so hat man dafür den Vorteil, daß an die Stelle mehr oder minder mißverständlicher Zeichen die deutlichere Äußerung sprachlicher Mitteilung treten kann. Schon LOCKE hat darum auch von diesem Mittel Gebrauch gemacht, und mehr noch wandte man in neuester Zeit im Interesse der Psychologie den Erscheinungen bei den Naturvölkern seine Aufmerksamkeit zu.

Ein Fall der zweiten Art ist der von Blindgeborenen, bei welchen die Vorstellungen von Farben sowie alle diejenigen fehlen, welche etwa noch außer denselben durch den Gesichtssinn allein erworben werden können. Bei ihnen wird ein Doppeltes von Interesse sein, einmal zu sehen, inwieweit sich ohne Hilfe des Gesichts ein Vorstellungsleben entwickelt, und namentlich, ob sie von den räumlichen Verhältnissen in ähnlicher Weise wie wir Kenntnis haben; dann aber, wenn etwa eine gelungene Operation ihnen später das Sehen möglich macht, die Natur der ersten Eindrücke, welche sie auf diesem Weg empfangen, zu erforschen.

Weiter noch gehören hierher die Beobachtungen, die man zu psychologischen Zwecken an Tieren macht. Nicht bloß das psychische Leben der niederen und des einen oder anderen Sinnes beraubten, auch das der höchst gestellten Tierarten erscheint dem des Menschen gegenüber außerordentlich einfach und beschränkt, sei es nun, weil sie dieselben Fähigkeiten wie er in einem ungleich geringeren Grad besitzen, sei es, weil gewisse Klassen psychischer Phänomene gar nicht bei ihnen vorhanden sind. Die Entscheidung dieser Frage selbst ist offenbar von der höchsten Bedeutung. Und sollte etwa die letztere Ansicht, welcher, wie in früheren Zeiten ARISTOTELES und LOCKE, noch heute die große Mehrzahl der Menschen huldigt, als die richtige sich ergeben, so hätten wir hier gewiß den allermerkwürdigsten Fall von isolierter Betätigung gewisser psychischer Kräfte vor uns. Übrigens wird nach jeder Theorie, die sich nicht so weit vom gesunden Menschenverstand entfernt, daß sie den Tieren alles psychische Leben abspricht, die Erforschung und die Vergleichung ihrer psychischen Eigentümlichkeiten mit denen des Menschen für den Psychologen von größtem Wert sein.


§ 6.
Betrachtung krankhaften Seelenlebens

In einer anderen Weise ist die aufmerksame Verfolgung  krankhafter Seelenzustände  von Bedeutung und mehrfach hat das theoretische, viel häufiger aber noch das praktische Interesse zu Beobachtungen an Idioten und Irren getrieben, welche für die Psychologie wertvolles Material lieferten. Wie die hierher gehörigen Erscheinungen selbst, so sind natürlich auch die Dienste, welche sie der Psychologie leisten können, von sehr verschiedener Art. Bald zeigt sich die Krankheit im Einfluß einer konstanten oder, wie man sagt, "fixen" Idee, welche in weitem Kreis das Seelenleben affiziert; von den Ursachen der Erscheinung ganz abgesehen, können hier die Gesetze der zusammengesetzten Ideenassoziation wertvolle Jllustrationen finden. Bald erscheinen gewisse Funktionen in übermäßiger Weise gesteigert oder in äußerstem Maß geschwächt, und indem andere im Zusammenhang mit ihnen gehoben oder herabgestimmt werden, wird dadurch auf die Gesetze ihres Zusammenhanges ein Licht geworfen. Einen ganz besonderen Wert haben die Phänomene des Blödsinns und Wahnsinns und anderer krankhafter Erscheinungen für die Untersuchungen über die Weise der Verbindung der psychischen Phänomene mit unserem leiblichen Sein, wenn, wie es fast immer der Fall ist, diese entarteten psychischen Erscheinungen mit wahrnehmbaren Abnormitäten körperlicher Organe verknüpft sind. Im Übrigen sind diejenigen im Unrecht, welche diesen krankhaften Zuständen eine vorzüglichere oder auch nur eine gleich große Aufmerksamkeit wie denen des gesunden Seelenlebens zugewandt wissen wollen. Zunächst wird es auf die Feststellung der Verhältnisse der Koexistenz und Sukzession bei normalen physiologischen Zuständen ankommen, und erst wenn diese in sich selbst, bis zu einem gewissen Maß wenigstens, genügend beobachtet und verallgemeinert sind, wird sich das Herbeiziehen jener Anomalien als nützlich erweisen. Dann wird einerseits für sie eine richtigere Beurteilung möglich werden, indem sich ja bei ihnen sozusagen unter veränderten Zusammenstellungen und unter neuen Verwicklungen, welche die Folge von Revolutionen auf vegetativem Gebiet sind, dieselben Gesetze, die das normale Leben beherrschen, wirksam zeigen. Und dann - aber erst dann - wird auch andererseits das Verständnis dieser Gesetze und des gewöhnlichen Verlaufs der Phänomene, indem sie auch scheinbare Ausnahmen erklärend mit umfassen, selbst durch ihre Berücksichtigung erweitert und vertieft werden. Gerade hinsichtlich derjenigen Fälle, die wir am meisten mit Neugier anstaunen, wird die Wißbegrier am spätesten solche Erfolge erzielen. Nur Schritt für Schritt kann man sich ihrer Erklärung näher. Und bis zu einem fortgeschritteneren Stadium der Entwicklung von Psychologie und Physiologie wird die Beschäftigung damit fast ebenso müßig und unfruchtbar sein, als es ihrer Zeit die Liebhaberei der Zoologen an seltsamen Mißgeburten gewesen ist.


§ 7.
Studium hervorragender Tatsachen
im Leben Einzelner wie in dem der Völker

Weil es also vor allem darauf ankommt, das Normale kennen zu lernen, so wird zunächst die Beobachtung außerordentlicher Erscheinungen bei gesunder physischer Disposition im Ganzen für uns lehrreicher sein. Die Biographien von Männern, welche als Künstler, Forscher oder große Charaktere hervorleuchteten, aber auch die von großen Verbrechern, und ebenso das Studium des einzelnen hervorragenden Kunstwerkes, der einzelnen merkwürdigen Entdeckung, der einzelnen großen Handlung und des einzelnen Verbrechens, soweit ein Einblick in die Motive und vorbereitenden Umstände möglich ist, werden der psychologischen Forschung schätzbare Anhaltspunkte bieten. So liefert die Geschichte in den großen Persönlichkeiten, die sie uns vorführt, und in den epochemachenden Begebenheiten, von denen sie erzählt und die gewöhnlich in irgendwelchen bedeutenden Mann, in dem der Geist einer Zeit oder einer sozialen Bewegung gleichsam verkörpert erscheint, ihren Träger haben, gar manche für den Psychologen wichtige Tatsache. Das helle Licht, in welchem sich dieselbe darbietet, kommt ganz besonders der Beobachtung zustatten.

Aber auch der Gang der Weltgeschichte an und für sich, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, die sich in den Maßen darstellen, die Fortschritte und die Rückschritte, das Aufblühen und der Untergang der Völker mögen oft demjenigen große Dienste leisten, welcher die allgemeinen Gesetze der psychischen Natur des Menschen aufsuchen will. Die vornehmsten Eigentümlichkeiten des Seelenlebens können da, wo es sich um Massen handelt, oft sichtbarer hervortreten, während untergeordnete Besonderheiten sich ausgleichen und verschwinden. Schon PLATON hoffte, auf den Staat und die Gesellschaft hinblickend in großen Zügen das geschrieben zu finden, was die Seele des Einzelnen in kleinerer Schrift in sich enthielt. Er glaubte, daß seine drei Seelengebiete den drei wesentlichen Klassen im Staat dem Nährstand, dem Wehrstand und dem Stand der Herrscher entsprächen, und fand eine weitere Bestätigung für sie im Vergleich der Grundzüge der verschiedenen Völkergruppen, der Ägypter und Phönizier, der tapferen nordischen Barbaren und der bildungsliebenden Hellenen. Vielleicht würde ein Anderer in den erhabenen Phänomenen der Kunst, Wissenschaft und Religion einen Hinweis auf verschiedene Grundanlagen des höheren psychischen Lebens vermuten. Und auch das war schon oft und gewiß nicht ohne Wahrheit im Großen darstelle, was sich in analoger Weise in der Entwicklungsgeschichte des Einzelnen im Kleinen wiederhole. Freilich, wenn die Betrachtung der Phänomene der menschlichen Gesellschaft auf die psychischen Phänomene des Einzelnen Licht wirft, so ist doch auch das Umgekehrte und wohl in reicherem Maße, der Fall, und es wird im Allgemeinen der naturgemäßere Weg sein, wenn man aus dem was man beim Einzelnen gefunden hat für das Verständnis der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, als wenn man umgekehrt aus der Betrachtung dieser für die Probleme der individuellen Psychologie Aufschlüsse zu gewinnen sucht.

Das Gesagte genügt, um zu zeigen, welchem Kreis der Psychologe die Erfahrungen entnimmt, die er seiner Forschung nach den psychischen Gesetzen zugrunde legt. Wir fanden für sie als erste Quelle die  innere Wahrnehmung,  welcher der Nachteil anhaftete, daß sie nie Beobachtung werden kann. Zu ihr kam das Betrachten unserer früheren psychischen Erlebnisse im  Gedächtnis,  und hier war eine Hinwendung der Aufmerksamkeit und sozusagen eine Beobachtung möglich. Das bis dahin auf die eigenen inneren Phänomene beschränkte Feld der Erfahrung erweiterte sich dann, indem uns die  Äußerungen  des psychischen Lebens Anderer indirekt einen Einblick in fremde psychische Phänomene gewährten. Gewiß wurde hierdurch die Zahl der für die Psychologie merkwürdigen Tatsachen tausendfach vermehrt. Aber diese letzte Art von Erfahrungen setzte die Beobachtung im Gedächtnis, so wie diese die innere Wahrnehmung gegenwärtiger psychischer Erscheinungen voraus, welche somit für beide die letzte und unentbehrliche Vorbedingung bildet. Auf der inneren Wahrnehmung also - darin bleibt die ältere Psychologie COMTE gegenüber im Recht - erhebt sich recht eigentlich der Bau dieser Wissenschaft wie auf seiner Grundlage.
LITERATUR - Franz von Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Leipzig, 1874
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH ALBERT LANGE, Geschichte des Materialismus, 1. Auflage, Seite 466
    2) AUGUSTE COMTE, Cours de Philosophie Positive I, 2. ed. Paris 1864, Seite 30f
    3) HENRY MAUDSLEY, Die Physiologie und Pathologie der Seele, 2. Auflage, deutsch von RUDOLF BOEHM, Würzburg 1870, Seite 9, 35
    4) LANGE, Geschichte des Materialismus, 1. Auflage, Seite 469
    5) MAUDSLEY, a. a. O. Seite 9f