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PHILIPP HECK
(1858-1943)
Gesetzesauslegung und
Interessenjurisprudenz

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"Der objektive Sinn ist somit kein reales Element eines konkreten menschlichen Bewußtseins. Er ist kein Ergebnis kognitiven Denkens, sondern ein Produkt des emotionalen Denkens, der bewußten Hypothese. Der objektive Sinn ist das Ergebnis zu dem Eindrucksregeln führen, wenn wir sie uns angewendet vorstellen, empirische Regeln oder normative, die wieder empirische Elemente enthalten können. Er ist derjenige Eindruck, den eine ins Auge gefaßte Erklärung zu bewirken pflegt oder machen kann, bewirken darf oder soll."

"Für den Ermittler ist der subjektive Sinn etwas objektiv gegebenes, ein historisches Faktum, ein Gegenstand reiner Erkenntnistätigkeit, ein für allemal bestimmt, wenn auch nicht immer erkennbar. Dagegen ist der objektive Sinn etwas bedingtes, von Annahmen abhängiges, so daß dieselben Wortzeichen, je nach den zugrunde gelegten Annahmen eine Mehrheit objektiver Bedeutungen aufweisen können."

"Die übliche Form, welche die Vorstellungsforschung bei Geboten im Bewußtsein des Dieners annimmt, ist die  Willensfrage,  die Frage nach dem Willen des Gebotstellers. Das ist auch selbstverständlich, denn die Gebotsworte sind durch einen Willensakt verursacht. Dieser Wille, nach dem gefragt wird, ist aber nicht der Willensvorgang im psychologischen Sinn. Die Vorstellungswolke, die wir mit dem Wort  Willen  verbinden, bewährt auch bei dieser Gelegenheit ihre Vielgestaltigkeit. Der Bewußtseinsvorgang in seinem ganzen Verlauf, das etwaige Hin- und Herschwanken der Entschließung und die auftauchenden aber zurückweichenden Bedenken sind für den Psychologen wichtig, aber nicht für den Diener. Ihn interessiert nur das Resultat."

"Da der Inhalt des Gebots auf einem Willensakt beruth, so wird die Motivdeutung zur Zweckdeutung und erhält die Zusammenhangsdeutung das Gepräge der  Interessenforschung.  Diese vertiefte Deutung gilt als Pflicht des selbständigen Dieners. Auch bei ihm können sich vielleicht zunächst nur Inhaltsvorstellungen entwickeln, aber es gilt als Pflicht, die Vorstellungsentwicklung über diese Inhaltsvorstellungen zurück zu den Motiven und zu den kausalen Interessen hinzuführen. Den Gehorsam, der sich mit einem solchen erweiterten Vorstellungsreich, verbindet, nennen wir speziell den  denkenden Gehorsam." 


III. Die Formen der Auslegung

A. Der subjektive Sinn § 3.

1. Die Aufgabe, der wir uns zuwenden, ist nicht ganz leicht abzugrenzen. Wir wollen Handlungen des praktischen Lebens und anderer Wissenschaften in ihrer psychologischen und logischen Eigenart untersuchen, um Anhaltspunkte für die Auslegung der Gesetze zu gewinnen. Bei solchen Untersuchungen läßt sich in der Regel die bestimmte Abgrenzung des Gebiets erst durch die Ergebnisse gewinnen und begründen (47). Als Ausgangspunkt empfiehlt sich der Sprachgebrauch. Deshalb wollen wir zunächst diejenigen Handlungen ins Auge fassen, welche durch den gemeinsamen Vorstellungsgehalt der Worte "Auslegung", "Deutung" und "Ermittlung des Sinns" bezeichnet werden. Die Worte "Auslegung" und "Deutung" werden auch für die Mitteilung schon gewonnener Vorstellungen an andere Personen gleich "Erläuterung" verwendet. Diese Handlungen der "translativen" oder "externen" Bedeutung sollen durch den Hinweis auf die "Ermittlung des Sinns" ausgeschaltet werden, so daß nur die "interne" oder "heuristische" Auslegung übrig bleibt. Ferner wollen wir uns im Hinblick auf unseren Endzweck auf die Auslegung "wörtlicher" Erklärungen beschränken. Die in Betracht kommenden Vorgänge zeigen immer noch eine außerordentliche Mannigfaltigkeit. Ihre Verwertung ist nur möglich, wenn wir diese Erscheinungen begrifflich ordnen.

Bei diesem Unternehmen können wir uns weder an einen festen Sprachgebrauch anlehnen noch an die Ergebnisse der Sozialpsychologie oder der anderen Kulturwissenschaften. Die im Alltag gebrauchten Worte und Wortverbindungen haben naturgemäß eine schwankende und nicht immer genau abgegrenzte Bedeutung. Die Untersuchungen der Logik und Psychologie (48), die Hermeneutik der Philologie (49) und der Theologie (50) sind nicht für die juristische Verwendung berechnet. Der juristische Spezialforscher muß die für seine Wissenschaftsziele erheblichen Unterschiede selbst heraussuchen und sich seine eigenen Ordnungsbegriffe bilden. Von juristischer Seite aus haben neuerdings 'RUMPF (51) und 'DANZ (52) die psychologischen Vorgänge bei der Deutung ins Auge gefaßt. Die Ausführungen 'RUMPFs halte ich für wertvoll, aber sie wollen in erster Linie die tatsächlichen Feststellungen des Richters beleuchten und betonen daher andere Erscheinungen, als die für uns wichtigen. Die Ausführungen von 'DANZ beziehen sich auf dasselbe Endproblem, sind aber meines Erachtens in der Hauptsache abzulehnen.

Die Gesamtheit der Handlungen, die wir ins Auge zu fassen haben, weist zahllose Gliederungsmöglichkeiten auf (53). Für unseren Endzweck ist am wichtigsten der Gegensatz zwischen den Feststellungen des  subjektiven Sinns  oder den  historischen Vorstellungsforschungen  einerseits und den Ermittlungen eines  objektiven Sinns  andererseits (54) (§ 4). Bei den Formen der historischen Vorstellungsforschung ist wiederum für uns wichtig, daß sie häufig mit zwei anders gearteten Vorgängen kombiniert wird. Erstens wird die historische Forschung über die Vorstellungen hinaus auf andere reale Umstände erstreckt, die aus den Vorstellungen erkannt werden. Diese Erweiterung wollen wir als  Umstands-  oder  Ursachenforschung  (Nr. 10) bezeichnen. Zweitens tritt zur historischen Forschung (Vorstellungs- oder Umstandsforschung) eine  emotionale  Fortbildung der Erkenntnisergebnisse hinzu (Nr. 11). Wir wollen zunächst von diesen Erweiterungen absehen.

2. Die Feststellung des subjektiven Sinns oder die historische Vorstellungsforschung wird auch wohl bezeichnet als  Verstehen,  als  historische,  empirische oder reproduktive Auslegung schlechthin. Sie bildet den Vorstellungskern der ganzen Wortsippe und ist derjenige Vorgang, an den wir bei den Worten  Deutung  und  Auslegung  in erster Linie denken. Sie besteht in einem Gedankenprozeß, welcher diejenigen Vorstellungen in ihren wesentlichen Teilen reproduzieren soll, welche die auszulegenden Wortzeichen bei ihrer Entstehung begleitet haben und infolge der Erklärung erkennbar werden sollten.

Die historische Frage nach dem subjektiven Sinn beherrscht das Alltagsleben. Wer im Gespräch eine Äußerung zu verstehen sucht, will die empirisch vorhanden gewesenen Gedanken des Redenden erkennen. Er fragt nach dem subjektiven Sinn der Rede. Gelingt die Erkenntnis nicht, ist das Ergebnis der Auslegung ein in relevanten Elementen abweichendes, so reden wir von einem Mißverständnis. Aber was wir  erstreben,  ist eben das richtige Verständnis. Wer ein Buch liest, will diejenigen Gedanken erkennen, die der Verfasser äußern wollte. Es scheinen mir diese Tatsachen so völlig sicher, so sehr durch Selbstbeobachtung jedem erkennbar zu sein, daß mir die abweichenden Ergebnisse kaum verständlich sind, zu denen 'SCHAFFRATH (55), 'DANZ (56) und 'KOHLER (57) gelangt sind. Dieselbe Grundform, das Streben nach den wirklichen Vorstellungen, ist auch für die Deutung der übrigen Geisteswissenschaften bezeichnend. Deshalb wird gerade diese Form in ihrer Anwendung auf Gesetze als historische und von ihren juristischen Gegnern als "philologische" Auslegung bezeichnet.

3. Diese Erforschung des subjektiven Sinns ist eine historische Forschung. Sie trägt fast immer das äußere Gepräge einer Kausalforschung, denn die überlieferten Worte sind in der Regel durch die bei ihrer Formierung vorhandenen Vorstellungen bestimmt, verursacht worden. Es liegt deshalb nahe, die Auslegung logisch als kausale Untersuchung zu bezeichnen, wie ich es selbst früher getan habe (58). Aber ganz genau ist die Bezeichnung nicht. Es gibt Fälle, in denen die Erklärungsworte und die Erklärungshandlung von altersher vorgezeichnet sind, wie bei sakralen oder manchen rechtsgeschäftlichen Formen und wo trotzdem gefragt werden muß, welche Vorstellungen diese Worte bei ihrem späteren Gebrauch begleiteten und in ihnen zum Ausdruck kommen sollten. Auch ist immer zu beachten, daß bei unserer Auslegung die Erkenntnis der Kausalität nicht Selbstzweck ist, sondern nur Mittel. Wenn es sich z. B. herausstellt, daß Zeichen, die man für Runen gehalten hat, nicht auf menschliche Tätigkeit zurückgehen, ist die weitere Erforschung der Ursachen keine historische Auslegung mehr.

4. Die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis beruth darauf, daß wir von einer weitgehenden Einheit der psychischen Organisation der Menschen überzeugt sind und daher erwarten, solche psychische Vorgänge, wie sie die Äußerung begleitet haben, in unseren Gedanken reproduzieren können, sobald die sonstigen Umstände gegeben sind. Die Deutung besteht aber dort, wo wir sie bewußt kontrollieren können, in einer Reihe von Entstehungshypothesen, die wir sukzessive aufstellen und auf ihr Ergebnis prüfen, indem wir uns jedesmal in die hypothetische Situation hineindenken,  einfühlen.  Wenn eine dieser hypothestischen Annahmen mit den Problemworten und allen anderen Daten vereinbar ist und andere Annahmen nicht, dann ist der gesuchte Vorgang erkannt. Das Verfahren läßt sich mit einer Schlüsselprobe vergleichen, mit dem Versuch zu einem gegebenen Schloß den passenden Schlüssel zu finden. Als Hilfsmittel kommen teils Regeln in Betracht, Sprachregeln und andere (nomologisches Material - Schlüssel), teils datierte Erscheinungen, die begleitenden Umstände (ontologisches Material - Schloß). Auf die verwendeten Hilfsmittel beziehen sich die bekannten Unterscheidungen der Interpretationsformen in grammatische, logische usw. Für unsere Aufgabe ist die Bedeutung des Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte und die der Entstehungszeit besonders hervorzuheben. Jeder, der spricht, setzt schon bestimmte Vorstellungen beim Adressaten  voraus  (59). Diese Vorstellungen können durch frühere Äußerungen gegeben sein. Die Äußerung "ja" kann den inhaltlich verschiedenartigsten Vorstellungsvorgängen entstammen. Erst die Kenntnis der gestellten Frage gestattet eine Auslegung, welche einen bestimmteren Inhalt gibt. Gleiches gilt für die Bedeutung eines jeden Wortes. Sie bestimmt sich durch den Zusammenhang. Auch bei ausführlicheren Äußerungen wird ein volles Verständnis vielfach erst möglich, wenn man den Zusammenhang und die Entstehungsgeschichte kennt. Die kritische Methode der Geschichtswissenschaft betont die Wichtigkeit der Quellengeschichte für das Quellenverständnis. Ebenso bedeutsam sind aber die allgemeinen Verhältnisse der Zeit, die der Redende als bekannt, als selbstverständlich voraussetzt, die gleichsam den Hintergrund bilden von dem sich die Äußerung abheben soll, auf deren "Reflex" vom Redner gerechnet wird. Diese aufhellende Wirkung besitzen aber selbstredend nur die empirisch wirklichen, im Zeitpunkt der Äußerung vorhandenen Umstände. Jeder Historiker weiß, daß es zu den schwersten Irrtümern führen würde, wenn man dem Autor eine Gedankenwelt unterlegen wollte, die seiner Zeit fremd war, etwa einen kirchlichen Schriftsteller des 11. Jahrhunderts im Hinblick auf die Streitfragen der heutigen Theologen auslegen wollte. Gleiches gilt selbstreden für den Sprachgebrauch. Es ist bekannt, wie schwere Irrtümer dadurch entstanden sind, daß früher gelegentlich die lateinischen Quellen des Mittelalters nicht nach mittelalterlichem Latein, sondern nach den Regeln der klassischen Zeit gedeutet wurden. Solche Projizierungen einer Quelle auf einen falschen Hintergrund (Transponierung) kommen nur vor als Folge von Irrtümern (60) und wirken verhängnisvoll. Diese Erkenntnisse sind Gemeingut der historisch-philologischen Wissenschaften, aber sie ergeben sich unmittelbar aus der Logik der Vorstellungsforschung und gelten daher auch für jede empirische Deutung zu praktischen Zwecken. Auch der Alltag kennt nur die Auslegung nach Zusammenhang und individuelem Sprachgebrauch, soweit sie dem Ausleger bekannt sind (61).

5. Der Deutungsvorgang erscheint unserer Selbstbeobachtung immer als Vorstellungsentwicklung, aber als eine dem Willen zugängliche Entwicklung. Der Umfang kann ein sehr verschiedener sein, je nach der Schwierigkeit der Aufgabe und der Intensität des Erkenntniswillens. Im Alltag begegnet er uns vielfach in einer durch Übung reduzierten mechanisierten Form. Dies gilt namentlich von der Verwendung der Muttersprache. Das sprachliche Verstehen vollzieht sich meist gefühlsmäßig, intuitig, unmerklich. Daß aber auch bei der sprachlichen Deutung nur die Reduktion einer komplizierten Operation vorliegt, wird deutlich, sobald uns die Äußerung in einer fremden Sprache gegeben ist, die wir nicht beherrschen. In anderen Fällen, z. B. bei den Untersuchungen der Geschichtsforschung, kann die Vorstellungsentwicklung einen außerordentlich großen Umfang annehmen (62). Aber auch bei solchen umfassenden Arbeiten können Gefühlsvorgänge sich mit den bewußten Erwägungen kombinieren, teils trübend, teils fördernd. Berufsmäßige Historiker werden in ihren Forschungen vielfach durch den gefühlsmäßigen Niederschlag ihrer gesamten Kenntnisse durch das "historische Gemeingefühl" unterstützt (63). Gerade solche umfassende Vorgänge sind besonders lehrreich. Infolge der Verwendung sukzessiver Hypothesen zeigt das Bewußtsein des Auslegers eine Reihe sich verdrängender, ablösender, eventuell auch wiederkehrender Vorstellungsbilder, bis dann schließlich im Fall des Gelingens ein Vorstellungskomplex immer häufiger wiederkehrt, Anstößen Widerstand leistet, immer stabiler und schließlich dauernd festgehalten wird. Dieser Vorstellungskomplex ist das Endresultat der erfolgreichen Auslegung, das  Endbild,  wie wir sagen können. Die Zahl der in Betracht kommenden Hypothesen kann natürlich sehr verschieden sein. Aber in schwierigen Fällen ist dieser Wechsel immer zu beobachten. Das Bewußtsein des Interpreten gleicht einem Kaleidoskop. Wenn es möglich wäre, Bewußtseinsvorgänge körperlich darzustellen, so würde man für die Auslegung einen Kinematographen brauchen.

6. Die Auslegung vollzieht sich bei größerem Umfang in der Weise, daß man sukzessive die verschiedenen Auslegungsmittel anwendet. Es kann z. B. zweckmäßig sein, zunächst die sprachlichen Regeln anzuwenden, dann aber den Zusammenhang des Satzes mit anderen Sätzen ins Auge zu fassen, die Vorstellungsfolge auf den Zusammenhang und eine etwaige Kontrastwirkung zu prüfen. Das provisorische Bild, das man bei der ersten Operation gewinnt, pflegen wir als "Wortsinn" der Stelle zu bezeichnen. Für die Zusammenhangswirkung könnte man "Textsinn" sagen: wenn jemand auch die allgemeine Vorgeschichte und die generellen Umstände heranzieht aber sich die Würdigung besonderer subjektiver Momente noch vorbehält, so ergibt sich ein Vorstellungsbild, das man als den "äußeren Sinn" bezeichnen kann. Alle diese Bilder lassen sich gegeneinander nicht scharf abgrenzen. Gemeinsam ist der provisorische Charakter, die von vornherein ins Auge gefaßte Möglichkeit einer Abänderung durch neue Momente.

Für unseren Endzweck ist die Verwendung der sprachlichen Regeln besonders wichtig (64). Deshalb sei zweierlei hervorgehoben.
    a) Auch in den Fällen, in denen die sprachlichen Regeln zuerst angewendet werden, werden sie nur selten ganz  allein  verwendet (65). Fast immer sind bereits Umstände oder sachliche Gesichtspunkte vorhanden, die zugleich in Betracht gezogen werden. Das provisorische Ergebnis der sogenannten grammatischen Auslegung ist daher in der Regel nicht der volle, reine Wortsinn (66), sondern ein  kombinierter Wortsinn,  der gewisse sprachlich mögliche Hypothesen nicht umfaßt, sondern von vornherein ausschaltet.

    b) Die heuristische Bedeutung der sprachlichen Regeln (67) ist eine doppelte, eine  positive  und eine  negative.  Sie erwecken Hypothesen und beeinflussen die Auswahl zwischen den auftauchenden Vorstellungsbildern. Im Hinblick darauf bezeichnen wir als "Wortsinn" oder "Wortlaut" auch wohl das sprachlich bevorzugte Bild, nämlich dasjenige von mehreren in Frage kommenden Ergebnissen einer mit vollem Material vorgenommenen Untersuchung, das die gewöhnlichste Ausdrucksweise voraussetzt. Die negative Funktion besteht darin, daß die Sprachregeln Hypothesen ausschließen. Wir sagen, dieser Gedanke kann nach den Regeln der Sprache diese Worte nicht begleitet haben. Auch im Alltag pflegt man zu sagen, daß die Behauptung eines bestimmten subjektiven Sinns "schon durch den Wortlaut der Äußerung" erledigt ist. Die Grenze der Auslegungshypothesen ist der "mögliche Wortlaut". Allerdings ist diese Grenze auch flüssig. Sie verliert sich, sobald man die Hypothesen des Irrtums, der Übersetzungsfehler usw., in den Kreis der Annahmen einbezieht.
7. Die historische Auslegung ist oft schwierig. Sie führt oft zu gar keinem Ergebnis. Auch wo sie zu einem Ergebnis führt, ist das Ergebnis fast niemals absolut gewiß, sondern nur in einem höheren oder geringeren Grad wahrscheinlich. Jeder Historiker weiß, daß zu den Künsten des Forschers die  ars ignorandi  gehört. Wer von vornherein glaubt, daß er etwas erkennen wird, läuft Gefah, mit einer unrichtigen Erkenntnis vorlieb zu nehmen. Die Unsicherheit der Auslegung gilt nicht nur für die Tätigkeit des Historikers und des Philologen, sondern auch für das Alltagsleben. Die Erklärungen, die wir erhalten und fortlaufend beachten, sind immer nur Indizien für den Bewußtseinsinhalt, die aus mannigfachen Gründen irreführen können. Für die Bedürfnisse des Alltags genügt aber die Wahrscheinlichkeit, das Zutreffen im Durchschnitt der Fälle. Diese Wahrscheinlichkeit ist vorhanden. Niemand würde reden, wenn er es nicht für wahrscheinlich hielte, verstanden zu werden. Und die Wahrscheinlichkeit muß uns genügen, denn Gewißheit ist in der Regel ohne unerschwingliche Opfer nicht zu haben. Wer nur  absolut  sichere Auslegungen vollziehen wollte, müßte aus dem Menschenverkehr ausscheiden. Nicht einmal ein Buch könnte der Unglückliche lesen. Der Druckfehlerteufel würde ihn schrecken. Wir halten uns an die Wahrscheinlichkeit, weil ihre Beachtung  im Durchschnitt der Fälle  bessere Ergebnisse liefert, als die Nichtbeachtung. Wie im Alltag so haben auch der Historiker und der Philologe die vorhandene Wahrscheinlichkeit zu beachten. Allerdings unter Würdigung der Sicherheitsgrade. Je größer die Wahrscheinlichkeit, umso stärker darf sie weitere Gedankengänge beeinflußen. Aber ignoriert darf sie nicht werden. Die Alternative "Alles oder nichts" würde jede Erkenntnistätigkeit lähmen. Chancenbewertung und Chancenverwertung ist Menschenaufgabe.

8. Die Auslegung des Historikers ist nicht darauf gerichtet, die Vergangenheit vollständie  abzubilden,  sondern sie erstrebt eine Umformung, eine Auswahl des für den Historiker  Wesentlichen.  Das bezweifelt heute niemand mehr (68). Aber das gleiche gilt für die Auslegung des Alltags, des praktischen Lebens. Was wir wollen, ist in der Regel nicht das Totalbild des psychologischen Vorgangs, der die Wortzeichen verursacht oder begleitet hat. Wir wollen nur Teilerkenntnisse, und zwar oft sehr bescheidene. Die Deutungen, die wir vornehmen, sind nur  relative  Deutungen. Für den Umfang der Forschung ist der Zusammenhang entscheidend, das Endziel des Deutenden. Nur diejenigen psychischen Elemente, die zu diesem Endziel eine Beziehung haben (69), werden aufgefaßt. Deshalb können dieselben Worte verschiedene Hörer zu ganz verschiedenen Deutungen veranlassen. Dieselbe Offerte wird von dem Kontrahenten, dem sie zugeht, ganz anders gedeutet als von dem Psychologen oder dem Nervenarzt der sich mit ihr beschäftigt. Die Begriffe der Psychologie sind schon deshalb für andere Gebiete nicht verwendbar (70).

9. Innerhalb der subjektiven Deutungen können wir nun nach der Verschiedenheit der Deutungsziele Unterschiede machen, die ich als  Deutungsstufen  bezeichnen möchte, weil bei ihnen, bildlich gesprochen, die Tiefe der Forschung verschieden ist. Die Worte sind das Endglied eines psychischen Vorgangs, der in eine Reihe aufeinanderfolgender Vorstellungen gegliedert werden kann und seinerseits auf äußeren Ursachen beruth. Von den Worten nach rückwärts gehend können wir die Erklärungsvorstellungen unterscheiden (71), die Inhaltsvorstellungen (72), nähere und fernere Motive, schließlich Vorstellungen der Interessenlagen und Wertideen. Die Frage des Auslegenden kann auf jedes dieser Glieder gerichtet sein. Deshalb können wir z. B.  Inhaltsdeutung  und  Motivdeutung  unterscheiden. Die Scheidung nach dem Gegenstand der Frage kann allerdings dadurch erschwert werden, daß die einzelnen Glieder einander erläutern. Das Verständnis des Inhalts kann davon abhängen, daß die Motive erkannt werden. Ob jemand nur nach dem Inhalt fragt oder auch nach den Motiven, hängt von seinem Endzweck ab. Es ist meines Erachtens zu eng, wenn 'SIMMEL und 'WEBER nur betonen, daß die Motivdeutung der Geschichtswissenschaft angehört (73). Auch im Alltag begegnen wir der Motivdeutung. Vor allem auf dem später zu besprechenden Gebiet der "Gebotsdeutung", aber auch sonst. Wie unendlich oft interessiert uns im Gespräch nicht nur was gesagt wird, sondern weshalb die Äußerung fiel. Der Erzieher, der seinen Zögling auf einer erkennbar erlogenen Aussage ertappt, verliert deshalb noch nicht das Interesse an der Äußerung. Die unwahre Aussage wird ihn vielleicht wegen des Motivs mehr interessieren, als eine richtige ihres Inhalts halber getan hätte. Der Psychiater, der einen Patienten ausfragt, interessiert sich so ziemlich für die Gesamtheit der psychischen Vorgänge, welche sich aus der Aussage erschließen lassen. Das gleiche gilt vom Untersuchungsrichter bei erkennbar inhaltlich falschen Aussagen des Beschuldigten oder des Zeugen.

10. Die historische Auslegung im eigentliche Sinn, die Feststellung der begleitenden Bewußtseinsvorgänge, kann nun als Glied einer umfassenderen Tätigkeit in so enge Beziehungen zu anderen Teilakten treten, daß wir das Wort  Auslegung  auch auf die verbundene Tätigkeit erstrecken. Diese einbezogenen Akte können eine tiefergehende Kausalforschung sein oder aber Akte des emotionalen Denkens.

Die erste Erweiterung des Begriffs ergibt sich dadurch, daß die historische Forschung über den Bewußtseinsinhalt hinausgeht. Ich möchte diese Erweiterung als  Umstands-Ursachenforschung, Zusammenhangs- oder Motivdeutung  im wahren Sinn bezeichnen. Dieser Erweiterung knüpft unmittelbar an die tieferen Stufen der oben besprochenen Motivdeutung im eigentichen Sinn an. Die Übergang vollzieht sich einmalurch, daß versucht wird, aus der Äußerung einen latenten Bewußtseinsinhalt (74), Neigungen und Eigenschaften des Urhebers zu erkennen. Dann aber dadurch, daß die  realen Ursachen  und Zusammenhänge der erkannten Vorstellungen in den Kreis der Untersuchung einbezogen werden. Dies geschieht namentlich seitens der Geschichtsforscher. Die historische Deutung, die 'SIMMEL und 'WEBER betonen, wertet z. B. die Äußerungen einer historischen Persönlichkeit, um ihren Charakter oder die Beschaffenheit der Umwelt zu erschließen, welche diese Äußerung verursachthat und aus ihr erkannt werden kann. Aber auch diese Form ist nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern  sie füllt das Leben.  Wenn eine Mitteilung tatsächlichen Inhalts in uns den Glauben an die Realität der mitgeteilten Tatsachen weckt, so beruth dies auf einer mechanische  Ursachendeutung.  Der Vorgang tritt sofort in das Licht der Überlegung, sobald wir Veranlassung haben, an der vollen Wahrheitsliebe des Mitteilenden zu zweifeln. Die Kompliziertheit der Deutungsaufgaben, die sich dann ergeben, kennt jeder Richter, der verdächtige Zeugen vernommen hat.

Die Verbindung zwischen der Vorstellungsforschung und der Ursachendeutung ist natürlich verschieden eng und deshalb wird nicht jede Ursachendeutung, die sich an eine Vorstellungsforschung anschließt, zur Auslegung gerechnet. Aber bestimmte Grenzen lassen sich nicht ziehen. Am engsten werden wir die Verbindung bei der Gebotsauslegung finden. Aber auch in anderen Fällen ist die Verbindung eine enge. Die Ursachenforschung ist immer eine historische Untersuchung mit den oben gegebenen logischen Eigentümlichkeiten und kann als Auslegung in einem weiteren Sinn bezeichnet werden.

11. Die historische Auslegung im engeren wie im weiteren Sinn, die Vorstellungsforschung wie die Ursachenforschung, kann aber ferner mit Vorgängen des emotionalen Denkens, mit einer Verarbeitung verbunden sein. Der gewöhnliche Sprachgebrauch rechnet gelegentlich auch diese weiteren Anschlußakte zur Auslegung. Ich will diese kombinierten Formen als  ergänzende  oder  fortbildende  Auslegung bezeichnen. Der erwähnte Sprachgebrauch findet sich allerdings, wenn wir zunächst von der Gebotsauslegung absehen, namentlich bei den Formen der "translativen" oder "externen" Auslegung, der Sinnerläuterung. Der Prediger, der einen Text "auslegt", will nicht etwa nur die historisch wirklichen Bewußtseinsvorgänge der Vergangenheit reproduzieren, sondern er benutzt diese Kausalforschung, um vielleicht ganz neue emotionale Vorstellungen in seinen Hörern zu wecken. Dasselbe logische Gepräge zeigt die "ästhetische" Interpretation einer poetischen Schrift oder eines Werks der bildenden Kunst. Die "Mitteilung" der angeschlossenen Vorstellungen setzt natürlich ihre Gewinnung durch den Interpreten voraus; aber auch sonst findet sich die gleiche Fortbildung bei der internen Auslegung. Auch wer die Bibel für sich liest, kann die Schriftstellen erbaulich auslegen. Der Alleinbetrachter eines Kunstwerks wird erst recht in der Lage sein, es ästhetisch aufzufassen und die Eindrücke in sich weiter auszugestalten.

Die Bedürfnisse der emotionalen Verwertung können noch andere Operationen veranlassen. Der Ästhetiker braucht andere Kunstwerke, um den ästhetischen Eindruck des interpretierten zu verstärken. Der Zustrom emotionaler Gedanken aus anderen Quellen kann so reich sein, daß er den historischen Inhalt durchaus überwiegt. Die Schriftstelle erlangt eine neue Bedeutung als historischer Ausgangspunkt dogmatischer Gedanken. Diese Verbindung kann dadurch noch weit enger werden, daß von mehreren möglichen historischen Deutungen diejenige bevorzugt wird, die für die Zwecke der emotionalen Wertung am besten geeignet ist. Ebenso ist es möglich, daß ein ursprünglich historisch gewonnener Inhalt in der Folge wegen seiner dogmatischen Brauchbarkeit durch Autorität oder Gewohnheit der Anzweiflung entzogen wird. Dadurch erlangen die Worte einen doppelten Sinn. Die historische Forschung kann den geschichtliche Inhalt noch nachträglich ermitteln. Aber daneben besteht für die praktische Verwendung ein zweiter Sinn. Wir können die historische Bedeutung und eine aktuelle, dogmatische unterscheiden. Die Dogmengeschichte jeder kirchlichen Überlieferung bietet zahlreiche Beispiele solcher Bedeutungsentwicklungen. 'WUNDT hat für die Erklärung ethischer Vorgänge das in der neuen rechtswissenschaftlichen Literatur viel gebrauchte Prinzip der Heterogenie der Zwecke aufgestellt (75). Ihm entspricht auf dem Gebiet der Auslegung emotional bedeutsamer Erklärungen eine  Heterogenie der Bedeutungen.  Dieser zweite dogmatische Sinn führt uns bereits in den Bereich der objektiven Deutungen.


B. Der objektive Sinn § 4.

1. Bei den Wortverbindungen objektive Bedeutung,  "objektiver Sinn"  einer Erklärung, denken wir in der Sprachwissenschaft, dem praktischen Leben und im Rechtsverkehr nicht an die Erkenntnis eines historisch Wirklichen, konkreten Bewußtseinsinhalts. Wir stellen den objektiven Sinn einmal in Gegensatz zum subjektiven Sinn, den Vorstellungen, welche die Erklärung historisch begleitet haben. Nicht etwa so, daß der objektive Sinn immer ein anderer sein müßte, als der subjektive. Das Gegenteil ist richtig. Die Übereinstimmung ist viel häufiger als die Divergenz. Sondern nur so, daß die beiden Ergebnisse differieren  können,  also die Grundsätze der Feststellung nicht dieselben sind. Und wir unterscheiden andererseits vom objektiven Sinn den konkreten  "Eindruck",  den die Erklärung auf eine bestimmte Person gemacht hat, die subjektive Auffassung das vollzogene Verständnis, den in der historischen Wirklichkeit durch die Wahrnehmung und ihre Deutung produzierten Bewußtseinsinhalt. Wiederum nur im Sinn einer möglichen Differenz, einer Verschiedenheit des Ermittlungsverfahrens. Der objektive Sinn ist somit kein reales Element eines konkreten menschlichen Bewußtseins (76). Er ist kein Ergebnis kognitiven Denkens, sondern ein Produkt des emotionalen Denkens, der bewußten Hypothese. Der objektive Sinn ist das Ergebnis zu dem Eindrucksregeln führen, wenn wir sie uns angewendet vorstellen, empirische Regeln oder normative, die wieder empirische Elemente enthalten können. Er ist derjenige Eindruck, den eine ins Auge gefaßte Erklärung zu bewirken pflegt oder machen kann, bewirken darf oder soll. Durch diese Definition ist bereits ein Gegensatz angedeutet, der uns innerhalb der objektiven Bedeutungen entgegentritt. Die objektive Bedeutung kann nach dem Zusammenhang, in dem sie auftritt, eine bloß empirische sein, ein Eindruck, der üblich oder möglich ist, oder sie kann eine normative sein, ein Eindruck, der eintreten soll oder darf (77).

2. Die Feststellung des objektiven Sinns begegnet uns in mannigfachen Verwendungen. Sie spielt eine Hauptrolle bei den die Sprache betreffenden Tätigkeiten, in der Sprachwissenschaft wie beim Erlernen und dem Gebrauch einer fremden Sprache, bei Übersetzungen usw., ferner auch bei sozialwissenschaftlichen Beobachtungen. Der objektive Sinn kommt in Frage als Hilfsmittel bei der historischen Auslegung einer Erklärung. Der Erklärende will regelmäßig einen Eindruck hervorrufen. Die Feststellung desjenigen Eindrucks, der wahrscheinlich war, liefert ein wichtiges Hilfsmittel zur Bildung und Ausschaltung von Entstehungshypothesen.

Am häufigsten aber dient der objektive Sinn der kritischen Beurteilung einer Erklärung oder des in der historischen Wirklichkeit erfolgten Eindrucks. Ich nenne diese Verwendung die  kritische  oder  normative  Funktion. Jeder Jurist weiß, welche Rolle die Feststellung des objektiven Sinn bei der Behandlung der Rechtsgeschäfte spielt. Die gleiche Funktion begegnet dem Juristen auch sonst, z. B. bei der Anwendung des § 186 StGB oder des §§ 5 UWG und 16 Wzg (Feststellung, daß "Namen" - "zur Bezeichnung gewisser Waren" - "dienen, ohne deren Herkunft bezeichnen zu sollen)." Diese Gedankenoperation ist natürlich nicht von den Juristen erfunden, sondern sie ist dem Alltag entlehnt. Wenn jemand eine Erklärung veröffentlicht hat, die weder beleidigend noch unrichtig  gemeint  war, so wird er sich als anständiger Mann auch ohne Rechtszwang veranlaßt sehen, sie zu berichtigen, sobald er einsieht, daß sie beleidigend oder irreführend wirken  kann,  wie wir sagen, "objektiv beleidigen" oder "objektiv unrichtig" ist. Wenn  X  seinem Hauswirt einen Brief in der Absicht schreibt, seine Wohnung zu kündigen und der Hauswirt diesen Brief anders versteht, so wird auch der Laie die Frage aufwerfen, ob der Hauswirt "nach dem objektiven Sinn der Mitteilung" Veranlassung hatte, aus ihr die Vorstellung der Kündigung zu entwickeln.

3. Der psychische Vorgang bei der objektiven Deutung ist nicht als eigene Forschung nach den historischen Vorstellungen zu bestimmen, sondern das Urteil über fremde Forschung. Dieses Urteil beruth  auf der Hypothese einer Auslegung,  und zwar einer rein historischen oder einer erweiterten Auslegung. In beiden Fällen ist der Aufbau derselbe.

Wer feststellen will, wie eine Erklärung zu wirken pflegt, wirken kann oder wirken soll, der wird sich eine mehr oder weniger typisch vorgestellte Person denken, welche ihrerseits die Erklärung historisch auslegt, und sich dann das Ergebnis dieser Auslegung vergegenwärtigen. Die objektive Deutung ist daher die Reproduktion, der Spiegel einer vorgestellten historischen Auslegung, die unter Benutzung eines bestimmten Materials und nach einem empirisch oder normativ vorgezeichneten Grad von Aufmerksamkeit und Arbeit als vollzogen gedacht wird. Dieses Spiegelbild zeigt natürlich alle Eigenarten eines Originals. Auch in einem Spiegelbild wird nach den Vorstellungen des Urhebers der Erklärung gefragt. Nur ist es nicht der Beurteiler, sondern die gedachte Person, welche die Frage beantwortet, beantworten soll. Die Verschiedenheit der Mittel und der Intensität, die Deutungsstufen können alle wiederkehren, z. B. als Leistungen die von einem hypothetischen Interpreten erwartet oder als Gewährungen, die ihm gestattet werden. Je nach der Sachlage wird ihm nur eine Inhaltsdeutung zuzumuten zu sein oder auch eine Motivdeutung, nur eine Vorstellungsforschung oder eine Untersuchung der Interessen, nur eine Reprodukton oder auch emotionale Ergänzung.

4. Diese Ausführung zeigt, daß das Ergebnis der objektiven Deutung von Annahmen abhängt, die bewußt oder unbewußt gemacht werden. Es sind das die Bedingungen der hypothetischen Auslegung. Sie lassen sich für die Zwecke dieser Übersicht in zwei Gruppen einteilen, in den  Empfängerhorizont  und in die  Deutungsdiligenz  [Deutungssorgfalt - wp].

Unter dem Empfängerhorizont verstehe ich die Gesamtheit des Materials, das dem hypothetischen Ausleger zugerechnet wird, sowohl das Umstandswissen wie das Regelwissen, also sowohl die Kenntnis der vorausgegangenen Verhandlungen, begleitenden Umstände, als die Kenntnis von Sprache und Verkehrssitte. Die Deutungsdiligenz bezieht sich auf die Anforderungen, die an die Auslegungsarbeit gestellt werden, auf den Grad der Aufmerksamkeit, dasjenige Verhalten, das erwartet oder gefordert wird, das vorgezeichnet ist durch die Gewohnheit oder ein eingreifendes Gebot.

Diese Annahmen sind nun je nach dem Endzweck der Feststellung sehr verschieden. Es ist möglich, daß sie ein typisches Gepräge tragen, für eine größere Zahl von Empfängern die gleichen sind. Es ist aber auch möglich, daß diese Annahmen nur für einen speziellen Empfänger aufgestellt werden können. Neben einen  generellen  objektiven Sinn können  spezielle  Bedeutungen treten, die nach den gleichen Grundsätzen gebildet sind. Bei der Prüfung des Wechsels im Hinblick auf die Formwahrung wird nach der herrschenden Praxis nur der Generalsinn berücksichtigt. Dagegen wird man beim vorigen Kündigungsbeispiel vom Hauswirt fordern, daß er die ihm bekannten Umstände, etwa früher gewechselte Briefe, mitbeachtet, obgleich er allein von ihnen Kenntnis hat. Der Sprachgebrauch des Alltags neigt vielleicht dazu, das Wort "objektiv" nur bei einer mehr oder weniger generellen Bedeutung zu verwenden. Aber wir haben alle Ursache, auch bei einem speziellen Empfängerhorizont, z. B. bei der Korrespondenz in einer Geheimsprache, den Sollsinn, der für den Empfänger gilt, von den kausalen Vorstellungen des Erklärenden zu scheiden. Und irgendwelche Grenzen lassen sich nicht ziehen. Nicht minder verschieden wie der Empfängerhorizon können die Anforderungen sein, die an die Diligenz des hypothetischen Interpreten gestellt werden. Es gibt viele Erklärungen, namentlich zusammenhängende Darstellungen, die bei flüchtiger Wahrnehmung anders aufgefaßt werden als bei eingehender Überlegung. Welcher Sinn hat als der "objektive" zu gelten? Eine Antwort läßt sich nicht allgemein, sondern immer nur für bestimmte, aufzustellende Verhältnisse geben.

5. Die Verschiedenheit der Annahmen führt daher zu einer Mehrheit von Unterbegriffen des objektiven Sinns. Dieselbe Erklärung kann eine Mehrheit von objektiven Bedeutungen aufweisen.

Derjenige Unterbegriff, an den wir wohl in erster Linie denken, ist ein Vorstellungsbild, das wir als  reinen Wortsinn  oder  Wortlaut,  sprachlichen Ausdruck, sprachlichen Sinn' schlechthin bezeichnen können und das uns in der Sprachwissenschaft als  usuelle Wortbedeutung  begegnet. Dieses Bild ist das Ergebnis einer supponierten historischen Auslegung, welche die Wortzeichen unter ausschließlicher Anwendung sprachlicher Regeln würdigt. Mit Rücksicht auf die in einem Bewußtsein latent vorhandenen Vorstellungsverbindungen (Dispositionen), welche wir "Sprache" nennen, kann schon die Wahrnehmung eines isolierten Wortes oder eines isolierten Satzes in den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft eine Gruppe von Vorstellungen erwecken, die sic als mögliche Ursache der wahrgenommenen Wortzeichen aufdrängen. Bei diesem Unterbegriff sind die Annahmen auf ein Minimum reduziert. Vorausgesetzt wird nur die Wortwahrnehmung, die Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft und ein waches Bewußtsein.

Dieser reine Wortsinn steht im Vordergrund bei der fremdsprachlichen Erziehung und der sonstigen theoretischen Beschäftigung mit der Sprache. Bei den Vokabeln die wir lernen, begegnen uns künstlich isolierte Worte, deren reinen Wortsinn wir uns einprägen. In den Übungssätzen haben wir isolierte, vielfach ganz zusammenhangslose Sätze, deren Übersetzung sich nach sprachlichen Regeln richtet. Durch die Isolierung soll ja gerade die Anwendung der sprachlichen Regeln erzwungen werden. Bei der Schullektüre klassischer Schriftsteller halten es manche Schulmonarchen für einen Tadel verdienenden Fehler, wenn der subjektive Sinn des Schriftstellers aus dem Zusammenhang "erraten" wird.

Eine Parallele zum reinen Wortsinn bieten die technische Bedeutung, die einem Wort in bestimmten Lebenskreisen z. B. in einer Wissenschaft zukommt und die konventionelle Bedeutung, die ihm von den Teilnehmern einer Verabredung beigelegt wird (Geheimsprache, code). Auch diese Wirkungen treten nur ein, soweit die Vorbedingungen vorliegen und nicht hindernde Umstände eingreifen.

Außerhalb der theoretischen Betrachtung tritt reiner Wortsinn nicht isoliert auf. Die im Leben vorkommenden Worte haben immer okkasionelle [gelegentliche - wp] Bedeutung (78). Auch für die Feststellung des objektiven Sinns einer konkreten Erklärung ist der Wortsinn niemals allein entscheidend. Wie wir bei historischer Auslegung stets neben dem Sprachgebrauch die Umstände berücksichtigen, so tritt diese Berücksichtigung auch überall im Spiegelbild der objektiven Sinnermittlung hervor. Eine besondere Bezeichnung für diejenigen Formen des objektiven Sinns, die nicht reiner Wortsinn sind, fehlt. Man kann sie als "Umstandsbedeutung" zusammenfassen.

6. Dieses Zurücktreten des reinen Wortsinns im Leben ist für unsere Zwecke von besonderer Bedeutung, da neuere Vertreter der objektiven Theorie die Gesetzeswirkung auf den reinen Wortsinn herabdrücken. Deshalb wollen wir die Momente hervorheben, welche das Zurücktreten der isolierten Sprachermittlung erklären.
    a) Erklärend wirkt einmal die große  Unbestimmtheit  der usuellen Wortbedeutung (79). Es sind oft verschiedene Vorstellungsgruppen, die je nach dem Zusammenhang mit dem Wort verbunden werden können und deren Summe die usuelle Wortbedeutung darstellt. Auch wo keine eigentliche Mehrdeutigkeit vorliegt, sind doch die einzelnen Vorstellungselemente verschieden eng verbunden. Wir haben einen Vorstellungskern, den nächstliegenden Wortsinn, und einen Vorstellungshof, der allmählich in wortfremde Vorstellungen führt. Die Bedeutung läßt sich dann mit dem Mond vergleichen, der sich in dunstigen Wolken mit einem Hof umgibt. Als Kreise erscheinen der nächstliegende und der mögliche Wortsinn (80). Diese umfassenden Vorstellungskreise sind zu unbestimmt, um ohne nähere Bestimmung praktisch verwendbar zu sein. Nur einige Wortgruppen, namentlich Maßangaben und Individualbezeichnungen, zeigen ein geringes Schwanken.

    b) Ein zweites Moment ist gegeben durch die  Differenzierung des Sprachgebrauchs  innerhalb der Sprachgemeinschaft, durch die  Unbegrenztheit der empirischen Regeln, die wir Sprache nennen.  Diese sprachlichen Regeln beruhen, ganz roh ausgedrückt, auf Assoziationen zwischen Wortbildern und sachlichen Vorstellungen, Assoziationen, die im Bewußtsein der Sprachgenossen latent verankert sind. Das Verstehen einer Sprache setzt daher einen gewissen Besitz an sachlichen Vorstellungen, eine Sachkenntnis voraus und ist mit derjenigen Sachkenntnis, die wir nicht mehr zur Sprache rechnen, mit dem Besitz sonstiger sachlicher Vorstellungen, durch allmähliche, gleitende Übergänge verbunden. Die sachlichen Vorstellungen sind sehr verschieden verteilt. Bei einer grlßen Zahl von Worten und Wendungen ist der Eindruck, den sie auf die verschiedenen Mitglieder der Sprachgemeinschaft machen, ein sehr verschiedener. Es gibt bei ihnen keinen gemeinsamen Wortsinn, keine einheitliche usuelle Bedeutung, sondern verschiedene Bedeutungen für verschiedene Empfänger. Die bloß technische oder konventionelle Bedeutung ist aber vom reinen Wortsinn zu unterscheiden.

    c) Die sprachlichen Gewohnheiten  beschränken  sich auf die Wirkung des  einzelnen Wortes  und der durch den  Satz  gegebenen  Wortverbindung.  Dabei genügt das bloße Wachsein der Aufmerksamkeit nur für die Auffassung einfacher Sätze. Schon bei komplizierten oder abstrakten Sätzen ist eine Anspannung erforderlich, welche nicht ohne weiteres bei allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft gegeben oder zu fordern ist. Man kann geradezu sagen, daß komplizierte Sätze überhaupt keinen reinen Sprachsinn mit der oben gesetzten Annahmebeschränkung aufweisen. Die sprachlichen Regeln versagen aber überhaupt, sobald eine zusammenhängende Darstellung in Frage steht. Es gibt genaugenommen keinen reinen Wortlaut eines Schriftstücks, sondern nur einen reinen Wortlaut der isolierten Sätze. Die Zusammenhangswirkung kann auch durch Gewohnheit bestimmt sein. Es gibt, wenn auch in beschränktem Umfang, Maximen der Alltagslogik. Die können bei objektiver Deutung darüber entscheiden, ob der Wortlaut bestehen bleibt oder durch den Zusammenhang geändert wird. Aber deshalb geht eben die objektive Deutung eines zusammenhängenden Schriftstücks immer über den reinen Wortsinn hinaus. Man könnte hier nur von einem objektiven "Textsinn" reden. Und das gleiche gilt für die Einbeziehung sachlicher Umstände. Wenn sich ein Passant in eine Autodroschke setzt und "Bahnhoft" sagt, so ist der objektive Sinn seiner Erklärung nicht mit dem reinen Wortsinn von  Bahnhof  identisch. Der reine Wortsinn setzt "umstandsfreie" Erklärungen voraus und solche Erklärungen kommen, abgesehen von der sprachlichen Tätigkeit, im praktischen Leben nicht vor. Stets sind begleitende Umstände vorhanden, welche für den Auslegenden den reinen Wortsinn beeinflussen können und die auch die Feststellung des objektiven Sinns zu berücksichtigen sind.

7. Die objektive Bedeutung einer Erklärung ist deshalb in der Regel von komplizierteren Vorbedingungen abhängig als beim reinen Wortsinn. Empfängerhorizont und Deutungsdiligenz sind zu ermitteln und einzustellen. Die Gegenüberstellung des subjektiven Sinns und des objektiven führt daher zu einem scheinbar paradoxen Ergebnis. Für den Ermittler ist der subjektive Sinn etwas objektiv gegebenes, ein historisches Faktum, ein Gegenstand reiner Erkenntnistätigkeit, ein für allemal bestimmt, wenn auch nicht immer erkennbar. Dagegen ist der objektive Sinn etwas bedingtes, von Annahmen abhängiges, so daß dieselben Wortzeichen, je nach den zugrunde gelegten Annahmen eine Mehrheit objektiver Bedeutungen aufweisen können. (81)

Die Bedingtheit des objektiven Sinns hindert seine Verwertung im praktischen Leben deshalb nicht, weil die bedingenden Faktoren schon durch das Leben dem Beurteiler entgegengebracht werden. Bei der kritischen Beurteilung des Kündigungsbriefes ist das Umstandswissen des Empfängers durch den historischen Vorgang gegeben. Sein Regelwissen und die Norm der erforderlichen Diligenz sind durch Gesetzt und Verkehrssitte vorgezeichnet. Die Bedingtheit des objektiven Sinns wird aber dann ein Hindernis, wenn seine Beachtung gefordert wird, ohne daß zugleich die bedingenden Annahmen bezeichnet werden. Und sie wird dort eine besondere Gefahr, wo das einheitliche Ergebnis zahlloser Feststellungen Lebensforderung ist, während die bedingenden Faktoren bei den einzelnen Feststellungen verschieden liegen würden. Diesen beiden Bedenken werden wir bei den Theorien der objektiven Gesetzesauslegung begegnen.


C. Die Gebotsauslegung § 5.

1. Die große Mannigfaltigkeit der Auslegungsformen, die wir beobachtet haben, tritt zurück, sobald wir speziell die Auslegung von Geboten ins Auge fassen. Die Gebotsauslegung soll dazu dienen, die kausalen Interessen des Gebietenden zu fördern. Durch diesen Endzweck erhält sie ein ganz bestimmtes Gepräge, das auf dem ganzen Gebiet der Gebotsausführung in der Hauptsache gleichmäßig hervortritt. Die Gebotsauslegung ist überall eine  historische  Auslegung, aber nicht nur eine Auslegung im eigentlichen Sinne, die Erforschung des subjektiven Sinns, sondern sie ist in der Regel zugleich  Ursachendeutung  und  fortbildende Auslegung. 

2. Die Auslegung des Gebots ist  eine historische Forschung,  gerichtet auf reale Erkenntnis. Das ist durchaus verständlich. Denn die Interessen, die der Herr durch die Ausführung seines Gebots wahren will, sind ja reale Interessen. Sie werden nicht geschützt, wenn die Gebotsvorstellungen unrichtig reproduziert werden. Die übliche Form, welche die Vorstellungsforschung bei Geboten im Bewußtsein des Dieners annimmt, ist die "Willensfrage", die Frage nach dem Willen des Gebotstellers. Das ist auch selbstverständlich, denn die Gebotsworte sind durch einen Willensakt verursacht. Dieser Wille, nach dem gefragt wird, ist aber nicht der Willensvorgang im psychologischen Sinn. Die Vorstellungswolke, die wir mit dem Wort "Willen" verbinden, bewährt auch bei dieser Gelegenheit ihre Vielgestaltigkeit. Der Bewußtseinsvorgang in seinem ganzen Verlauf, das etwaige Hin- und Herschwanken der Entschließung und die auftauchenden aber zurückweichenden Bedenken sind für den Psychologen wichtig, aber nicht für den Diener. Ihn interessiert nur das Resultat. Deshalb ist die scharfe Scheidung dieser  "normativen Willensfrage"  und des  "normativen Willens"  von den gleich benannten psychologischen Begriffen für unser ganzes Problem von grundlegender Bedeutung.

3. Die Auslegung der Gebote ist nun dort, wo interessengemäßer Gehorsam in einigermaßen schwierigen Lagen gefordert wird, nicht nur Inhalts-, sondern Motiv- und in erheblichem Umfang Ursachendeutung. Gewiß gilt das nicht, wo strikter Gehorsam vorliegt oder dort, wo die Ausführung des Gebots ganz einfach ist, gar keinem Zweifel unterliegt. Da beschränkt sich die Willensfrage auf die Inhaltsvorstellungen oder die allernächsten Motive. Wenn ich einem Mietauto den Auftrag gebe, mich nach einer bestimmten Hausnummer zu fahren, dann wird der Wagenführer sich mit dem nächstliegenden Motiv, dem Wunsch nach Beförderung, begnügen. Anders schon, wenn er zu einem bestimmten Zug fahren soll. Dann wird er unter Umständen danach fragen, ob der Fahrgast abreisten oder einen Besuch abholen will, weil diese Absicht für die Rechtzeitigkeit des Eintreffens und daher für die Art der Gebotsausführung von Bedeutung ist. Bei Sachlagen, die eine größere Selbständigkeit des Dieners bedingen, geht die Forschung stets auf die Motive und regelmäßig über die subjektiven Motive hinaus auf die für den Gebieter kausalen Verhältnisse zurück. Die Motiv- und Umstandsdeutung nehmen dabei die spezielle Form der Zweckdeutung an. Diese Deutungen verschmelzen im Sprachgebrauch des Alltags mit der Inhaltsdeutung. Wenn ein Diener sagt, "der Befehl ist mir unverständlich", so meint er damit in der Regel nicht, daß die historischen Inhaltsvorstellungen nicht reproduzierbar sind, sondern daß die Motive des Herrn ihm nicht erkennbar sind. Da der Inhalt des Gebots auf einem Willensakt beruth, so wird die Motivdeutung zur Zweckdeutung und erhält die Zusammenhangsdeutung das Gepräge der  Interessenforschung. 

Diese vertiefte Deutung gilt als Pflicht des selbständigen Dieners. Auch bei ihm können sich vielleicht zunächst nur Inhaltsvorstellungen entwickeln, aber es gilt als Pflicht, die Vorstellungsentwicklung über diese Inhaltsvorstellungen zurück zu den Motiven und zu den kausalen Interessen hinzuführen. Den Gehorsam, der sich mit einem solchen erweiterten Vorstellungsreich, verbindet, nennen wir speziell den "denkenden Gehorsam".

4. Die Gebotsauslegung geht nun auch dadurch über die Ermittlung des subjektiven Sinns hinaus, daß sie in den Fällen des interessengemäßen Gehorsams mit der Ergänzung und Berichtigung der historisch erkannten Gebotsvorstellungen zu einer Einheit verschmilzt. Diese Verschmelzung ist gerade auf dem Gebiet des Gebotslebens eine besonders enge, soviel ich sehen kann, enger als beim Theologen oder beim Kunsthistoriker. Wenn wir von einer sinngemäßen oder absichtentsprechenden Auffassung eines Gebots, von einer engeren oder einer ausdehnenden Auslegung reden, dann beschränken sich die Vorgänge in der Regel nicht auf die historisch richtige Reproduktion von Bewußtseinsinhalten, sondern sie umfassen in der Regel eine gleichzeitige Ergänzung oder Verarbeitung gewonnener Erkenntnisse. Diese besondere Enge der Verschmelzung scheint mir auf dem Überwiegen der Interessenfrage zu beruhen. Die Interessenfrage ist einmal ein wichtiges heuristisches Mittel für die Erkenntnis der Gebotsvorstellungen. Das interessengemäße Gebot ist fast immer am wahrscheinlichsten. Aber sie ist auch zweitens das eigentlich  entscheidende,  da ihre Ergebnisse zu einer Vervollständigung oder einer Korrektur der Inhaltsvorstellungen für die Zwecke des Handelns führen können. Andererseits treten die Gebotsvorstellungen zurück. Sie sind Indizien für die Erkenntnis der Interessenlage. Aber sie verlieren an selbständiger Bedeutung. Wenn die Interessenlage mit voller Klarheit vom Diener ein bestimmtes Verhalten fordert, dann muß der Diener handeln und kann es dahingestellt sein lassen, ob ein richtiges Gebot des Herrn erkennbar ist oder ob Ungewißheit besteht.

Da nun die Erkenntnis der Interessenlage des Herrn die für die Gebotsausführung maßgebend ist, nicht nur durch die Gebote, geschweige denn durch ein einziges Gebot erlangt wird, so kann sich die Gebotsfortbildung zu einer außerordentlich umfangreichen, vielverzweigten Gedankenoperation gestalten.

So eng nun die Verschmelzung von Gebotserkenntnis und Gebotsfortbildung auch ist, so führt sie doch im Alltag niemals dazu, daß die historische Auslegung getrübt oder vernachlässigt werden darf. Der Herr kann es wünschen, daß seine Gebote geändert werden, weil seine eigenen nicht vorhergesehenen Gegeninteressen eingreifen und überwiegen. Aber er kann es niemals wünschen, daß er  falsch  verstanden wird. Auch die Gebotsänderung kann sich nur dann interessengemäß vollziehen, wenn die Herreninteressen  richtig  erkannt sind.

5. Diese doppelte Verschmelzung der historischen Auslegung mit der Interessenforschung einerseits, der Ergänzung und Fortbildung andererseits, gibt nun auch der normativen Willensfrage einen besonderen, von der psychologischen Frage noch weiter abweichenden Inhalt.

Auch wenn der Diener nach der Interessenlage forscht um nicht wahrnehmbare Gebotsvorstellungen seines Herrn zu ergänzen oder wahrgenommene aber interessenwidrige zu berichtigen, so wird er im Alltag immer noch sagen, daß er den Willen des Herrn beachtet oder verwirklicht. Er wird nur vielleicht den "vermutlichen" oder aber den "wirklichen" hinzufügen. Der Wille des Gebieters ist in diesem Fall nicht ein historisch erkannter Bewußtseinsinhalt des Herrn, sondern ein Komplex von Interessenlagen und seitens des Dieners als zweckgefordert vorgestellter Interessengestaltungen. Gerade der "wirkliche" Wille des Alltags ist, so paradox es klingen mag, ein für den Psychologen  unwirklicher  Wille (82). Ja es ist möglich, daß er einen gedachten aber  psychologisch unmöglichen  Vorganz bezeichnet. Der Diener hat bei der Ergänzung die Interessen des Herrn zu wahren, aber er ist nicht verpflichtet, auch die vermutlichen Fehler nachzuahmen. Die Antwort auf die normative Willensfrage, der normative Wille kann daher ein viel höheres Niveau geistigen Könnens aufweisen als der psychologisch wirkliche Bewußtseinsinhalt desselben Gebieters als möglich erscheinen läßt.

6. Die enge Verschmelzung, welche die Vorstellungsforschung mit der Ursachenforschung und der teleologischen Fortbildung eingeht, verändert natürlich das Gesamtbild der Gebotsbeachtung im Vergleich zum Endbild der subjektiven Deutung. Diese Veränderung ist nach zwei Richtungen besonders zu beachten.

a) der Gesamtvorgang erhält ein "objektives Gepräge". Man kann diese Bezeichnung deshalb gebrauchen, weil die subjektiven Vorstellungen des Herrn in ihrer Bedeutung gemindert sind. Sie behalten eine große, in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich  entscheidende  Bedeutung, aber nicht als Endziel der Gedankenarbeit, sondern als Mittel der Erkenntnistätigkeit, die auf die Interessenlage gerichtet ist und die Grundlage liefern soll für die teleologische Ergänzung. Diesen Gegensatz gegen die rein subjektive Deutung können wir vielleicht mit dem Wort "objektiv" wiedergeben. Aber dadurch wird das Gesamtbild der Feststellung eines objektiven Sinns, wie wir ihn oben bestimmt hatten, noch gar nicht genähert. Die Gesamttätigkeit des Dieners wird nicht entfernt zu einer Eindruckshypothese. Sie schließt die streng historische Forschung  nicht aus,  sondern bedingt sie als einen unumgänglichen Teilakt des Gesamtvorgangs.

b) Die  Datierung  des Gesamtakts ändert sich. Die Vorstellungsfrage ist wie jede historische Forschung auf die  Vergangenheit,  wenn auch vielleicht auf eine ganz nahe gerückt. Im Gespräch bestimmt sich die Vergangenheit durch Sekundenteile. Beim Gesamtakt der Gebotsbeachtung handelt es sich um die Gegenwart. Sie würde in ihrer Totalität als  Gegenwartsdeutung  zu bezeichnen sein. Denn es sind natürlich immer die Gegenwartsinteressen des Herrn, die der Diener zu wahren hat. Die nach den Geboten eingetretenen Veränderungen hat er zu berücksichtigen. Der "wirkliche Wille des Herrn" im normativen Sinn ist nicht der historische, sondern der  Augenblickswille.  Aber diese Datierung gilt nur für das Ziel des Gesamtaktes. Der historische Teil behält sein Gepräge. Er bleibt  notwendig,  insoweit das Gebot die Erkenntnis der Herreninteressen vermittelt. Der militärische Untergebene hat die Gefechtslage nach dem zeitlichen Stand zu berücksichtigen. Aber die Intentionen der Oberleitung entnimmt er aus dem bereits erhaltenen Befehl. Und der historische Teil bleibt nur möglich als Vergangenheitsforschung. Jede Einmischung später eingetretener Umstände würde das Ergebnis fälschen. Der militärische Unterführer, der gestern den Befehl erhalten hat, eine Position zu besetzen, kann heute von der Ausführung absehen, wenn er annehmen darf, daß die Oberleitung bei Kenntnis der jetzigen Sachlage anders befohlen hätte. Aber der Impuls würde der entgegengesetzte sein, wenn er den Befehl in die Gegenwart  transponieren  und auf die gegenwärtige Sachlage beziehen wollte. Schon aus diesem Grund ist eine erfolgreiche Durchführung des Gesamtaktes nur denkbar, wenn die Teilakte soweit getrennt werden, als es ihre psychologische Verschiedenheit fordert. 7. Eine Feststellung des früher erwähnten "objektiven Sinns" kommt auch auf dem Gebiet des Gebotslebens vor. Aber auch hier nur als Teilakt oder als Maßstab der Erfolgsbeurteilung. Wenn dem Diener die historisch richtige Auslegung mißlungen ist, dann wird gefragt, welchen Eindruck das Gebot machen mußte. Dann wird untersucht, ob der Herr oder der Diener das Mißverständnis verschuldet hat. Aber immer ist es ein Beurteiler, und nicht der Diener, der die objektive Auslegung vornimmt. Der Diener hat historisch zu forschen. Wenn ein Dienstbefehl anders ausgeführt wurde als er gemeint wr, dann befindet der höhere Vorgesetzt oder die historische Kritik über die Zumessung der Schuld (83). Aber der Untergebene, der die wirkliche Meinung seines Vorgesetzten tatsächlich erkannt hat oder erkennen mußte, wird dadurch nicht entlastet, daß diese Meinung nach irgendeiner generellen Beurteilung unzutreffend ausgedrückt war. Die objektive Möglichkeit des Irrtums scheidet aus, wenn es sicher ist, daß kein Irrtum stattgefunden hat.

8. Die Gebote des Alltags wie die der Parallegebiete zerfallen nun für die sozialpsychologische Beobachtung in die beiden Gruppen der Individualgebote und der Kollektivgebote. Die Gebote können ausgehen von einem einzelnen Menschen oder entstehen durch die Übereinstimmung oder den Mehrheitsbeschluß einer Menschengruppe oder mehrerer Gruppen. Es ist nun eine ebenso sichere wir für das Problem der Gesetzesauslegung wichtige Beobachtung, daß diese Verschiedenheit der Entstehung keineswegs eine irgendwie tiefgreifend Divergenz in der Auslegungstätigkeit zur Folge hat. Wir haben im Alltag nicht eine Methode der Auslegung für Individualgebote und eine zweite für Kollektivgebote. Nur das Auslegungsmaterial kann hinsichtlich der Vorgeschichte Verschiedenheiten aufweisen. Aber der ganze Vorgang der Auslegung ist derselbe. Die historische Auslegung beschränkt sich nicht auf Individualerklärungen, sondern wird auch bei Kollektiverklärungen geübt. Wer von einer Handelsfirma eine Warenofferte erhält, wird die Auslegung nicht davon abhängig machen, ob hinter der Firma ein Einzelkaufmann oder eine Handelsgesellschaft steht. Er wird dies oft genug gar nicht wissen und sich darum nicht kümmern. Eine Polizeiverordnung wird ebenso verstanden, wenn sie von einem Polizeipräsidenten erlassen ist, wie wenn sie von einem Magistrat ausgeht. Diese Indifferenz der Behandlung kann auffallend erscheinen. Denn die beiden Vorgänge unterscheiden sich für die psychologische Betrachtung sehr erheblich. Die Psychologie kennt nur Einzelwillen. Bei der Kollektiverklärung liegt für die psychologistische Betrachtung eine Reihe von Willensprozessen vor, die zwar ein in gewissen Umrissen übereinstimmendes Endresultat ergeben haben, auch in ihren Ursachen gewisse Übereinstimmungen zeigen, deren Verlauf im einzelnen aber notgedrungen Abweichungen aufweist. Einen Gesamtwillen kennt der Psychologe nicht. Wie kommt es, daß wir im Alltag in solchen Fällen doch nach einem Gesamtwillen fragen? Die einzige aber auch ausreichende Erklärung scheint mir darin zu liegen, daß das Endziel der Gebotsdeutung gar keine Reproduktion des psychologisch interessierenden Willens ist, sondern Interessenforschung und Interessengestaltung. Die Interessenlage kann auch bei psychologisch verschieden gestalteten Willenserscheinungen die gleiche sein. Es ist einleuchtend, daß derselbe Vorgang für mehrere Personen gleichmäßig erwünscht oder nachteilig sein kann. Das sind gerade die Fälle, in denen Kollektiverklärungen erfolgen. Nur dieser Interessenlage gilt in letzter Linie die  normative  Willensfrage. Der Interessengehalt einer Kaufofferte ist aber ganz der gleiche, ob hinter der Firma ein Einzelkaufmann steht oder eine Gesellschaft. Die Forderungen der Ordnungsinteressen oder Gesundheitsinteressen, welche durch die Polizeiverordnung gewahrt werden sollen, sind davon unabhängig, ob die Verordnungsgewalt in die Hände einer Einzelperson oder einer Behörde gelegt ist. Nun ist es richtig, daß die Interessenforschung bei der Kollektiverklärung oft größeren Schwierigkeiten begegnet als bei einer Individualerklärung. Es sind die Fehlerquellen etwas höher zu veranschlagen. Aber diese Differenz ist für die Richtung der Frage bedeutungslos. Wir rechnen überall nur mit der erreichbaren Wahrscheinlichkeit. Wir werden im Durchschnitt der Fälle die kollektiven Interessen immer noch besser wahre, wenn wir diesem Interessenschein folgen als wenn wir ihn ignorieren.

9. Als eine weitere Abweichung der normativen Willensfrage von der psychologischen sei erwähnt, daß wir bei  Vertretergeboten  die Gebotsvorstellungen des Vertreters beachten, um den Gehorsam zu leisten, der dem Herrn geschuldet ist. Natürlich ist es ausgeschlossen, daß genau derselbe Vorgang, der sich im Bewußtsein des Vertreters abgespielt hat, auch im Bewußtsein des Prinzipals vorhanden war. Aber die Interessen des Herrn werden im Durchschnitt der Fälle besser gewahrt, wenn der Diener die Gebotsvorstellungen des Vertreters beachtet als wenn er sie ignoriert und durch andere ersetzt, die er sich nach irgendwelchen Kunstregeln aufbaut. Die Vertretererklärung wird deshalb genauso behandelt wie die Eigenerklärung des Herrn. Nur insofern wird die Selbständigkeit des Dieners vielleicht gesteigert sein, als unter Umständen ein Irrtum des Vertreters über die Herreninteressen eher wahrscheinlich ist, als ein vom Herrn selbst begangener Irrtum.

Die Vertretung kann natürlich auch einer  Mehrheit  von Personen übertragen sein (Kollektivprokura, Aufsichtsrat). Dann sind die beiden zuletzt erwähnten Probleme vereinigt (Kollektivvertretererklärung). Auch diese Vereinigung ändert an den Grundzügen der Gebotsauslegung nichts.
LITERATUR Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914
    Anmerkungen
    47) Vgl. KARL OTTO ERDMANN, "Die Bedeutung des Worts", 2. Auflage 1910, Seite 74f.
    48) Von den neueren Arbeiten sind besonders zu beachten SIMMEL, Geschichtsphilosophie, Seite 28f und MAX WEBER, "Roscher und Knies" in  Schmollers Jahrbuch  1905, Seite 1346f, 1906, Seite 81f, auch "Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 22, Seite 143f. ELSENHANS, Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften, 1904 und Lehrbuch der Psychologie, 1912, Seite 342 (woselbst psychologische Literatur. Ältere Literatur ist bei WEBER, Roscher usw., Seite 1371 angegeben).
    49) FR. BLASS, "Hermeneutik und Kritik" im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaften, Bd. 1, Seite 150f, erste Auflage 1886 und HERMANN PAUL, Methodenlehre, § 14f in "Grundriß der germanischen Philologie".
    50) Orientierungen über die theologische Hermeneutik geben BÄNTSCH in "Die Religion", Artikel  Bibelwissenschaft,  Bd. 1, Seite 1172f. G. HENRICI in "Realenzyklopädie für protestantische Theologie", Bd. VII, Seite 718. KIHN in "Wetzer und Welker, Kirchenlexikon", Bd. V, Seite 1844f.
    51) Der Strafrichter, Bd. 1, Seite 117f und öfter.
    52) Namentlich Richterrecht und Einführung (1912). Vgl. oben Anm. 2.
    53) Die Mannigfaltigkeit der Formen wird meines Erachtens von SIMMEL und WEBER nicht in genügendem Umfang gewürdigt. SIMMEL (a. a. O., Seite 28) unterscheidet innerhalb des Verstehens des Gesprochenen zwei Formen: "das Begreifen des Sachverhalts" und "das Begreifen der Motive". Die erste Form sei ausreichend bei einem theoretischen Denkinhalt, dagegen ist die zweite, die eigentliche "Einfühlung" bei historischer Forschung erhoben. WEBER (Roscher Seite 1372f) hat bereits Einspruch erhoben. Der Gegensatz der Inhalts- und der Motivdeutung ist allerdings bedeutsam, aber anders zu fassen, vgl. unten Nr. 8, 9 und die Abgrenzung der Anwendungsgebiete ist eine andere. Auch die Motivdeutung ist im Alltag zuhause.
    54) Der Unterschied berührt sich nur wenig mit dem Gegensatz der  usuellen  und der  okkasionellen  Wortbedeutung, der von PAUL betont wird. Vgl. PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, Nr. 66 und "Grundriß der germanischen Philologie, Methodenlehre 3 15. Dsa was ich als "subjektiven Sinn" bezeichne, ist eine der "okkasionellen Wortbedeutungen". Andererseits ist die "usuelle" Wortbedeutung auch nur ein Spezialfall der vielen möglichen "objektiven Wortbedeutungen".
    55) SCHAFFRATH, a. a. O., Seite 2, meint, daß die Feststellung des subjektiven Sinns "erklären" genannt wird, "auslegen" geht nur auf die sprachübliche Bedeutung. Daß man darauf kommt, was der Erklärende gedacht und gewollt hat, sei "nicht Zweck der Auslegung, sondern nur Zufall".
    56) Die Theorie der juristischen Auslegung von DANZ beruth auf der Ansicht, daß die Auslegung des gewöhnlichen Lebens "darauf  abzielt,  den Sinn, die Bedeutung von Willenserklärungen, insbesondere von Worten, festzustellen". (Einführung, Seite 29 und öfter). Unter "Sinn" und "Bedeutung" wird dabei  die  Vorstellung verstanden, welche die  Allgemeinheit  dem Wortzeichen beilegt. (Richterrecht, Seite 185. DANZ verwechselt meines Erachtens das  Mittel  mit dem  Zweck.  Dies tritt deutlich darin hervor, daß bei der Verabredung einer Geheimsprache beiden Parteien den Worten eine andere Vorstellung beilegen als allgemein üblich ist. Wäre die Feststellung der  Sprachüblichkeit  das Endziel, so würde eine Deutung der Geheimsprache keine Deutung sein.
    57) KOHLER, Lehrbuch, Seite 123, sagt ganz allgemein: "Auslegen heißt: Sinn und Bedeutung ermitteln; es heißt nicht Sinn und Bedeutung dessen ermitteln, was jemand sagen will, sondern Sinn und Bedeutung dessen, was gesagt wird." - Die Antithese ist nicht ganz scharf. Das erste Glied müßte lauten: "es heißt nicht ermitteln,  was  jemand sagen will".
    58) Vgl. den Abschnitt: "Gegensätze innerhalb der Interpretationsmethode" in K. von AMIRA und mein Buch über des Sachsenspiegel", Seite 65f. Die übrigen, dort gegebenen methodologischen Ausführungen werden durch das Fallenlassen dieser Kategorie nicht berührt.
    59) ERDMANN (oben Anm. 47) weist sehr zutreffend darauf hin, daß die ältere Logik die Abhängigkeit der Wortbedeutung vom Zusammenhang in der besonderen Lehre von den  Suppositionen  systematisch behandelt hat (a. a. O., Seite 66). Wir könnten wohl "Supposition" als "Voraussetzung" wiedergeben.
    60) Dagegen werden sie für die Gesetzesauslegung von neueren Forschern zum Prinzip erhoben. Vgl. § 18, Nr. 9.
    61) Wenn eine schlagende Korporation beschließt, daß die "Füchse" dann und dann "fechten" sollen, so wird kein Kenner akademischer Verhältnisse daran denken, den Beschluß nach dem Sprachgebrauch der Handwerksburschen auszulegen oder nach dem der Zoologie.
    62) Das Gefühlsmäßige der Deutung wird namentlich von RUMPF betont, weil es bei den tatsächliche Feststellungen des Richters in den Vordergrund tritt. Eine völlige Ausschaltung wird sich auch bei Schriftstücken nicht immer erreichen lassen. Das Laternengleichnis,  Rechtsgewinnung Seite 10, kann auch für die Vollziehung historischer Erkenntnis zutreffen. Sollte aber RUMPF meinen, daß bei jeder Deutung menschlicher Erklärungen ein irrationales Element hineinspielt, so könnte ich dem nicht zustimmen. Zumindest bei schriftlichen Erklärungen ist das gefühlsmäßige Element nur der Niederschlag gemachter Erfahrungen und kann deshalb verstandesmäßiger Kontrolle in vollem Umfang zugänglich sein.
    63) Vgl. über die Einwirkung des Gefühls bei der richterlichen Fallentscheidung unten § 10, Nr. 10; § 12, Nr. 4; § 16, Nr. 11
    64) Vgl. die Erörterung über den Gesetzeswortlaut in § 12.
    65) Eine Ausnahme würde vorliegen, wenn eine Inschrift oder eine Urkunde, von der nichts weiter bekannt ist, in einer dem Interpreten vertrauten Sprache vorliegt.
    66) Vgl. über den objektiven Begriff des reinen Wortsinns § 4, Nr. 5.
    67) Die Doppelfunktion gilt natürlich auch für Anhaltspunkte anderer Art. Die größere Bestimmtheit des kombinierten Wortsinns gegenüber dem reinen beruth nur auf der negativen Funktion nicht sprachlicher Anhaltspunkte.
    68) Vgl. in dieser Richtung die Untersuchungen RICKERTs, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, zweite Auflage, 1913. Dazu Heinrich Maier, Das geschichtliche Erkennen, 1914.
    69) Vgl. RICKERT, a. a. O., Seite 521f
    70) Vgl. die Polemik von RUMPF I, Seite 290f gegen die juristische Verwendung des psychologischen Handlungsbegriffs. Auch die Polemik bei KELSEN (Anm. 4) Seite 97f ist berechtigt, wenn auch der Ersatzbegriff infolge der eigentümliche Endziele KELSENs für die praktische Rechtswissenschaft nicht verwendbar ist.
    71) Vgl. die Lehre vom Versprechen, Begreifen usw.
    72) Vgl. den Inhaltsirrtum des § 119 BGB.
    73) Unzutreffen würde es für uns sein, die Inhaltsdeutung als "objektiv" und die Motivdeutung als "subjektiv" zu bezeichnen. Inhaltsdeutung und Motivdeutung sind beides Feststellungen des subjektiven Sinns. Auch der Inhalt der unmittelbar in Worten wiedergegebenen Gedanken kann ein ganz anderer sein, als der dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechende (Geheimsprache). Eine nähere Beziehung der Inhaltsdeutung zu einem "objektiven Sprachsinn" (§ 4, Nr. 5) besteht nur insoweit, als der Sprachgebrauch oft dazu ausreicht, den Inhalt einer Äußerung zu erkennen, während für die Erkenntnis der Motive weiter Hilfsmittel erforderlich sind.
    74) Bewußtseinsmöglichkeiten, latente Vorstellungen und Wertungen, Vorstellungsdispositionen. Vgl. HEINRICH MAIER (Anm. 29) Seite 79f und öfter; ELSENHANS (Anm. 49), Seite 171f.
    75) WUNDT, Ethik I, Seite 274f; II Seite 52, 98f; Logik III, Seite 281, 396.
    76) Der objektive Sinn einer Erklärung gehört zu den "unwirklichen Sinngebilden" nach der Terminologie RICKERTs. (vgl. Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, zweite Auflage, Seite 516f) Eine Auseinandersetzung mit der "reinen" oder "a priori" Bedeutung der phänomenologischen Forschung (HUSSERL, SCHELER, REINACH u. a.) ist an dieser Stelle nicht möglich. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß eine "a priori Bedeutung" etwas anderes sein sollte als die subjektive Vorstellung, die der Forscher mit dem Wort oder dem Satz verbindet, wenn er sich der Wirkung des Sprachgefühls hingibt (Einstellung).
    77) Eine nähere Erörterung dieser Differenzen ist für unsere Zwecke entbehrlich.
    78) Die Vorstellungsdispositionen sind natürliche historische Wirklichkeit. Aber der Reizvorgang, der sie weckt, beschränkt sich nicht auf die Wahrnehmungen des Worts, sondern es treten fast immer andere Wahrnehmungen hinzu, welche mit der Sprachdisposition kombiniert werden. Der Worteindruck, der sich vollzieht, ist im Alltagsleben wie inder Wissenschaft in der Regel ein  "kombinierter Wortsinn". 
    79) vgl. ERDMANN, Die Bedeutung des Wortes (Anm. 59)
    80) vgl. oben Seite 33
    81) Eine unterschriebene und dem Empfänger zugehende Tratte hat für den Rechtsunkundigen den objektiven Sinn einer Zahlungsanweisung, für den Rechtskundigen den Sinn einer Zahlungsgarantie. Aufgrund einer Abred kann der Wechsel noch eine dritte interne Geheimbedeutung haben, die im Verhältnis zu den subjektiven Vorstellungen des Absenders als objektive Bedeutung zu bezeichnen ist.
    82) Darauf hat ERICH KAUFMANN (Anm. 2, 1914) Seite 86 hingewiesen, allerdings mit in der Hauptsache abweichender Begründung. Vgl. unten Anm. 137.
    83) Auch bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen hat der Empfänger die Willensfrage zu stellen und im Wege der historischen Vorstellungsforschung zu beantworten. Die Feststellung des objektiven Sinns hat auch auf diesem Gebiet heuristische oder kritische Bedeutung.