ra-2ra-2Friedrich MuckleDie Arbeiterfrage    
 
ADOLF HELD
Zur sozialen Geschichte Englands
von 1760 - 1832

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    Einleitung
§ 1. Die Grundbesitzer
§ 2. Handelspolitik
§ 3. Die unteren Klassen
§ 4. Arbeitergesetze
§ 5. Armen- und Heimatgesetze
§ 6. Stocken der Gesetzgebung
Vorbemerkung über die neuen politischen Ideen

"Lange Zeit konnte der allgemeine Glaube, daß die Beeinflussung der Preise durch die Zollpolitik im allgemeinen Interesse notwendig sei, den kurzsichtigen Egoismus der Grundbesitzer entschuldigen, respektive ihnen selbst ihre interessierten Motive verhüllen, ähnlich wie auch die Jagdgesetze zugunsten der reichen Grundbesitzer durch die Pflicht des Staates, die Armen zur Arbeit anzuhalten und von luxuriösen Vergnügungen abzuhalten, gerechtfertigt werden konnten."

Einleitung

Seit GNEIST kennen wir das Wesen der berühmten und beneideten englischen Verfassung des vorigen Jahrhunderts, wissen wir, wie sie sich geschichtlich entwickelt hat und auf welchen sozialen Verhältnissen sie beruhte. Wir betrachten sie nicht mehr mit den Augen MONTESQUIEUs und wir lächeln, wenn in ihr noch die politischen Wortführer aus der Zeit von 1848 Verwirklichung demokratischer Ideale erblickten.

Es existierte keine Konstitution, die in Artikeln und Paragraphen  alle  Verfassungbestimmungen zusammengefaßt hätte; die Verfassung wie sie galt und wie sie geübt wurde, war nicht die rationelle Konsequenz irgendeines prinzipiellen Gedankens, sondern das Produkt der gesamten Geschichte des Volks und ebendeshalb ihrer Zeit wirklich die beste Verfassung, die es gab.

Es herrschte eine kleine, aber nach unten nicht abgeschlossene Aristokratie unter einem Königtum, dem es seitden Tagen der "Magna charta" nie gelungen war, unbeschränkt zu sein und dessen beschränkte Macht 1688 nicht neu konstituiert, sondern nur neu anerkannt und definiert wurde. Die Aristokratie (nobility und gentry) regierte nicht nur im Parlament, sondern sie verwaltete auch den Staat durch die Ehrenämter des Selfgovernments, die sie als staatliche Pflicht übernahm.

Das Wahlrecht der wenig zahlreichen Mittelklasse - es gab nach GNEIST im Durchschnitt des vorigen Jahrhunderts nur etwa 200 000 Wähler - ließ diese indirekt an der politischen Herrschaft teilnehmen, wenn es sich auch nur auf das Parlament, nicht auf die Verwaltungsämter bezog. Die Masse des Volks nahm an politischen Herschaftsrechten nicht Teil, sondern ihr waren nur bürgerliche Rechte sicher garantiert, sie war geschützt und gefördert in ihrem Streben nach Erwerb.

Wir haben eine rechtlich abgeschlossene herrschende Klasse, die ihrerseits durch das staatliche Pflichtgefühl beherrscht wird und mit dem ganzen Volk organisch zusammenhängt, weil die jüngeren Söhne der Herrschenden ins Volk hinabsteigen, die Herrschenden selbst durch neuernannte Pairs und neuerworbenen großen Grundbesitz sich stets ergänzen - und wir haben ein freies wohlhabendes Volk.

Die Aristokratie war keine dem Volk gegenüberstehende Kaste, sondern die geachtete und geliebte Spitze des Volkes selbst und regierte für das Volk.

Das Detail der Englischen Verfassung zu schildern, ist nicht Aufgabe dieses Buchs. Nur ein Blick auf die eigentlich soziale Gesetzgebung und die sozialen Verhältnisse sei gestattet. Wir fragen, wie die Dinge zu Zeiten des Regierungsantritts von GEORGE III. (1760) standen.


§ 1. Die Grundbesitzer

Der Kern der regierenden Aristokratie waren die großen Grundbesitzer (nobility und gentry), denen sich wenig zahlreiche Kategorien der städtischen Gentry anschlossen.

Das politische Übergewicht des Großgrundbesitzes beruhte auf seiner gewohnheitsmäßigen Übernahme der lokalen Verwaltungsämter und dem für dieselben bestehenden hohen Zensus, sowie darauf, daß zwar die Städte im Unterhaus stark vertreten waren, aber so, daß manche volkreiche Städte gar keine oder wenige Vertreter wählten, wohl aber zahlreiche wahlberechtigte Burgflecken bestanden und in den Städten die Wählerschaft aufs Äußerste beschränkt und faktisch in der Hand benachbarter Aristokratenfamilien war. Diese gesetzlichen Institutionen wären aber unwirksam, ja undenkbar gewesen, hätte sie nicht die politische Bildung der Gentry getragen - und hätte nicht der Großgrundbesitz alter Familien den größten Teil des Grund und Bodens beherrschaft.

Schon WILHELM der Eroberer wußte das Feudalrecht in England so zu gestalten, daß der Besitz großer Feudalherren nicht zur Grundlage einer die Staatseinheit gefährdenden politischen Macht werden konnte. Die eigentliche Leibeigenschaft verschwand in England schon im Mittelalter. Dem Adel ist es nie gelungen das formelle Recht auf Begründung von Fidei-Komissen [unveräußerliche Stiftung - wp] auf ewige Dauer zu erringen. Aber es ist noch heute das allgemeine Recht des Landes, daß nach Intestaterbfolge [gesetzliche Erbfolge - wp]  nur  der älteste Sohn Grund und Boden erbt und es herrscht namentlich unter den größeren Grundbesitzern die Sitte der entails, denenzufolge der derzeitige Grundbesitzer seinen Grundbesitz wenigstens für eine bestimmte Zeit, nämlich bis zum erreichten 21. Lebensjahr des ungeborenen Kindes der zur Zeit des Rechtsaktes lebenden Erbberechtigten auch unveräußerlich zu machen vermag. Die beständige Erneuerung dieser entails bewirkt eine faktische fideikommissarische Gebundenheit des Grund und Bodens; der große Grundbesitz wird dadurch erhalten, er kann sich ausdehnen, nur selten zerfallen. Ja das Aufkommen der großen Industrie begünstigte die Ausdehnung des geschlossenen großen Grundbesitzes, weil die in der Fabrikation erworbenen großen Reichtümer das Zusammenkaufen und Festlegen des noch käuflichen Bauernbesitzes ermöglichten, während die ehemaligen kleinen Bauern zu ländlichen Tagelöhnern oder zu städtischen Fabrikarbeitern degradiert wurden. (1)

Merkwürdigerweise ist es noch heute unmöglich, über das Maß der Ausdehnung des Grundbesitzes, d. h. über die Zahl der überhaupt vorhandenen Besitzer und die Größe ihrer Besitzungen etwas Genaues zu sagen, obgleich ein neuerer Versuch statistischer Aufnahme (von 1875) vorliegt. Denn sie lehrt uns zwar, daß die Grundbesitzverteilung in England nicht so schlimm ist wie in Irland und Schottland, da die Zahl der sogenannten grundbesitzenden Familien in England 22,5 %, in Schottland 17%, in Irland 5,7 % aller Familien ausmacht; sie lehrt uns auch, daß ein neuer städtischer Mittelstand existiert und allem Anschein nach aufblüht - sie sagt uns aber nichts über die eigentliche Verteilung des Grundeigentums zwischen großen Grundherrn, mittleren und kleineren Bauern.

CLIFFE LESLIE und andere werden wohl frühere Zahlenangaben modifizieren müssen - jedoch ihre Behauptungen über das Verschwinden des selbständigen kleinen und mittleren Bauern und über die fortgehende Verschlechterung der Verhältnisse seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sind keineswegs entkräftet. (2)

Jedenfalls ersehen wir auch aus ADAM SMITH (1776), daß zu Anfang der Regierung GEORGE III. der Großgrundbesitz herrschend war und daß die Bauern der Regel nach nicht Eigentümer, sondern Pächter waren. Es war den Engländern lange vo den kontinentalen Völkern gelungen, den Bauer bürgerlich frei zu machen, aber ökonomische Folgen des Feudalismus hielten sich dort umso länger. Die Aufhebung der Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit ist längst vollzogen, - die Schaffung eines wirklichen Bauernstandes mit Grundeigentum aber umso schwieriger geworden. "Free trade in Land" verlangen heute COBDENs Schüler - wir sehen, daß diese Frage, zu deren Lösung das 19. Jahrhundert berufen scheint, gleich den meisten großen sozialen Fragen der Gegenwart, um die Mitte des vorigen Jahrhunderst bereits geboren war. (3)

Der große Grundbesitz - oder wie wir wohl sagen können - der erbliche grundbesitzende Adel hatte also bei allem Wandel der politischen Verhältnisse ökonomisch nicht verloren, vielmehr seinen Besitz auszudehnen und zu befestigen gewußt. Auf Grundlage dieses Besitzes trug er schwere politische Lasten - er besorgte unentgeltlich die lokale Verwaltung und die Arbeit im Parlament. Es bleibt ein großartiges Verdienst dieses Standes, daß er sich der höheren Pflichten der höheren Stellung immer bewußt blieb, daß die Selbstverwaltung eine wahrhaft staatliche war und nicht einmal bis zur Dezentralisation der Gesetzgebung, zur Autonomie der einzelnen Teile des Staats, geschweige denn zur Staatsauflösung führte. Der herrschende Landadel hatte auch frühzeitig gelernt, den reichlichen Genuß gewerblicher Produkte unnützer Beherrschung untätiger Unfreien vorzuziehen. Er zog die Mitwirkung bei der Regierung eines großen Landes der selbständigen Tyrannei in einem kleinen Bauernreich vor - er bedrohte auch die Freiheiten des Volks im Ganzen nicht; er schützte sie vielmehr und beförderte den Aufschwung des Wohlstandes im ganzen Reich durch eifrige Pflege aller wirtschaftlichen Interessen.


§ 2. Handelspolitik

So groß diese englische Aristokratie, namentlich gegenüber dem gleichzeitigen französischen Adel dasteht - dennoch vergaß auch sie nicht, gelegentlich ihre Herrschaft im Staate im einseitigen ökonomischen Standesinteresse auszubeuten. So sehen wir, daß sie das Aussterben eines bäuerlichen Grundeigentümerstandes, dessen Existenz für den Staat von höchster Wichtigkeit ist, nicht hinderte, sondern in ihrem Interesse förderte. Sie tat noch mehr: sie verschaffte und erhielt sich Kornzölle. Der Adel begnügte sich doch nicht allein mit der Ehre im Staate zu herrschen und den Erwerb der Kaufleute und Industriellen durch Schutzzölle und Schifffahrtsgesetze zu fördern - er suchte gleichzeitig auch die Pachtrente der eigenen Güter künstlich zu steigern.

Das freiheitsliebende und freiheitgewohnte englische Volk begehrte nach keiner COLBERTschen Gewerbepolitik im Innern des Landes, aber gegenüber dem Ausland und den eigenen Kolonien entwickelte es die Grundsätze der merkantilischen Politik bis zum vollendetsten Maß, so daß nicht mit Unrecht die heutigen Schutzzöllner in anderen Ländern auf die große Jugend des englischen Freihandelssystems hinweisen.

Diese merkantilistische Schifffahrts-, Zoll- und Kolonialpolitik war aber durch die Kornzölle zu einem höchst künstlichen Bau gegenseitiger Benachteiligungen und Begünstigungen umgestaltet, für den schließlich die Frage dringend werden mußte, ob die Gesamtvorteile oder die Gesamtnachteile überwogen. Diese Frage hat eine spätere Zeit (1846) beantwortet, respektive gelöst. Hier interessiert uns nur, in Kürze zu sehen, daß und wie die regierende Gentry nicht nur politischen Ehrgeiz, sondern auch Erwerbssinn besaß.

Die merkantilische Politik Englands setzte sich zusammen aus den Navigations-, den Zollgesetzen, der Kolonialpolitik und den damit zusammenhängenden Rechten der privilegierten Kompanien.

Seit 1831 hatte man begonnen, den Handel nach England und aus England auf englische Schiffe zu beschränken; unter ELISABETH wurde das Verbot der Einfuhr auf fremden Schiffen in einen Zoll verwandelt. Es folgte der berühmte Navigationsakt von 1651, welcher hauptsächlich den Zwischenhandel der Holländer zu vernichten und ihm gegenüber die Selbständigkeit des englischen Seehandels zu befördern bestimmt war. Das Hauptgesetz war dann das Statut 12 CHARLES' II. Cap. 18 (aus dem 12. Regierungsjahr CHARLES' II., vom Tod CHARLES' I., 1649, an gerechnet) von 1660, dem noch Zusätze folgten. Dieses Gesetz bestand bis zu Anfang unserer Periode in voller Kraft und erst der amerikanische Unabhängigkeitskrieg veranlaßte die ersten Abschwächungen, nach denen sich sehr langsam die allmähliche Abschaffung entwickelte.

ADAM SMITH selbst gesteht zu, daß die Navigationsgesetze die eine gute Folge gehabt hätten, dem Land eine starke Kriegsmarine zu verschaffen, die dann mittelbar durch den gewährten Schutz auch der Handelsmarine vorteilhaft war. Unleugbar haben politische Motive, Streben nach selbständiger unanfechtbarer Macht des Vaterlandes bei der Ermessung und Erhaltung dieser Gesetze mitgewirkt. Ebenso gewiß aber waren dieselben zugleich rein handelspolitischen Motiven entsprungen, wie denn in dieser Zeit das Streben, die Handelsblüte des eigenen Landes im Gegensatz zu anderen Staaten zu heben, überhaupt untrennbar mit dem Streben nach politischer Macht zusammenhing und die Handelsinteressen als solche in der Politik vielfach eine dominierenden Stellung einnahmen. Auch dürfen wir woh ADAM SMITH gegenüber behaupten, daß die Navigationsgesetze ihrerzeit dem Aufblühen des englischen Seehandels direkt gedient haben. Ähnlich wie Schutzzölle wirkten sie als ein Lehrgeld, welches die Nation zahlte, um in Bezug auf Schiffbau und Schifffahrt den übermächtigen Holländern schneller ebenbürtig zu werden und sie zuletzt in Folge der größeren natürlichen Hilfsquellen des Landes zu überflügeln.

Nach dem Gesetz von 1660 (4) wurde zur inländischen Küstenfahrt kein Schiff zugelassen, das nicht englisches Eigentum ist, von einem Engländer geführt und wenigstens zu 3 Viertel von Engländern bemannt ist; nach späteren Bestimmungen mußte es auch bei Strafe eines Zolls in England gebaut sein. Der Handelsverkehr mit den anderen europäischen Staaten wurde dahin normiert, daß Einfuhr nach England teils nur auf englischen Schiffen gestattet war, teils die Einfuhr auf fremden Schiffen den Fremdensteuern unterlag. Gewisse Artikel durften wegen des Zwischenhandels nach dem Gesetz von 1662 von den Niederlanden und Deutschland gar nicht nach England gebracht werden.

Von Afrika, Asien und Amerika durften alle Güter nur auf englischen Schiffen und direkt von den Ländern des Ursprungs importiert werden. Aller Ein- und Ausfuhrhandel mit englischen Kolonien war auf englische (und in den Kolonien selbst gebaute aber englisch bemannte) Schiffe beschränkt. Nicht naturalisierte Fremde durften in den Kolonien nicht Handel treiben, mehrere wichtige Artikel durften nur direkt nach England oder in englische Kolonien gebracht werden. Nach den Kolonien durften nach dem Gesetz 15 von CHARLES II., Cap. 7 (1663) europäische Waren  nur  von England aus importiert werden.

Der Handel mit den Kolonien war aber nicht nur in der angegebenen Weise allgemein beschränkt, sondern auch noch speziell durch die Privilegien von Handelskompanien, von denen die ostindische zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nach langem Kampf mit dem Parlament, das dem Monopol nicht günstig war, ihr Privilegium gesichert hatte.

Monopolisierte Handelsgesellschaften waren eine Einrichtung, die zwar im allgemeinen Geist des Merkantilsystems begründet war, insofern sie Gegelenheit gab, durch spezielle Regierungsmaßregeln den Handelsgeist anzuspornen, die aber in England weniger populär war, weil sie nicht alle Engländer gegenüber dem Ausland, sondern einen Teil der Engländer gegen den anderen schützte. Dennoch wurde im Jahre 1701 die Südseegesellschaft privilegiert, die 1720 schmählich zusammenbrach und die schon 1600 gegründete ostindische Kompanie wurde die größte monopolisierte Handelsgesellschaft, welche die Welt gesehen hat. Die Geschichte dieser Gesellschaften ist sehr lehrreich, zunächst weil sie der faktische Ausgangspunkt unseres modernen Aktienwesens sind, dan aber insbesondere deshalb, weil sie zeigen, wie Monopole von Privaten nur eine vorübergehende Berechtigung haben und schließlich sich entweder selbst ruinieren oder aber vom Staat als ein Staat im Staate nicht mehr geduldet werden können. Wir gehen auf die Geschichte respektive Aufhebung der ostindischen Kompanie nicht näher ein; es genügt hier zu erwähnen, daß auch diese merkantilistische Einrichtung England im vorigen Jahrhundert nicht fremd war, wenngleich das Parlament zumeist aus politischen Gründen die durch königliche Prärogative [Vorrechte - wp] geschaffenen Monopole stets bekämpfte. (5)

Was Zölle betrifft, so bestanden solche in England ebenso wie in anderen Ländern schon frühzeitig im Mittelalter; ein entschieden protektionistischer Charakter derselben zugunsten der inländischen Gewerbe trat zunächst unter EDUARD IV. hervor: 1464 wurde - nachdem schon früher der Warenhandel ausländischer Kaufleute verboten worden war, der Import von Tuch aus allen Ländern und der Import von allen Waren außer Lebensmitteln aus den Ländern des Herzogs von Burgund verboten. Es folgten später unter CHARLES II. und GEORGE I. zusammenfassende Tarifierungen, aber, da daneben beständig eine Masse spezieller Zölle aufgelegt wurde, so war das Zollwesen keineswegs so einfach und systematisch reguliert, wie das Schifffahrtswesen. Eine solche Regulierung erfolgte erst 1787 durch PITTs Konsolidierungsakt. Indessen kann man sagen, daß lange vor Beginn unserer Periode wohl der Geist des Merkantilsystems bis zum Übermaß im englischen Zollwesen vorherrschend war. Es war der Handelsbilanz zu Ehren die Einfuhr überhaupt, zum Schutz der inländischen Industrie die Einfuhr fremder Produkte aufs Äußerste beschränkt, die Ausfur inländischer Rohprodukte vielfach verboten, dagegen die Einfuhr gewisser wichtiger Rohmaterialien und die Ausfuhr von Manufakturartikeln prämiert. Es sollten dem inländischen Gewerbe billige Rohstoffe, ausschließlicher Absatz im Innern des Landes, gewinnreicher Absatz ins Ausland gesichert werden.

Zu den Rohstoffen gehört nun ganz unbedingt auch das Getreide und die Industriellen haben an billigem Getreide wegen der Löhne und ihres Einflusses auf die Produktionskosten das höchste Interesse. Dem merkantilistischen System entspricht daher eine Erschwerung der Getreideausfuhr, Erleichterung der Einfuhr.

Freilich sind von allen merkantilischen Maßregeln nur die Einfuhrzölle auf Produkte in der beabsichtigten Weise wirksam gewesen. Die auf die Ausfuhr bezüglichen Maßregeln hielten der Erfahrung gegenüber weit weniger Stand. Und was Ausfuhrerschwerungen von Getreide speziell betrifft, so ist klar, daß solche bei guten Ernten dem Inland nur schaden, bei schlechten Ernten aber wegen der natürlichen Repressalien anderer Länder erst recht verderblich werden müssen. Kurz, da die Getreideernten nach Art und Zeit verschieden ausfallen und es in der Natur der Dinge liegt, daß das Land mit jeweilig günstiger Ernte dem mit schlechter Ernte aushilft, so ist das Getreide unter allen Waren diejenige, für welche voller Freihandel zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen dem Bedürfnis der Bevölkerung am unbedingtesten entspricht, bei der jede künstliche Handelsbeschränkung stets direkt oder indirekt mehr Nachteil als Vorteil bringt.

Solche Erwägungen waren es indessen nicht, die in früheren Jahrhunderten in England einen Ausschluß des Getreides von der allgemeinen merkantlistischen Zollpolitik in Bezug auf Rohstoffe bewirkten und die eigentümliche Behandlung des Getreides war keineswegs eine freihändlerische.

1360 war die Kornausfuhr, außer in besonderen Fällen, verboten, 1394 wurde sie allgemein, außer nach mit England in Feindschaft lebenden Staaten, erlaubt. Dies wurde 1494 bestätigt, jedoch so, daß die Ausfuhr in bestimmten Fällen zum Vorteil des Landes beschränkt werden konnte und 11 Jahre später wurde die Ausfuhr vom Preis des Getreides abhängig gemacht.

Waren die bisherigen Ausfuhrerleichterungen mehr durch das Agrikulturinteresse als durch Freihandelsideen durchgesetz, so wurden diese Anfänge auch nicht zur baldigen Durchsetzung eines vollständigen Freihandels mit Getreide weiterentwickelt, sondern 1463 gelang es, die Einfuhr fremden Korns zu verbieten, so lange der Preis des Korns nicht im Inland eine bestimmte Höhe erreicht hatte. Es wurde also der inländische Grundbesitz gegen zu starkes Sinken der Getreidepreise geschützt.

Trotz einiger Schwankungen in der Gesetzgebung der folgenden hundert Jahre stand seit ELISABETH das Prinzip freier Getreideausfurh innerhalb gewisser Grenzen fest.

Wenn auch die Getreidepreise, bis zu deren Erreichung die Ausfuhr gestattet war, wechselnd normiert und dem Weizen zugleich Ausfuhrzölle auferlegt waren, so wurden doch die Einfuhrzölle auf Getreide sehr hoch normiert und fielen nur bei exorbitant hohen Getreidepreisen ganz weg.

Gewiß war bei vielen Verteidigern dieses Systems der Gedanke lebendig, es sollten dadurch gleichzeitig die Interessen der Getreideproduzenten und Konsumenten befriedigt, erstere gegen zu niedrige, letztere gegen zu hohe Preise geschützt werden. Abgesehen aber davon, daß man zwar den kleinen und mittleren Getreidebauern heben wollte, beim englischen Landsystem aber die gegen zu niedrige Getreidepreise geschützte Person immer mehr nicht der Bauer, sondern der Grundbesitzer war, so ist klar, daß dadurch der durchschnittliche Getreidepreis erhöht, sehr häufig ein Preis hervorgebracht wurde, der höher war, als er bei vollem Freihandel gewesen wäre, fast nie einer, der niedriger war, als der Preis bei vollem Freihandel. Es konnten dadurch nur die Differenzen zwischen dem höchsten und niedrigsten Preis gemildert werden, indem das mögliche Minimum der Preise erhöht wurde, während man eine Steigerung des bei Freihandel möglichen Maximus der Preise nicht zuließ. Das System begünstigte das Agrikulturinteresse in den meisten Fällen; das Interesse der Konsumenten wurde nur gegenüber einem absoluten Einfuhrverbot oder beständig hohen Einfuhrzöllen und gegenüber unbedingter einseitiger Ausfuhrfreiheit, nicht gegenüber dem Freihandel begünstigt, da das Ausfuhrverbot bei einer gewissen Höhe des Preises auf immer höhere Preise beschränkt wurde und die Ausfuhrzölle niedrig waren.

Die einseitige Begünstigung des Landbauern- oder richtiger des Grundbesitzer-Interesses tritt noch deutlicher in den Weizenausfuhrprämien des Jahres 1689 hervor, die bis 1773 bestanden. Sie wurden allmählich bei der Lage der inländischen Nachfrage nutzlos, da aber die Einfuhrzölle umso mehr ausgebildet wurden, so kam die Begünstigung des Landinteresses durch das Kornzollsystem im Jahre 1815 auf den höchsten Punkt.

Die Kornzölle haben später die eigentliche Veranlassung zur vollständigen Abschaffung des gesamten Protektivsystems gegeben. Dies geschah freilich in einer Zeit, wo die industriellen Schutzzölle den englischen Industriellen ganz wertlos geworden waren, während ihnen die Kornzölle entschieden schadeten. Aber ganz abgesehen von dieser Lage der Dinge in der Zeit von 1839 - 1846, wird man unbedingt zugestehen müssen, daß industrielle Schutzzölle die inländische Industrie auf Kosten ihrer Konsumenten, d. h. auf Kosten des vom Ackerbau lebenden Teils der Bevölkerung begünstigten und daß die Zufügung von Kornzöllen zu den Industriezöllen die Wirkung der letzteren wieder ausgleicht, indem Kornzölle die Ackerbauern auf Kosten der Industriellen begünstigen. Diese Kombination war demnach geeignet, den natürlichen Interessengegensatz zwischen Grundbesitz und Industrie aufs Äußerste zu schärfen, zugleich aber vor allem dazu, dem objektiven Beobachter das gesamte Schutzzollsystem als einen inneren Widerspruch erscheinen zu lassen. Man begünstigte die Industriellen; aber als man einsah, daß man dieselben nicht einseitig begünstigen dürfe, ermäßigte man die Begünstigung nicht, sondern ergänzte sie durch eine Beschädigung auf anderer Seite. Jeder der beiden Stände war begünstigt und beschädigt zugleich. Da der Mensch im Allgemeinen sein Interesse als Produzent stärker empfindet, als sein Interesse als Konsument, so konnte das System dem kurzsichtigen Egoismus beider Stände lange schmeicheln. Für das Staatsganze aber waren die Kosten der Aufrechterhaltung des verwickelten Systems jedenfalls ein Nachteil und die grundbesitzende Gentry untergrub ihre politische Stellung, indem sie den Interessen der Gewerbetreibenden nicht nur diente, sondern damit wetteiferte.

Lange Zeit konnte der allgemeine Glaube, daß die Beeinflussung der Preise durch die Zollpolitik im allgemeinen Interesse notwendig sei, den kurzsichtigen Egoismus der Grundbesitzer entschuldigen, respektive ihnen selbst ihre interessierten Motive verhüllen, ähnlich wie auch die Jagdgesetze zugunsten der reichen Grundbesitzer durch die Pflicht des Staates, die Armen zur Arbeit anzuhalten und von luxuriösen Vergnügungen abzuhalten, gerechtfertigt werden konnten. Am Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts jedoch konnt über das Vorhandensein solcher Motive kein Zweifel mehr herrschen.
LITERATUR Adolf Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands von 1760 - 1832, Leipzig 1881
    Anmerkungen
    1) Ein weiteres großes Hindernis der Teilung eines vorhandenen Grundbesitzes sind die großen juristisch formellen Schwierigkeiten und die Kosten des Verkaufs von Land.
    2) CLIFFE LESLIE, Land systems and industrial economy, London 1870, Seite 160f beweist das Verschwinden der yeomen, spricht davon, der letzte Zensus habe 30 766 Grundbesitzer nachgewiesen und die 300 000 des Duke of Argyll beruhten auf einer Verwechslung von freeholders mit peasant proprietors, spricht von der zunehmenden politischen und ökonomischen Abhängigkeit der Pächter.
    3) Es handelt sich hier offenbar um zwei Fragen: 1. um Einrichtungen, die den Landerwerb erleichtern und dadurch die Konzentration des Grundbesitzes vermindern; 2. um Einrichtungen, welche das Recht der Pächter bessern, diese sichern und zu Meliorationen [Bodenverbesserungen - wp] befähigen. Für jeden, der radikalen Umwälzungen abhold ist, müßte die zweite Frage als die zur Zeit praktisch wichtigste erscheinen, umsomehr, als gutsituierte Pächter auch einen starken und gesunden Bauernstand repräsentieren können und die Allgemeinheit des Pachtsystems die bei uns so beklagenswerte Überschuldung der landwirtschafttreibenden Grundbesitzer erschwert. Siehe darüber W. E. BEAR, The Relations of Landlord and Tenant, 1876. Über das bestehende Recht in Bezug auf das Grundeigentung und seine Vererbung sind die Four Reports on Real Property 1829, 1830, 1832 und 1833 zu vergleichen. - Es geht daraus hervor, daß in einzelnen Teilen Englands das Primogeniturerbrecht [nur der Erstgeborene erbt - wp] nicht besteht, daß das Recht äußerst verwickelt und den Rechtsgelehrten selbst teilweise unklar ist; daß insbesondere der gänzliche Mangel öffentlicher Grundbücher eine schwer empfundene Quelle von rechtlichen Schwierigkeiten ist. Interessant sind auch die Auseinandersetzungen im 3. Report über die verschiedenen Arten von Land tenure und der Grundsatz, daß formell kein Untertan Grund eigentümer  sein kann, sondern jeder einen superior Lord haben muß - eine feudale Anschauung, die tief eingelebt ist und obwohl sie ihre volle Bedeutung im alten Sinne nicht mehr hat, doch noch allerlei praktische Konsequenzen nach sich zieht, z. B. darin, daß die Grenze zwischen Rechtsverhältnissen, die nach unserer Auffassung Eigentum und solchen, die Erbpacht sind, sehr schwer zu ziehen ist. Die erwähnten Reports halten den Zustand im Allgemeinen für gut, schlagen nur Detailformen vor und verzichten gänzlich auf radikale Reformen. Man darf auch an diesen Zustand bei einem durchweg aristokratisch empfindenden Volk nicht ohne weiteres unseren Maßstab anlegen. Über das Festhalten der Engländer an ihren historisch gewordenen Institutionen vgl. BERNHARDI, Versuch einer Kritik der Gründe für großes und kleines Grundeigentum, Petersburg 1849 - ein noch heute nicht übertroffenes wissenschaftliches Werk über diese Fragen.
    4) Näheres darüber mit Quellenangabe bei KLEINSCHROD, Großbrittaniens Gesetzgebung über Gewerbe, Handel und innere Kommunikationsmittel, 1836. Darin jedoch viele Fehler in den Verweisungen.
    5) Siehe MACAULAY, Geschichte Englands, Cap. 19. Wichtig ist in Bezug auf Monopole aller Art insbesondere: An Act concerning Monopolies and Dispensations, 21. JAMES I. Cap 3 (1623). Alle Lizenzen und Patentbriefe, "für das  alleinige  Recht des Kaufs, Verkaufs, der Produktion oder des Gebrauchs von irgendetwas im Königreich" werden für absolut nichtig erklärt.