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LEONARD NELSON
Jakob Friedrich Fries und
seine jüngsten Kritiker


"Bei der Frage nach der richtigen Methode zu philosophieren handelt es sich überall um einen Gegensatz zweier Grundansichten, der sich unter verschiedenen Namen als der Streit der metaphysischen und der anthropologischen, der objektiven und subjektiven, der kritischen und genetischen, der erkenntnistheoretischen und psychologischen oder der transzendentalen und psychologischen Methode geltend gemacht hat."

"Die Psychologie ist eine empirische, die Philosophie eine rationale Wissenschaft. Die Wahrheiten der Psychologie sind zufällige Tatsachen, die der Philosophie notwendige Gesetze. Die Gegenstände der ersteren sind Sache der Kenntnis, die der letzteren sind Sache der Einsicht. Die Psychologie ist eine induktive Naturwissenschaft, die Philosophie eine reine Vernunftwissenschaft."


Einleitung
Über die Wahrheit in der Philosophie

Man hat in der neueren Zeit von einem "Kant-Friesischen Problem" gesprochen. Man hat dabei an die von KUNO FISCHER in seiner Prorektoratsrede 1862 erörterte Frage angeknüpft, "ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein soll", eine Frage, die gleichbedeutend ist mit derjenigen, ob die wahre Fortbildung der von KANT begründeten kritischen Philosophie bei den deutschen Identitätsphilosophen oder bei FRIES zu suchen ist. KUNO FISCHER selbst entscheidet zwar gegen FRIESens anthropologische Auffassung der Kritik, meint indessen doch, daß diese "anthropologische Auffassung der Kritik in die Entwicklung der kritischen Philosophie gehört", und daß es "von großer Bedeutung ist, daß ein bedeutender Denker wie FRIES sie annahm und durchführte". "Verliere" auch infolge dieser Auffassung "die Vernunftkritik ihre ganze Bedeutung", so sei doch die Durchführung derselben "sein großes, geschichtlich denkwürdiges Verdienst". Fragt man aber angesichts dieser Beurteilung: "Wo bleibt die Wahrheit?", so lautet FISCHERs Antwort: Eine "allzeit fertige Wahrheit kennt der echte Geist der Philosophie nicht", in der Philosophie gilt vielmehr der Satz: "Wahre Probleme sind auch Wahrheit." Und "die Frage, ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein soll", ist ein solches "echtes, in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit KANT unvermeidliches Problem". (1)

Eine andere als eine solche problematische Wahrheit scheint in der Tat FRIESens Beteiligung an der Ausbildung der deutschen Philosophie seit dieser Darlegung KUNO FISCHERs nicht mehr zuerkannt worden zu sein. Und so ist seitdem FRIESens Name und Verdienst in der wissenschaftlichen Welt nahezu als verschollen zu betrachten. Abgesehen von den wenigen literarischen Erzeugnissen der Friesschen Schule und von einigen Stellen, an denen einer oder der andere der sogenannten Neukantianer der FRIESschen Wendung der Kritik eine wegwerfende Bemerkung schenkt, davon abgesehen kommt fast nur einigen jüngeren Gelehrten das Verdienst zu, sich der Erhaltung seines Namens angenommen zu haben. Diese haben, im Anschluß an KUNO FISCHER, es sich angelegen sein lassen, in besonderen Darstellungen die verkehrte Art seines Philosophierens den Zeitgenossen als abschreckendes Beispiel vorzuhalten und im Vernichtungskampf gegen seine rückschrittlichen Tendenzen ihre jugendlichen Kräfte zu erproben.

Bereits der erste unter diesen hat, nach seiner eigenen Aussage,
    "nicht bloß den Kernpunkt der Friesschen Philosophie getroffen, sondern ist der Friesschen Anmaßung bis in ihre letzten und äußersten Schlupfwinkel gefolgt." (2)
Dennoch fühlten sich andere berufen, den Kampf von Neuem zu beginnen, sei es nun, um dem nur Scheintoten den völligen Garaus zu machen, sei es, um den Toten auch noch im Schlupfwinkel seines Grabes aufzustören.

Diese sich immer wiederholenden Widerlegungen bieten ein höchst seltsames Schauspiel. Warum bedarf es immer erneuter Prüfungen und Zurückweisungen der FRIESschen Anmaßung? Steckt das FRIESsche Philosophem so voller Irrtümer und Verkehrtheiten, daß sie sich gar nicht in absehbarer Zeit alle ausrotten lassen? Bedarf es vielleicht darum immer weiterer Polemik, weil des Unsinns zu viel ist, um mit ihm gänzlich aufzuräumen? Ist das letztere nicht der Fall, ist FRIES wirklich endgültig widerlegt, so sollte man ihn doch ein für allemal ad acta legen. Die Frage verlohnt daher einer Prüfung, ob man, nach dem heutigen Stand der Literatur, annehmen darf, daß eine solche endgültige Widerlegung stattgefunden hat. Läßt sich zeigen, daß die Hinfälligkeit seines Philosophems bereits bestimmt erwiesen ist, so könnte dieser Nachweis, sollte er auch sonst kein Interesse beanspruchen, doch insofern nützlich sein, als dadurch zukünftigen Forschern die Arbeit eines abermaligen Eingehens auf diesen FRIES und eine nochmalige Auseinandersetzung mit ihm erspart würde.

Denkt man an KUNO FISCHERs Ausspruch: eine allzeit fertige Wahrheit kennt der echte Geist der Philosophie nicht, so läßt sich freilich nicht die Vermutung abweisen, daß das merkwürdige Schauspiel der nicht enden wollenden Reihe von Widerlegungen der FRIESschen Vernunftkritik vielleicht noch einen anderen Grund hat. So Recht nämlich auch KUNO FISCHER seiner Zeit gehabt haben mag, als der das "proton pseudos" [erster Irrtum - wp] der FRIESschen Kritik und die "verwundbare Stelle an ihrem anthropologischen Grundgedanken" (3) aufdeckte, so möchten doch vielleicht jene jüngeren Kritiker nicht bedacht haben, daß die Zeit der Wahrheit der FISCHERschen Entdeckung bereits überschritten gewesen ist. Falls diese Vermutung zuträfe, würden wir den in der Philosophie nicht seltenen und sogar den echten philosophischen Geist jener FISCHERschen Entdeckung kennzeichnenden Fall vor uns haben, daß der Entdecker die Zeit der Wahrheit seiner eigenen Entdeckung überlebt hat. In diesem Fall würde das Bedürfnis einer stets fortgesetzten Erneuerung der Kritik der FRIESschen Philosophie in der Unzulänglichkeit dieser Kritik eine ungezwungene Erklärung finden.

Diese Vermutung wird auch noch durch eine andere Erwägung nahe gelegt. FRIES war nämlich, wie einer seiner jüngsten Kritiker in einem "das Ganze zusammenfassenden Urteil über ihn" treffend sagt, ein "Wissenschaftler" (4), speziell ein Mathematiker und Naturwissenschaftler. Seine ganze Arbeit, soweit sie dem Gebiet der theoretischen Philosophie angehört, ist der Grundlegung der mathematischen Naturwissenschaft gewidmet. Seine eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik, der Astronomie, der Physik und der Physiologie wurden von den großen Mathematikern und Naturforschern seines Zeitalters, von Männern wie GAUSS, MÖBIUS, SCHLÖMILCH, ALEXANDER von HUMBOLDT und SCHLEIDEN außerordentlich hoch geschätzt. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften gilt aber nicht der Satz, daß wahre Probleme auch Wahrheit sind und daß es keine allzeit fertige Wahrheit gibt. Der Mathematiker und Naturforscher sucht die Wahrheit nicht in den Problemen, sondern einzig und allein in der Auflösung der Probleme. Diese Wahrheit gewinnt er durch Anschauung und durch Induktion aus Experiment und Beobachtung, und wenn er sie einmal gefunden hat, so bleibt sie ihm unabänderlich stehen, unbekümmert um alle Spekulationen der Philosophen. Was daher vor hundert Jahren mathematische und naturwissenschaftliche Wahrheit war, ist es auch heute noch. Und so könnte sich denn vielleicht bei einer Prüfung herausstellen, daß FRIESens Arbeiten, so fremd sie jenem echten philosophischen Geist auch sein mögen, vielleicht gerade für die prinzipiellen mathematisch-naturwissenschaftlichen Angelegenheiten unserer Tage sich als umso wertvoller erweisen.


I. Fries' Verhältnis zur
genetischen Methode

Es ist gemeinhin die Ansicht verbreitet, es sei eine Forderung der wissenschaftlichen Gerechtigkeit, sich bei einem philosophischen Streit auf den Standpunkt des Gegners zu versetzen und auf seine Voraussetzungen einzugehen. Diese Forderung erscheint uns jedoch nirgends so ungerechtfertigt wie gerade in der Philosophie. Denn den richtigen Standpunkt überhaupt erst zu gewinnen und die richtigen Voraussetzungen zuerst aufzufinden, möchte eben die Hauptschwierigkeit in der Philosophie sein, und somit auch dasjenige, um das zu streiten vorzüglich der Mühe lohnt. Hat man nämlich erst einmal den rechten Standpunkt eingenommen, so dürfte alles weitere ein verhältnismäßig leichtes Spiel sein; denn ist man erst im Besitz der richtigen Voraussetzungen, so beschränkt sich das noch übrige Geschäft in der Philosophie - wo es doch nicht, wie in anderen Wissenschaften, darauf ankommt, den allgemeinen Voraussetzungen erst aus der Erfahrung das Feld ihrer Anwendungen zu verschaffen - lediglich darauf, die Konsequenzen aus denselben zu ziehen, die doch mit jenen Voraussetzungen stehen und fallen. Hat man sich über den Standpunkt und den Ausgangspunkt des Schließens geeinigt, so wird man sich mit gutem Willen auch bald über die Entwicklung der Resultate einigen können. Damit also diese Entwicklung der Resultate einen Zweck und Wert erhält, wird es nötig sein, zuvor den Ausgangspunkt sicher zu stellen. Dieser wird daher in einem wissenschaftlichen philosophischen Streit zunächst allein den Gegenstand der Untersuchung bilden müssen. Das heißt aber nichts anderes als: aller wahrhaft fördernde Streit in der Philosophie wird der Streit um die rechte Methode zu philosophieren sein, und man wird das Streiten um die Resultate solange aussetzen müssen, bis man sich darüber geeinigt hat, aufgrund welcher Methode man zu den Resultaten gelangen will.

Nach dieser Regel werden wir den Streit um die FRIESische Philosophie zu beurteilen haben. Wir werden also zunächst nur fragen, ob die von FRIES befolgte Methode bisher widerlegt worden ist. Kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Behauptung von FRIES' Gegnern, er habe in seiner Methode zu philosophieren fehlgegriffen, zu Recht besteht, so sind wir zugleich aller Mühe enthoben, noch ferner auf die Kritik der Resultate seines Systems einzugehen.

Die Frage nach der richtigen Methode zu philosophieren ist in neuerer Zeit wiederholt zum Gegenstand besonderer Erörterungen gemacht worden. Dabei handelt es sich überall um einen Gegensatz zweier Grundansichten, der sich unter verschiedenen Namen als der Streit der metaphysischen und der anthropologischen (5), der objektiven und subjektiven (6), der kritischen und genetischen (7), der erkenntnistheoretischen und psychologischen (8) oder der transzendentalen und psychologischen (9) Methode geltend gemacht hat. Auf die Methode von FRIES hat man bei diesen Erörterungen im allgemeinen keine Rücksicht genommen. Wo sein Name erwähnt wird, da geschieht es nur beispielsweise, um einen Repräsentanten der genetischen Methode oder des "Psychologismus" zu nennen. So ist von den Anhängern der "transzendentalen Methode" ohne Ausnahme über ihn als einen Vertreter des "Psychologismus" das Verdammungsurteil gesprochen worden. Einer Definition dieses Terminus hat man sich dabei allerdings allemal überhoben. Wir werden indessen wohl nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, daß dadurch nicht eine psychologische Lehre als solche bezeichnet werden soll, sondern nur diejenige tatsächlich psychologische Lehre, die mit dem Anspruch auftritt, eine philosophische zu sein. Psychologismus wäre danach der Standpunkt all derer, die die Philosophie als eine psychologische Wissenschaft auszubilden suchen. So wird man z. B. die Behauptung von LIPPS, die Logik sei eine psychologische Disziplin (10), als psychologistisch zu bezeichnen keine Bedenken tragen.

Ich führe zunächst zum Beleg des Gesagten einige Beispiele an. COHEN urteilt über FRIES unter anderem folgendermaßen:
    "Die Beziehung der Philosophie auf mathematische Naturwissenschaft hat unter den Kantianern vorzugsweise Jacob Friedrich Fries, in willkürlicherem Verhältnis auch Johann Friedrich Herbart vorgeschwebt ... Wie dieses Verhältnis jedoch zu gewinnen und zu fixieren ist, das haben beide, wie sehr sie im Einzelnen auseinandergehen, gemeinsam verfehlt ... Sie gehen darauf aus, ein Seelengemälde von den Vorgängen im Erkennen zu entwerfen, suchen darin die Selbständigkeit philosophischer Arbeit und füllen die Metaphysik wieder mit eigenen Ausgeburten an, anstatt die Grundlagen der Wissenschaft keusch zu empfangen, und in der kritischen Charakteristik derselben die erzeugende Mitwirkung der Metaphysik zu rekognoszieren ... Es fehlt ihnen der Begriff der kritischen Methode. Diese Methode ist die transzendentale." (11)
WINDELBAND läßt sich bei seiner Darstellung des Gegensatzes der kritischen und der genetischen Methode folgendermaßen vernehmen:
    "Der Psychologismus, wie ihn etwa die Fries und Beneke darstellen, oder wie er sich in der völkerpsychologischen Richtung neu entwickelt hat, verdankt die große Überlegenheit, die er den entsprechenden früheren Theorien gegenüber zweifellos besitzt, lediglich dem Anschluß an die kritische Philosophie. Das ist die Größe des Kantianismus, daß er alle seine Gegner veredelt hat." (12)
Ganz ähnlich äußert sich MAX SCHELER:
    "Fries, der die psychogenetische Methode auf die Aprioritätslehre Kants im Geiste von Leibniz anwandte, fand noch keine so bestimmte Gegnerschaft von solchen vor, welche die transzendentale Methode allein als die rechte Methode der Erkenntnistheorie behaupteten, als daß sich seine Methode rein dabei herausgebildet hätte." (13) -
Und in der neuesten Beurteilung der FRIESischen Philosophie lesen wir:
    "Dem Gegensatz zwischen Psychologismus und Neukantianismus in der gegenwärtigen Philosophie entspricht der Gegensatz zwischen der Neuen kritischen Vernunft von Fries und der kantischen Vernunftkritik, so wie sie von der Mehrzahl der Ausleger aufgefaßt wird." (14)
Den Grund, auf den die genannten Autoren diese Urteile über FRIES stützen, habe ich in den Schriften von FRIES nicht ausfindig zu machen vermocht. Vielmehr weisen alle mir bekannt gewordenen Äußerungen von FRIES auf eine strenge Unterscheidung psychologischer und philosophischer Erkenntnisweise. Was insbesondere die genetisch-psychologische Methode in der Philosophie betrifft, so hat sich FRIES wiederholt mit unverkennbarer Deutlichkeit gegen deren Vertreter unter seinen Zeitgenossen erklärt; und seine eigene Methode bestimmt er gelegentlich geradezu negati durch den Gegensatz gegen die der genetischen Psychologie. Sie ist
    "keine Geschichte der Vernunft, wie sie sich im Kind zum Erwachsenen, zum Greis entwickelt, wie sie mit Wachen und Schlafen erscheint, wie sie sich nach Mann und Weib, nach Konstitution, Volk und Rasse nuanciert, oder wie sie in körperlichen und Geisteskrankheiten verletzt und zerstört wird. Dieses sind Aufgaben für die psychische Anthropologie, wir suchen hingegen eine Beschreibung der Vernunft, um zu einer Theorie derselben zu gelangen ..." (15) -
Gegen BENEKE erklärt FRIES sich folgendermaßen:
    "Beneke setzt bei dem Vorwurf gegen mich, daß ich das Ende zum Anfang mache, voraus, daß die Psychologie genetische Gesetzes des Geisteslebens, die Gesetze der Entstehung desselben geben soll, aber das wird immer eine Täuschung bleiben. Nur den schon zu einer gewissen Reife gediehenen Geist kann ich in mir beobachten, über die Entwicklung des Geistes von der ersten Kindheit herauf kann ich nur Hypothesen machen und diese selbst nur verstehen durch die Vergleichung mit dem schon zu größerer Reife gediehenen Leben ... Ich kann also Benekes Hoffnung, auf seinem Weg der Psychologie ein ganz neues Heil zu bereiten, gar nicht teilen, mir scheint vielmehr, daß er auf eine ganz irrige Weise zum Empirismus der englischen Schule zurückkehr, und uns Leibnizianern untreu geworden ist. Seine Methode bringt ihn nämlich ganz um die großen Vorteile, welche die Psychologie von der Kritik der Vernunft erhalten hat. Ich will mich bemühen, ihn auf diesen entscheidenden Punkt aufmerksam zu machen. Der feste Wiederhalt all unserer geistigen Selbsterkenntnis liegt einzig in dem Gedankengerüst der synthetischen notwendigen Wahrheiten, deren wir uns nur mit Bewußtsein überhaupt (nach der kantischen Benennung) bewußt werden, welches Bewußtsein überhaupt in jeder Behauptung eines Urteils lebt und uns nicht eine Geistestätigkeit zeigt, welche uns gestern oder heute oder zu irgendeiner bestimmten Zeit zukommt, sondern die unserem Geist schlechthin gilt für alle Zeit oder vielmehr ohne dabei der Wandelbarkeit der Zeit zu gedenken. Ihre klarsten Beispiele sind die einleuchtenden mathematischen Wahrheiten (so wie sie Platon im Dialog Menon lehrt, was ich meine), aber in gleicher Weise gehören dahin auch alle philosophischen Überzeugungen vom Wahren und Guten. Dieses Bewußtsein überhaupt und seine notwendigen Wahrheiten wird Beneke mit seiner genetischen Psychologie nie erreichen. Spreche er nun von präformierten oder prädeterminierten Vermögen des Geistes ..., er wird sich nie den zeitlichen Ursprung dieser Erkenntnisse und Überzeugungen im menschlichen Geist zu erklären vermögen. Sie sind ganz unabhängig von den sinnlichen Anreizungen und Entwicklungen in unserer Vernunft gegründet und werden mit Bewußtsein überhaupt in uns zur Einsicht gebracht, nicht als etwas jetzt erst uns zufallendes, sondern schlechthin als unser ursprüngliches Eigentum. Wir beobachten diese notwendigen Grundbestimmungen unserer Geistestätigkeiten im denkend entwickelten Leben, aber ihre Entstehung ist gar nicht wissenschaftlich zu erfragen, sondern des Sokrates Weisheit, die eigene Unwissenheit kennen zu lernen, ist hier allein zur Stelle ..." (16)
Ähnlich äußert sich FRIES in seiner "Geschichte der Philosophie":
    "Aber das versteht Herr Beneke wieder nicht, weil ihn seine unglückliche genetische Psychologie irre macht. So versteht er Kants Ausdruck Erkenntnis rein a priori gar nicht. Er hält ihn für einen genetischen Begriff dessen, was wir früher als alle Erfahrung erkennen sollen und sagt dann mit Fug und Recht, solche Erkenntnisse gebe es genau genommen für das menschliche Erkenntnisvermögen nicht. Kants Erkenntnisse rein a priori gelten aber weder vor noch nach der Erfahrung, sondern in der Erfahrung, aber niicht durch Wahrnehmung und Beobachtung. Notwendige Wahrheiten sind gar nicht zeitlich entstanden im menschlichen Geist, sondern sie gelten mit Bewußtsein überhaupt und sind ursprünglich im menschlichen Erkenntnisvermögen gegründet. Kants Ausdruck a priori geht gar nicht subjektiv auf den Anfang unserer Vorstellungen, sondern bezeichnet eine Erkenntnisweise, welche Bestimmungen eines Gegenstandes erkennen läßt, ohne daß diese zuvor beobachtet worden wären. So gelten die geometrischen Gesetze rein a priori nicht nur an unserer Erde, sondern in allen Himmelsräumen, nicht nur heute oder morgen, sondern schlechthin, ohne alle Rücksicht auf den Zeitverlauf. Die Gesetze der allgemeinen Gravitation gelten z. B. so gut für die unbekannten wie für die bekannten Planeten; darum konnte Bode gleichsam auf den ersten Blick die Bahn des Uranus, Gauß die der Ceres bestimmen. Ein solches ursprüngliches Eigentum unseres Erkenntnisvermögens sind also die Anschauungen a priori und bestimen deswegen für sich nur Erkenntnisse mit Bewußtsein überhaupt." (17)
Auch im Streit gegen HERBART kehren dieselben Einwendungen wieder:
    "Herbart hat sich von Anfang an von Fichtes Phantasie leiten lassen, daß alle menschliche Erkenntnis aus dem sich selbst Setzen des Ich abzuleiten ist. Dies führte ihn auf seine Hypothese, daß die Seele ein einfaches, gestörtes Wesen ist und somit zu einer genetischen Psychologie, in welcher die Macht der anschaulichen Erkenntnis ganz verkannt, das Bewußtsein überhaupt nicht beachtet ist und darum die Erkenntnis der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten als eine in der menschlichen Vernunft zeitlich entstandene nachgewiesen werden soll. Stolz erhebt er sich neulich über Kant, indem er sagt: wer noch an dem Vorurteil hängt, das Räumliche sei simultan, folglich auch die Vorstellung des Räumlichen ohne Sukzession, der enthalte sich aller Fragen an die Psychologie in Bezug auf das Räumliche. Die kantische Meinung von den sogenannten reinen Anschauungen a priori, als Schätzen, worin alle räumlichen und zeitlichen Konstruktionen enthalten wären, so daß man sie nach Belieben herausgreifen kann, hatte alle Untersuchung dieser Gegenstände unterdrückt; aus dieser Befangenheit mußte man zuerst herausgehen. Mit diesem Traum mußte sich Herbart in die leere dogmatische Metaphysik zurück verirren. Kant dagegen wird immer recht behalten ..." (18)
Diese Stellen sind insofern von besonerem Interesse, als sie gerade gegen diejenigen gerichtet sind, mit denen FRIES gemeinhin - wie die obigen Beispiele zeigen - in eine Klasse gestellt worden ist, nämlich in die Klasse der Vertreter der der kantischen Methode entgegengesetzten genetischen Psychologie. Auch bei ELSENHANS lesen wir:
    "Aus dem Kreis der selbständigen Vertreter seiner (Fries) methodologischen Richtung verdient besonders Beneke hervorgehoben zu werden, der die psychologische Methode in konsequenter Weise fortbildete und weiter ausdehnte ... Die anthropologische oder psychologische Auffassung der Vernunftkritik, welche Fries begründete, hat daher eigentlich erst in Beneke ihren völlig konsequenten Vertreter gefunden." (19)
Demgegenüber kann ich aus den angeführten Stellen diesen Schluß ziehen: FRIES ist weit entfernt, ein Anhänger der genetisch-psychologischen Methode zu sein, vielmehr ist er ihr entschiedener Gegner.


II. Fries' Verhältnis zum
Psychologismus

Also war FRIES nicht Psychologist? Dies aus den oben angeführten Äußerungen zu schließen wäre voreilig. Hat man doch neuerdings vielfach von einer "transzendentalpsychologischen" Methode gesprochen, als von einem "durchaus notwendigen Glied" sogar "der kantischen Beweisführung" (20). Der Beweis, daß FRIES' Lehre kein Psychologismus im oben definierten Sinn ist und zwar auch kein "Transzendentalpsychologismus", erfordert daher eine weitere Untersuchung. Um ihn zu erbringen, wird es notwendig sein, nachzuweisen, daß bei FRIES eine strenge Scheidung zwischen psychologischer und philosophischer Erkenntnisweise herrscht. Dieser Nachweis ist unschwer zu führen.

Die Psychologie ist eine empirische, die Philosophie eine rationale Wissenschaft. Die Wahrheiten der Psychologie sind zufällige Tatsachen, die der Philosophie notwendige Gesetze. Die Gegenstände der ersteren sind Sache der Kenntnis, die der letzteren sind Sache der Einsicht. Die Psychologie ist eine induktive Naturwissenschaft, die Philosophie eine reine Vernunftwissenschaft. - Hat FRIES diesen Unterschied gekannt?

Hören wir zunächst, wie FRIES über das Verhältnis der Logik zur Psychologie [psylog/broderc] urteilt (21):
    "Die Erklärung der Logik als einer Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen des Denkens ist zweideutig, denn verstehen wir unter diesen Denkgesetzen nur die Regeln, nach denen unser Verstand begreift, urteilt, schließt und Systeme baut, so ist dies kein Thema für Philosophie, sondern nur für empirische Anthropologie, wir können hier nur aus innerer Erfahrung antworten. Logik hingegen soll formale Philosophie sein, und notwendige Gesetze über das Wesen der Dinge überhaupt, und nicht einzelne Regeln über die Denkweise unseres Verstandes enthalten. Logik als philosophische Wissenschaft ist daher nur Analytik, System der analytischen Urteile, die Denkgesetze sind hier nicht nur subjektiv die Gesetze, nach denen wir denken, sondern objektiv die Gesetze der Denkbarkeit eines Dings ... Es würde hier zu weit führen, wenn wir geschichtlich nachweisen wollten, welche Folgen die Verwechslung dieser anthropologischen und philosophischen Ansicht der Logik gehabt hat."
Demgemäß unterscheidet FRIES in seiner Logik die philosophische Logik von der anthropologischen. Von der letzteren heißt es:
    "Ihre Hauptfrage ist: wie kommen Begriff und Denken unter die Tätigkeiten des menschlichen Geistes? wie verhalten sie sich zu den übrigen Tätigkeiten des Erkennens und wie stimmen sie mit diesen zur Einheit der lebendigen Tätigkeit unseres Geistes zusammen? Diese Art logischer Untersuchungen fragt nur nach der Natur des menschlichen Verstandes, sie gehört also zur inneren Selbstbeobachtung des Menschen. Diese anthropologische Logik ist unwillkürlich mit allen Teilen der Logik verflochten und vermengt bearbeitet worden. Das Verhältnis und der Unterschied dieser beiden logischen Erkenntnisweisen ist bisher noch nie richtig verstanden worden ... Auf der entgegengesetzten Seite verlor sich in der englischen Schule und bei denen, die in Frankreich und unter uns ihr folgten, alle Philosophie und somit auch die philosophische Logik ganz in empirische Psychologie. Kant fing bei uns zuerst an, diese entgegengesetzten Einseitigkeiten der Vereinigung zur Wahrheit näher zu bringen." Es "wäre höchst ungereimt, die Grundsätze der philosophischen Logik, die notwendigen Grundgesetze der Denkbarkeit der Dinge durch empirische Psychologie, d. h. durch Erfahrungen beweisen zu wollen." (22)
Was das Verhältnis der Metaphysik zur Psychologie betrifft, so finden wir darüber bei FRIES unter anderem folgende Äußerungen:
    "Suchen wir den Überblick der ganzen Aufgabe für die Fortbildung der kantischen Lehre, für die spekulative Philosophie, so ist für die Dialektik die Hauptsache, daß die metaphysische Erkenntnis a priori von der psychisch-anthropologischen Selbstbeobachtung unterschieden wird." (23)

    "Über der erfahrungsmäßigen Ausbildung der Psychologie ist den Engländern und Franzosen die Kenntnis der Metaphysik fast ganz verloren gegangen." (24)
Ausführliche Erörterungen gibt FRIES über den Unterschied der induktiven Methode der empirischen Psychologie von der spekulativen Methode der Metaphysik. So heißt es von HERBART:
    "Er unterscheidet nicht die induktorische Methode, welche auf der Erfahrung selbst ruht und durch Vergleichung der Beobachtungen Naturgesetze entdeckt, von der kritischen, die durch Abstraktion nachdenkend findet, welche allgemeinen und notwendigen Wahrheiten unsere Vernunft bei der Beurteilung gegebener Erfahrungen voraussetzt und anwendet." (25) -

    "Das regressive Verfahren enthält zwei Hauptfälle der Anwendung unter sich. Der erste ist der hier betrachtete der Spekulation oder der kritischen Methode, durch welche wir nämlich in reinen Vernunfterkenntnissen mittels der Zergliederung unserer eigenen Gedanken aufsuchen, aus welchen allgemeinen Regeln und Begriffen ihre ersten Voraussetzungen bestehen. Die andere regressive Methode hat es hingegen mit empirischen Erkenntnissen zu tun; sie geht in Erfahrungswissenschaften von den Beobachtungen aus und sucht aus diesen nach Wahrscheinlichkeiten allgemeine Regeln zu bestimmen, von denen die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen abhängt. Diese Methode heißt die induktorische, weil wir diese Beweise allgemeiner Gesetze mittels der Beobachtung durch die Induktioinen, d. h. durch den Schluß von vielen Fällen auf die Einheit der Regel zu führen haben." (26)
Über KANT heißt es:
    "Ihm konnte durch seine Methode die Verteidigung der Erkenntnis a priori nur dadurch gelingen, daß er einen von der Induktion, von der Methode der englisch-französischen Erfahrungsphilosophie wesentlich verschiedenen Regressus befolgte. Dieses ist nämlich der der spekulativen Methode, der Zergliederung unserer Gedanken. Wir haben oben gezeigt, wie diese kritische Methode allein uns wahrhaft über unsere philosophischen Erkenntnisse aufzuklären und durch ihre Deduktion deren Prinzipien rechtfertigen kann; wie dagegen die Induktion nur den Erfahrungswissenschaften dient, um empirische Naturgesetze zu erforschen." (27)

    "Aus diesem wird man einsehen, daß die Möglichkeit der induktorischen Methoden selbst schon die rein vernünftige Erkenntnis in Philosophie und Mathematik voraussetzt, daß man also zu deren Ausbildung anderer Methoden bedarf, und dieses sind eben die regressiven der Kritik der Vernunft." (28) -

    "Ich sehe für diesen Streit die Forderung als höchst wichtig an: eine bessere Theorie der Induktionen zu finden, als die gewöhnliche englisch-französische, und ich meine diese gefunden zu haben. Die Induktion beruth nicht nur auf einer Zusammenstellung von Wahrnehmungen, sondern ihre wahre Schlußkraft liegt in leitenden Maximen, welche sie voraussetzt und durch welche sie von Prinzipien a priori abhängig wird. Die Induktion ist also auch nicht das höchste, überhaupt kein unabhängiges Begründungsmittel allgemeiner Behauptungen, sondern dafür kommen wir auf Leibnizens ersten Satz gegen Locke zurück: Erkenntnisse a priori findet der Verstand durch Abstraktion und nicht durch Induktion. Die Induktion für sich könnte keine Begriffe in unsere Erkenntnis einführen, die nicht schon in der Wahrnehmung liegen, wenn sie sich nicht selbst auf a priori erkannte leitende Maximen stützt. So fordert unsere Urteilskraft a priori die Gültigkeit der Kausalbegriffe als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und nur kraft dieser Voraussetzung kann die Induktion sie anwenden." (29) -

    "Allgemeine Gesetze lernen wir zuerst immer nur durch Abstraktionen von einzelnen Erfahrungen, durch einen regressiven Gedankengang kennen. Aber diese Abstraktion ist von zwei wesentlich verschiedenen Arten. In den Fällen des spekulativen Verfahrens ist sie eine Zergliederung unseres eigenen Gedankens und macht uns klar, welche allgemeinen und notwendigen Wahrheiten jeder Mensch bei dieser oder jener Art von Beurteilungen unvermeidlich als wahr voraussetzt. Dies sind die Erkenntnisse a priori und aus ihnen bilden sich die reinen Theorien der Wissenschaften. Die anderen Fälle hingegen sind die Fälle des induktorischen Verfahrens. Hier erraten wir mit Hilfe von unvollständigen Induktionen Naturgesetze, die nur aus Erfahrungen folgen, aus diesen bewiesen werden müssen, und die wir nicht a priori erkennen. Aus solchen Gesetzen bilden sich die empirischen Theorien. Wir erkennen z. B. bis jetzt die Gesetze, nach denen sich die Lichtstrahlen bewegen, die Gesetze der Elektrizität und viele andere auf diese letztere Art." (30)
In seiner "Geschichte der Philosophoie" wendet sich FRIES mit besonderer Ausführlichkeit gegen das Vorurteil, das "die erfahrungsmäßige Selbsterkenntnis des Ich mit der allgemeinen und notwendigen metaphysischen Erkenntnis verwechseln läßt." (31)
    "Unsere Schule wird nicht eher zu einer gesunden Fortbildung der kantischen Lehre gelangen, als bis dieser Fehler allgemein eingesehen und überwunden wird. Schon diejenigen unter Kants Schülern, welche lehrten, die Tatsachen des Bewußtseins seien die Prinzipien der Philosophie, verwickelten sich weiter in die falsche Abstraktion vom Vorurteil des transzendentalen, denn die Tatsachen des Bewußtseins sind wohl die Anfänge der kritischen Erkenntnis, aber nicht die Prinzipien der Metaphysik. Reinhold aber wandte diesen Fehler am schärfsten epistematisch um in seinen Untersuchungen über die Fundamente des philosophischen Wissens ... Diese Betrachtung führte ganz natürlich auf die Verwechslung des psychologischen und metaphysischen im Begriff des transzendentalen und da Reinhold dieses Fehlers nicht gewahr wurde, so verstrickte er sich ganz in denselben. So wurde er auf den Fehler des Tschirnhausen zurückgeführt, in unbestimmten psychologischen Formeln, aus denen sich gar keine scharfen Ableitungen machen lassen, die höchsten Prinzipien der Philosophie zu suchen." (32)
Bereits in seiner ersten philosophischen Veröffentlichung finden wir FRIES im Streit gegen REINHOLDs Vermengung psychologischer Erkenntnisse mit philosophischen (33):
    "... Aber wie gelangte er zu diesem obersten Punkt der Abstraktion? In der Zergliederung selbst liegt nichts, was ihr eine Grenze setzt. Er fand einen Punkt, der seiner Meinung nach der oberste ist; aber eben hierin tadeln ihn Fichte und Schelling, welche noch weiter gegangen sind als er. Meiner Meinung nach hingegen, war schon Reinhold über das Ziel einer metaphysischen Zergliederung hinaus. Der allgemeinste Begriff ist offenbar der eines Gegenstandes überhaupt, d. h. der einer Vorstellung, so weit dieses Wort mit jenem gleichbedeutend ist. Reinhold ging aber von da zum Begriff einer Vorstellung, sofern dies etwas ganz vom Gegenstand verschiedenes bezeichnet, über und gelangte so zum Begriff des Bewußtseins und somit in eine Sphäre von Erkenntnissen, welche der metaphysischen ganz heterogen ist. Denn statt, daß er vorher schon bei den allgemeinsten ontologischen Begriffen war, so gelangte er nun (und doch sollte dies durch Zergliederung geschehen) zum vereinzelten Begriff eines bestimmten Gegenstandes der inneren Wahrnehmung, eines Bewußtseins. Was ihn nun über die Grenze der Metaphysik in die Psychologie hineintrieb, ist leicht zu übersehen ... Da er also auf psychologischem Boden das oberste Prinzip der Philosophie aufsuchte, so ist klar, daß er notwendig dem ganzen Gebäude eine Tatsache aus innerer Erfahrung zugrunde legen mußte. Diese sollte aber doch eine Erkenntnis a priori gewähren, und so wurde endlich Erkenntnis a priori überhaupt zu einem Teil der Erkenntnis aus innerer Erfahrung."
Denselben Vorwurf erhebt FRIES gegen FICHTEs Wissenschaftslehre:
    "... Seine Idee ist folglich aus einer Vermischung und Verwechslung von Wissenschaftskunde, Philosophie und Anthropologie entstanden ... Es soll also bei ihm eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung nach einer ihr ganz heterogenen Methode notwendiger und allgemeiner Erkenntnisse behandelt werden." (34)

    "Der Zusammenhang des Ganzen zeigt uns, daß Fichte eigentlich die Prinzipien für eine Theorie der Organisation unserer Vernunft geben wollte, um daraus die synthetische Einheit im System unserer Erkenntnisse abzuleiten, daß er aber verleitet, durch jene Idee versuchte, einer anthropologischen Wissenschaft, welche sich also auf innere Erfahrung gründet, die logische Form einer philosophischen Wissenschaft zu geben, welche es nicht mit einzelnen Tatsachen, sondern mit allgemeinen notwendigen Regeln in abstracto zu tun hat." (35)

    "Ferner sah er laut Obigem das unmittelbare Bewußtsein der inneren Tätigkeiten des Ich nicht als sinnlich, sondern als unmittelbare intellektuelle Anschauung an, er verwechselte also die innere Anschauung, die doch sinnlich ist, mit intellektueller Anschauung. Dadurch mußten ihm notwendig viele Gegenstände der Anthropologie, die doch eine Erfahrungswissenschaft ist, die Gestalt des rein Spekulativen annehmen. Philosophie und erfahrungsmäßige Kenntnis der Vernunft mußten bei ihm verworren gedacht werden." (36) -

    "Indem Fichte aber diese einfachen Rückschritte auf dem Gebiet der Anthropologie tat, glaubte er in den schwierigsten Gegenden der Philosophie zu sein. Es zeigen sich daher auch durch das ganze System der Gegenstände dieser Anthropologie, welche aber immer nach einer philosophisch gemeinten Methode behandelt werden. Fichte verfährt ganz nach den Ideen Reinholds über das System der Philosophie, er hätte aber im weiteren Fortgang doch wohl bemerken müssen, daß er es mit nichts anderem als einer verkünstelten empirischen Anthropologie zu tun hat." -

    "Die Verwirrung zwischen philosophischen und anthropologischen Begriffen mußte hier noch weit größer werden als bei Reinhold, sie brachte die dunkle zweideutige Sprache hervor, die sich so oft mit identischen oder gar widersprechenden Sätzen zu schaffen macht, in denen nicht der Buchstabe, sondern der Geist gilt, weil er durchaus die Art der Erkenntnisse verkannte, mit denen er es eigentlich zu tun hat." (37)
Und auch SCHELLINGs Philosophem beruth nach FRIES nur auf der Fortführung desselben Grundfehlers:
    "Schelling irrt, wenn er seinen Gegensatz des Subjektiven und Objektiven diesem Gegensatz des Spinoza gleichsetzen will, der letztere ist rein spekulativ, der erstere aber nur durch Reinholds Mißgriff, wodurch im die Idee seiner Elementarphilosophie entstand, in die Spekulation hineingezogen worden, da er doch für sich durchaus empirisch ist." (38)
Ich habe diese Stellen ausführlich angeführt, weil das, was sie uns über FRIES' Verhältnis zum Psychologismus lehren, das Gewicht fast sämtlicher Darstellungen der Geschichte der Philosophie, die seit hundert Jahren erschienen sind, gegen sich hat und die Fehlerhaftigkeit einer Beurteilungsweise aufdeckt, die sich bis auf den heutigen Tag traditionell fortgeerbt hat. Die angeführten Stellen beweisen mit unzweideutiger Bestimmtheit, daß FRIES nicht nur selbst kein Psychologist gewesen ist, sondern sogar den Psychologismus seiner Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft und in der Befreiung von ihm das wahre Heil für die Fortbildung der Philosophie gesucht hat.
LITERATUR - Leonard Nelson, Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker, Hessenberg/Kaiser/Nelson (Hg), Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 1, zweites Heft, Göttingen 1906
    Anmerkungen
    1) Kuno Fischer, Die beiden kantischen Schulen in Jena, Rede zum Antritt des Prorektorats, den 1. Februar 1862, Seite 19 und 20.
    2) Fritz Freiherr von Wangenheim, Verteidigung Kants gegen Fries, Inaugural-Dissertation, Halle/Saale 1876, Seite 7. Vgl. auch Hermann Strasosky, Jakob Friedrich Fries als Kritiker der kantischen Erkenntnistheorie, eine Antikritik. Inaugural-Dissertation, Hamburg und Leipzig 1891.
    3) Fischer, a. a. O. Seite 18f
    4) Arno Hermann Leser, Die zwei Hauptprobleme der kritischen Methode Kants und ihr Verhältnis zur Methode von Fries, Inaugural-Dissertation, Dresden 1900, Seite 29.
    5) Kuno Fischer, a. a. O.
    6) Paul Natorp, Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis, philosophische Monatshefte, Bd. 23, Heft 5 und 6, 1887
    7) Wilhelm Windelband, Kritische oder genetische Methode?, Präludien, 1884
    8) Carl Stumpf, Psychologie und Erkenntnistheorie, Abhandlung der phil.-hist. Klasse der Königlich Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 19, Seite 465-516.
    9) Max Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik, 1900.
    10) Theodor Lipps, Grundzüge der Logik, 1893, § 3, Seite 1
    11) Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 579f.
    12) Windelband, a. a. O., Seite 248
    13) Scheler, a. a. O., Seite 34
    14) Theodor Elsenhans, Das Kant-Friesische Problem, 1902, Seite 1
    15) Fries, Neue Kritik der Vernunft, Einleitung.
    16) Polemische Schriften, 2. Bd. 2. Auflage, Vorrede, Seite Xf
    17) Fries, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 514.
    18) Fries, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 710.
    19) Elsenhans, a. a. O. Seite 12f
    20) Scheler, a. a. O., Seite 27
    21) Fries, Neue Kritik der Vernunft, § 66 (zweite Auflage, Bd. 1, Seite 320f)
    22) System der Logik, Einleitung, dritte Auflage 1837, Seite 3f
    23) Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 608
    24) System der Logik, § 134, dritte Auflage, Seite 453.
    25) Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 705
    26) System der Metaphysik, § 27m Seite 157f.
    27) System der Metaphysik, § 29, Seite 183f.
    28) System der Metaphysik, Seite 190
    29) Polemische Schriften, Seite 347f
    30) Die mathematische Naturphilosophie, § 73, Seite 399.
    31) Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 640.
    32) Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Seite 642f.
    33) Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik, in Carl Christian Erhard Schmids "Psychologischem Magazin", Bd. 3, 1798, Seite 190f.
    34) Reinhold, Fichte und Schelling, 1803, Seite 24
    35) Reinhold, Fichte und Schelling, Seite 58
    36) Reinhold, Fichte und Schelling, Seite 180.
    37) Reinhold, Fichte und Schelling, Seite 215
    38) Reinhold, Fichte und Schelling, Seite 99