ra-2Felix DahnEmil LaskJulius von KirchmannGustav von RümelinOtto Gierke  
 
RUDOLF von JHERING
Der Zweck im Recht
(6/7)

12. Der Zweck des Rechts
- die Lebensbedingungen der Gesellschaft (1)

    I. Das Zweckgesetz
II. Der Zweckbegriff beim Tier
VII. Der Lohn
VIIIa. Der Zwang 1 - Das Tier / Der Mensch
VIIIb. Der Zwang 2 - Das Recht
VIIIc. Der Zwang 3 - Unterordnung der Staatsgewalt
VIIId. Der Zwang 4 - Der Zweck des Rechts


"Auf dem Gebiet der Wissenschaft gibt es keine Autorität, die dem Irrtum die Macht der Wahrheit verliehe, wie dies beim Recht der Fall ist, die Sätze der Wissenschaft lassen sich stets anfechten, die des Rechts haben positive Geltung; auch wer sie als Irrtum erkannt hat, muß sich ihnen unterwerfen."

Die beiden im Bisherigen entwickelten Momente des Rechts im objektiven Sinn: die Norm und der Zwang sind rein  formale  Momente, die uns über den  Inhalt  des Rechts nichts aussagen; mittels ihrer wissen wir nur, daß die Gesellschaft gewisse Dinge von ihren Mitgliedern erzwingt, aber nicht warum und wozu; es ist die äußere  Form  des Rechts, die sich überall gleich bleibt, fähig, den verschiedensten Inhalt in sich aufzunehmen. Erst durch den Inhalt erfahren wir, wozu das Recht der Gesellschaft eigentlich dient und das bildet die Aufgabe der folgenden Darstellung.

Eine unlösbare Aufgabe, höre ich ausrufen, denn dieser Inhalt ist ja ein ewig wechselnder, hier dieser, dort jener, ein Chaos in unausgesetztem Fluß begriffen, ohne Bestand, ohne Regel. Was hier verboten, ist dort erlaubt, was hier vorgeschrieben, dort untersagt. Glaube und Aberglaube, Roheit und Kultur, Rachsucht und Liebe, Grausamkeit und Menschlichkeit und was soll ich sonst noch nennen? alles hat im Recht willige Aufnahme gefunden, widerstandslos scheint es sich allen Einflüssen, die mächtig genug sind, es sich dienstbar zu machen, zu fügen, ohne eigenen festen inneren Halt. Der Widerspruch, der ewige Wechsel scheint inhaltlich das Wesen des Rechts auszumachen.

Das Resultat wäre ein wahrhaft trostloses, wenn die Verwirklichung eines  an sich Wahren  die Aufgabe des Rechts bildete.

Unter dieser Voraussetzung könnten wir nicht anders, als eingestehen, daß das Recht zum ewigen Irren verdammt sei. Jede folgende Zeit würde, indem sie das Recht änderte, über die vorhergehende, welche in ihren Rechtssätzen das an sich Wahre getroffen zu haben glaubte, den Stab brechen, um ihrerseits bald wieder des Irrtums geziehen zu werden. Die Wahrheit würde dem Recht stets um einige Schritte voraus sein, ohne je eingeholt zu werden, ein Schmetterling, den ein Knabe zu haschen sucht, - kaum schleicht er heran, so entfliegt er ihm wieder.

Auch die Wissenschaft ist zum ewigen Suchen verdammt. Aber ihr Suchen ist nicht bloßes Suchen, sondern stetes Finden - was sie wirklich gefunden hat, verbleibt ihr für ewige Zeiten. Und ihr Suchen ist völlig frei. Auf ihrem Gebiet gibt es keine Autorität, die dem Irrtum die Macht der Wahrheit verliehe, wie dies beim Recht der Fall ist, die Sätze der Wissenschaft lassen sich stets anfechten, die des Rechts haben positive Geltung; auch wer sie als Irrtum erkannt hat, muß sich ihnen unterwerfen.

Wer derartige Klagen über das Recht laut werden läßt, hat sich selber anzuklagen, denn er legt an das Recht einen Maßstab an, der für dasselbe nicht paßt: den der  Wahrheit.  Wahrheit ist das Ziel der  Erkenntnis aber nicht das des  Handelns Die Wahrheit ist stets nur  eine  und jede Abweichung von ihr ist Irrtum, der Gegensatz von Wahrheit und Irrtum ist ein absoluter. Aber für das Handeln oder was dasselbe ist für den Willen gibt es keinen absoluten Maßstab, so daß nur der eine Willensinhalt der wahre, jeder andere ein falscher wäre, sondern der Maßstab ist ein relativer, der Willensinhalt kann in dieser Lage, auf dieser Stufe in anderer sein, als auf jener und gleichwohl in beiden der richtige, d. h. der zweckentsprechende sein.

Die Richtigkeit des Willensinhaltes liegt beschlossen in seinem  Zweck.  Nach diesem mit jedem Wollen gegegeben Moment der  Richtung  auf den Zweck, d. i. das Ziel des Wollens, charakterisiert die Sprache das Handeln entweder als ein  richtiges  oder als ein  unrichtiges. Richtigkeit  ist der Maßstab des  Praktischen,  d. h. des Handelns,  Wahrheit  der des  Theoretischen,  d. h. des Erkennens. Richtigkeit bezeichnet die Übereinstimmung des  Willens  mit dem, was sein  soll,  Wahrheit die der  Vorstellung  mit dem, was  ist.  Von dem Arzt, der ein verkehrtes Mittel verschreibt, sagen wir nicht, daß er ein unwahres, sondern daß er ein unrichtiges Mittel gewählt habe. Nur insofern das Finden der Wahrheit als  praktische  Aufgabe gesetzt oder gedacht wird, also als etwas, wobei es des Suchens, Ringens, Sichabmühend, kurz der Anstrengung der  Willenskraft  bedarf, wenden wir auch auf diese lediglich der Wahrheit zukehrende Aufgabe den Ausdruck "richtig" an. Wir sagen dem Schüler, daß er sein Exempel richtig gerechnet, vom Arzt, daß er den Zustand des Kranken richtig erkannt habe, wir haben dabei nicht die Wahrheit als solche im Auge, sondern das Subjekt, welches dieselbe  sucht,  ihre Auffindung sich als  Ziel  vorgesetzt hat und von diesem subjektiven Standpunkt bezeichnen wird die Erreichung des Ziels als  richtig. 

Der Ausdruck "richtig" schließt die Vorstellung der Richtung, d. i. des Weges in sich, den jemand einzuschlagen hat, um das Ende desselben: das Ziel zu erreichen. Es ist dieselbe Vorstellung, welche die Sprache, wie wir oben sahen, im Recht in so reicher Weise verwendet hat (Richter, Richtsteig, Weg Rechtens, recht = gerade, regere, rex, regula, rectum, regieren, dirigere, directum, diritto, derecho, droit). Alle diese Ausdrücke sind nicht dem eigentümlichen Wesen des Rechts als solchem entnommen, sondern dem, was das Recht als Vorschrift des menschlichen Handelns mit jedem Handeln gemeinsam hat: die Innehaltung des geraden, rechten, richtigen Weges, die Richtung auf das Ziel, den Zweck.

So erklärt es sich, daß wir uns des Ausdrucks "recht" auch im nichtjuristischen Sinn für richtig, angemessen bedienen. So sagen wir z. B. vom Arzt, daß er das  rechte  Mittel ergriffen habe, d. h. dasjenige, welches dem Zweck entsprach. Ja, wir gehen auch hier (wie bei "richtig") noch einen Schritt weiter. Wir gebrauchen den Ausdruck "recht" auch für die Wahrheit, insofern sie mit dem Zweck in Beziehung tritt. Wir sagen vom Schüler, daß er seine Aufgabe "recht" gemacht habe und von demjenigen, der etwas behauptet oder ein Urteil fällt, daß er "Recht" habe; wir nennen einen Menschen "rechthaberisch", der hartnäckig seine Ansichten verteidigt. In allen diesen Fällen handelt es sich allerdings um die Wahrheit, aber um die Wahrheit unter dem Gesichtspunkt eines praktischen Zwecks (Suchen, Finden, Behaupten, Verteidigen, Leugnen).

Ich kehre zurück zu meiner obigen Behauptung: der Maßstab des Rechts ist nicht der absolute der Wahrheit, sondern der relative des Zwecks. Darin liegt, daß der Inhalt des Rechts ein unendlich verschiedener nicht bloß sein  kann,  sondern sein  muß.  So wenig der Arzt allen Kranken dasselbe Mittel verschreibt, sondern seine Mittel dem Zustand des Patienten anpaßt, ebensowenig kann das Recht überall dieselben Bestimmungen erlassen, es muß sie vielmehr ebenfalls dem Zustand des Volkes, seiner Kulturstufe, den Bedürfnissen der Zeit anschmiegen oder richtiger, es ist dies kein bloßes Soll, sondern eine geschichtliche Tatsache, die sich stets und überall mit Notwendigkeit vollzieht. Die Idee, daß das Recht im Grunde überall dasselbe sein müsse, ist um nichts besser, als daß die ärztliche Behandlung bei allen Kranken die gleiche sein müsse - ein Universalrecht für alle Völker und Zeiten steht auf einer Linie mit einem Universalrezept für alle Kranke, es ist der ewig zur Suche stehende Stein der Weisen, den in Wirklichkeit nicht die Weisen, sondern nur die Toren zu suchen ausgehen können.

In ihrem innersten Grunde falsch, weil auf einer Übertragung des nur für die Erkenntnis zutreffenden Gesichtspunktes der Wahrheit auf das Wollen beruhend und darum mit der Geschichte in unversöhnbarem Widerspruch, hat diese Anschauung doch einen gewissen Schein der Wahrheit für sich. Gewisse Rechtssätze wiederholen sich bei allen Völkern, Mord und Raub sind überall verboten, Staat und Eigentum, Familie und Vertrag kehren überall wieder. Folglich! Da kommt ja die Wahrheit zum Vorschein, das sind ja offenbar absolute  Rechtswahrheiten,  über welche die Geschichte keine Macht hat. Mit demselben Recht könnte man die Grundeinrichtungen der menschlichen Kultur: Häuser, Straßen, Bekleidung, Gebrauch von Feuer und Licht Wahrheiten nennen. Es sind Niederschläge der Erfahrung in Bezug auf die gesicherte Erreichung gewisser menschlicher Zwecke. Die Sicherung der öffentlichen Straßen gegen Straßenräuber ist um nichts weniger ein Zweck als die Sicherung derselben gegen Überschwemmung durch Dämme. Das Zweckmäßige verliert dadurch nicht den Charakter des Zweckmäßigen, daß diese seine Eigenschaft über allen Zweifel erhaben, in diesem Sinn also wahr ist.

Nun mag eine Wissenschaft, die wie die des Rechts das Zweckmäßige zum Gegenstand hat, immerhin alle diejenigen Einrichtung, die in dieser Weise ihre Probe in der Geschichte bestanden haben, von den übrigen, die sich nur einer bedingten (zeitlichen oder örtlichen) Zweckmäßigkeit rühmen können, unterscheiden und sie zu einer besonderen Klasse zusammenfassen, wie dies die Römer mit dem jus gentium und der naturalis ratio im Gegensatz zum jus civile und der civilis ratio taten, aber sie soll nicht vergessen, daß sie es auch hier nicht mit dem Wahren, sondern mit dem Zweckmäßigen zu tun hat. Wie wenig sie dies beachtet hat, werde ich in dem zweiten Teil des Werks Gelegenheit haben nachzuweisen, das "Rechtmäßige", das sie als das eigentlich Wahre, weil ewig Bleibende im Recht, im Gegensatz zum "Zweckmäßigen" als dem Vergänglichen und Vorübergehenden stellt, wird sich dort als eine Art des letzteren ergeben: das zur festen Gestalt Niedergeschlagene, Verdichtete im Gegensatz zum noch Flüssigen, Beweglichen. Es ist das Zweckmäßige, das die Probe von vielen Jahrtausenden bestanden hat, die niederste, im tiefen Grunde abgelagerte Schicht desselben, welche alle andern trägt und darum in ihrem Bestand völlig gesichert. Aber der Bildungsprozess dieser tiefsten Schicht ist kein anderer gewesen, als der der jüngern, sie ist nichts als abgelagerte, durch die Erfahrung erprobte und über allen Zweifel erhobene Zweckmäßigkeit.

Alles, was auf dem Boden des Rechts sich findet, ist durch den Zweck ins Leben gerufen und um eines Zweckes willen da, das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung, bei der nur die meisten einzelnen schöpferischen Akte in eine so ferne Vergangenheit zurückreichen, daß der Menschheit die Erinnerung daran verloren gegangen ist. Sache der Wissenschaft ist es, wie in Bezug auf die Bildung der Erdrinuge, so auch in Bezug auf die Bildungsgeschichte des Rechts die wirklichen Vorgänge zu rekonstruieren und das Mittel dazu gewährt ihr der Zweck. Nirgends ist für denjenigen, der das Suchen und Nachdenken nicht scheut, der Zweck so sicher zu entdecken, wie auf dem Gebiet des Rechts - ihn zu suchen, ist die höchste Aufgabe der Rechtswissenschaft, gleichmäßig in Bezug auf die Dogmatik, wie in Bezug auf die Geschichte des Rechts.

Was ist nun der Zweck des Rechts?
LITERATUR, Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, Leipzig 1893