ra-2ra-2ra-1Gide / RistBelow - WirtschaftsgeschichteDer Anarchismus    
 
PIERRE-JOSEPH PROUDHON
Die Widersprüche der Nationalökonomie
oder die Philosophie der Not

[Eine Kritik der religiösen Ansichten]

"Der Materialismus leugnet und ist gezwungen zu leugnen, daß der Mensch frei ist; je weniger Freiheit nun der Mensch hat; desto gewichtiger werden seine Aussprüche, desto mehr müssen sie angesehen werden als Ausdruck der Wahrheit. Wenn ich diese Maschine sagen höre: Ich bin Seele und Leib; so verwundert und verwirrt mich zwar eine solche Offenbarung, erhält aber in meinen Augen ein unvergleichlich größeres Gewicht, als die Aussage des Materialisten, welcher das Bewußtsein der Natur ändert und sie sagen läßt: Ich bin Materie, nichts als Materie, und die Vernunft ist weiter nichts als die Fähigkeit dieser Materie, zu erkennen."


Einleitung

Bevor ich auf den eigentlichen Gegenstand dieser neuen Denkschrift eingehe, finde ich es notwendig, Rechenschaft zu geben von einer Hypothese, die dem Leser wahrscheinlich befremdlich vorkommen wird, ohne die es mir aber unmöglich ist, voranzuschreiten und mich verständlich zu machen. Ich meine die Hypothese eines Gottes.

Gott zu einer bloßen Annahme machen, wird man mir erwidern, heißt ihn leugnen. Warum behauptest Du nicht sein Dasein mit Bestimmtheit?

Ist es  meine  Schuld, wenn der Glaube an die Gottheit zu einer verdächtigen Ansicht geworden ist? wenn die bloße Vermutung eines höchsten Wesens schon für ein Zeichen schwachen Geistes gilt und von allen philosophischen Utopien dieses das einzige ist, was die Welt nicht mehr duldet? Ist es meine Schuld, wenn sich unter diesem heiligen Aushängeschild überall Heuchelei und Schwachköpfigkeit verbergen?

Nimmt irgendein Gelehrter eine im Weltall waltende unbekannte Kraft an, deren Zug Sonnen und Atome folgen, und aus der die Bewegung des ganzen Räderwerks entspringt, so gilt diese durchaus noch unbewiesene Annahme für ganz natürlich und findet Anklang und Ermutigung. Ich nenne nur die Hypothese von der allgemeinen Schwere, welche sich niemals wird zur Gewißheit dartun lassen, die aber dennoch den Ruhm ihres Entdeckers begründet hat.

Nehme ich dagegen mit aller erdenklichen Zurückhaltung die Einwirkung eines Gottes an, um den Verlauf der menschlichen Dinge zu erklären, so kann ich überzeugt sein, den Ernst der Wissenschaft aufzubringen und alle strengen Ohren zu beleidigen, weil die Frömmelei unserer Zeit die Vorsehung zu sehr in Mißkredit gebracht und das Marktschreiertum aller Talare kraft dieses Dogmas, oder Fiktion, wenn man will, zuviele Gauklerstückchen ins Werk setzt. Ich habe sie gesehen, die Gottesbekenner meiner Zeit, und die Lästerung schwebte auf meinen Lippen; ich habe auf den Glauben des Volks geachtet, eines Volks, das BRYDAINE den besten Freund Gottes nannte, und ich schauderte vor der Leugnung, die mir auf der Zunge lag. Umhergeworfen von entgegengesetzten Gefühlen wandte ich mich an die Vernunft, und diese Vernunft ist es, die mir unter so vielen dogmatischen Gegensätzen gegenwärtig die in Rede stehende Hypothese gebietet. Der Dogmatismus  a priori  ist mit seinem Gott unfruchtbar geblieben: wer weiß, wohin uns die  Hypothese  führen kann? ...

Ich will also angeben, wie mir, während ich stillen Herzens und fern von jeder Rücksichtsnahme das Geheimnis der gesellschaftlichen Revolutionen studierte, Gott, der große Unbekannte, eine notwendige Hypothese, d. h. eine unentbehrliche dialektische Formel geworden ist.


I.

Verfolge ich die Gottesidee durch ihre verschiedenen Umgestaltungen, so finde ich, daß diese Idee vor allen Dingen eine  soziale  ist. Ich meine damit, daß sie bei weitem mehr eine Glaubensbetätigung des Denkens der  Gesamtheit,  als die Schöpfung  einzelner Personen  ist. Es frägt sich nun: wie und bei welcher Gelegenheit erzeugt sich diese Glaubenstat? Es ist von Wichtigkeit dies zu bestimmen.

In sittlicher und geistiger Beziehung unterscheidet sich die Gesellschaft oder der  Gesamtmensch  besonders durch das Unwillkürliche seiner Tätigkeit, durch das, was man sonst Instinkt nennt, vom Einzelmenschen. Der Einzelmensch gehorcht nur solchen Beweggründen, oder glaubt ihnen zumindest zu gehorchen, deren er sich vollständig  bewußt  ist, und gegen die er sich sowohl verweigernd als auch zustimmend zu verhalten die Macht hat; kurz, er erachtet sich für frei, und das umsomehr, je mehr er sein Denkvermögen ausgebildet, je besser er sich unterrichtet weiß. Die Gesellschaft dagegen ist dem Walten gewisser Züge unterworfen, in denen uns auf den ersten Blick nichts Überlegtes, Planmäßiges bemerkbar wird, die aber allmählich doch den Schein gewinnen, als würden sie gelenkt von einem höheren außerhalb der Gesellschaft vorhandenen Rat, der sie mit unwiderstehlicher Gewalt einem noch unbekannten Ziel entgegendrängt. Die Entstehung der Monarchien und Republiken, die Kastenunterschiede, die richterlichen Einrichtungen usw. sind lauter Darlegungen dieser Unwillkürlichkeit der Gesellschaft, von der sich bei weitem leichter die Wirkungen anführen, als das Prinzip anzeigen oder die Begründung in der Vernunft darlegen läßt. Alle Anstrengungen, selbst derjenigen, die als Nachfolger eines BOSSUET, VICO, HERDER und HEGEL die Philosophie der Geschichte zu ihrem Vorwurf nahmen, haben bisher nur das Ergebnis gehabt, das Walten des vorsehenden Schicksals, das alle Regungen des Menschen leitet, zu bestätigen. Und ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß die Gesellschaft, bevor sie handelt, es nie unterläßt, ihren Genius anzurufen: als wolle sie sich von oben her gebieten lassen, was ihr unwillkürlicher Trieb bereits beschlossen hat. Das Losen, die Orakel, Opfer, der Zuruf des Volkes, die öffentlichen Gebete sind die gewöhnlichste Form dieser Beratungen nach bereits erfolgter Entscheidung durch die Gesellschaft.

Diese geheimnisvolle, durchaus unmittelbare uns sozusagen  supra-sozialistische  Eigenschaft, die in den Personen wenig oder gar nicht merkbar wird, über der Menschheit aber wie ein Eingebungen spendender Geist schwebt, ist die Urtatsache aller Psychologie.

Im Unterschied von den anderen lebenden Wesen, die wie er sowohl ihren eigenen Begierden als Einzeltiere, als auch zugleich den Trieben der Gesamtheit, der Gattung unterworfen sind, genießt der Mensch den Vorzug, den Instinkt oder das Fatum, das ihn führt, zu gewahren und zum Gegenstand des eigenen Denkens zu machen. Später werden wir sehen, daß er auch das Vermögen besitzt, die Beschlüsse desselben zu durchschauen und sogar Einfluß auf dieselben auszuüben. Und die erste Neigung des Menschen, der sich hingerissen und durchströmt fühlt von  Enthusiasmus  (vom göttlichen Hauch) ist die, daß er die unsichtbare Vorsehung anbetet, von welcher er sich abhängig fühlt, und die er Gott, Deus. d. h. Leben, Sein, Geist oder auch noch einfacher  Ich  nennt, denn alle diese Worte sind in den alten Sprachen gleichlautend und gleichbedeutend.

Ich bin Ich, sagt Gott zu ABRAHAM, und unterhandle mit Dir ... und zu MOSES: Ich bin das Sein (eigentlich: der ich sein werde). Du sollst den Kindern Israel sagen: Der Seiende sendet mich an Euch. Diese beiden Worte, Sein und Ich haben in der Ursprache, der religiösesten, welche die Menschen jemals gesprochen haben, dieselbe Bezeichnung (1). An anderen Stellen, wo JEHOVAH sich durch den Mund MOSES' zum Gesetzgeber macht, seine Ewigkeit versichert und bei seinem Wesen schwört, sagt er als Eidesformel: Ich; oder mit verdoppeltem Nachdruck: Ich, das Sein. Daher ist dann auch der Gott der Hebräer der persönlichste und eigenmächtigste aller Götter, und keiner drückt die unmittelbare Anschauung der Menschheit schärfer aus als er.

Gott erscheint also dem Menschen als ein Ich, als ein reines und dauerndes Wesen, das sich ihm gegenüberstellt wie ein Monarch seinem Diener und sich bald durch den Mund der Dichter Gesetzgeber und Seher (moira, nomos, numen), bald durch den Zuruf des Volkes (vox populi vox dei) vernehmen läßt. Hierdurch läßt sich u. a. auch erklären, wie es wahre und falsche Orakel geben konnte; ferner, warum Personen, die von ihrer Geburt an eingesperrt wurden, nicht von selbst auf eine Gottesidee kommen, während sie dieselbe begierig ergreifen, sobald sie ihnen von der Gesamtseele geboten wird; warum schließlich Stämme, die dem Stillstand anheimfallen, wie die Chinesen, sie zuletzt verlieren. (2)

Was zunächst die Orakel betrifft, so ist es klar, daß ihre ganze Gewißheit aus dem allgemeinen Bewußtsein herfließt, das sie eingibt, und in Bezug auf die Gottesidee begreift man leicht, warum die Absperrung und der Stillstand ihr gleichgültig tödlich sind. Dort bewirkt der Mangel jeder Mitteilng, daß die Seele ganz in Anspruch genommen und wie verschlungen wird von der tierischen Selbstsucht; hier verwandelt der Mangel der Bewegung das gesellschaftliche Leben allmählich in den maschinenhaften Schlendrian der Satzung und scheidet dadurch zuletzt die Idee des Willens und der Vorsehung ganz aus. Merkwürdige Tatsache:  der Fortschritt läßt die Religion zugrunde gehen, aber der Stillstand ebenfalls! 

Noch sei bemerkt, daß ich mit der Herleitung der ersten Offenbarung der Gottheit aus dem noch unbestimmten und sozusagen objektiv gewordenen Bewußtsein einer allgemeinen Vernunft durchaus auch nicht das Mindeste vorweg behauptet haben will in Bezug auf das Dasein oder Nichtdasein Gottes in der Wirklichkeit. Nehmen wir nämlich an, Gott sei nichts anderes als der Gesamtinstinkt oder die allgemeine Vernunft, so fragt sich erst: was ist denn nun diese allgemeine Vernunft selbst? Denn die allgemeine Vernunft ist, wie wir in der Folge zeigen werden, nicht gegeben in der Einzelvernunft. Mit anderen Worten: die Kenntnis der gesellschaftlichen Gesetze oder die Theorien der Gesamtideen, obgleich herfließend aus den Grundbegriffen der reinen Vernunft, ist gleichwohl eine durchaus auf Erfahrung beruhende und würde nie  a priori  auf dem Weg der Deduktion, Induktion oder Synthese entdeckt worden sein Hieraus folgt, daß die allgemeine Vernunft, auf die wir diese Gesetze als ihr eigenes Werk zurückführen, daß die allgemeine Vernunft, welche existiert, denkt, wirkt in einer gesonderten Sphäre und als eine von der reinen Vernunft unterschiedene Wirklichkeit, gleich wie das Weltgebäude, obwohl nach mathematischen Gesetzen geschaffen, dennoch eine von der Mathematik verschiedene Wirklichkeit ist, deren Dasein man aus der bloßen Mathematik nicht hätte herleiten können; - daraus folgt, sage ich, daß die allgemeine Vernunft des modernen Sprachgebrauchs genauc das ist, was die Alten  Gott  genannt haben. Das Wort ist ein anderes geworden: was wissen wir von der Sache?

Verfolgen wir jetzt die Entwicklungsstufen der Gottesidee.

Hat sich das höchste Wesen einmal durch ein erstes mystisches Urteil gesetzt, so beginnt der Mensch dieses Thema sofort durch einen anderen Mystizismus, die Analogie, zu verallgemeinern. Gott ist gleichsam erst ein Punkt: alsbald aber wird er die Welt erfüllen.

Ebenso wie der Mensch, sobald er sein gesellschaftliches Ich fühlte, seinen  Urheber  begrüßte; ebenso legt er, wenn er in den Tieren, Pflanzen, Quellen, Lusterscheinungen und überhaupt im All Überlegung und Absicht entdeckt, erst jedem Gegenstand besonders, dann aber dem Ganzen eine Seele, einen Geist oder Genius bei, der es leitet, indem er dieses gottgeschaffene Schließen vom höchsten Gipfel der Natur, der Gesellschaft beginnend, abwärts fortsetzt bis zu den niedrigsten Daseinsformen, den unbelebten und unorganischen Dingen. Von seinem Gesamt-Ich also, das er für den obersten Pol der Schöpfung nimmt, bis zum letzten Atom der Materie  spannt  er daher die Gottesidee aus, das heißt die Idee der Persönlichkeit und Geistigkeit, wie die Genesis uns erzählt, daß Gott selbst den  Himmel ausspannte,  d. h. wie er den Raum und die Zeit als die enthaltenden Möglichkeiten (capacités) aller Dinge schuf.

Ohne einen Gott also, den unbeschränkt obersten Erzeuger, würden die Welt und der Mensch nicht vorhanden sein: das ist das gesellschaftliche Glaubensbekenntnis.

Aber auch Gott - wir müssen diese Stufe überschreiten - auch Gott würde nicht gedacht sein ohne den Menschen, würde ohne ihn gar nichts sein. Bedarf die Menschheit eines  Urhebers,  so bedarf Gott, die Götter, nicht minder eines  Offenbarers:  die Theogonie, die Geschichten des Himmels, der Hölle und ihrer Bewohner, diese Träume des menschlichen Gedankens, sind das Gegenstück der Welt, die manche Philosophen umgekehrt den Traum Gottes genannt haben.

Und welcher Prachtaufwand liegt in dieser theologischen Schöpfung, dem Werk der Gesellschaft! Die Schöpfung des DEMIURGOS wurde wieder ausgelöscht; der, den wir den Allmächtigen nennen, ward besiegt, und Jahrhunderte lang wurde die bezauberte Einbildungskraft der Sterblichen abgezogen vom Schauspiel der Natur durch die Anschauung der olympischen Herrlichkeiten.

Steigen wir herab aus dieser phantastischen Region: die mitleidslose Vernunft klopft an die Pforte; wir müssen Antwort geben auf ihre verfänglichen Fragen.

Was ist Gott? sagt sie; wo ist er? wieviel ist er? was will er? was kann er? was verspricht er? - Und siehe, vor dem Licht der zerlegenden Forschung verflüchtigen sich alle diese Gottheiten des Himmels, der Erde und der Unterwelt zu einem unkörperlichen, gleichgültigen, regungslosen, unbegreiflichen, unsagbaren Ichweißnichtwas, zu einer  Vereinigung  aller Eigenschaften des Daseins.' In der Tat, der Mensch mag jedem Gegenstand einen besonderen Geist oder Genius beilegen; er mag sich das Weltall denken als regiert von einer einzigen Macht: immer tut er nichts anderes, als daß er ein unbedingtes, das heißt unmögliches Wesen unterstellt, um aus demselben irgendeine Erklärung für Erscheinungen abzuleiten, die er anders für unbegreiflich hält. Mysterium Gottes und der Vernunft! Um den Gegenstand seiner abgöttischen Verehrung immer  vernunftgemäßer  zu machen, entkleidet ihn der Gläubige nach und nach all dessen, was ihn  wirklich  machen könnte; und nach Wunderleistungen von Logik und Genie stellt es sich schließlich heraus, daß die Eigenschaften des  Wesens kat exochen  [ansich - wp] und die des  Nichts  genau dieselben sind! Diese Entwicklung ist unvermeidlich und verhängnisvoll: jede Rechtfertigung Gottes (Theodizee) hegt in ihrer Tiefe den Atheismus.

Ich will versuchen diesen Verlauf deutlich zu machen.

Gott, der Schöpfer aller Dinge, ist kaum selbst geschaffen vom Bewußtsein, oder mit anderen Worten, kaum haben wir Gott von der Idee des gesellschaftlichen Ichs erhoben zur Idee des Welt-Ichs, so beginnt auch unser nachdenken ihn wieder zu zerstören, unter dem Vorwand, ihn zu vervollkommnen. Die Gottesidee vervollkommnen! Das theologische Dogma läutern!  Der  Gedanke war das zweite blendende Trugbild (hallucination) des Menschengeschlechts.

Der Geist der Zerlegung, ein unermüdlicher Satan, der fortwährend fragt und widerspricht, mußte früher oder später nach dem Beweis für das religiöse Dogmengebäude suchen. Nun mag aber der Philosoph die Idee Gottes bestimmen oder sie für unbestimmbar erklären; er mag sie seiner Vernunft annähern oder von ihr entfernen: stets, das behaupte ich, erleidet diese Idee einen Angriff, und da die Spekulation unmöglich stillstehen kann, so muß die Idee Gottes auf die Länge notwendig verschwinden. Die atheistische Bewegung ist also der zweite Akt im Drama der Theologie, und dieser zweite Akt ist durch den ersten gegeben, wie die Wirkung durch die Ursache.  Die Himmel erzählten die Ehre Gottes,  singt der Psalmist; aber wir müssen hinzusetzen:  Das Zeugnis des Himmels stürzt ihn vom Thron. 

So wie nämlich der Mensch die Erscheinungen beobachtet, glaubt er Vermittler zu gewahren zwischen der Natur und Gott: es sind die Verhältnisse der Zahl, der Form und der Reihenfolge, es sind organische Gesetze, Entwicklungen, Analogien, es ist eine gewisse Miteinander-Verkettung, innerhalb welcher sich die Darlegungen erzeugen oder eine die andere unwandelbar hervorrufen. Er bemerkt sogar, daß in der Entfaltung dieser Gesellschaft, von welcher er einen Teil ausmacht, die Willen der Einzelnen und die Beratungen in Gemeinschaft von einiger Bedeutung sind; und so sagt er sich dann, daß der große Geist nicht unmittelbar und durch sich selbst auf die Welt einwirkt, sondern mittelbar durch Triebfedern oder merkliche Organe und in Gemäßheit gewisser Regeln. Indem er dann mit seinem Gedanken die Kettenleiter von Ursachen und Wirkungen emporsteigt, stellt er Gott ganz ans äußerste Ende wie an die Spitze eines Waagebalkens.

"Hoch über allen Himmeln thront der Gott der Himmel," hat ein Dichter gesagt. So ist beim ersten Emporschwung der Theorie das höchste Wesen beschränkt auf die Ausübung der bewegenden Kraft; er wird zur Feder des Uhrwerks, zum Schlußstein des Gewölbes oder, wenn man mir einen noch gewöhnlicheren Vergleich gestatten will, zum konstitutionellen Fürsten, welcher  herrscht,  aber nicht  regiert,  der dem Gesetz Gehorsam gelobt und seine vollziehenden Minister ernennt. Allein benommen vom Eindruck der Fata Morgana, die ihn verzaubert, steht der Theist in diesem lächerlichen System nur einen neuen Beweis für die Erhabenheit seines Abgotts, der, seiner Meinung nach, die Weisheit der Menschen zu seinem Ruhm wendet.

Bald aber verlangt der Mensch, nicht zufrieden damit, das Regiment des Ewigen aus einer mehr und mehr gottesmörderischen Ehrfurcht zu begrenzen, dieselbe zu teilen.

Wenn ich ein Geist bin, fährt der Theist fort, ein sinnbegabtes und Ideen betätigendes Ich, so habe ich auch Anteil am absoluten Dasein. Ich bin frei, bin Schöpfer, unsterblich, Gott gleich.  Cogito ergo sum;  ich denke, also bin ich unsterblich: das ist die Schlußreihe, die Übersetzung des  Ego sum qui sum,  Ich bin der ich bin: die Philosophie trifft auf Eins zusammen mit der Bibel. Das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele werden vom Bewußtsein in ein und demselben Urteil gegeben: dort spricht der Mensch im Namen des Alls, in dessen Schoß er sein Ich verlegt, hier in seinem eigenen Namen, ohne zu bemerken, daß er bei diesem Hin und Her weiter nichts tut, als sich wiederholen.

Die Unsterblichkeit der Seele ist eine wahrhafte Spaltung der Gottheit und erschien auch, als sie nach einer langen Zwischenzeit zum ersten Mal hervortrat, den Gläubigen des althergebrachten Dogmas als eine Ketzerei. Nichtsdestoweniger sah man sie an als die Vervollständigung der göttlichen Majestät, als das notwendige Erfordernis der ewigen Güte und Gerechtigkeit. Ohne die Unsterblichkeit der Seele, sagen die Theisten, ist Gott nicht zu begreifen, und darin gleichen sie den politischen Theoretikern, denen eine souveräne Vertretung und durchweg unabsetzbare Beamte wesentliche Bedingungen der Monarchie sind. Aber ebensosehr ist der Widerspruch der Ideen ein schneidender: so wurde bald das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele zum Stein des Anstoßes für die philosophischen Theologen, die sich seit dem Pythagoräischen und Orphischen Zeitalter vergebens abmühen, die göttlichen Eigenschaften in Einklang zu bringen mit der menschlichen Freiheit und die Vernunft mit dem Glauben. Welch' ein Anlaß zum Triumph für die Gottlosen! . . .

Aber die Jllusion konnte nicht so schnell weichen: das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele war ein Fortschritt gerade deshalb, weil es eine Beschränkung des ungeschaffenen Wesens ist. Nun täuscht sich zwar der menschliche Geist durch die  teilweise  Erringung der Wahrheit, aber er schreitet nie zurück, und diese Beharrlichkeit auf seinem Gang ist der Beweis seiner Unfehlbarkeit. Wir werden einen neuen Beweis für dieselbe ermitteln.

Indem der Mensch sich Gott ähnlich machte, machte er Gott sich ähnlich: Diese Wechselbeziehung, die man Jahrhunderte lang verdammungswürdig genannt haben würde, war die unsichtbare Triebkraft, welche den neuen Mythos bestimmte.

Im Zeitalter der Patriarchen schloß Gott Bündnisse mit den Menschen; jetzt muß Gott, und zwar um den Vertrag neu zu festigen, Mensch werden. Er nimmt unser Fleisch, unsere Gestalt, unsere Leidenschaften, unsere Freuden und Leiden an, er wird geboren von einem Weib, er stirbt wie wir. Und nach dieser Erniedrigung des Unendlichen behauptet der Mensch dennoch das Ideal seines Gottes vergrößert zu haben, indem er mittels einer logischen Umkehrung aus dem, welchen er bisher den Schöpfer genannt, einen Erhalter, einen Erlöser gemacht hat. Noch sagt die Menschheit nicht: Ich bin Gott; nein, eine solche Usurpation wäre ihrer Frömmigkeit noch ein Greuel; aber sie sagt: Gott ist in mir,  Immanu-El,  nobiscum Dominus.' Und in dem Augenblick, wo die Philosophie mit Stolz, das allgemeine Bewußtsein voll Angst rief: die Götter entfliehen,  excedere deos,  hatte eine Periode von achtzehn Jahrhunderten glühender Inbrunst und übermenschlichen Glaubens ihren Anfang genommen.

Allein der verhängnisvolle Augenblick naht. Jedes Königtum, das sich beschränken läßt, endet in Demagogie; jede Gottheit, die sich begrenzt (definit) löst sich auf in ein Pandämonium [Gesamtheit aller Dämonen - wp]. Die CHRISTUS-Anbetung ist die letzte Stufe dieser langen Entwicklung des menschlichen Gedankens. Die Engel, die Heiligen, die Jungfrauen regieren im Himmel mit Gott, sagt der Katechismus; die bösen Geister und die Verworfenen leben in der Hölle unter ewigen Qualen. Die Gesellschaft in der jenseitigen Welt hat ihre Rechte und ihre Linke: es ist an der Zeit, daß sich die Gleichung vollendet, daß diese mystische Hierarchie herniedersteige auf die Erde und sich zeige in ihrer Wirklichkeit.

Wenn MILTON schildert, wie das erste Weib, als es sein Spiegelbild im Bach erblickte, vor Liebe die Arme ausbreitete, als wolle es die eigene Gestalt umarmen, so zeichnet er damit Zug für Zug das Menschengeschlecht. - Dieser Gott, den du, o Mensch, anbetest, den du gut, gerecht, allmächtig, allweise, unsterblich und heilig gemacht hast, dieser Gott bist du selbst: dieses Ideal von Vollkommenheit ist dein Bild, gereinigt im Flammenspiegel deines Bewußtseins. Gott, die Natur und der Mensch sind die dreifaltige Gestalt des einen und selben Wesens; der Mensch sind die dreifaltige Gestalt von ein und desselben Wesens; der Mensch ist Gott selbst, wie er durch tausend Entwicklungsstufen zum Bewußtsein seiner selbst gelangt; in JESU CHRISTO hat sich der Mensch als Gott empfunden, und das Christentum ist in Wahrheit die Religion des Gottmenschen. Es gibt keinen andern Gott als den, welcher von Anbeginn gesagt hat: Ich; es ist kein anderer Gott als  du. 

Das sind die letzten Schlüsse der Philosophie, denn indem sie das Geheimnis der Religion und ihr eigenes entschleiert hat, ist sie selber verschieden.


II.

Es scheint, als müßte damit alles zu Ende, als müsse das theologische Problem für immer beseitigt sein, sobald die Menschheit aufhört, sich selbst anzubeten und für sich zum Mysterium zu machen. Die Götter sind von dannen gezogen: dem Menschen bleibt weiter nichts übrig als sich zu langweilen und in seinem Egoismus zu sterben. Welche erschreckende Einöde dehnt sich rings um mich her aus aus und wühlt sich ein in die Tiefen meiner Seele! Meine Erhebung gleicht der Vernichtung, und seit ich mich zum Gott gemacht habe, sehe ich mich nur noch als ein Schatten. Es ist möglich, daß ich immer ein Ich bin, aber es fällt mir gewaltig schwer, mich für das Unumschränkte zu halten; und wenn ich das nicht bin, so bin ich nur die Hälfte einer Idee.

Etwas Philosophie, sagt irgendein ironischer Denker, entfernt von der Religion; aber  viel  Philosophie führt zu ihr zurück. - Diese Bemerkung hat eine demütigende Wahrheit.

Jede Wissenschaft entwickelt sich in drei aufeinander folgenden Epochen, die man, wenn man sie vergleicht mit den großen Epochen der Zivilisation, die religiöse, die sophistische und die wirklich wissenschaftliche Epoche nennen kann. (3) So bezeichnet die Alchemie die religiöse Epoche der Wissenschaft, welche sich später Chemie nennt, und deren schließliches Lehrgebäude doch nicht gefunden ist, ganz wie die Astrologie die religiöse Periode einer anderen Wissenschaft, der Astronomie, ist.

Nachdem sich die Chemiker sechzig Jahre hindurch lustig gemacht haben über den Stein der Weisen, wagen sie nun doch, von der Erfahrung geleitet, die Verwandelbarkeit der Körper ineinander nicht mehr zu leugnen, während die Astronomen durch die Mechanik des Weltgebäudes dahin gebracht sind, auch eine Organik der Welt zu vermuten, also gerade etwas wie die Astrologie. Ob man nun nicht ein Recht hat, nach Art des eben angeführten Philosophen zu sagen, etwas Chemie führt ab vom Stein der Weisen, viel Chemie aber führt zu ihm zurück, und ähnlich, etwas Astronomie macht uns lachen über die Astrologen, viel Astronomie aber an sie glauben? (4)

Ich neige mich gewiß weniger zum Wunderbaren hin als manche Atheisten; aber ich kann mich nicht des Gedankens entschlagen, daß die Wundererzählungen, Prophezeiungen, Zauberleistungen usw. weiter nichts sind als entstellte Berichte von außerordentlichen Wirkungen verborgener Kräfte oder, wie man vormals zu sagen pflegte, dunkler Gewalten. Unsere Wissenschaft ist noch so roh und unredlich; unsere Gelehrten tun so aufgebläht mit so geringem Wissen; sie leugnen so schamlos die Tatsachen weg, die ihnen unbequem sind, umnur die Ansicht, welche sie ausbeuten, in Schutz zu nehmen, daß ich gegen diese Freigeister ebenso mißtrauisch bin wie gegen abergläubische Leute. Ja, es ist meine Überzeugung, unser grober Rationalismus ist nur der Übergang zu einer Periode, die kraft der Wissenschaft eine wahrhaft  wundertätige  sein wird. Die Welt ist in meinen Augen nur ein Laboratorium der Magie, in dem man auf alles gefaßt sein muß . . . Doch nun zurück zur Sache.

Man würde sich also irren, wollte man sich nach dem flüchtigen Überblick, den ich von den religiösen Entwicklungsstufen gegeben habe, einbilden, die Metaphysik habe bereits ihr letztes Wort gesprochen über das Doppelrätsel, das in den vier Worten liegt: Dasein Gottes, Unsterblichkeit der Seele. Hier wie überall führen uns die am Besten begründeten und am Tiefsten eindringenden Schlüsse der Vernunft, Schlüsse, welche die theologische Frage für immer gelöst und beseitigt zu haben schienen, zurück zum anfänglichen Mystizismus, und enthalten die neuen Probleme einer unvermeidlichen Philosophie. Die Kritik der religiösen Ansichten nötigt uns heutzutage sowohl über uns selbst, als über die Religionen ein Lächeln ab; und dennoch ist der Inbegriff dieser Kritik nichts anderes, als eine Erneuerung des Problems. In diesem Augenblick, wo ich schreibe, steht die Menschheit am Vorabend eines Tages, an dem sie etwas anerkennen und behaupten wird, was ihr ein Äquivalent sein wird für den altertümlichen Begriff der Gottheit; und das wird sie diesmal nicht mehr wie weiland in einer unwillkürlichen Bewegung, sondern mit der Überlegung und Kraft einer unüberwindlichen Dialektik ins Werk setzen.

Ich will in wenigen Worten versuchen, mich verständlich zu machen.

Gibt es einen Punkt, über den die Philosophen endlich miteinander einig geworden sind, so ist das jedenfalls die Unterscheidung der Vernunft und der Notwendigkeit, des Subjekts im Denken und seines Objekts, des Ich und des Nicht-Ich; mit gewöhnlichen Worten: des Geistes und der Materie. Wohl weiß ich, daß alle diese Worte nichts Wirkliches und Wahres ausdrücken, daß jedes derselben nur eine Spaltung des Absoluten bezeichnet, das allein wahr und wirklich ist, und daß sie, gesondert genommen, alle gleich viel mit Widerspruch behaftet sind. Aber es steht auch ebenso fest, daß das Absolute uns völlig unzugänglich ist, daß wir es nur in seinen gegensätzlichen Darlegungen kennen, die allein unserer Erfahrung anheimfallen, und daß, wenn die Einheit allein unseren Glauben gewinnen kann, doch der Dualismus, die erste Bedingung der Wissenschaft ist.

Wer also denkt und wer wird gedacht? Was ist eine Seele, was ein Körper? Ich erkläre es für unmöglich, diesem Dualismus zu entkommen. Es ist mit den Wesenheiten, wie mit den Ideen: die ersteren erscheinen getrennt in der Natur, wie die letzteren im Verstand (entendement); und ebenso wie die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, trotz ihrer Identität, sich nacheinander uns als Widersprüche in der Philosophie gesetzt haben, ebenso setzen sich, trotz ihrer Verschmelzungen (ihres unterschiedslosen Ineinanderseins) im Absoluten, das Ich und das Nicht-Ich gesondert und als Widersprüche in der  Natur,  und wir haben Wesen, welche denken, und gleichzeitig andere, welche nicht denken.

Nun weiß aber jetzt jeder, der sich die Mühe gemacht hat, darüber nachzudenken, daß ein solcher Unterschied, so verwirklicht er auch sein mag, doch das Unbegreiflichste, Widersprechendste, Absurdeste ist, was der Vernunft vorkommen kann. Das Sein begreift sich ebensowenig ohne die Eigenschaften des Geistes, wie ohne die Eigenschaften der Materie, so daß, wenn  Du  den  Geist  leugnest, weil derselbe, sofern er keiner der Kategorien der Zeit, des Raumes, der Beweglichkeit, der Undurchdringlichkeit usw. anheimfällt, all der Merkmale entkleidet zu sein scheint, das Wirkliche ausmachen:  ich  meinerseits dann die Materie leugnen kann, welche, sofern sie mir nichts Bestimmbares darbietet, als ihre Passivitt, nichts Erkennbares, als ihre Formen, sich nirgendwo als Ursache (willenbegabte und freie) offenbart und sich mir als Substanz gänzlich entzieht: und so kommen wir hinaus auf den reinen Idealismus, d. h. auf das Nichts. Aber das Nichts widersteht gewissen Ichweißnichtwas, welche lebendig sind und in einem Zustand, den ich nicht zu benennen vermag, in einem Zustand begonnener Zusammensetzung oder bevorstehender Zerlegung alle widerstreitenden Eigenschaften des Seins in sich selbst vereinigen. So müssen wir also anfangen mit einem Dualismus, von dem wir recht gut wissen, daß seine (einzelnen) Ausdrücke falsch sind, der uns aber unüberwindlich dazu zwingt, sofern er für uns die Bedingung der Wahrheit ist; kurz, wir sind genötigt, mit DESCARTES und dem Menschengeschlecht vom Ich, d. h. vom Geist anzuheben.

Seitdem sich aber die Religionen und Philosophien, durch die Forschung aufgelöst, verschmolzen haben zu einer Theorie des Absoluten, wissen wir darum doch um nichts besser, was der Geist ist, und unterscheiden uns hierin von den Alten nur durch den Reichtum der Sprache, mit der wir die uns umlagernde Dunkelheit ausschmücken. Der Unterschied ist nur, daß die Ordnung den Menschen früher auf eine  außerweltlich,  jetzt aber auf eine der Welt selbst  innewohnende  Einsicht hinzuweisen schien.

Gebe man ihr nun ihren Platz innerhalb oder außerhalb, sobald man ihr Vorhandensein aufgrund der Ordnung behauptet, muß man sie entweder überall annehmen, wo sich Ordnung behauptet, muß man sie entweder überall annehmen, wo sich Ordnung zeigt, oder sie nirgends zugeben. Dem Haupt, welches die  Jlias  schuf, ist man um nichts mehr, als dem Stoff, der sich zu Oktaedern kristallisiert, berechtigt, Einsicht beizulegen; und umgekehrt ist es ebenso absurd, den Bau der Welt bloßen Naturgesetzen zuzuschreiben, ohne an ein ordnendes Ich zu denken, als den Sieg bei Marengo strategischen Kombinationen zuzuschreiben, ohne den Ersten Konsul mit in Anschlag zu bringen. Der ganze Unterschied, den man machen könnte, ist der, daß im letzteren Fall das denkende Ich gesondert verortet ist im Gehirn BONAPARTEs, während in Bezug auf die Welt das Ich keinen eigenen Ort einnimmt, sondern sich durch alles ausbreitet.

Die Materialisten haben geglaubt, mit der der ihrigen entgegengesetzten Ansicht leichten Kaufs fertig zu werden. Sie sagten, daß der Mensch habe die Vorstellung von der Welt seinem Körper ähnlich gemacht und seinen Vergleich damit vollendet, daß er dieser Welt eine Seele geliehen, ähnlich derjenigen, in welcher er den Urgrund seines Lebens und Denkens vermutete. Somit schrumpfen dann alle Beweisgründe für das Dasein Gottes zusammen zu einer Analogie, die umso falscher, als der Hauptpunkt der Vergleichung selbst ein hypothetischer ist.

Ich bin wahrlich nicht willens, den alten Syllogismus zu verteidigen, der so lautet: jede Anordnung setzt eine ordnende Einsicht voraus; nun herrscht aber in der Welt eine bewunderungswürdige Ordnung; folglich ist die Welt das Werk eines einsichtsvollen Wesens. Dieser Schluß, so endlos durchgedroschen seit MOSES und HIOB, ist keineswegs eine Lösung, vielmehr nur die Formel des Rätsels, um dessen Lösung es sich handelt.

Wir wissen vollkommen klar, was Ordnung ist, aber durchaus nicht, was wir mit den Worten: Seele, Geist oder Vernunft sagen wollen; wie können wir also logisch vom Vorhandensein des einen auf das Dasein des anderen schließen? Ich muß daher den angeblichen Beweis für das Dasein Gottes aus der Ordnung der Welt bis auf eine umfassendere Untersuchung verwerfen, und kann in ihm höchstens eine der Philosophie aufgegebene Gleichung sehen. Zwischen dem Gedanken der Ordnung und der Behauptung des Geistes ist noch ein wahrer Abgrund von Metaphysik auszufüllen, und es fällt mir, ich sag' es noch einmal, nicht ein, das Problem für den Beweis zu halten.

Allein es ist nicht dies, um was es sich in diesem Augenblick handelt. Ich habe dartun wollen, daß die menschliche Vernunft notwendig und unwiderstehlich hingeführt wird zur Unterscheidung des Seins in Ich und Nicht-Ich, Geist und Materie, Seele und Leib. Wer sieht nun nicht ein, daß der Einwurf der Materialisten gerade das beweist, was er zu leugnen bezweckt? Der Mensch unterscheidet in sich selbst ein geistiges und ein materielles Prinzip: was ist denn dieses anderes, als die Natur selbst, die abwechselnd ihr zweifaches Wesen darlegt und Zeugnis gibt von ihren eigenen Gesetzen? Zugleich mache ich auf die Inkonsequenz des Materialismus aufmerksam: er leugnet und ist gezwungen zu leugnen, daß der Mensch frei ist; je weniger Freiheit nun der Mensch hat; desto gewichtiger werden seine Aussprüche, desto mehr müssen sie angesehen werden als Ausdruck der Wahrheit. Wenn ich diese Maschine sagen höre: Ich bin Seele und Leib; so verwundert und verwirrt mich zwar eine solche Offenbarung, erhält aber in meinen Augen ein unvergleichlich größeres Gewicht, als die Aussage des Materialisten, welcher das Bewußtsein der Natur ändert und sie sagen läßt: Ich bin Materie, nichts als Materie, und die Vernunft ist weiter nichts als die Fähigkeit dieser Materie, zu erkennen.

Wie stände es, wenn ich nun zum Angriff überginge und bewiese, wie das Dasein des Körpers, mit anderen Worten: die Wirklichkeit einer rein körperlichen Natur eine unhaltbare Ansicht ist? -

Die Materie, sagt man, ist undurchdringlich.

- Undurchdringlich? für wen oder was? will ich fragen.

Nun, offenbar für sich selbst, denn man wird doch nicht zu sagen wagen: für den Geist, denn das hieße ja zugeben, was man beseitigen will. Hierüber stelle ich eine doppelte Frage: Was wißt Ihr davon? und was bedeutet es?

1. Die Undurchdringlichkeit, eine Eigenschaft, mit welcher man die Materie zu definieren beansprucht, ist nichts als eine Hypothes unaufmerksamer Naturforscher, ein roher Schluß, abgeleitet aus einem oberflächlichen Urteil. Die Erfahrzung zeigt uns an der Materie eine Teilbarkeit bis ins Unendliche, eine Dehnbarkeit bis ins Unendliche, eine Porosität, deren Grenzen wir nicht angeben können, eine Durchdringlichkeit für Wärme, Elektrizität und Magnetismus, und gleichzeitig eine Fähigkeit, sie zurückzuhalten, all das in unbegrenztem Maße, Verwandtschaften, wechselwirkende Beziehungen und Verwandlungen ohne Zahl: lauter Dinge, die wenig verträglich sind mit der Annahme eines undurchdringlichen  aliquid  [Etwas - wp]. Die Elastizität, die noch leichter als irgendeine andere Eigenschaft der Materie durch die Idee der Feder- oder Widerstandskraft zu jener Undurchdringlichkeit führen konnte, ist je nach den Umständen tausendfältig verschieden und hängt gänzlich ab von der Molekularattraktion: was aber wäre unversöhnlicher mit der Undurchdringlichkeit als eben diese Attraktion? Schließlich gibt es eine Wissenschaft, welche man in aller Strenge definieren könnte als die  Wissenschaft von der Durchdringlichkeit der Materie:  die Chemie. Denn worin unterschiede sich wohl das, was man die chemische Verbindung nennt, von einer Durchdringung? (5) Kurz, man kennt von der Materie weiter nichts, als ihre Formen; was die Substanz betrifft, vollends garnichts.

Wie ist es daher nur möglich, die Wirklichkeit eines Wesens zu behaupten, das unsichtbar, ungreifbar, unhaltbar ist, stets ein anderes wird, stets entflieht und undurchdringlich nur für den Gedanken ist, von dem es nichts von sich blicken läßt, als seine Vermummungen? Materialist, ich gestatte dir die Wirklichkeit deiner Sinneseindrücke zu versichern: in Bezug auf das, was dieselben veranlaßt, kannst du Nichts sagen, was nicht folgende Doppelbeziehung enthielte: ein Etwas (das du Materie nennst) ist der Anlaß von Eindrücken, die einem anderen Etwas (das ich Geist nenne) zukommen.

2. Woher aber kommt denn diese Annahme von der Undurchdringlichkeit der Materie, die durch nichts in der äußeren Wahrnehmung gerechtfertigt wird, die nicht wahr ist, und welchen Sinn hat sie?

Hier zeigt sich der Triumph des Dualismus. Nicht das Zeugnis der Sinne, wie die Materialisten und der großen Haufen sich vorstellen, sondern das  Bewußtsein  ist es, was die Materie für undurchdringlich erklärt hat. Das Ich, eine unfaßliche Natur, die sich frei, unterschieden und dauernd fühlt und außerhalb ihrer eine andere, ebenfalls unfaßliche, aber auch unterschiedene und trotz ihrer Verwandlungen dauernde Natur antrifft, spricht kraft der Eindrücke und Ideen, die es von dieser Wesenheit eingegeben erhält, den Satz aus, daß das Nicht-Ich ausgedehnt und undurchdringlich sei. Die Undurchdringlichkeit ist ein figürliches Wort, ein Bild, unter dem der Gedanke, als  eine  Abspaltung vom Absoluten, die materielle Wirklichkeit, die  andere  Abspaltung vom Absoluten darstellt; aber diese Undurchdringlichkeit, ohne welche sich die Materie verflüchtigt, ist in letzter Zerlegung weiter nichts als ein eigentätiges Urteil des innerlichsten Sinns, ein metaphysisches  a priori,  eine nicht gerechtfertigte Hypothese - des Geistes.

So mag also die Philosophie, nachdem sie den theologischen Dogmatismus gestürzt hat, die Materie vergeistigen oder den Gedanken materialisieren, das Sein zur Idee erheben oder die Idee in die Wirklichkeit setzen; oder aber sie mag auch Substanz und Ursache identifizieren und überall die  Kraft  unterstellen, lauter Phrasen, die nichts erklären und nichts bedeuten: stets führt sie uns zurück zum ewigen Dualismus und nötigt uns, indem sie uns zwingt, an uns selbst zu glauben, an Gott, wenn nicht an die Geister, zu glauben. Allerdings ist die Philosophie dadurch, daß sie den Geist in die Natur zurückversetzt, im Unterschied von den Alten, welche ihn von ihr trennten, zu jenem berühmten Schluß gediehen, welcher so ziemlich die ganze Frucht ihrer Forschungen zusammenfaßt: "Im Menschen  weiß der Geist sich selbst,  während er, wie es uns scheint, in allem andern sich nicht weiß. - "Was im Menschen wacht, im Tier träumt und im Stein schläft ..." hat ein Philosoph gesagt.

Die Philosophie weiß also in ihrer letzten Stunde um nichts mehr, als in der Stunde ihrer Geburt: als wäre sie nur in die Welt getreten, um das Wort des SOKRATES zu bestätigen, sagt sie, sich feierlich in ihren Sterbemantel einhüllend: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Ja, noch mehr, die Philosophie weiß jetzt, daß alle ihre Urteile auf zwei gleich falschen, gleich unmöglichen und dennoch gleich notwendigen und gebotenen Hypothesen beruhen, auf den Hypothesen vom Geist und von der Materie. Während also früher die religiöse Unduldsamkeit und das philosophische Gezänk, überall Finsternis verbreitend, den Zweifel verboten und zu einer lüstern-bequemen Gedankenlosigkeit aufforderten, macht jetzt der Triumph der Negation auf allen Punkten diesen Zweifel sogar unmöglich; der von jeder Fessel befreite, aber durch seine eigene Errungenschaft besiegte Gedanke ist gezwungen, zuzugeben, was ihm als ein klarer Widerspruch und als absurd erscheint. Die Wilden halten die Welt für einen großen Fetisch, der unter der Obhut des großen Manitou steht. Im Verlauf dreier Jahrtausende haben die Dichter, die Gesetzgeber und Träger der Zivilisation, indem sie sich die Lampe der Philosophie von Geschlecht zu Geschlecht überreichten, nichts geschrieben, was erhabener wäre als dieses Glaubensbekenntnis. Und siehe, im Augenblick, wo die lange Verschwörung gegen Gott, die sich selbst Philosophie genannt hat, ein Ende nimmt, jetzt schließt die emanzipierte Vernunft ganz wie die Vernunft der Wilden: Die Welt ist ein Nicht-Ich, vvon einem Ich zum Objekt gemacht.

Die Menschheit ist also unausweichlich gezwungen zur Annahme vom Dasein Gottes. Hat sie nun aber während der langen Periode, die mit unserer Zeit abschließt, an die Wirklichkeit ihrer Hypothese geglaubt; hat sie den unbegreiflichen Gegenstand derselben angebetet; besteht sie nun, da sie sich in dieser Glaubenstat erfaßt hat, wissentlich aber darum nicht freier auf dieser Annahme eines obersten Wesens, von dem sie weiß, daß es weiter nichts ist, als eine Verpersönlichung ihres eigenen Gedankens; ja, steht sie im Begriff, ihre magischen Anrufungen aufs Neue zu beginnen: so fühlt man sich gedrungen zu dem Glauben, daß ein so staunenerregendes Blendbild irgendein Geheimnis in sich birgt, das wohl verdient, ergründet zu werden.

Ich sage Blendbild und Geheimnis, bin aber damit weder gemeint, den übermenschlichen Gehalt der Gottesidee zu leugnen, noch die Notwendigkeit einer neuen Symbolik, ich meine einer neuen Religion zu behaupten. Denn wenn es allerdings nicht zu bezweifeln ist, daß die Menschheit, indem sie Gott, oder was man sonst will, unter dem Namen des Ichs oder Geistes behauptet, nur sich sich selbst behauptet, so läßt sich doch ebensowenig leugnen, daß sie sich damit als ein anderes, als das, was sie sich kennt, behauptet. Das geht aus allen Mythologien, wie aus allen Theodizeen hervor. Da diese Behauptung überdies unwiderstehlich ist, beruth sie ohne Zweifel auf geheimen Beziehungen, welche womöglich wissenschaftlich zu bestimen von der größten Wichtigkeit ist.

Mit anderen Worten: der Atheismus, auch Humanismus genannt, wäre, wenn er beim Menschen, wie er von Natur ist, stillstände, wenn er die erste Behauptung der Menschheit: ein Sohn, ein Ausfluß, ein Bild, Abglanz oder Wort Gottes zu sein, als eine Täuschung verwärfe, - der Humanismus, sage ich, wäre dann, wenn er so seine eigene Vergangenhei verleugnete, nur ein Widerspruch mehr.

Wir sind also genötigt, die Kritik des Humanismus zu unternehmen, d. h. zu prüfen, ob die Menschheit, in ihrer Gesamtheit und in allen Perioden ihrer Entwicklung betrachtet, der göttlichen Idee genügend entspricht, selbst wenn man von den hyperbolischen [übertriebenen - wp] und phantastischen Eigenschaften Gottes absieht. Kurz, wir müssen untersuchen, ob die Menschheit zu Gott  hinstrebt,  wie das alte Dogma sagt, oder ob sie selbst Gott  wird,  wie sich die Modernen ausdrücken. Vielleicht finden wir zuletzt, daß die beiden Systeme trotz ihres scheinbaren Widerspruchs beide wahr und im Grund identisch sind: dann wäre die Unfehlbarkeit der menschlichen Vernunft in ihrn Gesamtdarlegungen wie die in ihren überlegten Spekulationen laut bestätigt. - Kurz, solange wir nicht die Gotteshypothese durch eine Anwendung auf den Menschen geprüft haben, hat die atheistische Leugnung nichts Entscheidendes.

Es bleibt uns also noch übrig, die Gottesidee wissenschaftlich, d. h. empirisch darzutun, was bisher noch nicht versucht worden ist;, denn die Theologie erging sich im Dogmenstreit über das Gewicht ihrer Mythen, die Philosophie in der Spekulation mittels ihrer Kategorien, und so blieb Gott ein  transzendentaler,  d. h. der Vernunf unzugänglicher Begriff, und die Hypothese besteht stets fort.

Es besteht, sage ich, diese Hypothese, und sie besteht lebendiger und unerbittlicher als jemals zuvor.

Wir sind angelangt bei einer jener prophetischen Epochen, in denen die Gesellschaft, die Vergangenheit schmähend und qualvoll beunruhig von der Zukunft, bald in toller Brunst die Gegenwart umklammert und etlichen einsamen Denkers die Sorge überläßt, den neuen Glauben vorzubereiten, bald wieder aus dem Abgrund ihrer Genüsse emporschreit zu Gott und ein Zeichen des Heils begehrt oder im Schauspiel ihrer eigenen Revolutionen gleich wie in den Eingeweiden eines Opfertieres das Geheimnis ihrer Bestimmung zu enträtseln sucht.

Was brauche ich noch weiter einzudringen? Die Gotteshypothese ist eine berechtigte, denn sie drängt sich jedem Menschen unwillkürlich auf; sie kann mir also von niemandem zum Vorwurf gemacht werden. Der Gläubige kann nicht weniger tun, als mir die Annahme gestatten, daß Gott da ist; der Leugner muß es mir ebenfalls gestatten, weil er dasselbe vor mir angenommen hat, sofern er jede Verneinung eine vorherige Bejahung in sich schließt; der Zweifler schließlich braucht nur einen Augenblick nachzudenken, um zu begreifen, daß sein Zweifel notwendig ein Ichweißnichtwas voraussetzt, das er früher oder später Gott nennen wird.

Besitze ich aber das Recht, Gott  anzunehmen  durch die Tatsache meines Denkens, so muß ich das Recht, ihn bestimmt zu  behaupten,  mir erst  erobern.  Mit anderen Worten: wenn meine Hypothese sich unwiderstehlich aufdrängt, so ist sie vorläufig alles, was ich beanspruchen darf. Denn fest behaupten heißt bestimmen, und jede Bestimmung muß, wenn sie wahr sein soll, empirisch gegeben werden. Wer nämlich von Bestimmung (determination) spricht, muß damit die Beziehungen, die Bedingtheit durch Eigenschaften, die Erfahrung meinen. Da somit die Bestimmung des Gottesbegriffs für uns aus einer empirischen Darlegung herrühren soll, müssen wir uns all dessen enthalten, was bei der Erforschung dieser hohen unbekannten Größe als nicht durch die Erfahrung gegeben über die Erfahrung hinausgeht, wodurch wir nicht den Widersprüchen der Theologen noch anheimfallen, und demnach aufs Neue den Protest des Atheismus herausfordern wollen.
LITERATUR Pierre-Joseph Proudhon, Die Widersprüche der Nationalökonomie oder die Philosophie der Not, Leipzig 1847
    Anmerkungen
    1) Je-hovah (eigentlich JHWH) und in der Zusammensetzung das Sein, Wesen dasselbe wie  er war, er ist.  [...] Übrigens möge man diese Analogien von mir aus anfechten, ich habe nichts dagegen, denn in dieser Tiefe ist die Wissenschaft des Philologen nichts als Nebel und Geheimnis. Worauf es ankommt, und worauf ich hinweise, das ist der Umstand, daß das Lautverhältnis der Namen das metaphysische Ideenverhältnis auszudrücken scheint.
    2) Die Chinesen haben in ihren Sagen die Erinnerung an eine Religion bewahrt, die etwa im 5. oder 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bei ihnen zu herrschen aufgehört hatte. (Siehe PAUTHIER, Chine) Noch überraschender ist aber der Umstand, daß dieses merkwürdige Volk, als ihm seine ursprüngliche Religion abhanden kam, begriffen hat, wie es scheint, daß die Gottheit nichts anderes ist als das  Gesamt-Ich  des Menschengeschlechts,  so daß somit seit mehr als zweitausend Jahren China mit seinem Volksglauben die äußersten Ergebnisse unserer abendländischen Philosophie errungen haben würde.  - - - "Was der Himmel sieht und hört," heißt es im Tschu-King, "ist nur das, was das Volk sieht und hört. Was das Volk für würdig oder schuldig achtet, belohnt oder bestraft zu werden,  das  ist das, was der Himmel bestrafen und belohnen will. Es findet eine innige Verbindung statt zwischen dem Himmel und dem Volk: die das Volk regieren, seien daher aufmerksam und wohlbedacht." - - - KONFUZIUS hat denselben Gedanken in anderer Weise ausgedrückt: "Erwirb die Liebe des Volkes, und Du erwirbst das Reich; - verliere die Liebe des Volkes, und Du verlierst das Reich." - - - Hier ist also die allgemeine Vernunft, die öffentliche Meinung hingestellt als die Königin der Welt, wie anderwärts die Offenbarung. Noch bestimmter ist der Tao-te-King. In diesem Werk, das nichts anderes ist als ein erster Versuch zur Kritik der reinen Vernunft, verwechselt der Philosoph LAOTSE fortwährend als gleichbedeutend unter dem Namen  Tao  die  allgemeine Vernunft  und das  unendliche sein.  Meiner Meinung nach trägt eben dieses Identifizieren von Grundideen, die unser religiöses und philosophisches Herkommen so scharf und tief voneinander geschieden haben, die ganze Schuld, daß uns das Buch LAOTSEs so dunkel ist.
    3) Vgl. AUGUSTE COMTE, Cours de philosophie positive und P.-J. PROUDHON, De la Création de l'ordre dans l'humanité.
    4) Es liegt nicht in meiner Absicht, hier mit Bestimmtheit die Umwandelbarkeit der Stoffe behaupten oder sie als ein zu erstrebendes Ziel der Forschungen bezeichnen zu wollen; noch weniger maße ich mir an zu sagen, welcher Ansicht die Sachverständigen hierüber sein sollen. Ich will nur die Art von Skeptizismus andeuten, der in jedem nicht vorweg eingenommenen Sinn die allgemeinsten Schlüsse, oder richtiger, die miteinander unverträglichen Hypothesen der Philosophie der Chemie erzeugt, die ihren Theorien zur Unterlage dienen. Die Chemie ist wahrhaftig die Verzweiflung der Vernunft: überall streift sie ans Phantastische, und je mehr die Erfahrung uns dieselbe kennen lehrt, desto mehr hüllt sie sich ein in undurchdringliche Geheimnisse. Dieser Gedanke stieg in mir auf, als ich kürzlich LIEBIGs chemische Briefe las. - - - Herr LIEBIG verbannt aus der Wissenschaft die hypothetischen Ursachen und alle von den Alten angenommenen Wesenheiten, wie die schaffende Kraft der Materie, den Abscheu vor der Leere, den  spiritus rector  usw. Gleich darauf aber nimmt er zwecks Verständlichkeit der chemischen Erscheinungen eine Reihe nicht minder dunkler Wesenheiten an, die Lebenskraft, die chemische, die elektrische, die Attraktionskraft usw. Es ist gleichsam eine Verwirklichung der Eigenschaften der Körper in der Weise, wie die Psychologen die Fähigkeiten der Seele, als Freiheit, Einbildungskraft, Gedächtnis usw. zu etwas Besonderem, Wirklichem erhoben haben. Warum sich nicht lieber an die Elemente halten? Wenn die Atome ansich schwer sind, wie Herr LIEBIG zu glauben scheint, warum sollten sie dann nicht auch ansich elektrisch und lebendig sein? Wunderbar! Die Erscheinungen der Materie wie die des Geistes werden nur begreiflich, wenn man sie annimmt als erzeugt durch unbegreifliche Kräfte und als regiert durch widersprechende Gesetze: das geht aus jeder Seite des LIEBIG'schen Buches hervor. - - - Die Materie ist nach LIEBIG wesentlich träge und entbehrt jeder eigenen Tätigkeit: wie aber können dann die Atome ein Gewicht haben, schwer sein? Ist die den anhaftende Schwer nicht vielmehr die ewige und freiwillige Eigenbewegung der Materie? und sollte das, was wir für Ruhe halten, nicht vielmehr nur der Zustand des Gleichgewichts sein? Wozu also bald eine Trägheit annehmen, welche die näheren Bestimmungen widerlegen, bald ein äußeres Vermögen, für das kein Zeugnis spricht? - - - Daraus, daß die Atome  schwer  sind, schließ LIEBIG ihre Unteilbarkeit. Welche Logik! Die Schwere ist nichts als die Kraft, d. h. Etwas, das nicht in die Sinne fallen kann und von sich nur seine Wirkungen, Erscheinungen wahrnehmen läßt, also Etwas, worauf der Begriff von Teilbar- und Unteilbarkeit nicht anwendbar ist; und aus dem Vorhandensein dieser Kraft, aus der Hypothese einer ganz unbestimmten und immateriellen Wesenheit schließt man auf ein unteilbares Materielles! - - - Übrigens gesteht LIEBIG selbst ein, daß es unserem Verstand unmöglich ist, sich schlechthin unteilbare Teilchen vorzustellen; er gibt ferner zu, daß die Tatsache dieser Unteilbarkeit nicht bewiesen ist, aber er fügt hiinzu, die Wissenschaft könne ohne diese Hypothese nicht auskommen. So ist also, nach dem Geständnis der Meister selbst, der Ausgangspunkt der Chemie eine Annahme, gegen welche sich der Geist sträubt und von der auch die Erfahrung nichts weiß. Welche Ironie! - - - Die Atomgewichte, sagt LIEBIG, sind ungleich, weil ihre Volumina ungleich sind: gleichwohl ist es unmöglich zu beweisen, daß die chemischen Äquivalente die relativen Atomgewichte ausdrücken, oder, mit anderen Worten, daß das, was wir nach der Berechnung der Atomäquivalenzen als Atom ansehen, nicht aus mehreren Atomen zusammengesetzt sei. Dies alles läuft darauf hinaus, daß  mehr Materie  mehr wiegt als  weniger  Materie; da nun die Schwere das Wesen des Materiellen ist, so kann man in aller Strenge daraus schließen, daß, da die Schwere überall mit sich selbst identisch ist, auch der Materie Identität zukommen muß; daß der Unterschied der einfachen Körper lediglich entweder auf der verschiedenen Verbindungsweise oder auf dem verschiedenen Grad der molekularen Dichtigkeit beruth, somit die Atome im Grunde unwandelbar seind, was LIEBIG annimmt. - - - Wir haben keinen Grund zu glauben, sagt er, daß sich ein Element in ein anderes Element verwandelt. Was wissen Sie davon? Die Gründe an diese Unwandelbarkeit zu glauben  können  sehr wohl vorhanden sein, ohne daß Sie dieselben wahrnehmen und Sie haben keine Sicherheit dafür, daß in dieser Beziehung Ihre Einsicht in gleicher Höhe steht mit Ihrer Erfahrung. - Aber lassen wir den verneinenden Grund LIEBIGs gelten: was würde daraus folgen? daß die gesamte Materie mit etwa 56 Ausnahmen, welche bisher nicht weiter zerlegt werden konnten, in einer fortwährenden Umwandlung begriffen ist. Es ist aber ein Gesetz unserer Vernunft, in der Natur ebensowohl die Einheit der Substanz als die Einheit der Kraft und die Einheit des Systems anzunehmen; überdies drängt uns die Reihe der chemischen Zusammensetzungen und der einfachen Körper selbst unwiderstehlich zu dieser Annahme hin. Wie kann man sich also sträuben, die von der Wissenschaft gebrochene Bahn bis zum Ziel zu verfolgen und eine Hypothese anzunehmen, welche ein notwendig gebotener Schluß aus der Erfahrung selbst ist? - - - Ebenso wie LIEBIG die Umwandelbarkeit der Elemente leugnet, ebenso verwirft er das Vonselbstentstehen der Lebenskeime. Verwirft man aber dies, ihr Vonselbstentstehen, so muß man notwendig ihre Ewigkeit zugeben. Andererseits hat aber die Geologie dargetan, daß der Erdball nicht von Ewigkeit her bewohnt ist. Man müßte also ferner annehmen, daß in einem gewissen Augenblick die ewigen Keime der Tiere und Pflanzen vater- und mutterlos auf der Oberfläche des Erdballs zum Leben aufgeblüht wären. So führt uns die Verneinung der Vonselbstentstehung zur Hypothese eben dieser Vonselbstentstehung: enthält wohl die so viel geschmähte Metaphysik einen größeren Widerspruch? - - - Man glaube darum nicht, daß ich den Wert und die Sicherheit der chemischen Theorien leugne, noch auch, daß ich die Atomlehre für sinnlos halte, oder daß ich etwa die Ansicht der Epikuräer in Bezug auf die Vonselbstentstehung teile. Ich will, noch einmal sei es gesagt, nur darauf aufmerksam machen, daß vom prinzipiellen Standpunkt aus die Chemie der äußersten Nachsicht bedarf, weil sie nicht möglich ist, als unter der Bedingung, daß wir uns eine Anzahl von Annahmen gefallen lassen, welche sowohl der Vernunft, als auch der Erfahrung widersprechen und sich gegenseitig aufheben.
    5) Die Chemiker unterscheiden  Mischung  und  Verbindung,  ganz wie die Logik die Zusammenstellung der Ideen von ihrer Zusammensetzung (Synthése) unterscheidet. Freilich wäre nach der Meinung der Chemiker auch die Verbindung nichts als eine Mischung oder vielmehr eine nicht mehr zufällige, sondern regelmäßig geordnete Aggregation der Atome, die demnach verschiedene Verbindungen nur durch die Verschiedenheit ihrer Anordnung erzeugen würden. Allein auch das ist wieder eine rein in der Luft schwebende Hypothese, eine Hypothese, die nichts erklärt und nicht einmal das Verdienst hat, logisch zu sein. Wie sollte eine rein  numerische  oder  geometrische  Verschiedenheit in der Zusammensetzung und der Form des Atoms so verschiedene  physiologische  Eigenschaften zuwege bringen? Wenn die Atome unteilbar und undurchdringlich sind, wie kommt es dann, daß ihre angeblich nur auf mechanische Wirkungen beschränkte Verbindung sie nicht unveränderlich läßt in Bezug auf ihr Wesen? Wo ist hier die Beziehung zwischen der angenommenen Ursache und der erzielten Wirkung? - - - Wir müssen Mißtrauen setzen in unseres  Geistesoptik:  es verhält sich mit den chemischen Theorien wie mit den psychologischen Systemen. Der Verstand arbeitet, um sich Rechenschaft zu geben von den Erscheinungen, mit den Atomen, die er nicht sieht und nie sehen wird, wie mit einem  Ich,  das er ebensowenig gewahr wird: er wendet all seine Kategorien an, d. h. er unterscheidet, individualisiert, verleiblicht, zählt einzeln auf und stellt einander gegenüber, was, gleichviel ob materiell oder immateriell, aufs Tiefste identisch und unzerleglich ist. Die Materie sowohl, als auch der Geist spielen in unseren Augen alle möglichen Rollen, und da ihre Metamorphosen nichts Willkürliches haben, so nehmen wir daraus Anlaß, diese psychologischen und atomistischen Theorien aufzubauen, die insoweit Wahrheit haben, als sie uns in der Sprache des Herkommens getreulich die Reihe der Erscheinungen darstellen, die aber durchaus falsch werden, sobald sie den Anspruch erheben, ihre Abstraktionen zu verwirklichen und buchstäblich zum Abschluß bringen.