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GEORG SIMMEL
(1858 - 1918)
Die Probleme
der Geschichtsphilosophie


"Alle Rechtsbildung setzt die Erwünschtheit eines bestimmten Zustandes voraus. Daß die menschlichen Verhältnisse die Erreichung eines solchen nur durch festgesetzte Normen und durch Strafbestimmungen für deren Übertretungen ermöglichen, ist ein sehr allgemeines Apriori, das eine gewisse Gestaltung, d. h. Verbindung vorgefundener Vorstellungen, zur Folge hat. Allein diese Verbindungsform zur Bildung von Gesetzen ist doch nicht so allgemein, wie etwa die Kausalverbindung zwischen psychischer Motivierung und äußerlicher Handlung, die gleichfalls, für die Rechtsbildung erforderlich, zwischen den Erscheinungen gestiftet, aber nicht unmittelbar aus ihnen abgelesen werden kann. Andererseits aber ist das Apriori, das die Rechtsform überhaupt bildet, wieder ein allgemeines gegenüber den Voraussetzungen, aus denen die Rechtsfindung im einzelnen hervorgeht. So bewirkt z. B. der Grundsatz, daß dem Kläger der Beweis obliegt, oder die verschiedene Geltung des Gewohnheitsrechts eine Formung der Tatsachen zum Zweck der Erkenntnis, was Rechtens sei - eine Formung, die im tatsächlichen Material selbst nicht liegt, sondern erst eine Deutung an ihm vollzieht."

Vorwort

Den Gegenstand dieses Buches bildet das Problem: wie aus dem Stoff der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen. Es will zeigen, daß diese Umbildung eine radikalere ist, als das naive Bewußtsein anzunehmen pflegt. Damit wird es zu einer Kritik des historischen Realismus, für den die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen "wie es wirklich war" bedeutet; er scheint damit keinen geringeren Irrtum zu begehen als der künstlerische Realismus, der die Wirklichkeit abzuschreiben meint, ohne zu bemerken, wie völlig schon dieses "Abschreiben" die Inhalte der Realität stilisiert. Während der Natur gegenüber die formende Macht des erkennenden Geistes allgemein anerkannt wird, kommt sie an der Geschichte offenbar schwerer zu Bewußtsein, weil deren Material schon Geist ist; wenn dieses sich zur Geschichte weiterbildet, heben sich die dazu wirksamen Kategorien, ihre generelle Selbständigkeit, der Gehorsam des Stoffes gegen ihre Forderungen, nicht ebenso deutlich wie im Falle der Naturwissenschaft vom Stoff selbst ab. Es handelt sich also um das - nicht im einzelnen, sondern nur prinzipiell festzustellen - Apriori des geschichtlichen Erkennens. Dem historischen Realismus gegenüber, für den das Geschehen sich ohne weiteres und höchstens mit quantitativer Zusammendrängung in der Historik reproduziert, soll das Recht erwiesen werden, im Kantischen Sinn zu fragen: Wie ist Geschichte möglich? -

Der Weltanschauungswert der Antwort, die KANT auf  seine  Frage: wie ist Natur möglich? - gegeben hat, liegt in der Freiheit, die das Ich damit gegenüber aller bloßen Natur gewonnen hat; indem es die Natur als seine Vorstellung produziert und die allgemeinen naturbildenden Gesetze nichts anderes sind als die Formen unseres Geistes, ist das natürliche Dasein dem souveränen Ich unterworfen. Freilich nicht seiner Willkür und deren individuellen Schwankungen, sondern seinem  Sein  und dessen Notwendigkeiten, die aber nicht aus einer ihm äußerliche Gesetzgebung stammen, sondern sein unmittelbares Leben ausmachen. Damit ist von den zwei Vergewaltigungen, die den modernen Menschen bedrohen: durch die Natur und durch die Geschichte, die eine aufgehoben. Beide scheinen die freie, sich selbst gehörende Persönlichkeit zu ersticken, die eine, weil ihr Mechanismus die Seele demselben blinden Zwang unterwarf, wie den fallenden Stein und den sprießenden Halm, die andere, weil sie die Seele zu einem bloßen Schnittpunkt sozialer, durch die Geschichte hin sich spinnender Fäden machte und ihre ganze Produktivität in ein Verwalten der Gattungserbschaft auflöste. Über jener Naturgefangenheit unseres empirischen Daseins steht seit KANT die Autonomie des Geistes: das Bewußtseinsbild der Natur, die Begreiflichkeit ihrer Kräfte, das, was sie für die Seele sein kann, ist die Leistung der Seele selbst. Nun aber hat die Fesselung des Ich durch die Natur, vom Geist gesprengt, sich in eine solche durch den Geist selbst transformiert: indem die Persönlichkeit sich in die Geschichte auflöste, die doch die Geschichte des Geistes ist, schien die Notwendigkeit und Übergewalt, von dieser ihr gegenüber geübt, doch noch immer Freiheit zu sein - in Wirklichkeit aber ist auch die Geschichte als ein Gegebenes, als eine Realität, als eine überpersönliche Macht keine geringere Vergewaltigung des Ich durch ein Außer-ihm. Die Verführung für Freiheit zu halten, was in Wirklichkeit Bindung durch ein Fremdes ist, wirkt hier nur viel subtiler, weil, was uns hier bindet, des gleichen substantiellen Wesens mit uns ist. Der Befreiung, die KANT vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus. Vielleicht gelingt sie der gleichen Erkenntniskritik: daß der Geist auch das Bild des  geistigen Daseins,  das wir Geschichte nennen, durch die nur ihm, dem erkennenden, eigenen Kategorien souverän formt. Den Menschen, der erkannt wird, machen Natur und Geschichte: aber der Mensch, der erkennt, macht Natur und Geschichte. Die bewußtwerdende Form all der geistigen Wirklichkeit, die als Geschichte jegliches Ich aus sich hervorgehen läßt, ist selbst aus dem formenden Ich hervorgegangen, dem Strom des Werdens, in dem der Geist sich erblickt, hat er selbst seine Ufer und seinen Wellenrhthmus vorgezeichnet und ihn erst damit zur "Geschichte" gemacht. Die Freiheit des Geistes, die formende Produktivität ist, gegenüber dem Historismus auf demselben Weg zu wahren, den KANT der Natur gegenüber eingeschlagen hat, ist die universelle Tendenz, der sich die Besonderheit der folgenden Untersuchungen einordnet. -

Nachdem die zweite Auflage dieses Buches der ersten gegenüber eine der Tendenz wie der Ausführung nach neue Arbeit geworden war, hat diese dritte in der Hauptsache nichts geändert. Aber neben manchen Korrekturen im Einzelnen hat sie eine Reihe von Zusätzen erfahren; deren Absicht ist nicht sowohl eine Verbreiterung des Prinzips über immer mehr Oberflächenerscheinungen, als umgekehrt: die einzelnen Reflexionen und Beobachtungen in immer tieferen Schichten mit der Einheit des philosophischen Grundes zu verknüpfen.



Erstes Kapitel
Von den inneren Bedingungen
der Geschichtsforschung

Wenn Erkenntnistheorie überhaupt von der Tatsache ausgeht, daß das Erkennen ein Vorstellen und sein Subjkt eine Seele ist, so wird die Theorie des historischen Erkennens weiter dadurch bestimmt, daß auch sein  Gegenstand  das Vorstellen, Wollen und Fühlen von Persönlichkeiten, daß seine Objekte Seelen sind. Alle äußeren Vorgänge, politische und soziale, wirtschaftliche und religiöse, rechtliche und technische würden uns weder interessant noch verständlich sein, wenn sie nicht aus Seelenbewegungen hervorgingen und Seelenbewegungen hervorriefen. Soll die Geschichte nicht ein Marionettenspiel sein, so ist sie die Geschichte psychischer Vorgänge, und alle äußeren Ereignisse, die sie schildet, sind nichts als die Brücken zwischen Impulsen und Willensakten einerseits und Gefühlsreflexen andererseits, die durch jene äußeren Geschehnisse ausgelöst werden. Daran ändern auch die Versuche nichts, das historische Geschehen in seinen besonderen Ausgestaltungen auf physikalische Bedingungen zurückzuleiten. Die Beschaffenheit von Boden und Klima würde für den Lauf der Geschichte so gleichgültig bleiben, wie Boden und Klima des Sirius, wenn sie nicht direkt und indirekt die psychologische Verfassung der Völker beeinflußte. So scheint der  seelenhafte  Charakter der Historik ihr das Ideal vorzuschreiben, eine angewandte Psychologie zu sein, so daß sie sich, wenn es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft gäbe, zu dieser verhalten würde wie Astronomie zur Mathematik.

Demgegenüber meldet sich nun sogleich die Schwierigkeit: daß Gesetze nur das Allgemeine an den Gegenständen des Erkennens zu erfassen vermögen, weil sie besagen, daß an jeder Erscheinung, die bestimmte Voraussetzungen erfüllt, bestimmte Erfolge eintreten - völlig unabhängig von der Individualität dieser Erscheinung. Geschichte aber hat es mindestens teilweise - ob mehr als teilweise, steht jetzt nicht zur Erörterung - mit dem Individuellen zu tun, mit schlechthin einmaligen Persönlichkeiten. Es erscheint als ein nicht nur utopisches, sondern direkt fehlgehendes Bemühen, ein geschichtliches Individuum als den bloßen Treffpunkt allgemeiner psychologischer Gesetze verstehen zu wollen, die, nur in anderer Kombination, auch irgendein anderes Individuum ergeben, wie es doch das Verhältnis differenter physikalischer Erscheinungen sein kann. Vielleicht aber ist dieser Gegensatz nicht unauflöslich. Die Relationen, deren Formulierung wir Naturgesetze nennen, treten immer nur an einem Substrat in Erscheinung, das eine gegebene Tatsache ist, d. h. dessen Existenz nicht selbst wieder aus einem Naturgesetz hergeleitet werden kann. Selbst wenn man sich eine Vollendung der Naturwissenschaften denkt, die alle qualitative Unterschiedlichkeit der Körper als die aus Gesetzen herzuleitenden Modifikationen eines immer gleichen Grundstoffs erkennt, so würden wir diesen letzteren zwar als qualitätslos bezeichnen, weil für die Praxis des Erkennens Qualität immer nur als Unterschied gegen andere Qualitäten einen Sinn hat. Genau genommen aber muß doch auch dieser primäre Stoff irgendwie "beschaffen" sein, um gerade diesen Gesetzen die Möglichkeit des Inkrafttretens zu gewähren, und es wäre noch immer ein andersartiger denkbar, der denselben Komplex von Gesetzen gültig werden und mit ihm eine ganz andere Welt entstehen ließe. Dieser unauflösliche Rest, unter dessen Voraussetzung und bis zu dem als Grenze hin die Naturgesetze erst die Auflösung der unmittelbaren materiellen Erscheinungen vollbringen können, besteht nun vielleicht in ganz derselben Art auf seelischem Gebiet; nur daß es hier nicht für alle Erscheinungsreihen ein und derselbe ist, sondern für jede ein besonderer. Wie die Materie gewisse erste Bestimmtheiten mit sich bringt, die der Körperwelt gleichsam als einem Gesamtindividuum eignen und der Allgemeinheit ihrer Gesetze keineswegs widersprechen, sondern gerade die tatsächliche Wirksamkeit dieser ermöglichen - so könnte jede Seele eine ursprüngliche Qualität besitzen, die ebensowenig eine gesetzmäßige Modifikation eines primäreren Gegebenen ist; unter der Voraussetzung dieser würden nun erst die allgemeinen, für jede Seele gleichmäßig gültigen Gesetze in Kraft treten und die empirischen psychischen Erscheinungen erzeugen. Diese würden so, unbeschadet der Allgemeinheit der  Gesetze ersichtlich bei jedem Individuum verschieden sein können, würden aber damit jedes  einzelne  nur zu einem Analogon der  ganzen  Körperwelt machen. So mag unbezweifelt bleiben, daß dieselben Gesetze der Verbindung und der Reproduktion der Vorstellungen, der Unterschiedsempfindlichkeit und der Willensentfaltung, der Apperzeption und der Suggestibilität an NERO und BUDDHA, an RAFAEL und BISMARCK gültig waren. Aber diese Gesetze brauchen, um nicht ohne Angriffspunkt in der Luft zu schweben, einen von ihnen selbst nicht gebildeten, sondern vorgefundenen Stoff, gleichsam ihr reales Apriori. Und die Beschaffenheit dieses entscheidet ersichtlich über das sich ergebende Gebilde. Gewiß reicht unsere Fähigkeit, die Struktur des Seelischen jenseits der unmittelbaren Bewußtseinsinhalte zu erkennen, nur zu einer ganz tastenden Symbolik aus, vielleicht auch deshalb, weil die dazu verfügbaren Kategorien für ganz andersartige Erkenntnisinhalte gebildet sind. Immerhin scheint mir diese Betrachtung des Einzeldaseins nach den allgemeinen Gesetzen, die dies und jedes andere beherrschen, auf der einen Seite, und dem rein faktischen Stoff, der sozusagen die Auswahl, Kombination, Maß und Art der Wirksamkeit jener Gesetze bestimmt, auf der andern - die Betrachtung des Daseins nach diesen beiden Kategorien scheint mir logisch zulässig; und sie ermöglicht, die Geltung psychologischer Gesetze mit der Einzigkeit der historischen Individuen zu vereinen. Was die materielle Natur, wenn sie vollendet wäre, uns in einer einzigen Ausgestaltung bieten würde: die Besonderheit eines Stoffes, der als ursprüngliche Tatsache den allgemeinen Gesetzen ihre Geltungswirklichkeiten ermöglicht und bestimmt - dies würde sich in der seelischen Natur in unbegrenzt häufigen Abwandlungen wiederholen. Die Geschichte bliebe immer eine "Anwendung" psychologischer Gesetze von unbedingter Allgemeinheit, aber das Material, das nie aus dem Gesetz selber zu gewinnen ist, weil es vielmehr Bedingung seiner Verwirklichung ist, wäre unendlich mannigfaltig und würde also Realitäten von unvergleichbarer und unreduzierbarer Individualität ergeben müssen.

Bevor ich die psychologische Tatsächlichkeit als die Substanz der Geschichte weiter verfolge, muß das methodische Verhältnis zwischen Psychologie und Geschichte vorläufig festgelegt werden. Daß alle Vorgänge, die uns in einem hergebrachten Sinn des Historischen interessieren, seelische Vorgänge sind, ist unleugbar. Auch Vorgänge an der Materie, wie die Erbauung der Peterskirche oder die Bohrung des Gotthardtunnels interessieren den Historiker ausschließlich als Investierungen seelischer Ereignisse, bzw. als Durchgangspunkte von willensmäßigen, intellektuellen oder Gefühlsreihen. Allein das Interesse an einem psychischen Vorgang ist noch kein psychologisches Interesse. Für die Psychologie ist ein Vorgang wesentlich, bloß weil er seelisch ist; an seinen  Inhalt,  den die seelische Energie trägt, als solchen knüpft sie kein Interesse. Natürlich kennen wir den Prozeß nur an den im Bewußtsein vorhandenen oder vorhanden gewesenen Inhalten, allein vom Gesichtspunkt des Psychologen aus fällt der Ton auf die Dynamik dieses Kommens und Gehens, der Inhalt wäre ihm gleichgültig, wenn er etwa von dieser Realisierung oder Produzierung durch die seelischen Energien ablösbar wäre - wie es allerdings innerhalb der logischen, fachwissenschaftlichen oder metaphysischen Betrachtungen geschieht, die eben deshalb den Gegenpol der Psychologie bilden. Für die Historie handelt es sich nicht sowohl um die  Entwicklung  der psychologischen Inhalte, als um die psychologische Entwicklung der  Inhalte;  da für sie jeder Inhalt an einer bestimmten Zeitstelle fixiert ist, so hat natürlich der Prozeß, der ihn gerade an dieser hervortreten und begreiflich werden läßt, die größte Bedeutung - aber doch nicht an und für sich, sondern weil er der Produzent dieser, die historische Reihe ausmachenden Sachgehalte des praktischen oder intellektuellen, des religiösen oder des künstlerischen Bewußtseins ist. Die Geschichte ist so gewissermaßen ein Mittleres zwischen der logischen, der reinen Sachbetrachtung unserer seelischen Inhalte - und der Psychologie, der rein dynamischen Betrachtung der seelischen Bewegungen von Inhalten. Ihr kommt es auf den Sachgehalt in seiner seelischen Bewegtheit und Entwicklung an. Jede dieser Wissenschaften stellt die Einheit des seelischen Seins und Werdens, die wir unmittelbar nur erleben, aber nicht greifen können in eine besonders akzentuierende Beleuchtung. Wir zerlegen jene Einheit, um sie intellektuell zu behandeln, in Prozeß und Inhalt, und die wissenschaftliche Arbeitsteilung kreiert die Psychologie, um den Prozeß und seine - in irgendeinem Sinne vorhandene - Gesetzlichkeit zu konstruieren, die Wissenschaften der Logik und der gegenständlichen Begrifflichkeit, um die Inhalte in Abstraktion von ihrem seelischen Realisierungsprozeß zu untersuchen, die Historie endlich, - der, wie sich zeigen wird, ihre Objekte nur durch irgendeine sachliche Wichtigkeit und Bedeutsamkeit bestimmt werden - verfolgt die um einer solchen Wesentlichkeit willen ausgewählten Inhalte in der Entwicklung, in der der seelische Prozeß sie realisiert.

In welche wissenschaftliche Kategorie aber auch die Erkenntnis jener Innerlichkeit der historischen Vorgänge gehören mag - die Tatsache, daß sie für alle Schilderung ihrer Äußerlichkeit den Ausgangspunkt und den Zielpunkt gibt, fordert nun eine Reihe besonderer Voraussetzungen, die die Erkenntnistheorie der Historik darzustellen hat.

KANT hat der formenden seelischen Aktivität, gegenüber allem gegebenen "Stoff" des Vorstellens, ein unerhört erweitertes Machtgebiet zugewiesen. Alle Erkenntnis, die nach der naiven Meinung von den Dingen her in uns, die passiv Aufnehmenden, hinüberstrahlte, erwies er als eine Funktion des Verstandes, der also durch seine a priori mitgebrachten Formen den ganzen Wissensinhalt gestalte. Allein diese formale Erweiterung kann leicht zu einer sachlichen Einengung werden, wenn man vergißt, daß die geistigen Funktionen, die KANT als das Apriori des Erkennens beschreibt, ausschließlich für das bestehende  naturwissenschaftliche  Erkennen gelten sollen. Es ist sehr fraglich, ob nicht die Erfahrung von  seelischen  Dingen nur unter apriorischen Voraussetzungen "möglich ist", die im Kantischen System fehlen, ob nicht z. B. die Kausalität, durch die wir das Eintreten einer Vorstellung als den Erfolg einer anderen begreifen, von der Verursachung einer physischen Bewegung durch eine andere prinzipiell verschieden ist. Viel wesentlicher aber ist es, einzusehen, daß das Kantische Apriori, das "Erfahrung überhaupt möglich macht", nur die äußerste Stufe einer Reihe ist, deren niedere tief in die Einzelgebiete der Erfahrung hinunterreichen. Sätze, die, gleichsam von oben gesehen, empirisch sind, d. h. eine Anwendung der allgemeinsten Denkformen auf spezielles Material darstellen, können für ganze Provinzen des Erkennens als Apriori funktionieren. Sie wirken als Verbindungsformen, jenem eigentümlichen Vermögen des Geistes dienstbar, das jeden gegebenen Inhalt durch die Art, ihn anzuordnen, zu stimmen und zu betonen, in die mannigfaltigsten definitiven Gestalten gießen kann. Diese Verbindungen, die, in Satzform ausgesprochen, als apriorische Voraussetzungen erscheinen, bleiben in dem Maße unbewußt, in dem sich überhaupt das Bewußtsein mehr auf das Gegebene, relativ Äußerliche, als auf seine eigene innerliche Funktion richtet. Dadurch, daß sie sich den verschiedensten Inhalten in immer gleicher Weise darbieten, durch ihre Existenz von jeher wie durch ihre endemische Allgemeinheit, erzeugen sie jene Gewöhnung an sich, die das Bewußtsein darüber wie über ein absolut Selbstverständliches weggleiten läßt. Auch hier gilt, daß dasjenige, was in der rationalen Ordnung der Dinge das erste ist - die Erkentnisfunktion des Geistes - für unsere Beachtung und Beobachtung das letzte ist. Wie weit sich aber diese unbewußte Herrschaft der Verbindungsformen über das Tatsachenmaterial ausdehnt, das hat KANT wegen seiner scharfen Trennung des Apriori von allem Empirischen nicht in vollem Umfang erkannt; wobei diese Trennung als Methode, Prinzip, Kategorie völlig aufrecht erhalten bleibt und die Diskussion nur die  Inhalte  betrifft, die die als apriorisch bezeichneten Funktionen üben; von ihnen dürfte sich zeigen, daß sie für die speziellen Wissenszweige auch dann noch die volle Formungskraft des Apriori haben, wenn sie, von den höheren aus gesehen, die die Kantische Untersuchung allein in Betracht zieht, schon empirisch sind.

Indem wir heute die Erfahrung sich viel höher hinauf erstrecken lassen, als er es tat, erstreckt sich uns das Apriori viel tiefer hinunter. Dem Inhalt und der Praxis - freilich nicht der Systematik der Kategorien - nach bestehen allmählichste Übergänge zwischen den allgemeinsten, jedem Material zugänglichen und über jede Einzelerfahrung erhobenen Formen und den speziellen, selbst empirisch gewonnenen und als Apriori nur für gewisse Inhalte anwendbaren, also etwa zwischen dem Kausalgesetz oder der Zusammenschließung des Gleichen an verschiedenen Gegenständen zu einem Begriff einerseits und den methodischen oder sonstigen Voraussetzungen für ein besonderes Lebensgebiet, für eine besondere Wissenschaft andererseits. Alle Rechtsbildung z. B. setzt die Erwünschtheit eines bestimmten Zustandes voraus. Daß die menschlichen Verhältnisse die Erreichung eines solchen nur durch festgesetzte Normen und durch Strafbestimmungen für deren Übertretungen ermöglichen, ist ein sehr allgemeines Apriori, das eine gewisse Gestaltung, d. h. Verbindung vorgefundener Vorstellungen, zur Folge hat. Allein diese Verbindungsform zur Bildung von Gesetzen ist doch nicht so allgemein, wie etwa die Kausalverbindung zwischen psychischer Motivierung und äußerlicher Handlung, die gleichfalls, für die Rechtsbildung erforderlich, zwischen den Erscheinungen gestiftet, aber nicht unmittelbar aus ihnen abgelesen werden kann. Andererseits aber ist das Apriori, das die Rechtsform überhaupt bildet, wieder ein allgemeines gegenüber den Voraussetzungen, aus denen die Rechtsfindung im einzelnen hervorgeht. So bewirkt z. B. der Grundsatz, daß dem Kläger der Beweis obliegt, oder die verschiedene Geltung des Gewohnheitsrechts eine Formung der Tatsachen zum Zweck der Erkenntnis, was Rechtens sei - eine Formung, die im tatsächlichen Material selbst nicht liegt, sondern erst eine Deutung an ihm vollzieht.

Aller Verkehr der Menschen ruht in jedem Augenblick auf der Voraussetzung, daß gewissen physischen Bewegungen jedes Individuums - Gesten, Mienen, Lauten - seelische Vorgänge intellektueller, gefühls- oder willensmäßiger Art zugrunde liegen. Wie wir das Innere nur durch Analogie des Äußeren verstehen, was die Sprache schon andeutet, wenn sie alle seelischen Vorgänge durch Worte zu bezeichnen pflegt, die aus der Welt der äußeren Anschauung genommen sind, so verstehen wir andererseits das Äußere der Menschen nur nach unterlegten Innerlichkeiten. Die dazu gehörige Mischung von Erfahrung und spontaner Weiterführung derselben ist leicht durchschaubar: die Erfahrung am eigenen Ich zeigt uns die Verknüpfung der inneren Vorgänge mit ihren Äußerungen, infolgedessen wir aus dem gleichen, an anderen beobachteten Vorgang auf ein dem unseren analoges seelisches Ereignis schließen. Daß das Seelenleben der anderen Menschen, zunächst insoweit es mit ihren Sichtbarkeiten verknüpft ist, dem eigenen entspricht, muß für immer eine Hypothese bleiben, und diese ist, ihrer Funktion nach, ein Apriori aller praktischen und Erkenntnisbeziehung zwischen einem Subjekt und anderen Subjekten. Denn wollte man sagen: die Erfahrung erst überzeugte uns von der Richtigkeit dieser Annahme, indem wir jederzeit diejenige äußere Handlungsweise, die wir auf diesem Weg vermuten, eintreten sehen, - so würde man sich im Kreis drehen. Denn einerseits würden wir zu einer solchen Vermutung nie kommen, wenn nicht jene Gleichheit schon vorausgesetzt würde, und andererseits führt alle Erfahrung als solche nur zu immer größerer Sicherheit, auf bestimmte  Äußerungen  eines Anderen immer bestimmte andere folgen zu sehen: das Mittelglied des seelischen Vorgangs, das diese an jene knüpft, kann seinem Wesen nach niemals erfahren werden. Und nun deuten wir nicht nur das einzelne wahrgenommene Handeln oder Reden durch eine entsprechende psychische Grundlage, sondern wir konstruieren eine im Prinzip ununterbrochene seelische Reihe mit unzähligen Gliedern, die gar kein unmittelbares Gegenbild im Äußeren haben, legen unter diese Reihe oder diese vielen Reihen noch einen Gesamtcharakter der Persönlichkeit, interpretieren äußerlich gleiche Vorgänge durch sehr mannigfaltige, oft einander entgegengesetzte psychische, und keineswegs nur, wo wir Lüge und Verstellung vermuten. Ohne diese weiteren psychologischen Voraussetzungen, durch die wir die primären, an die unmittelbaren Wahrnehmungen geknüpften, vervollständigen, wäre die Handlung jedes Anderen für uns nichts als eine sinn- und zusammenhanglose Zusammenwürfelung sprunghafter Impulse.

Wenn man von apriorischen Vorstellungen spricht, haftet man leicht am Gedankeninhalt derselben, der in der kompletten Erfahrung wie koordiniert neben dem Inhalt des sinnlich Gegebenen steht, und übersieht, daß das Apriori, in Satzform ausgesprochen, nur die Formulierung innerer Energien ist, die an jenem gegebenen sinnlichen Material die Formung zur Erkenntnis vollziehen. Das Apriori spielt eine dynamische Rolle in unserem Vorstellen, es ist eine reale Funktion, die in ihrem schließlichen objektiven Resultat, der Erkenntnis, investiert oder kristallisiert ist; seine Bedeutung erschöpft sich nich im logischen Inhalt der Begriffe, in denen es nachträglich ausdrückbar ist, sondern in seiner Wirksamkeit für das Zustandekommen unserer Erkenntniswelt. (1) In diesem Sinne ist es ein apriorischer Satz, daß die Seele eines jeden Anderen für uns eine Einheit ist, d. h. einen verständlichen Zusammenhang von Vorgängen darstellt, durch welchen oder als welchen wir ihn  erkennen.  Die Funktion, die diesem Begriff entspricht, bewirkt jene Ergänzung der hinter den Sichtbarkeiten gelegenen psychischen Tatsachen; aber sie greift auch darüber hinaus, indem wir selbst das  Äußere  so ergänzen, wie der einmal angenommene innerliche Zusammenhang ergibt. Man kann wohl behaupten, daß kaum ein Berichterstatter uns von der mitangesehenen Entwicklung eines Ereignisses genau das erzählt, was er gesehen hat. Jede gerichtliche Zeugenvernehmung, jede Erzählung von einem Straßenauflauf bestätigt das. Mit dem besten Bestreben, bei der Wahrheit zu bleiben, setzt der Erzähler zum unmittelbar Geschehenen Glieder hinzu, die das Ereignis in dem Sinne vervollständigen, den er aus dem wirklich Gegebenen herausgelesen hat - wie ja auch der Hörer, nach dem Maß  seiner  Erfahrung und der durch sie bestimmten Phantasie, immer mehr im Geiste sehen muß, als ihm tatsächlich gesagt wird. Die Sinnesphysiologie hat uns unzählige Fälle nachgewiesen, in denen wir an einzelnen Objekten und Bewegungen die fragmentarischen Eindrücke der Sinne unbewußt so ergänzen, wie unsere bisherigen Erfahrungen es verlangen. Bei zusammengesetzten Ereignissen ist dies genau das Gleiche, und zwar wird die äußerliche Ergänzung im wesentlichen durch psychischen Annahmen bestimmt, durch die Erfahrungen über Kontinuität und Entwicklung des Seelenlebens, über die Korrelation unter seinen Energien, über den Ablauf der teleologischen Prozesse. All das wird nicht nur auf Anregung durch die äußeren Verhältnisse hin vorausgesetzt, sondern, nachdem es vorausgesetzt ist, weren die äußeren Ereignisse soweit ergänzt, daß sie nun auch, gemessen an den Erfahrungsgesetzen über den Zusammenhang des Inneren mit dem Äußeren, eine den inneren Vorgängen ununterbrochen parallele Reihe ergeben. Gerade diese spontane Ergänzung des Äußerlichen ist einer der stärksten Beweise dafür, daß auch das Innerliche nicht einfach aus den Tatsachen abgelesen, sondern aufgrund allgemeiner Voraussetzungen zu ihnen hinzugebracht wird. In den alltäglichen Angelegenheiten haben wir allerdings hinreichende Gelegenheit, die Richtigkeit jenes Apriori und der besonderen Schlüsse, in denen es sich ausgestaltet, nachzuprüfen, indem unserem daraufhin eintretenden Handeln das vorausberechnete äußere Verhalten des Anderen wirklich ausnahmslos antwortet. Allein für höhere und kompliziertere Seelenvorgäne fallen diese Schlüsse sofort ins Ungewisse, führen zu unzähligen Irrtümern und zeigen eben damit, daß sie auch in jenen unzweideutigeren Fällen doch nur Voraussetzungen sind, die ihre Sicherheit ihrer Brauchbarkeit für Erkennen und Handeln, aber nicht einer logischen Notwendigkeit verdanken, die sie aus dem wirklich Gegebenen rational hervorgehen ließe.

Vollständiger und einflußreicher als in irgendeiner anderen Wissenschaft wiederholen sich diese Voraussetzungen des täglichen Lebens in der Geschichtsforschung, die sie freilich durchgehends ungeprüft und unmethodisch aufnimmt. Schon wenn jene Interpretationen und Ergänzungen so selbstverständlich wären, daß jede äußere Tatsache sich unweigerlich und völlig eindeutig unter die für sie passende rangierte, würde die Feststellung derselben eine bedeutsame Aufgabe sein. Sie gewinnt aber an Feinheit und Schwierigkeit außerordentlich dadurch, daß wir an das gleiche innere Ereignis manchmal ganz verschiedene äußere Folgen geknüpft sehen. Dies ist uns nur durch eine Verschiedenheit der seelischen Begleitungen oder Folgen jenes ersten Ereignisses verständlich, das demgemäß bald unter die eine, bald unter die andere ganz entgegengesetze psychologische Norm gebracht werden muß. Zum Beispiel erzählt SYBEL (Geschichte der Revolutionszeit II, Seite 364) vom Verhältnis des Wohlfahrtsausschusses zu den Hebertisten im Jahre 1793: "Sie (die Hebertisten) waren bisher mit ROBESPIERRE vortrefflich ausgekommen, weil dieser sich auf ihre Kräfte gestützt und folglich ihre Wünsche befördert hatte. Aber was sie von nun an unwiderruflich trennte, war der einfache Umstand, daß ROBESPIERRE der Lenker der höchsten Staatsgewalt geworden war, die Hebertisten aber in einer untergeordneten Stellung geblieben waren." Die äußerlichen Tatsachen: ROBESPIERRE befördert die Wünsche der Hebertisten; sie schließen sich an ihn an; jetzt gewinnt er die herrschende Stellung; sie fallen von ihm ab - diese Tatsachen bilden nach den untergelegten psychologischen Voraussetzungen eine durchaus verständliche Reihe. Und doch sind diese Voraussetzungen keineswegs so zwingend und unzweideutig, wie sie zunächst scheinen. Daß man durch das Befördern der Wünsche von jemandem, durch ihm erzeigte Guttaten seine Zuneigung und praktische Hingebung erwirbt, kommt oft genug vor, aber doch auch das Gegenteil. So wird uns aus den blutigen Geschlechterfehden des Trecento [Vorrenaissance - wp] von einem vornehmen Ravenaten [ital. Stamm - wp] erzählt, der seine gesamten Feinde in einem Haus zusammen hatte und sie ohne weiteres umbringen konnte; statt dies zu tun, entließ er sie und beschenkte sie noch reichlich. Darauf wären sie mit verdoppelter Gewalt und List gegen ihn vorgegangen und hätten nicht geruht, bis sie ihn vernichtet hatten - und zwar, wie hinzugesetzt wird, weil die Beschämung über die ihnen geschehene Wohltat sie nicht hätte ruhen lassen. Auch hier ist uns die Reihe der äußeren Ereignisse durchaus verständlich, indem wir als psychologische Voraussetzung und Vermittlung eben jene Depression des Persönlichkeitsgefühls ergänzen, die so oft die Wohltat zum nagenden Wurm im Empfangenden und ihn zum Feind des Wohltäters macht. Für unseren Zweck ist es gleichgültig, ob etwa im vorliegenden Beispiel direkte Aussagen der Beteiligten überliefert sind, die dem Historiker die eigene psychologische Konstruktion erspart; denn nicht nur, daß er sie gegenüber den unzähligen Berichten bloß äußeren Geschehens doch nicht entbehren kann, so würde auch jene unmittelbare Überlieferung doch nur akzeptieren, wenn er die eine und die andere psychologische Verfassung als eine mögliche kennt und sie vermöge einer eigenen mitgebrachten Erfahrung nachkonstruieren kann. Weiter verstehen wir, daß die Erhöhung ROBESPIERREs zum Regierungshaupt feindselige Handlungen der Hebertisten gegen ihn zur Folge hatte, doch nur daraus, daß sie Haß und Eifersucht bei diesen erweckte. Allein wir würden auch den Bericht des entgegengesetzten Erfolges ohne weiteres als wahrscheinlich hinnehmen; daß die volle Entfaltung der mächtigen Persönlichkeit ROBESPIERREs, die dominierende Stellung, zu der er gelangte, jedes Widerstreben der Partei auch innerlich gebrochen habe, daß sie in der Erkenntnis, nichts dagegen zu vermögen, sich wenigstens durch Fügsamkeit und Unterordnung irgendein Maß von Mitherrschaft hätte erhalten wollen - ein Verhalten, das wir aus vorausgesetzten psychologischen Normen völlig verstehen, wenn es uns etwa vom römischen Senat in der Epoche der Militärdiktatur berichtet wird. Wir beruhigen uns in dem einen Fall damit, daß die Wohltat, oder die Erlangung der Herrschaft einen anschließenden, im anderen Fall, daß sie einen ausschließenden psychischen Effekt hatte, ohne in ihr selbst als äußerlicher Tat den Grund dieser Verschiedenheit aufzufinden. Vielmehr werden wir über die psychologische Verfassung, die zwischen beiden entschied, erst durch das folgende Ereignis belehrt, das aber doch seinerseits erst durch die Annahme eben jenes vorangehenden Seelenaffektes verständlich wird.

Über demokratische Verfassungen, deren Regierung in kürzeren Perioden wählbar ist und nur zwischen zwei Hauptparteien schwankt, hört man, der Mißbrauch der Macht seitens der gerade herrschenden sei dadurch ausgeschlossen, daß sie demnächst selbst die unterdrückte zu sein und die Revanche der anderen zu empfinden fürchten müsse. Dennoch zeigt diese Situation in Wirklichkeit ebenso oft die rücksichtsloseste und unbedachteste Ausnutzung der momentanen Herrschaft. Um diese Verschiedenheit des Erfolgs bei Gleichheit des äußeren Faktors zu erklären, wird man auf die Verschiedenheit des inneren zurückgreifen: der "Charakter" der Persönlichkeiten oder Parteien bestimme eben je nach seiner Verschiedenheit, ob sich der eine oder der entgegengesetzte Erfolg entwickelt. Allein dieses "Charakters", was er auch ansich sei, kann die Erkenntnis jedenfalls nur durch seine Äußerungen habhaft werden. Die seelische Veranlassung der Differenz ist niemals unmittelbar zu ergreifen, sondern bleibt immer eine der tatsächlichen Erscheinung untergebaute Hypothese; aber sie zeigt ihre Notwendigkeit für das Verständnis der Erscheinungen darin, daß die offenbare Unvermeidlichkeit, sie aus diesen erst zu erschließen und allen ihren Widersprüchen gehorsam nachzugehen - an ihrer Anwendung und Zulänglichkeit gar nicht irre macht.

Ich führe noch ein Beispiel an. KNAPP ("Die Landarbeiter", Seite 82) sagt über die russischen Agrarzustände nach der Aufhebung der Leibeigenschaft: "Die Bauern verpflichteten sich, gegen Lohn dem Grundherrn soundsoviel Dienste zu leisten. Das taten die Bauern sehr ungern, denn der veränderte Rechtsgrund tröstet den Bauern nicht über den Fortbestand der Tatsache, daß er für den Gutsherrn arbeitet; und dem Gutsherrn war damit auch nicht viel geholfen, denn der nun ausbedungene statt erzwungene Bauerndienst wurde schlecht geleistet, trotz der Bezahlung." Die erste Begründung setzt als selbstverständlich oder wenigstens nicht weiterer Diskussion bedürftig voraus, daß die Gefühlsfolge eines bestimmten Zustandes sich nicht ändert, solange er äußerlich der gleiche bleibt, auch wenn das innere Moment ganz geändert ist, das ihm ursprünglich jene Gefühlsfolge verschaffte. Die zweite läßt es wie etwas völlig Klares erscheinen, daß der Bauer, über den man nicht mehr die volle herrschaftliche Gewalt hatte, sondern mit dem man paktieren muß, schlechter als früher arbeitet. Zeigten etwa die Tatsachen, daß die ökonomischen Erträge in Rußland nach 1864 stetig zugenommen hätten, so würden genau entgegengesetzte psychologische Gründe Ursache und Wirkung nicht weniger plausibel verknüpft haben: man hätte ohne weiteres eingesehen, daß gerade nicht das äußere Tun, sondern die ethische Grundlage und das Motiv, aus dem es geschieht, darüber entscheidet, ob mit Lust und Liebe oder mit entgegengesetzten Gefühlen gearbeitet wird. Und bezüglich der Erzwingung des Bauerndienstes hören wir umgekehrt aus Preußen vor der Aufhebung der Leibeigenschaft die stete Klage, daß die Fronarbeit die schlechteste, lässigste und gewissenloseste sei. (2) Ohne solche Beispiele, die sich in jedem Geschichtswerk unaufhörlich wiederholen, zu einem billigen und ungerechten Skeptizismus gegen die psychologische Deutung überhaupt zu mißbrauchen, sollen die Unterschiede möglicher Interpretation gerade darauf aufmerksam machen, daß man diese nicht als einen immer gleichen und deshalb zu vernachlässigenden Faktor behandeln kann. Am wichtigsten aber treten diese Voraussetzungen und die Bedeutung der Wahl unter ihnen in den unzähligen Fällen hervor, in denen die äußeren Taten nicht zweifelsfrei und eindeutig überliefert sind, vielmehr ihre Feststellung und Anordnung von der psychologischen Wahrscheinlichkeit abhängt. Und selbst in den sichersten Fällen ist es nicht "die einfache Tatsache", die über die Verständlichkeit der Folge entscheidet, sondern die mitgebrachte psychologische Obersätze, zu denen "die einfache Tatsache" als Untersatz tritt, um das weitere Ereignis als ein mögliches und verständliches erscheinen zu lassen. Und die sichtbaren Handlungen der Menschen subintelligiert [unterschiebt - wp] man solche unsichtbaren Zwecke und Gefühle, die erforderlich sind, um jene Handlungen in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen. Dürften wir über das wirklich konstatierbare Material der Geschichte nicht hinausgehen, so wäre es mit der Herstellung irgendeiner Entwicklung, mit dem Begreifen irgendeiner Einzelheit aus einer anderen schlimm bestellt. HELMHOLTZ hat einmal ausgesprochen, daß der Beweis des Kausalgesetzes ein sehr schwacher wäre, wenn er aus der Erfahrung gezogen werden sollte; die Fälle seiner lückenlosen Beweisbarkeit seien selten im Verhältnis zu der ungeheuren Anzahl derer, die sich der vollkommenen ursächlichen Einsicht noch entzögen. Gilt dies schon für die Vorgänge der unterpsychischen Natur, so muß der Beweis der Kausalität aus der strkten Erfahrung heraus da noch viel seltener werden, wo sich das verwickelte und dunkle Glied der Gehirnvorgänge zwischen die sichtbaren Vorgänge schiebt, nach deren ursächlicher Verbindung miteinander gefragt wird. Unter der Voraussetzung des - hier nicht diskutierten - psychologischen Parallelismus würden wir eine vollkommene Einsicht offenbar dann haben, wenn wir die äußerlichen und körperlichen Einflüsse und Umsetzungen, die zwischen den einzelnen Taten einer historischen Persönlichkeit liegen, völlig durchschauten und außerdem den psychischen Wert jedes in dieser Reihe befindlichen zerebralen Vorgangs kennten. Da dies aber ein unerreichbares, wenn nicht gar widerspruchsvolles Ideal ist, so helfen wir uns eben damit, daß wir wenigstens psychische Vorgänge unter und zwischen die äußerlichen Vorgänge schieben.

Der hypothetische Charakter, denn alle Erklärung des äußeren geschichtlichen Geschehens dadurch besitzt, daß sie nur auf psychologischem Weg möglich ist - zeigt sich nicht nur am angebbaren Inhalt der Bewußtseinsvorgänge und der gleichen Wahrscheinlichkeit, die völlig entgegengesetzen Vermutungen über sie erwerbbar ist. Die Vieldeutigkeit beginnt vielmehr schon an der Frage, wo denn überhaupt Bewußtsein das sichtbare Sich-Ereignen fundamentiert und wo dies aus nicht bewußten Kräften heraus verläuft. Besonders in den Bewegungen der Massen sehen wir unzähliges Bedeutsames, Charakteristisches, Zweckmäßiges - oder auch Unzweckmäßiges - geschehen, dessen bewußte Motivierung durchaus zweifelhaft ist. Das ganze Rätsel der unbewußten Geistigkeit rollt sich auf: es geschehen äußere Handlungen, genau denen analog, die sonst von bewußtem Überlegen und Wollen getragen sind, jetzt aber ohne Möglichkeit, solches Bewußtsein aufzufinden; daraus schließen wir, daß dieselben geistigen Motive auch diesmal wirksam gewesen sind, nur in der Form der Unbewußtheit. Die unbewußte Motivierung ist tatsächlich nur der Ausdruck dafür, daß uns die wirklich wirksame unbekannt ist; sie bedeutet nur, daß eine bewußte nicht vorliegt; und daß wir dieses rein Negative, Ausschließende, zu etwas Positivem machen, das bloß Nicht-Bewußte zu etwas Unbewußtem, das eine bestimmte Form des Geistigen sei - das ist eine Erschleichung, das entspricht nur dem Bedürfnis, die leere Kausalstelle innerhalb des menschlichen Handelns mit einem geistigen Motiv auszufüllen. Das Leben der Gruppen scheint gewisse Bestandteile zu enthalten, die den Instinkt- und Reflexbewegungen des Individuums entsprechen. Wir hören von der Tendenz mancher Volksstämme, unwiderstehlich um sich zu greifen und wie aus einem Trieb physischen Wachstums heraus ihre Grenzen unaufhaltsam weiter und weiter zu rücken; von einem dunklen Drang der deutschen Völker nach Italien wird gesprochen wie vom Instinkt der Zugvögel, die völlig unbewußte Antriebe in bestimmte Himmelsrichtungen führen. Wie weit der Erklärungsversuch hier zu bewußten Überlegungen greif oder zu jenen problematischen unbewußten Zweckmäßigkeiten oder zu einer Art organischen Prozeß, der den rein physisch veranlaßten Innervationen [Nervenimpulse - wp] gleicht - das wird wohl für immer eine Sache der persönlichen Interpretation bleiben. Mindestens einer der Gründe, weshalb das Grenzgebiet zwischen bewußten und nichtbewußten Erscheinungen ein so schwankendes ist und entgegengesetzten Deutungen gleichmäßig Raum gibt, liegt in der eigentümlichen Gegenbewegung innerhalb der Geistesgeschichte: daß ehemals bewußte Handlungen allmählich das Bewußtsein ausschalten und rein mechanisch ausgeübt werden - wie der Klavierspieler die zuerst bewußt gesuchte Taste schließlich durch einen festgewordenen Assoziationsmechaniscmus trifft, den das Notenbild ohne jedes dazwischentretende Bewußtsein erregt - und daß, umgekehrt, ursprünglich mechanisch Getanes ein wachsendes Bewußtsein erwirbt - wie die Blindheit der Instinkte höheren Normen und klaren Überlegungen Platz macht. Wenn also z. B. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit eine Gruppe zu mehrfacher Kriegführung veranlaßt haben, so kann sich daraus eine kriegerische Tendenz entwickeln, bei deren späteren Äußerungen man im Bewußtsein der Handelnden vergeblich nach dem zureichenden Zweck suchen würde. Oder, die Unterworfenheit und Servilität eines Standes unter einen anderen mag aus ganz bewußten Ursachen entstanden sein; haben diese eine Zeit lang bestanden, so darf man das Bewußtsein der Individuen nicht mehr um Auskunft nach dem Zweck des einzelnen einschlägigen Verhaltens fragen, das durch einen formal verwandten Reiz in reflektorischer Weise eingetreten ist. Es ist offenbar, welchen Irrtümern die naive Voraussetzung unterliegt, die die sinnvolle Verbindung zwischen den Handlungen der Einzelnen oder der Gruppen ohne weiteres in bewußten psychischen Vorgängen sucht, aus deren teleologischem Charakter jene entsprängen.

Die andere Wegerichtung bedarf keiner Beispiele. Steigende Kultur ist allgemein steigendes Bewußtsein, Absicht statt des Instinktes, Überlegung statt der Preisgegebenheit an mechanische Einflüsse, Gefühlsreaktion statt stumpfer Ergebenheit. Die Entwicklung eines einzelnen historischen Inhalts mag sich oft als eine Kurve aus beiden Richtungen darstellen: ursprünglich instinktive Verhaltensweisen mögen zu klarem Bewußtsein aufgestiegen und dann wieder zu rein mechanischer Ausübung gesunken sein - wie etwa Kunstübungen zuerst bloß triebmäßig erfolgen und dann zu einer bewußten Technik ausgebildet werden, die aber für den Meister nach langer Übung etwas ganz instinktives und ohne weitere Überlegung angewandtes wird.

Die beiden Tendenzen begegnen sich zweifellos oft im einzelnen Stadium einer Gruppenentwicklung und lassen es dadurch zu einer objektiven Bestimmung, welches Maß von Bewußtsein und an welchem Punkt es ihr innewohne, nicht kommen. Die Entscheidung darüber wird vielfach von der prinzipiellen Meinung abhängen, ob die Bewegungen einer Gruppe auf eine Summe individueller Vorgänge oder auf einen überindividuellen Gesamtgeist zurückgehen, ob einzelne führende Persönlichkeiten die eigentlichen Träger der Aktion sind oder ob die undifferenzierte Menge aus eigenen Impulsen heraus handelt. Wenn die Motivationen individuell zu sein scheinen, der wird ein entschiedeneres Bewußtsein hinter die äußerlichen Geschehnisse setzen, als wer die Gesamtheiten als die einheitlichen Subjekte dieser behauptet. Indem man die großen Männer als "das Bewußtsein ihrer Zeit" bezeichnet hat, kommt dieser Unterschied zu Wort. Ein ganz anderes Verstehen der nüchternen Tatsachen, deshalb auch, bei mangelhafter Überlieferung, ganz andere Interpolationen und Vermutungen werden sich ergeben, je nachdem man die klare Geistigkeit der Individuen oder das dumpfe Getriebenwerden der Massen als die Innenseite der Ereignisse konstruiert. Neben diesem Gegensatz zur bewußten Individualität bietet sich für die Deutung der Geschichte noch ein anderer dar: die unpersönlichen Mächte, die sich teils als Ursachen, teils als Wirkungen mit den Handlungen und Zuständen der Persönlichkeiten verflechten. Recht und Sitte, Sprache und Denkart, Kultur und Verkehrsform entstehen freilich nicht ohne die bewußte Tätigkeit einzelner; allein der Zusammenschluß der Beiträge, das Zustandekommen der sozialen Form, die dieses individuelle Material annimmt, fällt nicht mehr in das Bewußtsein des einzelnen Arbeiters. Er sucht im Zusammensein mit anderen den besten Ausdruck für Zuneigung und Zurückhaltung, Gleichgültigkeit und Interesse und erfindet damit Teile der gesellschaftlichen Verkehrsformen; sein religiöses Bedürfnis drängt ihn zu Worten und Handlungen, in denen er die sicherste Brücke zum göttlichen Prinzip zu finden glaubt - und er baut damit am Gebäude des Kultus; er sucht sich durch gewisse Vorsichtsmaßregeln in der Geschäftsführung gegen Übervorteilung zu schützen und gründet damit die allgemeinen Handelsusancen [-bräuche / wp]. Vor jeder Handlung des Eigeninteresses, die nicht schlechthin destruktiv ist, von jeglicher Beziehung zwischen Menschen bleibt gewissermaßen als caput mortuum [wertloses Überbleibsel - wp] ein Beitrag für die Formung des öffentlichen Geistes zurück, nachdem ihre Wirkungen durch tausend feine, dem Einzelbewußtsein entzogene Kanäle hindurch destilliert worden sind. Für das Gewebe des sozialen Lebens gilt es ganz besonders: Was er webt, das weiß kein Weber. Denn ur unter zweckbewußten Wesen können die höheren sozialen Gebilde entstehen; allein sie entstehen sozusagen  neben  dem Zweckbewußtsein der Einzelnen, durch eine Formierung, die in diesem selbst nicht liegt. So aber zustande gekommen,  wirken  sie auf den Einzelnen, er findet sie als geistige Gebilde vor, die eine ideelle Existenz besitzen, jenseits des Bewußtseins der Einzelnen und unabhängig von ihm, ein bereitliegender Allgemeinbesitz, von dem beliebig viele Teile für sich nutzbar machen kann. Dabei ist es durchaus Sache der Auffassung, die man für diese eigentümliche historische Kategorie hat, ob und inwieweit man sie im Bewußtsein der Einzelnen, von dem sie anbängen und das von ihnen abhängt, aufgehen lassen will. Diese Entscheidungsschwierigkeiten und Unsicherheiten der Bewußtseinsanteile steigern sich, sobald die überpersönlichen Gebilde mit eigenen Bewegungs- und Entwicklungsenergien ausgestattet erscheinen. Die Lehre von den wirtschaftlichen Produktivkräften, die die jeweiligen Produktionsformen entweder adäquat erfüllen oder überwachen und sprengen, setzt über das Wissen und Wollen der Individuen die Verhältnisse rein sachlicher Potenzen; neue Gesellschaftsformen ergäben sich in völliger Unabhängigkeit vom Bewußtsein und den Bestrebungen ihrer Träger, die den Prozeß erleichtern oder erschweren, aber niemals erzwingen oder verhindern können. Wenn also die Sklavenwirtschaft in die Feudalwirtschaft und diese in die Lohnarbeit übergegangen ist und sich aus der letzteren der Sozialismus "entwickeln" wird, so sind die erklärenden Ursachen dieser Wandlungen nicht im Bewußtsein der Subjekte zu suchen, sondern in den sozusagen logischen Folgen der jeweiligen wirtschaftlichen Technik, der durch diese entwickelten Produktivkräfte und der Gesellschaftsverfassung, in der sich jene mit mechanischer Notwendigkeit ausdrücken. Hier ist also das Bewußtsein völlig ausgeschaltet, das auf anderen und spezielleren Gebieten, zwischen die äußeren Ereignisse geschoben, diese überhaupt erst begreiflich macht. Die tatsächlichen Geschichtsauffassungen pflegen von beiderlei Deutungsarten in unsicher begrenztem Maße Gebrauch zu machen: schon das bloße Quantum des Bewußtseins hinter den sichtbaren Ereignissen ist also durchaus streitig und die Kardinalfrage aller historischen Erklärung bleibt so den instinktiven oder dogmatischen Voraussetzungen der Interpreten überlassen. Eine beschreibende Erkenntnistheorie der Geschichte hätte nun festzustellen, in welchen Fällen und in welchem Umfang überhaupt von einem Bewußtsein als Erklärungsprinzip Gebrauch gemacht wird, wo auf dasselbe zugunsten dunkler Instinkte oder unbewußter Zweckmäßigkeit oder der selbstgenügsamen Verkettung bloß äußerer Geschehnisse verzichtet wird; wie das eine und das andere aus der allgemeinen Weltanschauung hervorgeht; inwiewiet endlich dem typischen Erklärungsbedürfnis durch das eine oder das andere sowohl prinzipiell wie in besonderen Problemen gegenüber genügt wird.
LITERATUR Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie [eine erkenntnistheoretische Studie] Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Das Apriori hat freilich noch eine ganz andersartige erkenntnistheoretische Rolle, die jenseits allen Seins und Werdens liegt: als die ideelle Form der rein auf ihren Inhalt angesehenen Erkenntnis; aber von dieser Bedeutung seiner ist augenblicklich nicht die Rede.
    2) Es lohnt sich, aus der Struktur unseres Erkennens wenigstens ein einzelnes Moment zur Erklärung dieser Erscheinungen herauszuheben. Daß die gegebene Konstellation in jedem individuellen Fall ihren Erfolg notwendig macht, ist eine unvermeidliche Voraussetzung unseres Erkennens. Wenn ihre identische Wiederkehr dennoch ein verschiedenes Resultat zu zeitigen scheint, so kann das nur so geschehen, daß eine dennoch vorhandene Verschiedenheit der verursachenden Bedingungen sich unserem Blick entzogen hat. Und zwar ist der Grund davon, daß wir das eigentlich Individuelle der wirksamen seelischen Elemente - nach Nuance, Quantität, Art der Zusammenwirkung - gar nicht oder nur sehr unvollkommen begrifflich erfassen und bezeichnen können. Mit den gleichen Allgemeinbegriffen: Liebe und Haß, Machtgefühl und Depression, Intelligenz und Willenskraft, Egoismus und Hingebung und vielen anderen benennen wir in sehr roher Weise Erscheinungen von der größten tatsächlichen Verschiedenheit, wobei letztere dann in der Weiterentwicklung der Konstellation zu sehr deutlicher Wirksamkeit gelangt. Ein einfachstes Beispiel ist die völlig verschiedene, ja direkt gegensätzliche Wirkung ein und derselben seelischen Energie je nach der Quantität, in der sie auftritt. Von der Liebe etwa wissen wir, daß sie einmal durch die Trennung on ihrem Gegenstand erlischt, ein anderesmal durch ebendieselbe gerade zur heftigsten Leidenschaft entwickelt wird. Der Grund dieses Unterschiedes dürfte nur sein, daß die von vornherein vorhandene Gefühlsenergie im ersteren Fall viel schwächer als im zweiten ist. Es gibt wahrscheinlich in der Quantitätsreihe derselben eine Schwelle, mit deren Erreichung der Erfolg einer Trennung ebenso in sein Gegenteil umschlägt, wie entsprechende Schwellen unserer Sinnesempfindungen den Wechsel von Lust und Schmerz an rein quantitative Reizänderungen knüpfen. Für die Bestimmtheiten solcher Gefühlsquantitäten aber haben wir kein auch nur annäherndes Maß und Ausdruck, sondern bleiben auf ihre, gegen ihr Quantitatives ganz gleichgültigen Allgemeinbegriffe beschränkt, so daß wir Erscheinungen von ganz verschiedener Wirklichkeit und Wirksamkeit unvermeidlich mit den gleichen Namen bezeichnen und dadurch der Schein entsteht, daß es gleiche Ursachen wären, die so verschiedene Wirkungen erzeugten. Vielleicht aber ist diese Unvollkommenheit - die sich wie auf die Erfassung der Quantität so auf die der individuellen Akzente, Färbungen, mitschwebenden Assoziationen bezieht - nicht ohne tiefere Begründung. Sie besagt vielleicht, daß wir das rein Individuelle an einem psychischen Vorgang überhaupt nicht in die Form der wissenschaftlichen, begrifflich vermittelten Erkenntnis bringen können, ja, daß sie überhaupt dem bloßen Erkennen als solchem nicht zugänglich ist; wir können das Seelische vielleicht überhaupt nur so weit wissenschaftlich verstehend nachbilden, wie ein allgemein Menschliches (zumindest relativ allgemeines) in ihm lebt, nämlich dasjenige, was dem Erkennenden und seinem Gegenstand gemeinsam ist - wobei diese Gemeinsamkeit natürlich noch nicht Ursache und Bürgschaft des richtigen Erkennens, sondern nur eine seiner Bedingungen ist. Die Beschränkung auf den allgemeinen Begriff, der jenseits aller individuellen Mannigfaltigkeit steht, wäre formal insofern der durchaus angemessene Ausdruck für das, was die Erkenntnis ihrem Wesen nach inhaltlich leisten kann.