ra-2Gide / RistDie zwei Hauptprobleme der Wirtschaftswissenschaft    
 
ANTON MENGER
Das Recht auf den
vollen Arbeitsertrag

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    Vorrede / Einleitung
§ 1a Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag
§ 1b Das Recht auf Existenz
§ 1c Das Recht auf Arbeit
§ 2. Die deutsche Rechtsphilosophie
§ 3. William Godwin
§ 4. Charles Hall
§ 5. William Thompson
§ 6. Der Saint-Simonismus
§ 7. Pierre-Joseph Proudhon
§ 8. Rodbertus
§ 9. Marx
§ 10. Louis Blanc und Lassalle

"Ist es nicht in unseren ganzen sittlichen Verhältnisses begründet, daß der Mann, der vor seine Mitbürger tritt und sagt: ich bin gesund, arbeitslustig, finde aber keine Arbeit - berechtigt ist zu sagen: gebt mir Arbeit! und daß der Staat verpflichtet ist, ihm Arbeit zu geben!? Der Herr Vorredner hat gesagt, der Staat werde große Unternehmungen machen müssen. Ja, das hat er schon getan in Zeiten der Not, wie 1848, wo infolge des Überschäumens der fortschrittlichen Bewegung die Arbeitslosigkeit und der Geldmangel groß waren. Wer erinnert sich nicht noch der Rehberger mit ihrer roten Hahnfeder und ihren langen Stiefeln? Da hat der Staat es für seine Pflicht gehalten, diesen Leuten - es waren zum großen Teil Bummler, aber auch ehrliche Leute darunter, die in der Tat nicht wußten, wovon sie leben sollten - Arbeit zu verschaffen."


c) Das Recht auf Arbeit

Zwischen dem heutigen Privatrecht und der Güterverteilung nach dem Arbeitsertrag oder dem Bedürfnis, welche die letzten Zielpunkte bezeichnen, denen die sozialistische Bewegung entgegenstrebt, sind unendlich zahlreiche Vermittlungen denkbar. Eine dieser Vermittlungen ist das sogenannte  Recht auf Arbeit,  welches durch die Ereignisse des Jahres 1848 und neuerdings durch eine im deutschen Reichstag abgegebene Äußerung des Fürsten BISMARCK (1) eine größere historische Bedeutung erlangt hat. Es ist eine Abart des Rechts auf Existenz, welche auf unsere gegenwärtige Privatrechtsordnung gepfropft werden soll.

Der Gedanke, welcher dem Recht auf Arbeit zugrunde liegt, scheint durch einige fundamentale Bestimmungen über die staatliche Armenpflege, welche in verschiedenen Gesetzgebungen fast gleichlautend vorkommen, angeregt worden zu sein. Das englische Armengesetz vom Jahre 1601, die französischen Verfassungen vom Jahre 1791 und 1793 und das preußische Landrecht vom 5. Februar 1794 (2) setzen übereinstimmend fest, daß der Staat oder die staatlichen Verbände (Gemeinde, Kirchspiel usw.) die Verpflichtung haben, die Armen entweder zu unterstützen oder ihnen Arbeit zu verschaffen. Dennoch ist das Recht auf Arbeit vom Recht auf Unterstützung, auch wenn diese durch Verschaffung von Arbeit gewährt wird, wohl zu unterscheiden. Denn das Recht auf Arbeit hat im Sinne der sozialistischen Auffassung den Charakter einer vermögensrechtlichen Verbindlichkeit, der auf Seiten des Staates durchaus keine Liberalität zugrunde liegt, seine Ausübung setzt deshalb auch nicht Dürftigkeit des Berechtigten voraus und die Erfüllung dieses Anspruchs darf nicht wie die Armenunterstützung unter verletzenden Formen stattfinden. (3)

Ebenso mußt das Recht auf Arbeit vom Recht, sich mit größerer oder geringerer Aussicht auf Erfolg Arbeit zu  suchen,  scharf geschieden werden. Im berühmten Edikt vom 12. März 1776, welches die Einführung der Gewerbefreiheit in Frankreich versuchte, spricht LUDWIG XVI. oder richtiger TURGOT von einem "Recht zu arbeiten", welches durch das Zunftsystem in seiner freien Ausübung nicht beeinträchtigt werden dürfe. Umgekehrt pflegen die Anhänger der Zünfte vielfach das Recht des Zunftmitglieds, innerhalb seines Berufszweiges mit Ausschluß aller anderen arbeiten zu können, als Recht auf Arbeit zu bezeichnen. (4) Beides ist gleich irrig: durch das Recht auf Arbeit wird den Staatsbürgern nicht die Befugnis Arbeit zu  suchen,  sondern Arbeit zu  finden  gewährleistet.

Der richtige Begriff des Rechts auf Arbeit, soweit sich aus der schwankenden und unklaren Theorie und Praxis überhaupt ein sicheres Resultat gewinnen läßt, ist vielmehr folgender: Kraft des Rechts auf Arbeit kann jeder arbeitsfähige Staatsbürger, der bei einem Privatunternehmer keine Arbeit findet, vom Staat oder den staatlichen Verbänden (Bezirk, Gemeinde) verlangen, daß ihm die gewöhnliche Taglöhnerarbeit gegen Zahlung des üblichen Taglohns zugewiesen werde.

Das Recht auf Arbeit unterscheidet sich also vom Recht auf den vollen Arbeitsertrag dadurch, daß der Berechtigte eben nur den Lohn (nicht den vollen Arbeitsertrag) verlangen kann und daß ihm die Produktionsmittel nur zum Zweck der Produktion auf Rechnung des Staates erlassen werden. Mit Unrecht haben deshalb mehrere Redner der französischen Nationalversammlung während der Diskussion über das Recht auf Arbeit (Note 11) angenommen, daß das Recht auf Arbeit zugleich auch das Recht auf das Kapital in sich schließt. Im Gegenteil: Das Recht auf Arbeit hat lediglich einen unser heutiges Vermögensrecht  ergänzenden  Charakter und es setzt die Existenz des individuellen Grund- und Kapitaleigentums geradezu voraus.

Durch diese Subsidiarität [Nachrang - wp] unterscheidet sich auch das Recht auf Arbeit vorzüglich vom Recht auf Existenz. Dieses richtet sich unmittelbar gegen den Staat oder die staatlichen Verbände; der Berechtigte kann gegen Leistung der Arbeit von diesen direkt Befriedigung der Existenzbedürfnisse verlangen. Das Recht auf Arbeit kann dagegen so lange nicht ausgeübt werden, bis feststeht, daß der Berechtigte von einem Privatunternehmer keine Arbeit erlangen konnte. Überdies bezieht sich das Recht auf Existenz auch auf die Unmündigen und Arbeitsunfähigen, während das Recht auf Arbeit nur den arbeitsfähigen Staatsbürgern zusteht.

Wie weit diese Begriffsbestimmung richtig ist, mag sich aus der folgenden Darstellung der historischen Entwicklung des Rechts auf Arbeit ergeben.

Das Recht auf Arbeit in seiner heutigen Bedeutung ist unter den Sozialisten zuerst von FOURIER vertreten worden, dem die Ausführungen FICHTEs (§ 2), welche manche Analogien bieten, anscheinend unbekannt geblieben sind. FOURIER führt in seinem umfassendsten Werk, dem "Traité de l'Association domestique-agricole", eine heftige Polemik gegen die Theorie von den angeborenen Menschenrechten in der bloß politischen Bedeutung, welche die französische Revolution und der parlamentarische Doktrinarismus der Restaurationszeit diesem Begriff gegeben hatten; er zeigt, welchen geringen Wert die politischen Doktrinen von der Volkssouveränität, von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, obgleich in Kriegen und Revolutionen so viel Blut für dieselben vergossen worden sei, für die Interessen der leidenden Volksmassen besitzen.

Diesen politischen Grundrechten setzt nun FOURIER ökonomische Grundrechte entgegen. Im Naturzustand habe der Wilde das Recht, überall nach seinem Ermessen zu jagen, zu fischen, Früchte zu sammeln und sein Vieh zu weiden. (5) In einem sozialen Zustand, wo die Natur bereits okkupiert ist, lasse sich freilich die Ausübung dieser vier ökonomischen Grundrechte nicht denken, dagegen müsse an die Stelle derselben ein Äquivalent treten. Dieses Äquivalent nennt FOURIER in der obenangeführten Schrift bald Recht auf Arbeit, bald Recht auf ein Existenzminimum, ohne sich des Unterschieds zwischen den Rechten auf Arbeit und auf Existenz bewußt zu werden. Doch kann dieses Äquivalent nach der Ansicht FOURIERs noch nicht im jetzigen Zustand, sondern erst nach der Einführung der von ihm vorgeschlagenen Gesellschaftsordnung gewährt werden.

Diese Gedanken FOURIERs wurden von seiner Schule in zahlreichen Aufsätzen und Schriften näher ausgeführt. Ich erwähne hier namentlich die Broschüre CONSIDERANTs über das Recht auf Arbeit, welche sich von allen Überschwenglichkeiten freihält und dadurch auf die Ereignisse des Jahres 1848 einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat.

CONSIDERANT weicht namentlich dadurch von seinem Meister ab, daß er mit der Anerkennung des Rechts auf Arbeit nicht bis zur Einführung der fourieristischen Gesellschaftsordnung warten will, sondern dieselbe als eine unentbehrliche Ergänzung unseres heutigen Zustandes und als das einzige Mittel zur Aufrechterhaltung des Privateigentums ansieht. Er nimmt an, daß dem Menschengeschlecht einerseits der gemeinsame Nießbrauch an der Erde in ihrer ursprünglichen Gestalt zustehe, daß aber andererseits das, was durch die Arbeit der Menschen geschaffen worden sei, also die Verbesserungen von Grund und Boden und die Kapitalien sich infolge eines unanfechtbaren Rechtstitels im Privateigentum der Produzenten und ihrer Rechtsnachfolger befinden. Kraft jenes Rechts auf Mitbenützung des gemeinsamen Naturfonds konnte der Mensch im Naturzustand die vier ökonomischen Grundrechte ausüben, nämlich jagen, fischen, Früchte sammeln und sein Vieh auf die Weide treiben; in unserem Zustand, so folgert CONSIDERANT im Anschluß an FOURIER, muß an die Stelle dieses Mitbenützungsrechts ein Äquivalent: das Recht auf Arbeit treten. Den Inhalt dieses Rechts bestimmt CONSIDERANT sehr unjuristisch dahin, daß dem Proletarier, welcher dasselbe ausübt, als Entgelt für seine Arbeit wenigstens so viel Existenzmittel gewährt werden müssen, als er sich im Naturzustand bei der Ausübung jener vier ökonomischen Urrechte hätte verschaffen können.

Die Broschüre CONSIDERANTs, ein Muster von Kürze und Klarheit, hatte einen großen Erfolg; neben dem Schlagwort: Organisatione der Arbeit, welches LOUIS BLANC den Saint-Simonisten entlehnt und in seiner bekannten Schrift verbreitet hatte, wird man in den sozialistischen Zeitschriften und Broschüren der vierziger Jahre kaum eine so häufig behandelte Frage als das Recht auf Arbeit finden. Als daher das Pariser Proletariat nach der Februarrevolution für einen Augenblick der bestimmende Faktor wurde, erzwang es sofort von der provisorischen Regierung die Proklamation vom 25. Februar 1848, welche die Anerkennung des Rechts auf Arbeit aussprach und die später auch in die französische Gesetzsammlung aufgenommen wurde. Der wesentliche Inhalt dieser Proklamation, welche unter dem unmittelbaren Druck erregter Volksmassen entstand und die deshalb sehr mangelhaft abgefaßt ist, geht dahin, daß die provisorische Regierung der französischen Republik die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit hiermit gewährleiste und daß sie sich verpflichte, allen Bürgern Arbeit zu garantieren.

Um das Recht auf Arbeit praktisch durchzuführen, verfügte ein Dekret der provisorischen Regierung vom 26. Februar 1848 die Errichtung von Nationalwerkstätten in Frankreich und diese Verfügung wurde mittels des Dekrets vom 27. April 1848 auf die französischen Kolonien ausgedehnt; doch erfolgte die wirkliche Einführung der Nationalwerkstätten, EMIL THOMAS, welcher eine Geschichte dieser Institution geschrieben hat, erzählt selbst, daß die Errichtung der Nationalwerkstätten nicht ein ernst gemeinter Versuch war, daß ihm von der Regierung niemals genügene Arbeiten zur Beschäftigung in den Nationalwerkstätten aufgenommenen Arbeiter zugewiesen wurden und daß die ganze Einrichtung in den Augen der Regierung nur den Zweck hatte, die sozialistischen Theorien ad absurdum zu führen.

Das Detail der Einrichtung der Nationalwerkstätten gehört nicht hierher. Nur so viel mag bemerkt werden, daß THOMAS dieselben im Sinne der Saint-Simonistischen Doktrinen streng hierarchisch organisierte und daß sie deshalb mehr den Charakter einer Arbeiterarmee als von industriellen Etablissements hatten. Die Zulassung der Arbeiter erfolgte durch die Mairien der Arrondissements ohne nähere Untersuchung der Sachlage, weshalb auch die Zahl der in den Nationalwerkstätten aufgenommenen Arbeiter schon am 19. Mai 1848 auf die enorme Zahl von 87 942 Personen stieg.

Die wichtigste Kontroverse, welche sich während der kurzen Zeit bis zur Abschaffung des Rechts auf Arbeit erhob, betraf die Frage, ob jeder Staatsbürger kraft dieses Rechts nur befugt sei, gewöhnliche Taglöhnerarbeit oder eine seiner Vorbildung entsprechende Beschäftigung zu verlangen. In den Nationalwerkstätten hatte die große Masse der Arbeiter, soweit sie überhaupt beschäftigt wurde, ohne Rücksicht auf ihren früheren Beruf Erdarbeiten zu leisten. Doch errichtete THOMAS auch einige fachliche Nationalwerkstätten (der Stellmacher, der Schuster und Schneider), welche sehr zufriedenstellende Resultate lieferten. Dennoch war diese Ausdehnung des Rechts auf Arbeit - und zwar nicht ohne Grund - eines der Hauptargumente, das die Gegner des Sozialismus gegen die Anerkennung des Rechts auf Arbeit in der französischen Verfassung vorbrachten. Denn wenn der Staat verpflichtet ist, jeden Arbeiter, der bei keinem Privatunternehmer Arbeit findet,  in seinem Beruf  zu beschäftigen, so muß die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates so ungeheure Dimensionen annehmen, daß daneben unsere heutige Privatrechtsordnung auf die Dauer nicht bestehen kann. Will man daher den heutigen Gesellschaftszustand nicht durch den rein sozialistischen Staat, das Recht auf Arbeit nicht durch das Recht auf Existenz ersetzen, so kann man im Recht auf Arbeit - der eben gegebenen Begriffsbestimmung gemäß - nur einen Anspruch auf Gewährung der gewöhnlichen Taglöhnerarbeit gegen Bezahlung des üblichen Taglohns erblicken.

Eine zweite Frage, die sich bei der praktischen Durchführung des Rechts auf Arbeit erhob und die in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung von größter Wichtigkeit wäre, betraf das Subjekt, welches zur Erfüllung der aus jenem Recht sich ergebenden Verbindlichkeiten verpflichtet ist. Trifft diese Verpflichtung den Staat, das Departement, die Gemeinde? Die Fonds zur Erhaltung der Nationalwerkstätten wurden allerdings, wenigstens zum überwiegenden Teil, vom Staat geliefert. Dessenungeachtet scheinen sich die Urheber der Institution dieselbe als eine Gemeindeeinrichtung gedacht zu haben, weil zu den Pariser Nationalwerkstätten immer nur diejenigen Arbeiter zugelassen wurden, welche in Paris ihren ordentlichen Wohnsitz hatten. Ursprünglich genügte der Wohnsitz ohne Rücksicht auf seine Dauer; später, als die Auflösung der Nationalwerkstätten bereits beschlossen war (21. Juni 1848), wurde ein Domizil von sechs Monaten verlangt. Mit dieser Auffassung der Nationalewerkstätten als einer Gemeindeinstitution stand es andererseits im Widerspruch, daß die Regierung in dem am 21. Juni 1848 im Moniteur erschienenen Dekret sich vorbehielt, die Pariser Arbeiter zu Erdbewegungen in den Departements zu verwenden. In der Tat gab diese Bestimmung auch vorzüglich das Signal zu der furchtbaren Junischlacht (23. - 26. Juni 1848), welche mit der völligen Niederlage des Sozialismus endete.

Die Niederwerfung der sozialistischen Parteien in der Junischlacht wirkte natürlich auch auf die Geltung des Rechts auf Arbeit zurück. Unmittelbar vor der Junischlacht (am 20. Juni 1848) legte MARRAST dem Ausschuß der Nationalversammlung, welcher mit der Vorberatung der Verfassung beauftragt war, einen Entwurf vor, in welchem das Recht auf Arbeit und Unterstützung unter dieselben verfassungsmäßigen Garantien gestellt wurde wie das Eigentum und in dem sich auch schon einige Detailbestimmungen über die praktische Durchführung jenes Rechts fanden. Infolge des Ausganges der Junischlacht wurde am 29. August 1848 ein neuer Verfassungsentwurf vorgelegt, in welchem nicht mehr das Recht auf Arbeit, sondern nur jenes auf Unterstützung anerkannt war. MATHIEU stellte deshalb zu diesem Entwurf ein Amendment [Ergänzung - wp], in welchem das Recht aller Staatsbürger auf Unterricht, auf Arbeit und auf Unterstützung ausdrücklich gewährleistet wurde. Dieses Amendment wurde gegen den Schluß der Diskussion durch einen Antrag GLAIS-BIZOINs jedoch nur unwesentlich modifiziert. Die Debatten, welche über diese Anträge geführt wurden, bilden in Verbindung mit den Schriften FOURIERs und seiner Schule die Hauptquelle für die Konstruktion des Rechts auf Arbeit. Bei der Abstimmung wurde das Amendment GLAIS-BIZOINs mit 596 gegen 187 Stimmen abgelehnt und die Nationalversammlung beharrte auf diesem Votum, als FELIX PYAT am 2. November 1848 bei der zweiten Lesung des Verfassungsentwurfs neuerlich ein ähnliches Amendment einbrachte. Seither ist der französische Sozialismus auf das Recht auf Arbeit nicht mehr zurückgekommen.

Auch in der Frankfurter Nationalversammlung tauchte bei der Beratung einer Verfassung für das deutsche Volk das Recht auf Arbeit auf. Bei der zweiten Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes, welche (Art. VIII, § 30) in der üblichen Weise die Unverletzlichkeit des Eigentums proklamieren, stellten NAUWERK (6) und LUDWIG SIMON (7) Verbesserungsanträge, welche die Anerkennung des Rechts auf Arbeit bezweckten. Doch wurden dieselben in der Sitzung der Nationalversammlung vom 9. Februar 1849 mit 317 gegen 114 Stimmen abgelehnt, ohne daß eine eingehende Debatte über das Recht auf Arbeit stattfand und zwar in der Erwägung, daß die Vorsorge für arbeitsunfähige Arme einen Gegenstand der Heimats-, Gemeinde- und Armengesetzgebung bildet. Seither blieb auch in Deutschland die ganze Frage verschollen: nur MARLO hat ungefähr um dieselbe Zeit (1850), wie weiter unten (§ 2) gezeigt werden wird, das Recht auf Arbeit vertreten. Erst in der neuesten Zeit wird wieder von einigen deutschen Schriftstellern, darunter STÖPEL, (8) HITZE (9) und HAHN (10), ein Recht der Staatsbürger auf Arbeit anerkannt. Doch mangelt diesen Schriftstellern, selbst STÖPEL nicht ausgenommen, jeder Einblick in den Zusammenhang und in die geschichtliche Entwicklung der sozialistischen Ideen, zu welchen doch auch das Recht auf Arbeit gehört und sie sind deshalb nicht imstande, einen klaren Begriff dieses Rechts zu gewinnen. Nachdem ich im Vorstehenden den Begriff der sozialistischen Grundrechte bestimmt habe, so nunmehr die allmähliche geschichtliche Entwicklung der Ideen über das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in den sozialistischen Systemen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts dargestellt werden. Nur diese stehen mit der sozialen Bewegung der Gegenwart in einem ununterbrochenen historischen Zusammenhang und ich habe deshalb den Sozialismus der älteren Zeit, namentlich die so reichhaltige Utopien-Literatur, von dieser Darstellung absichtlich ausgeschlossen. Ebenso konnten auch aus der hier behandelten Zeitperiode nur jene sozialistischen Systeme Raum finden, deren Mittelpunkt das Recht auf den vollen Arbeitsertrag bildet, während diejenigen Schriftsteller, welche vorherrschend das Recht auf Existenz verwirklichen wollen, in einer späteren Schrift behandelt werden sollen. Freilich war es nicht leicht, diese Scheidung zu vollziehen, da die meisten sozialistischen Systeme zwischen jenen beiden fundamentalen Prinzipien eine Vermittlung versuchen und so kann ich kaum dem Tadel entgehen, daß ich diese oder jene Erscheinung willkürlich einer der beiden Gruppen zugewiesen habe. Namentlich wird in dieser Richtung die Darstellung der deutschen Rechtsphilosophie (§ 2) Anfechtung erfahren, da diese, soweit sie überhaupt sozialistische Ideen vertritt, mehr zur Anerkennung des Rechts auf Existenz hinneigt. Dennoch hielt ich die Aufnahme dieses Abschnitts für unerlässlich, weil es von Interesse ist, die Stellung der deutschen Philosophie zum Problem der ökonomischen Grundrechte zu kennzeichnen.

Gar mancher könnte sich darüber wundern, daß ich eine Scheidung der sozialistischen Systeme nach jenem Gesichtspunkt überhaupt für notwendig halte, da diese doch insgesamt nur einen wesentlichen Zweck, nämlich die Hebung der arbeitenden Klassen, anstreben. Aber man darf nicht vergessen, daß zur Erreichung dieses Zwecks im einen oder anderen Fall völlig verschiedene Triebfedern der menschlichen Natur in Bewegung gesetzt werden. Jedes sozialistische System, dessen Mittelpunkt das Recht auf den vollen Arbeitsertrag bildet, beruth auf menschlichem Egoismus und zwar in einem höheren Grad, als die gegenwärtige Rechtsordnung; denn dort arbeitet jeder nur für sich selbst, hier aber teils für sich, teils für das arbeitslose Einkommen. Dagegen muß jedes soziale System, dessen letztes Ziel die Anerkennung des Rechts auf Existenz bildet, auf dem Gefühl der Nächstenliebe und der Brüderlichkeit beruhen. Obgleich also die sozialen System der einen und der anderen Gattung zum Sozialismus in seiner herkömmlichen Bedeutung gerechnet werden, so besteht doch zwischen denselben in ihrem ganzen Wesen ein schroffer Gegensatz, welcher auch eine sorgfältige Trennung in der Darstellung rechtfertigt.
LITERATUR Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung, Stuttgart 1891
    Anmerkungen
    1) In der Sitzung des deutschen Reichstages vom 9. Mai 1884 bei der Beratung über die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktorber 1878 gab der Reichskanzler Fürst BISMARCK folgende Erklärung ab: "Ich will mich nun dahin resumieren,  geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist,  geben Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist,  sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist  - wenn Sie das tun und die Opfer nicht scheuen und nicht über Staatssozialismus schreien, sobald jemand das Wort "Altersversorgung" ausspricht, wenn der Staat etwas mehr christliche Fürsorge für den Arbeiter zeigt, dann glaube ich, daß die Herren vom Wydener Programm ihre Lockpfeife vergebens blasen werden, daß der Zulauf zu ihnen sich sehr vermindern wird, sobald die Arbeiter sehen, daß es der Regierung und den  gesetzgebenden Körperschaften  mit der Sorge für ihr Wohl ernst ist." (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Session 1884, Bd. 1, Seite 481) - Im weiteren Verlauf derselben Sitzung antwortete Fürst BISMARCK auf eine Rede des Abgeordneten EUGEN RICHTER folgendermaßen: "Ich will zunächst die wichtigste Frage beantworten, die er (der Abgeordnete RICHTER) überhaupt berührt hat, das Recht auf Arbeit. Ja, ich erkenne ein Recht auf Arbeit unbedingt an und stehe dafür ein, solange ich auf diesem Platze sein werde. Ich befinde mich dabei nicht auf dem Boden des Sozialismus, der erst mit dem Ministerium BISMARCK seinen Anfang genommen haben soll, sondern auf dem Boden des preussischen Landrechts. Nun meine Herren, wo ist denn Ihr unartikulierter höhnischer Zuruf, den Sie vorhin machten? Ist nicht das Recht auf Arbeit zur Zeit der Publikation des Landrechts offen proklamiert worden? Ist es nicht in unseren ganzen sittlichen Verhältnisses begründet, daß der Mann, der vor seine Mitbürger tritt und sagt: ich bin gesund, arbeitslustig, finde aber keine Arbeit - berechtigt ist zu sagen: gebt mir Arbeit! und daß der Staat verpflichtet ist, ihm Arbeit zu geben!? Der Herr Vorredner hat gesagt, der Staat werde große Unternehmungen machen müssen. Ja, das hat er schon getan in Zeiten der Not, wie 1848, wo infolge des Überschäumens der fortschrittlichen Bewegung die Arbeitslosigkeit und der Geldmangel groß waren. Wer erinnert sich nicht noch der Rehberger mit ihrer roten Hahnfeder und ihren langen Stiefeln? Da hat der Staat es für seine Pflicht gehalten, diesen Leuten - es waren zum großen Teil Bummler, aber auch ehrliche Leute darunter, die in der Tat nicht wußten, wovon sie leben sollten - Arbeit zu verschaffen. Wenn ähnliche Notstände eintreten, so, glaube ich, ist der Staat noch heute verpflichtet und der Staat hat so weitreichende Aufgaben, daß er dieser seiner Verpflichtung, arbeitslosen Bürgern, die keine Arbeit finden können, solche zu verschaffen, wohl nachkommen kann. Er läßt Aufgaben ausführen, die sonst aus finanziellen Bedenklichkeiten vielleicht nicht ausgeführt werden würden; ich will sagen, große Kanalbauten oder was dem analog ist. Es gibt ja eine Menge außerordentlich nützlicher Einrichtungen anderer Art." (Stenographische Berichte a. a. O., Seite 500)
    2) Preußisches Landrecht, Teil II, Tit. 19, § 1 und 2: Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch nicht von anderen Personen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten zu können. - Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten angemessen sind, angewiesen werden. - Diese Bestimmungen, welche nach ihrem Wortlaut sehr weit gehen, haben in Wirklichkeit nur die Armenunterstützung im Auge.
    3) Die Diskussion über das Recht auf Arbeit, welche die französische Nationalversammlung am 12. - 16. September und am 2. November 1848 beschäftigte, drehte sich namentlich um die Frage, ob nur das Recht auf Unterstützung oder auch das Recht auf Arbeit anerkannt werden solle. THIERS sprach sich für das erstere, aber gegen das letztere aus und tatsächlich hat auch die Verfassung vom 4. Novebmber 1848, ähnlich wie die Konstitution von 1793, nur das Recht auf Unterstützung gewährleistet. Es ist deshalb gewiß unrichtig, wenn einzelne Schriftsteller, z. B. JOSEPH GARNIER, beide Rechte identifizieren wollen.
    4) Vgl. z. B. KARL MARLO [=Karl Georg Winkelblech], Untersuchungen über die Organisation der Arbeit, Bd. 2, 2. Auflage 1884, Seite 314
    5) Mit jener Bizarrerie, die sich bei FOURIER so häufig mit den tiefsten Gedanken verbindet, rechnet er ferner zu den natürlichen Rechten des Menschen im Naturzustand auch das Recht, sich in Horden zu sammeln, außerhalb seiner Horde zu stehlen und sorglos in den Tag zu leben.
    6) Zusatzantrag NAUWERK zu § 30 der Grundrechte: "Jeder Deutsche hat ein Recht auf Unterhalt. - Dem unfreiwillig Arbeitslosen, welchem keine verwandtschaftliche oder genossenschaftliche Hilfe wird, muß die Gemeinde, beziehentlich der Staat Unterhalt gewähren und zwar, soweit irgend möglich, durch Anweisung von Arbeit."
    7) In der Sitzung der Nationalversammlung vom 8. Februar 1849 stellte LUDWIG SIMON den Verbesserungsantrag: 1) die Vorsorge für mittellose Arbeitsunfähige ist Pflicht der Gemeinden, beziehungsweise des Staates. 2) Den unfreiwillig Arbeitslosen muß die Gemeinde, bzw. der Staat, Arbeit gewähren."
    8) FRANZ STÖPEL, Die freie Gesellschaft, 1881, Seite 263 - 299 und: Soziale Reform, 3. Heft, 1884, Das Recht auf Arbeit, Seite 6, 7, 13, 25f (die beste deutsche Schrift über das Recht auf Arbeit).
    9) FRANZ HITZE, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft, 1881, Seite 145 - 196 und dazu von HERTLING, Reden und Aufsätze, 1881, Seite 30f
    10) OTTO HAHN, Das Recht auf Arbeit, 1885 (ein verworrenes, ganz wertloses Buch). Ebenso wertlos ist HAUN, Das Recht auf Arbeit, 1889, eine Schrift, deren geschichtliche Angaben - die Zitate nicht ausgenommen - zum großen Teil aus dem vorliegenden Buch ohne Quellenangabe abgeschrieben sind.