ra-2P. TillichJ. C. BluntschliBakunin    
 
ERNST TROELTSCH
(1865-1923)
Die Trennung von Staat und Kirche
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"Man darf nicht einwenden, daß alles heißt die freie Theologie zur Staatsreligion proklamieren. Denn es ist nur ein Religionsunterricht, und ihm fehlt zur Religion das Wesentliche, der Kultus. Der Kultus und der besondere dogmatische Unterricht verbleibt den Kirchen, denen wir dann ein neues Leben zutrauen dürfen und die nicht bloß ein Gegengewicht gegen diesen staatlichen Religionsunterricht bilden, sondern die ihre Wärme und ihre Kraft durch verschiedene Kanäle auch dem neuen Religionsunterricht und den interkonfessionellen, rein wissenschaftlichen Fakultäten zuführen würden. Auch würden sie für ihre Diener die theologischen Fakultäten nach wie vor gewiß vielfach benützen, nur ohne staatlichen Zwang und darum in segensreicherer Freiheit."


IV.

Solche Schwierigkeiten sind bei uns in Deutschland in dieser Weise unbekannt oder noch unbekannt. Hier herrscht das paritätisch-landeskirchliche System, das oben charakterisiert worden ist, zusammen mit einem fast völlig verstaatlichten und zentralisierten Unterrichtswesen, das die staatliche Selbständigkeit der Schule mit den kirchlichen Einflüssen prinzipiell auszugleichen gewußt hat. Das System ist ein Erzeugnis der besonderen deutschen Überlieferungen, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts - von Preussen abgesehen - die Einheitskirche und die Deckung des Staates und der Konfession rechtlich oder tatsächlich festgehalten hatten, und der politischen Umgestaltung infolge der napoleonischen Kriege wobei die Staaten ohne jede Rücksicht auf konfessionelle Verhältnisse und mit der damals üblichen Gleichgültigkeit dagegen neu zusammengesetzt wurden. Alle Staaten erhielten konfessionell gemischte Bevölkerungen. Da konnte nirgends mehr das Staats- und Gesellschaftsinteresse sich mit dem einer einzelnen Konfession decken und mußte daher ihnen allen mit einem neuen juristischen Aufbau der Kirchen und einer neuen Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche notwendig zugleich eine gewisse Selbständigkeit und Selbstverwaltung überlassen werden. Zugleich war von einem individualisierenden und staatliche von religiösen Interessen trennenden Geist der modernen Welt genug übrig, um diese Kirchen als gleichberechtigte individuelle Religionsgestaltungen zu würdigen und um das eigene innere religiöse Leben der Kirchen im wesentlichen sich selbst zu überlassen oder im Unterstützungsfall sie doch so zu unterstützen, wie sie von ihrem eigenen religiösen Prinzip es zu wünschen und zu fordern angewiesen waren. Andererseits war aber doch auch noch genug vom alten Zusammengehörigkeitsgefühl politisch-sozialer und religiöser Interessen übrig, was in großen Kämpfen der Freiheitskriege durch den Übergang von der Idee des bloßen Rechtsstaates zu dem mit allem geistigen Kulturinhalt erfüllten Kulturstaat nur sich stärkte und vertiefte, und war zugleich vom alten Souveränitätsgeist der Aufklärungspolitik mit ihrer Überwachung und Eingrenzung der Kirche noch genügend viel lebendig, daß der Staat sein ethisches Interesse mit dem den drei Konfessionen gemeinsam Christentum innerlich eng verschmolz und zugleich die Kirchen stark unter seiner Aufsicht hielt, ja sogar in den protestantischen Kirchen das landesherrliche Kirchenregiment neu betonte. Das Ergebnis von alldem ist das komplizierte System, das die alten Volkskirchen als staatlich privilegierte Kirchen gleichmäßig anerkennt, eng mit den eigensten Interessen des Staates verbindet, aber zugleicht doch ihnen eine vom Staat verschiedene, im religiösen Kern staatlich unantastbare Selbständigkeit gibt, deren Gefahren dann aber wieder durch ein Überwachungs- und Einschränkungssystem begegnet wird. Die religiösen Ideen werden vom Staat tatsächlich, wie in alter Zeit, als absolute und für alle verbindliche eingeschätzt, was vor allem in einer außerordentlichen sozialen Prämierung der Kirchenzugehörigkeit zum Ausdruck kommt. Aber die einzelnen Kirchen kann er als viele und stark verschiedene nicht zu Organen dieser seiner Religionspolitik direkt machen, er muß ihnen eine relative Schätzung und damit eine die Verantwortung für sich selbst tragende Selbständigkeit zuweisen; und sofern von dieser Selbständigkeit her dann wieder seiner allgemein religiös-ethischen Kulturpolitik Gefahren drohen, muß er mit seinen Kulturorganisationen und seinem Staatskirchenrecht dem wieder direkt und indirekt entgegenwirken. Es ist die oben charakterisierte Mischung absoluter und relativer Maßstäbe, deren Mischung dadurch so unauflöslich wird, daß der Staat seine absolute Schätzung des religiösen Elements doch wieder - von Streitfällen abgesehen - durch die nur relativ eingeschätzten, sehr verselbständigten Kirchen selbst größtenteils an seiner Stelle ausüben läßt. Das vom Kirchenrecht der Aufklärung auf die Einzelgemeinden angewandte Kollegialprinzip war doch im Grunde damit bloß auf die großen Kirchenkörper selbst übertragen und diese dem gewöhnlichen Korporationsrecht nur dadurch entnommen, daß sie um des in ihnen allen zusammen enthaltenen absouten Wertes willen als öffentlich-rechtliche Korporationen, als mit dem Staatszweck eng zusammenhängende Zweck-Korporationen, angesehen wurden. Seit 1848 entfalten sich mit der Demokratisierung unserer Staaten die auseinanderstrebenden Konsequenzen dieses Gedankens in steigendem Maße. (27)

Das ganze System ist nunmehr etwa hundert Jahre alt, und seine Wirkungen zeigten sich sofort. Die neugebildet katholische Kirche wurde, ganz abgesehen von Romantik und römisch-jesuitischer Zentralisierung, schon allein durch die Notwendigkeit einer neuen, relativ selbständigen Konsolidierung aufgrund der Parität und Toleranz zu einer zunehmenden Verstärkung ihrer Ausschließlichkeit und Herrschaftsansprüche getrieben. Nirgends läßt sich das deutlicher verfolgen als am jüngst dargestellten Leben des Würzburgers Weihbischof von ZIRKEL, der aus einer völlig Kantisierenden Dogmatik heraus zum Vertreter des strengsten Autoritäts-Katholizismus geworden ist. (28) Als dann als weiteres Mittel zu dieser Konsolidierung noch das allgemeine Wahlrecht und die Möglichkeit der Bildung einer katholisch-politischen Partei hinzukam, da stieg das verselbständigte Kirchentum auf dem Boden der paritätischen Toleranz immer stärker empor. Aber nicht viel anders ist es auch mit dem Protestantismus ergangen. Er - und das ist in Deutschland wesentlich das Luthertum - hatte, wie man etwas paradox aber richtig gesagt, eigentlich bis dahin überhaupt kein Kirchentum. Der Altprotestantismus hatte für die Thelogen nur die Predigt des Wortes, dessen Normierung nach reiner Lehre sie von den Regierungen erwirkten, und für die Gemeinden hin und wieder die Pfarrwahl und vermögensrechtliche Befugnisse behauptet; alles übrige und damit die ganze Organisation und Erhaltung und Überwachung, die Sorge für Einheit und Zusammenhang, überließ er der Obrigkeit als dem dazu berufenen christlichen Bruder, der dann auch Staat und Dienst am Wort als unauflösliche Einheit betrachtete. Als er relativistische, die individuelle Überzeugung hochschätzende und das politische Souveränitätsinteresse vom religiösen Innenleben trennende Geist der Aufklärung einzog, da hat er in Deutschland nicht wie in England und Amerika die Forderung der Trennung der Kirchenkörper vom Staat zur Folge gehabt, sondern die Verwandlung des bisher religiös begründeten Kirchenregiments des Staates in einer rein polizeilich und utilitarisch begründets und die Freigebung der Einzelgemeinden und Einzelprediger zu einer fast völligen Independenz, die sich vor allem in der Lehrfreiheit des Einzel-Geistlichen und in der Unterlassung jeder über das Bisherige hinausgehenden materiellen Unterstützung von Seiten des Staates kundgab. Die Kirchen wurden unter den modernen Gesichtspunkt des Vereinsrechts gestellt, und, da es bei der Identität des Staates und der Kirche eine geschlossene Gesamtkirche nicht gab, so kam diese vereinsrechtliche Theorie zur wirklichen Anwendung nur bei der Einzelgemeinde und auch da mit der charakteristischen Einschränkung, daß diese Vereine als das Regiment durch einen  tacitus consensus  [stillschweigende Zustimmung - wp] an den Staat abgebend betrachtet wurden. Durch diese Fiktion blieb die alte Lage ohne den alten Geist, und es herrschte die neue Theorie ohne die ihr natürlichen praktischen Folgen. Darüber fielen die Gemeinden vielfach in Verarmung und Verwilderung mit allen weiteren ungünstigen Folgen, weshalb gerade die Geistlichen an der großen Errungenschaft der Aufklärung, der Möglichkeit, die Religion aus dem neuen Geistesleben neu zu befruchten, nur einen bescheidenen Anteil nehmen konnten. Die große Zeit der Neuordnung aller Staatsverhältnisse am Beginn des 19. Jahrhunderts führte dann aber mit der Aufgabe einer Neubelebung des geistlichen Lebens und mit der Notwendigkeit, eine vom Staat unterschiedene evangelische Kirche neben der katholischen zu konstituieren, zur Gründung eines neuen Kirchenbaus. Dieser neue Kirchenbau ist naturgemäß zu einer Verselbständigung der so auf eigene Füße gestellten und zentralisierten protestantischen Kirche geworden, woraus auch hier die natürliche Folge einer doktrinellen und kultischen Uniformierung, einer Wiederbelebung der Autorität und der Ausschließlichkeit, sich ergab. Die aus dem Gegensatz gegen den Rationalismus entsprungene und eines tiefen inneren Rechts nicht entbehrende neue Gläubigkeit traf mit den naturgemäßen Wirkungen einer neuen Betonung des juristischen und organisatorischen Gedankens zusammen, und beides verstärkte sich gegenseitig, da die Grundlagen des neuen Kirchenrechts doch die alten Bekenntnisse gebliebe waren. Als diese so gefestigten Tendenzen vollends die Unterstützung die pietistischen Königs und Hofes unter FRIEDRICH WILHELM IV. erhielten, da wurden sie überall mit Gewalt zur Herrschaft geführt; und als dann bei der Demokratisierung des Staates der König als Staatsorgan vom König als Inhaber des protestantischen Kirchenregiments sich schied und damit die Kirche um ein weiteres gegen den Staat verselbständigt wurde, da hat auch die protestantische Kirche die demokratischen Mächte des parlamentarischen Stimmrechts - freilich zumeist im engen Bund mit der konservativen Partei - für sich verwenden gelernt. Das Ergebnis ist, daß auch die neugeschaffene, innerlich und äußerlich bedeutend gehobene, uniformierte und zentralisierte protestantische Kirche trotz aller, im landesherrlichen Kirchenregiment verbleibenden Staatsabhängigkeit eine vom Staat innerlich getrennte, machtvolle Organisation geworden ist, deren politischer Einfluß über ihren rein sozialen und menschlichen noch weit hinausgeht. (29)

Diese Verselbständigung der Kirchen hatte zum Ausgangspunkt die Selbständigkeit des Staates und seine Stellung gegenüber einer Mehrheit von Konfessionen. Und nun nahm bei uns der Staat, über den Staatsbegriff der Aufklärung hinausgehend, mit STEIN und HEGEL wieder die allgemeinen Kulturaufgaben in sich hinein, verstaatlichte und zentralisierte zum Ausdruck dessen vor allem sein ganzes Bildungswesen völlig bis fast zum Ausschluß der Privatschule. (30) Aber hierbei und bei der geschilderten Stellung der Kirchen zum Staat und des Staates zu den Kirchen versteht sich von selbst, daß nun doch dieses Bildungswesen nicht bloß aufs tiefste mit religiösen Elementen durchwoben ist, sondern daß der Staat auch diese religiösen Elemente überall nur im engsten Zusammenhang mit den Kirchen geltend machen kann und will. Die Schule soll nicht bloß Religionsunterricht, sondern auch religiösen Geist haben. Die Volksschule hat daher teils Religionsunterricht durch die hierzu im Seminar gebildeten Lehrer selbst, teils durch vom Staat beauftragte Geistliche; in der Schulaufsicht sind Geistliche mittätig und auf den ganzen Schulplan wie auf die Unterrichtsmittel üben die Kirchen teils direkten teils indirekten Einfluß aus bei aller im übrigen bestehenden rein schultechnischen Selbständigkeit der Unterrichtsverwaltung und modernen Pädagogik. Die Konsequenz davon ist in der tat die Konfessionsschule, wenn man wirklich ernsthaft eine kirchlichreligiöse Beeinflussung des Geistes der Schule will, oder auch die Simultanschule, wenn man die Konzessionen an die Kirche nicht weiter, als absolut notwendig, treiben und den Geist der Schule mehr im Sinn einer allgemeinen interkonfessionellen Religiosität oder auch der Indifferenz beeinflussen will. An den Mittelschulen hat der weitschichtige und geistig selbständige Unterrichtsstoff naturgemäß eine größere Unabhängigkeit gegenüber religiöser Beeinflussung, aber auch hier spielt nicht bloß der bald von kirchlich, bald von staatlich ausgebildeten Religionslehrern gegeben Religionsunterricht eine große Rolle, sondern auch die allgemeinen Fächer bieten vielfach Gelegenheit zur Forderung oder Betätigung von allerhand Einwirkung. Am wenigsten unterstehen die Hochschulen bei der verfassungsmäßigen Freiheit der Wissenschaft diesen Einflüssen, aber auch hier werden historische, philosophische und juristische Professuren nicht selten unter solchen Gesichtspunkten besetzt. Vor allem besteht hier als Kröung der staatlichen Fürsorge für religiöses Bildungswesen die theologische Fakultät, bei der Geistliche und höhere Religionslehrer ihre Ausbildung finden und die zugleich im Interesse des Staates den Kirchen die wissenschaftlichen, kultursteigernden und Toleranz wirkenden Einflüsse zuführen soll. Auf diese Fakultäten suchen nun aber auch die Kirchen einen möglichst starken Einfluß zu üben. Der Katholizismus hält sie in völliger Abhängigkeit von den Bischöfen, der Protestantismus versucht Kirchenbehörden und Synoden einen sei es faktischen sei es rechtlichen Einfluß darauf zu sichern und führt hier zu heißen Kämpfen mit den wissenschaftlichen Interessen und der Selbstbestimmung der Fakultäten wie der Unterrichtsministerien. (31)

Unter diesen Verhältnissen leben wir. Sie sind der Ertrag eines vielhundertjährigen Kampfes des Staates um die Kirchenhoheit, einer zweihunderjährigen Arbeit um gegenseitige Toleranz der Konfessionen auf dem gemeinsamen allgemeinchristlichen Boden und der durchgängigen Subjektivierung des religiösen Denkens selbst. Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht leugnen, daß wir im allgemeinen bei dem Prinzip, bei der Mischung der verschiedenen Hauptinteressen und Gedanken, uns leidlich wohl befinden, so wohl, als es bei der konfessionellen Gespaltenheit unseres Volkes eben überhaupt möglich ist. Diese Gespaltenheit selbst freilich ist der Geburtsfehler des neuen deutschen Reiches, den wir schwerlich je heilen werden und auf den es sich einzurichten gilt mit Gerechtigkeit gegen die Katholiken und mit möglichster Förderung freier Geistesbewegung und religiöser Selbständigkeit im Protestantismus. Dazu kommt ja auch noch die sonstige Uneinheitlichkeit unserer geistigen Kultur, die neben den Kirchen auch noch den Unchristen und Antireligiösen Luft und Raum zu schaffen genötigt. (32) All das leistet das System leidlich. Das Volk in seiner Masse weiß es nicht anders, als daß die Kirche - etwa noch mit der Schule - zu den öffentlichen Gewalten gehört und hat keinen Sinn für einen wesentlichen Unterschied unter ihnen. Die katholische Kirche hat bei dem System sich stets erträglich gut gestanden und weiß, daß ohne Zertrümmerung des modernen Staates, sie weiteres kaum erlangen kann; sie ist im ganzen bereit, hier auf die Lage einzugehen und benützt ihre weitergehenden Forderungen immer nur als Kampf- und Belebungsmittel. Der Protestantismus hat auf sein Zusammenfallen mit dem Staat und dem Staatsinteresse verzichten müssen und sich gleich der katholischen Kirche neben den Staat zu stellen lernen müssen. Allein er hat sein Kirchentum im Ansehen als eines besonderen Zweiges der göttlichen Stiftung, einer allgemeinen Volksanstalt und einer Gesamtheit von Wirkungen des Christusgeistes behauptet, in die jeder hineingeboren wird und in der jeder seine religiöse Heimat hat. Er ist nicht der sonst unvermeidlichen Zersplitterung preisgegeben. (33) Allerdings hat er mit dieser Behauptung dann freilich die Sachlage, daß unzählige seiner Glieder, von der modernen Ideenwelt bestimmt, seine offiziellen kirchlichen Grundlehren nicht mehr oder nur bedingt teilen. Aber da ist es gerade der zusammenhaltende und ausgleichende Einfluß des staatlichen Kirchenregiments, die mit der Wissenschaft versöhnende Wirkung der staatlichen theologischen Fakultäten und das ganze Interesse des Staates an einer gewissen Temperierung der religiösen Leidenschaften, das ihn zusammenhält und ihm die Existenz möglich macht; er kann so von den reichen, in seinem Schoß enthaltenen Gegensätzen eine starke Belebung und Anregung empfangen, ohne gesprengt zu werden. Er bleibt vom Staat als solche anerkannte Stiftung und Anstalt, die alle ihre Glieder umfaßt und von der sich niemand zu scheiden braucht, der es nicht ausdrücklich will. (34) Die lähmende, seinem Ansehen abträgliche und seine sozialen Energien hindernde Staatsabhängigkeit kann er innerhalb des Systems zu korrigieren suchen. (35) Erträglich abre ist der Zustand auch für alle gegen das Kirchentum Indifferenten und Feindseligen. Sie können völlig zu den Dissidenten übergehen oder sie können nach der Bekanntschaft mit diesen Dingen in den ersten Jugendjahren alles wieder vergessen und im übrigen von den Kirchen ungestört bleiben bis zur völligen Unkenntnis von allen kirchlichen Dingen, ja bis zum Vergessen der Existenz der Kirchen überhaupt, wovon die Zeitungspresse und das akademische Deutschland ja auch den reichlichsten Gebrauch machen. Wo aber aus dem System nach der einen oder anderen Seite beängstigende und bedrückende Wirkungen hervorgehen, wo staatlich Einrichtungen unter allzu starken kirchlichen Einfluß geraten oder kirchliche Interessen von der Unkirchlichkeit der Intellektuellen allzu stark berührt werden, da pflegt man darin Exzesse und Einseitigkeiten des Systems zu sehen, die vor allem die Regierung wieder auf ihre mittlere Linie zurückzubringen hat.

Gleichwohl aber hat das System schwere und sehr empfindliche Gebrechen, die seine Dauerhaftigkeit zweifelhaft machen. Überall macht gerade die Mischung staatskirchlicher und freikirchlicher Elemente, absolutistischer und relativistischer Wahrheitsideen, die in ihm steckt, das System unsicher und droht es zu sprengen. In erster Linie ist es die römische Kirche, die sich diese Doppelseitigkeit der Lage für ihre staatszerstörenden Interessen nutzbar macht. Sie fordert im Namen ihrer Absolutheit die staatliche Privilegierung als mindestes Zugeständnis an ihre eigentlich allein geltende und alles beherrschende Wahrheit und nützt diese Privilegierung überall aus. Aber andererseits verwertet sie die liberale Toleranzidee und die freikirchlichen Elemente des Systems, um im Namen der Freiheit das Gewährenlassen ihrer vollen Ansprüche zu erwirken, zu denen es nach ihren Grundsätzen nun einmal gehört, alle Lebensverhältnisse und Institutionen direkt oder indirekt dem geistlichen Einfluß zu unterwerfen. Sie fordert mit einem bekannten Wort in der Minorität nach den Prinzipien der Liberalen die Freiheit für sich, die sie in der Majorität nach ihren Prinzipien den Liberalen versagen müßte. Das neueste Dokument dieses Verfahrens ist der sogenannte Toleranzantrag, die Forderung eines Reichs-Religionsgesetzes das, wie die Denkschrift des Evangelischen Kirchenausschusses treffend sagt, der Kirche zu den Vorteilen der Privilegierung auch noch die des freien, an keine Staatskontrolle gebundenen Vereins verschaffen soll. Das aber ist in Wahrheit unmöglich und eine Auflösung unseres Staates und unserer Kultur. (36) Aus diesen Konflikten gibt es keinen Ausweg als eine wirkliche Trennung von Staat und Kirche derart, daß dabei die Kirche wirklich rein auf ihre religiösen Funktionen gesetzlich eingeschränkt würde, was ihr ansich ja auch, wie Amerika und in Europa das Beispiel BONOMELLIS zeigt, wohl möglich wäre. Von den Sätzen des Syllabus [Zusammenfassung - wp] geht ja schon der Toleranzantrag ab. (37) Andersartige aber nicht minder ernste Schwierigkeiten bestehen auf Seiten des Protestantismus. Seine Anhängerschaft ist so ungleichartig, daß er in der Tat nur mit den größten Schwierigkeiten zusammenzuhalten ist. Er hat offizielle ein Bekenntnis und eine Doktrin, die von Unzähligen nicht geteilt werden; (38) der Einfluß der modernen Wissenschaft hat seine Theologie stark zersetzt, auch wo seine Religiosität wesentlich übereinstimmend geblieben ist. Idealisten und fromme Gläubige wie SULZE werden immer wieder versuchen, ihn in praktischen ethisch-sozialen Aufgaben zu einigen und die theologischen Differenzen durch Betonung des rein Religiösen zu beseitigen oder zurückzudrängen. (39) In dieser Richtung arbeitet der beste Teil der Theologie und eine Schar begeisterter Geistlicher. Allein die Scheidung des Religiösen und Theologischen ist praktisch sehr schwer durchführbar, und die Independenz der Gemeinden, die der Protestantismus in dieser Lage entwickelt hat und faktisch fordert, stößt überall mit den rechtlichen Grundbestimmungen und den wesentlich orthodoxen Lehrgesetzen der großen Kirchenkörper in hartem Kampf zusammen. Es ist auch hier überall eine Mischung freikirchlicher, anstaltkirchlicher und staatskirchlicher Grundsätze. Vom Freikirchenstandpunt aus argumentiert die Orthodoxie, wenn sie modern gesinnte Pfarrer wegen Nichtübereinstimmung mit den Vereinsgrundsätzen zur Niederlegung der Ämter auffordert, während diese von anstaltskirchlichen Grundsätzen aus ihrerseits mit vollem Recht ihr Teilhaben am Geiste CHRISTI und Geisteserbe der Reformation behaupten und wie LUTHER nicht austreten, sondern die gemeinsame Kirche erneuern wollen. Umgekehrt urteilt dieselbe Orthodoxie vom anstaltskirchlichen Prinzip aus, wenn sie überall den Arm des Staates zur Beseitigung der Heterodoxie verlangt und zwar die liberalen Geistlichen zum Austritt nötigen, aber die Massen auch bei sehr unkirchlicher Gesinnung in der Kirche behalten will, da die Liebe hier Unterschiede ertragen und der Glaube eine endgültige Christianisierung hoffen müsse. Und der liberale Protestantismus, der über sein Heimatsrecht im Protestantismus aus anstaltskirchlichen Gründen gewiß ist, macht doch für die Lehrfreiheit des einzelnen Amtes wieder die Selbständigkeit der Gemeinde und das Recht der individuellen Gewissensüberzeugung gelten, deren Konsequenz dann aber doch die vereinskirchliche Independenz wäre. (40) Wie schwer vom letzteren Standpunkt aus dann die Einheit zu wahren und wie unentbehrlich doch auch von ihm aus eine Lehrgemeinsamkeit ist, hat plötzlich mit Schrecken die Bremer Kirchenrevolution gezeigt, wo KALTHOFF den Philosophen HÄCKEL und den Monistenbunde auf der Kanzel einsetzte und man den übrigen freigesinnten Theologen "religiösen Schwachsinn" vorwarf. (41) Allen diesen Schwierigkeiten entgeht eben doch nur die Trennung in gleichartigere Bestandteile, die zugleich notwendig eine Trennung vom Staat ist; denn die Naivität der Orthodoxie, von den Liberalen Austritt nach vereinskirchlichen Grundsätzen und für sich die Staats- und Gesellschaftsprivilegien nach staats- und anstaltskirchlichen Grundsätzen zu fordern, ist doch im Grunde nichts anderes als eben Naivität. Die freien Protestanten werden sich so leichten Kaufes nicht aus dem gemeinsamen Erbe hinauswerfen lassen, so lange es besteht, und werden keine Lust haben, sich selbst das Schicksal der Dissidenten zu bereiten. Schließlich aber wird die Forderung auch für die Unkirchlichen und außerkirchlichen Religiösen nicht zu umgehen sein. Denn sie können im Ernst doch nicht den Austritt der Gebildeten aus der Kirche fordern, um, dieselbe Kirche der Orthodoxie überlassend, damit der Orthodoxie zur Herrschaft über den Staat zu verhelfen, ganz abgesehen davon, daß sie fortfahren, für sie ihre Steuern zu bezahlen. Auch sie können nur Trennung von Staat und Kirche verlangen.

Alle diese Schwierigkeiten aber kehren verdoppelt wieder in den Schulkämpfen der deutschen Gegenwart. Hier ist es vor allem die Volksschule, die schwer darunter leidet. Eine widerwillig im konfessionellen Joch gehaltene Lehrerschaft, ein oft widerwillig erteilter Religionsunterricht, die Reibungen der weltlichen und der geistlichen Gewalt in der Schulaufsicht und Schulverwaltung, ein gegen all das leidenschaftlich reagierender Radikalismus eines großen Teils der Lehrerschaft, eine völlige Verworrenheit der Lage ist hier in den meisten deutschen Ländern das Ergebnis der Verhältnisse. Aber auch an den höheren Schulen nimmt der Religionsunterricht, der nicht als freie Untersuchung religiöser Dinge, sondern als kirchlicher Glaubensunterricht gegeben wird, eine äußerst schwierige Stellung ein. Ihm begegnet instinktives Mißtrauen und nur eine vertrauenerweckende Lehrerpersönlichkeit überwindet diese Schwierigkeiten. Und auch an den Hochschulen ist der Kampf um die theologischen Fakultäten, mit dem sich ein solcher um verwandte ebenfalls die Weltanschauung berührende Professuren leicht verbindet, eine offene Wunde des Universitätslebens. Aus all diesen Miseren hilft nur eine grundsätzliche Entkirchlichung der Schule, und diese wiederum setzt die Trennung von Staat und Kirche voraus. (42)

Am schlimmsten aber ist, daß das System zwar historisch und tatsächlich herrscht, aber von keiner inneren Begeisterung getragen wird. Wohl erblicken viele Vaterlandsfreunde und viele lautere und fromme Männer aller Konfessionen und Richtungen in ihm ein Kleinod der besonderen deutschen Verhältnisse. Aber es sind nicht viele, und bei den meisten ist es mehr eine Vernunftliebe als eine wirkliche innere Wärme. Man nimmt es hin wie selbstverständlich und unabwendbar, man unterbaut ihm eine Theorie vom festen, treuen, christlichen Volk und seiner duldsamen Betätigung dieses Christentums in verschiedenen Formen, aber die inneren Widersprüche des Ganzen lassen keine durchschlagende Hingebung daran zustande kommen. So liegt in ihm eine tiefe innere Unwahrheit. und diese Unwahrheit kommt überall da zum schmerzlichsten Ausdruck, wo diese Kirchentümer sich getragen zeigen von einer Politik, von einer sozialen Respektabilität und einer übereinkömmlichen Zustimmung, die doch innerlich ganz kalt und gleichgültig, ja feindlich und höhnisch sich zu der von ihnen vertretenen Sache stellt, wo sie in der Hand der herrschenden Gesellschaft Zwecken dienen, die mit ihrem inneren Geist nichts zu tun haben. Gegenüber dieser Unwahrhaftigkeit wird es für das aufrichtige religiöse Gefühl selbst ein Bedürfnis, seine Gemeinschaft innerlich von dieser fremden Welt zu trennen und auf die wirkliche Freiwilligkeit und Gesinnungswärme der Teilnehmer zu stellen. Bei allen schweren Opfern, die der Verzicht nicht auf das Kultusbudget - denn das ist das geringste -, sondern auf die Volkskirche und auf die selbstverständliche Gemeinschaft des Volkes im Besitz seines religiösen Erbes und seiner religiösen Heimat kostet, wird es so eine Forderung der religiösen Gesinnung selbst, die Kirche vom Staat zu trennen und das religiöse Leben auf freie Vereine zu stellen, in denen es sich vertiefen und beleben wird.

So taucht von allen Seiten her auch für uns die Möglichkeit, vielleicht Wahrscheinlichkeit einer Trennung von Staat und Kirche auf. Freilich die unmittelbare Gegenwart sieht danach durchaus nicht aus. Sie wird sicherlich eine Steigerung des Klerikalismus und seiner Macht über den Staat bringen. Daran arbeitet die ganze politische Lage und gerade auch die religiöse Haltung des Liberalismus und der von ihm in dieser Hinsicht ganz abhängigen Sozialdemokratie selbst, die durch ihre allerseits beförderte und sicher zunehmende Herrschaft des Klerikalismus wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine erbitterte Gegenbewegung hervorgerufen werden, die sehr leicht mit der Herrschaft der Kirchen auch das staatskirchiche System selbst zertrümmern kann. Das Vorbild Frankreichs, von dem alle großen politischen Umwälzungen ihren Ausgang genommen haben, wird weiter wirken, und wir werden mit einer Trennung von Staat und Kirche auch bei uns als sehr wohl möglich zu rechnen haben.

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in seinem Wesen irrational. Es ist das Verhältnis zweier Souveränitäten, die sich nicht entbehren und doch auch nicht ertragen können, einer weltlichen Macht- und Rechtsorganisation, die für ihr Volk die seelischen Kräfte der Religion braucht und sich doch durch die Religion in der Konsequenz ihres Macht- und Rechtsgedankens nicht stören lassen kann, und einer geistlichen Gedanken und Seelenorganisation, die die materielle Macht und die Hilfe des Rechts nicht entbehren und doch in ihre höchsten Werte vom Staat nicht hineinreden lassen kann. Die Trennung von Staat und Kirche würde die Probleme nur auf einen neuen Boden hinüberschieben, nicht lösen. Sie wären gelöst, nur wenn die Religion stürbe, und dann wäre die Trennung überflüssig. Viele freilich betrieben die Trennung nur als Anfang vom Ende der Religion, in der Hoffnung, sie damit auf den Aussterbeetat zu setzen, und dürfen sie darum dann in der Tat für die Lösung des Problems halten. Aber diese Hoffnung ist völlig trügerisch, sie beruth auf der Utopie eines dereinst kommenden religionslosen Zustandes oder einer alle überzeugenden wissenschaftlichen Ethik und Weltanschauung. Derartiges hat es nie gegeben, gibt es heute nicht und wird es nie geben. Eben darum aber ist die Trennung von Staat und Kirche auch nur eine Verschiebung des Problems, wo erst die Erfahrung lehren muß, ob die neuen Zustände besser sein werden als die alten. Bringen es die allgemeinen Weltverhältnisse mit sich, daß auch bei uns die Stunde schlägt für die Lösung dieser Probleme vom Boden der Trennung aus, dann wollen wir uns mutig und getrost an diese Aufgabe machen und haben das Problem vor allem so zu lösen, daß dabei das Bestmögliche geschehe für die innere Einheit und geistige Gesundheit, für die Charakterstärke und seelische Vertiefung unseres Volkes in einem Zeitalter kolossaler technischer Kultur, intellektueller Raffiniertheit und nervöser Überreizung. (43)


V.

An diser Zukunftsmöglichkeit interessiert uns hier in diesem Zusammenhang nur die eine Frage: Wird dann auch bei uns der staatliche Religionsunterricht in jeder Form weggefallen, und wird dann auch die theologische Fakultät ihre Berechtigung an den Universitäten verloren haben?

Was in dieser Lage seiner Zeit geschehen wird, darüber zu prophezeien hat keinerlei Sinn. Alles wird davon abhängen, wie sich der Liberalismus, der jene Revolution durchsetzt, zu der unzweifelhaft wesentlich christlichen Religiosität unseres Volkes stellen wird, ob er sie in sich aufnehmen und fortzuentwickeln bestrebt sein wird, oder ob er sie, wie bisher zumeist, wird bekämpfen oder unter Gleichgültigkeit begraben wollen. Ich kann hier nicht sagen, was kommen wird, sondern nur, was wir in einer solchen Lage unter der Voraussetzung eines grundsätzlichen Bekenntnisses zu allen wesentlichen religiösen Ideen des Christentums für sachlich geboten und unter der Voraussetzung einer auch dann noch bestehenden Christlichkeit der Hauptmasse unseres Volkes für unterrichtspolitisch erforderlich halten.

Es ist oben gezeigt worden, wie die Trennung von Staat und Kirche gerade für das Problem der Religion in Schule und Unterricht die schwierigsten Folgen hat. Weder die amerikanische noch die französische Regelung kann uns befriedigen oder hätte wirklichen Boden bei uns. Die Sitte der einen, die Schule als reinen Fachunterricht zu neutralisieren und von den Kirchen eine starke Orthodoxie pflegen zu lassen, streitet mit unserem Staatsbegriff, der nach alter deutscher Sitte und im Sinne aller unserer großen idealistische Denker den Staat und die Schule auch zum "Weltanschauungskörper" macht, und mit unserer religiösen Bildung, die unter dem Einfluß eben dieser Denker in den allerweitesten Kreisen der Orthodoxie entwachsen ist. Die Forderung der anderen, in der Staatsschule eine bürgerlich-philosophische Ethik antichristlichen und eine Metaphysik rein abstrakten Gepräges zu lehren, widerspricht der pädagogischen Forderung einer positiv-anschaulichen Religion, widerspricht dem inneren Welt und der Bedeutung, die die christliche Ideenwelt für unser Leben hat. Die Forderung der Gesellschaften für ethische Kultur aber, einen religiös absolut neutralen Moralunterricht zu pflegen, setzt eine natürlich-wissenschaftliche, allgemein übereinstimmende, von der Weltanschauung unabhängige Moral voraus, die es nicht gibt, und enthält entweder die Ablehnung der Religion überhaupt, die eine Verkümmerung unseres Lebens wäre und die sich der größte Teil des Volkes nicht gefallen lassen wird oder eine religiöse Zuspitzung, die ihre volle Kraft nur beim Anschluß an die Majestät und Kraft, an die Zartheit und Milde, an die Zielgewißheit der christlichen Geistes- und Persönlichkeitsreligion wird finden können. (44) Die Schwierigkeiten des Schulproblems bei der Trennung von Staat und Kirche bestehen ja eben darin, daß in Wahrheit doch die Gesellschaft eine starke, tiefe und lebendige Religion braucht und von ihr sich nicht trennen kann, auch wenn sie die Kirchen vom Staat trennt. Eine solche Religion ist aber unter uns nur das Christentum, das man mit der modernen Ideenwelt verschmelzen mag, das man aber nicht durch ethisch-pantheistische Abstraktionen wirkungskräft ersetzen kann. Am Anschauungsmaterial der Bibel, ergänzt durch jedes weitere erreichbare Anschauungsmaterial, kann die früheste Kindheit Religion und Moral lernen, aus der Kenntnis des Christentums und seiner Geschichte im Kampf und Verschmelzung mit der übrigen europäischen Ideenwelt mag der reife Schüler seine eigene Religiosität bilden. Aber wie die Religion kein Erzeugnis, sondern ein Gegenstand der Wissenschaft ist, so wird man auch nicht von einer "wissenschaftlichen Religion" ausgehen können, sondern umgekehrt nur aus der Kenntnis der Religion, die unser Leben geformt hat, seine eigenen wissenschaftlichen Ideen über die Religion gewinnen und weiterbilden können. Die bekannte Forderung der Bremer Lehrer, die zur Parole eines großen Teils der Lehrerschaft werden wird, meint zwar, den Religionsunterricht nur in Gestalt vergleichender Religionsgeschichte geben zu können. (45) Allein das ist dieselbe historische, in allen Weltaltern herumtastende Unsicherheit, wie die Forderung, Kunstbildung durch "Kunstgeschichte aller Völker und Zeiten" zu erzielen. Man muß ein festes Zentrum haben, mag dieses durch Vergleichung befestigen und illustrieren, muß aber doch übrall von unserem gegebenen Besitz ausgehen. Und das Christentum ist tatsächlich die einzige Religiosität, die für uns praktisch als Zentrum und Ausgangspunkt in Betracht kommen kann. So bleibt für den Unterricht nichts als ein Unterricht in dem von unserer geistigen Welt und unserem Staat nicht zu trennenden Christentum. Die Trennung von Staat und Kirche kann keine Trennung von Staat und Christentum sein und daher auch keine unchristliche oder neutrale Schule zur Folge haben. Gesellschaft und Staat bleiben interessiert an einem Unterricht der Jugend im Christentum und mögen dann jedem die Freiheit lassen, diesen Unterricht zu verwerten, wie er will.

Es wäre ein wesentlich historischer Unterricht, der in der Volksschule aus dem anschaulichen Stoff die religiös-ethischen Ideen entwickelt und auf den höheren Schulen vom geschichtlich Gegebenen aus in die Kämpfe der großen Weltanschauungsgegensätze einführt und aus ihnen heraus zur Gewinnung einer modernen Christlichkeit anleitete. Der feste Kern bliebe überall das Historische, das auf den obersten Stufen auch durch religionsgeschichtliche Vergleichung verdeutlicht werden mag und von dem aus eine eigene Weltanschauung erstrebt werden mag, die nur eben ihre wesentlichen Wurzeln im Christentum behält. Einen solchen Unterricht könnte nur der Staat allein erteilen, und der Staat wäre hierfür angewiesen auf die Wissenschaft vom Christentum. Das heißt aber, er bliebe angewiesen auf eine theologische Fakultät, die ihm seine Religionslehrer und Seminarlehre ausbildete und deren Leistung dann die oberste Quelle für den Religionsunterricht wäre. Neben der theologischen Fakultät würde Pädagogik maßgebend, die die Methode religiösen Elementarunterrichts ausarbeitet. Im Einverständnis mit den Fakultäten und der wissenschaftlichen Schulpädagogik würde ein rein staatliches Unterrichtsministerium von sich aus das Ganze leiten. Dabei könnte man eine so warm religiöse und allgemein christliche Richtung einhalten, daß der spezielle dogmatische Unterricht der Kirchen in Sonntagsschule, Konfirmationsunterricht und Predigt wenigstens im allgemeinen sich daran anschließen könnte. (46)

Vorausgesetzt ist dabei freilich, daß die theologischen Fakultäten sachlich christliche bleiben und sich nicht durch das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit genötigt glauben, das Christentum selbst in seiner Geltung und seinem Wert als möglichst fraglich zu behandeln. Gewiß müssen die Voraussetzungen geprüft werden, aber doch nur dazu, um feste Voraussetzungen zu gewinnen auf denen die weitere Arbeit beruhen kann. Aber einmal muß doch die Prüfung der Voraussetzung fertig werden, und in einer so großen und einfachen Sache, wie in der Frage nach der Grundwahrheit des Christentums, muß man doch einmal zu einer ruhigen Klarheit kommen. Man wird einmal erkennen, daß man von der eingewurzelten Religion nur dann abgehen kann, wenn eine höhere sich darbietet, und daß man dann, wenn das nicht der Fall ist, in allen religiösen Dingen von der eingewurzelten Religion als Grundlage ausgehen muß. Man wird wieder den Mut fassen, im Christentum eine der Selbstverständlichkeiten unseres Daseins zu sehen, und es müde werden, immer wieder die Voraussetzung der Voraussetzung zu unterwühlen, immer wieder die Wurzeln unseres Daseins ans Licht zu zerren und alle Selbstverständlichkeiten zu zerreiben. Man wird vom Christentum ausgehen als dem Glauben an das Personwerden des Menschen durch die Hingabe an Gott und wird an seiner Geschichte sich die Kraft dieses Glaubens deutlich machen. Man wird aus diesem Kapitel mutig und ernsthaft die Zinsen zu ziehen lernen und nicht immer von neuem das Kapital nachrechnen. Die herostratischen Lorbeeren werden durch Billigkeit weniger lockend werden und der Instinkt der Selbsterhaltung es über die Lust zur Selbstzersetzung davon tragen. Man wird die theologischen Fakultäten nicht mehr zu einem Herumflattern zwischen den verschiedenen Religionen der Welt verurteilen und wird von ihnen nicht das Unmögliche verlangen, eine neue wissenschaftliche Religion zu erfinden. Man wird vielmehr einsehen, daß man beim Gegebenen seinen Standort nehmen muß, und daß dieses Gegebene die höchste uns bekannte religiöse Kraft ist, zu der alle die verschiedenen idealistisch-philosophischen Systeme sich nur als wissenschaftliche Abzweigungen verhalten. Dann wird es möglich sein, daß man die Freiheit der theologischen Wissenschaft nicht in der beständigen Aufhebung ihrer eigenen Voraussetzung, sondern in einer freien Fortentwicklung aufgrund der gegebenen Voraussetzungen sehen wird. (47)

Man darf auch nicht einwenden, daß alles heißt die freie Theologie zur Staatsreligion proklamieren. Denn es ist nur ein Religionsunterricht, und ihm fehlt zur Religion das Wesentliche, der Kultus. Der Kultus und der besondere dogmatische Unterricht verbleibt den Kirchen, denen wir dann ein neues Leben zutrauen dürfen und die nicht bloß ein Gegengewicht gegen diesen staatlichen Religionsunterricht bilden, sondern die ihre Wärme und ihre Kraft durch verschiedene Kanäle auch dem neuen Religionsunterricht und den interkonfessionellen, rein wissenschaftlichen Fakultäten zuführen würden. Auch würden sie für ihre Diener die theologischen Fakultäten nach wie vor gewiß vielfach benützen, nur ohne staatlichen Zwang und darum in segensreicherer Freiheit.

Es wäre eine völlige Umwälzung, ein neues System. Aber es wäre doch nur das System, das von unseren größten idealistischen Denkern gefordert worden ist. Es wäre die Verwirklichung des HEGELschen Programms vom Staat als dem Inbegriff der Kultur, der insbesondere auch den religiösen Gedanken mit der ganzen Bildung verknüpfen muß. Es wäre das Eintreffen von RICHARD ROTHEs Prophezeiung, daß die Kirchen, wie sie sich geschichtlich immer mehr zersplittern und schwächen, schließlich in den Staat übergehen werden. Und es wäre nur gegenüber solchen abstrakten Lehren die konkrete Wirklichkeit der Kirchen als Kultusgemeinschaften behauptet, die ja wesentlich zum Leben der Religion gehört und vom Staat niemals übernommen werden kann. Es wäre die praktische Verwerung der mühsam eroberten Unterscheidung von Religion und Kirche, die sich dann doch überall wieder frei finden und verbinden könnten. Es käme das Wahrheitsmoment der katholischen und der altprotestantischen Kirche wieder zu ihrem Recht, daß die religiöse Idee eine allgemeine und allbeherrschende sein müsse, weil die Wahrheit nur eine ist. Sie käme zur ihrem Recht durch den Staat und die Wissenschaft auf gemeinsamer Voraussetzung zu einem gemeinsamen Ziel. Es bliebe als Untergrund dieser gemeinsamen religiösen Wahrheit auch dann ein bestimmter Offenbarungsbegriff, aber nicht der Begriff einer übernatürlichen autoritativen Lehrmitteilung für alle, auch nicht der einer übernatürliche, jedesmal besonderen Erleuchtung des Individuums, sondern der Begriff eines Durchbruchs höchster religiöser Kräfte in der Geschichte, die nach immer neuer Konzentration und immer neuer Verschmelzung mit dem Gesamtleben drängen. Es würde der täuferische und independente Relativismus wieder überwunden, der jeden nur auf sich selbst stellt, und es würde alle individuelle Religiosität wieder auf gemeinsame Quelle und auf ein gemeinsames Ziel hingewiesen. Und zugleich bliebe die moderne Gewissensfreiheit, die in all dem niemand vergewaltigt und den Kultgemeinschaften völlig freie Bahn läßt, soweit sie auf wirklich religiöse Zwecke hinarbeiten und die Religion als freien nicht als erzwungenen Glauben verstehen.

Blicken wir auf die anfangs geschilderten drei Typen des Verhältnisses von Staat, Religion und Kirche zurück, so gehörte auch diese Regelung der Verhältnisse dem dritten Typus an. Aber es wäre nicht die Zusammenordnung einer unfassbaren Staats-Christlichkeit mit drei absoluten Staatskirchen, sondern eine wissenschaftliche Bearbeitung des Christentums durch die Unterrichtsanstalten des Staates zu Unterrichtszwecken, neben denen als freie private oder wenigstens nicht vom Staat gehaltene Korporationen die Kirchen auf eigene Verantwortung ihre starken Gemeinschaftskräfte kirchlich entfalten. Es wäre das Ideal der  einen Wahrheit  aufrechterhalten, aber als wissenschaftliche Verständigung über die Gestaltung unserer religiösen Kräfte, und es blieben daneben die  vielen  subjektiven Wahrheitsüberzeugungen, aber als persönliche Vereinigungen, die für die Macht des Gemeinschaftslebens größerer Konkretheit bedürfen. Und es wäre das eine Lösung, die dem Volk KANTs und GOETHEs entspräche, das durch seine idealistische Philosophie nun einmal von Amerika und Frankreich für immer verschieden ist.

Man könnte all dem entgegenhalten, daß die dafür vorausgesetzte Einheitlichkeit einer deutschen Geisteskultur nie kommen werde, daß sie überhaupt nur beim Glauben an supranaturale Autoritäten möglich gewesen sei und unter der Herrschaft der Wissenschaft und des freien Individualismus unwiderbringlich dahin sei. Man kann weiter sagen, daß insbesondere die Konfessionellen und die Antichristen nie auf eine derartige Gestaltung eingehen werden. Allein eine solche Hoffnung kann man nicht fahren lassen, wenn man an die Zukunft glauben und die Wissenschaft nicht einfach als ein Prinzip der Selbstauflösung aller Kultur betrachten will; und für solche, die durch ein solches System ihre Gewissensfreiheit bedroht fühlen, könnte man immer noch mit religiös neutralen Schulen oder auch mit reichlicherer Gestattung der Privatschulen oder mit Dispensen vom Religionsunterricht aushelfen. Von der großen Masse des Volkes würden wir hoffen, daß sie in einer Periode großen politischen Umschwungs auf ein solches System einzugehen bereit ist, und so bliebe dem System immer eine ausreichend starke Organisation.

Freilich das sind Zukunftssorgen. Aber wer über die Entwirrung der so verschlungenen Knoten des heutigen deutschen Lebens nachdenkt, wird ihnen sich nicht völlig verschließen können; und sie sind entscheidend für die Beantwortung der Frage, von der wir ausgingen,  für die Frage nach der Berechtigung der theologischen Fakultät an den Universitäten.  Es mag werden wir es will, aber wir müssen für unsere Fakultäten eine Klarheit haben über die Berechtigung, die wir selbst für sie fordern können. Wir müssen uns vor allem selber für unser eigenes Wollen und Handeln, für unsere Hoffnung und Selbstgewißheit darüber klar sein, was wir von der dunklen Zukunft für uns beanspruchen dürfen, gleichviel, ob es uns dann in Wirklichkeit genehmigt wird oder nicht.

In diesem Sinne können wir nun auf unsere Eingangsfrage antworten. Unsere Daseinsberechtigung beruth  jetzt und auf absehbare Zeit  auf dem paritätisch-landeskirchlichen System, auf dem Staatsauftrag, rein wissenschaftliche Bildung für das kirchliche und religiöse Leben des Volkes nutzbar zu machen. Wir arbeiten in unserem Unterricht für die Landeskirche und ihre Diener. Wir tun es mit Freuden und dem Bewußtsein des großen Segens, den uns der Zusammenhang mit diesen Kirchen und der innere erziehende Verkehr mit ihren zukünftigen Dienern gibt. Wir sind uns auch überall bewußt, daß die Landeskirche Schonung und Pietät für ihre Ordnungen verlangen darf und daß unser wissenschaftlicher Unterricht nicht Radikalismen verkünden, sondern schonend Kirche und Wissenschaft vermitteln soll. Wir arbeiten für eine Landes- und Volkskirche, die ihre verschiedenen Richtungen und Gruppen im Praktischen und Rein-Religiösen nach Möglichkeiten versöhnt und allen ihren Kindern eine Heimat sein will.

Aber wir sind uns ebenso gewiß, daß  unser Daseinsrecht bleibt,  auch wenn diese Verbindung durch die Trennung von Staat und Kirche fallen sollte, wenn zu den mancherlei Opfern, die sie fordert, auch die Lösung unserer Fakultät von dem uns so sehr am Herzen liegenden und uns selbst zugleich miterziehenden Nachwuchs des geistlichen Amtes kommen sollte. Wir werden dann rein wissenschaftliche interkonfessionelle Aufgaben empfangen und insofern dem eigentlichen Geist der Wissenscahft rücksichtsloser dienen können. Das wird uns für den Verlust entscädigen müssen und damit werden neue Beziehungen sich auftun.

Was aber auch kommen mag, die neue Fakultät würde doch keine grundsätzliche Aufhebung der alten sein. Denn in unserer eigentlich wissenschaftlichen Tätigkeit, in unserer literarischen Forschung und Arbeit, die sich an das gelehrte und das große Publikum, nicht bloß an die Kirche wendet, arbeiten wir bereits nach den Grundsätzen jener Zukunftsfakultät und stellen wir die allgemeinen Grunderkenntnisse fest, von denen aus wir die Deutung der Kirchenlehre unternehmen. Wir verstehen schon heute unseren Staatsauftrag nicht bloß als Dienst für die Kirche, sondern auch als wissenschaftliche Arbeit am allgemeinen religiösen Lebensproblem der Nation. (48)

Der Riß zwischen beiden geht jetzt schon durch unsere Arbeit hindurch und trennt unsere pädagogische und unsere rein wissenschaftliche Tätigkeit. Aber dieser Riß hebt doch schon heute nicht die innere Einheit unserer Aufgabe und unseres Wesens auf. Es ist in beiden Fällen nur in verschiedener Form und verschiedenem Ausdruck dasselbe, was wir wollen. Und was heute schon in uns alte und neue Fakultät verbindet, das wird auch in Zukunft die Religionswissenschaft und die Kultusgemeinschaft verbinden, der in verschiedenen Formen selbige Grundgedanke des Christentums, durch den es die höchste uns gegebene Religionsstufe ist und den das JOHANNES-Evangelium mit den einfachen und doch so inhaltsschweren Worten ausdrückt: "Gott ist Geist und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten."
LITERATUR Ernst Troeltsch, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten. - Rede gehalten am 22. November 1906 an der Universität Heidelberg, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    27) Zum Beispiel SOHM, Das Verhältnis von Staat und Kirche" 1873 und ZELLER a. a. O. Den Mischungscharakter erkennt HINSCHIUS Seite 249 und besonders scharf und treffend O. MEJER, Vorrede und Seite 223f
    28) A. LUDWIG, Weihbischof Zirkel von Würzburg I, 1904
    29) E. FÖRSTER, Die Entstehung der preußischen Landeskirche I, 1905, ein vortreffliches Buch mit äußerst interessanten Mitteilungen. Hausrath "Richard Rothe und seine Freunde" 1902/06 der hypnotisch-suggestiven Behandlung in der Praxis, Zeitschrift für Hypnose, Bd. V, 1897
    30) M. LEHMANN, Freiherr von Stein II, 1903 und dazu FÖRSTER a. a. O.
    31) TEWS, Schulkämpfe; SCHIELE, Religion und Schule; NAUMANN, Die Konfessionen und die Schule 1904, und eine Anzahl von Artikeln E. FÖRSTERs in der Christlichen Welt
    32) MARTIN RADE, Zur Kirchenpolitik, Christliche Welt 1902. Die 9 Artikel gehören meines Erachtens zum Besten, was über die Sache geschrieben ist, und haben jedenfalls meine Zustimmung, vorausgesetzt, daß die nur relative Haltbarkeit des ganzen Zustandes anerkannt wird und das Programm ein provisorisches ist. Die Lage von Seiten des Staates und seiner notwendigen Forderungen und Konsequenzen gut charakterisiert bei HINSCHIUS und bei O. MAYER Protestantische Realenzyklopädie.; E. FÖRSTER, Unsere kirchliche Zukunft, Christliche Welt 1904, Nr. 1. Sehr zu beachten sind die Darstellungen zur "Evangelischen Kirchenkunde": P. DREWS "Das kirchliche Leben im Königreich Sachsen", 1902 ; SCHIAN, Das kirchliche Leben in der Provinz Schlesien, 1903.
    33) O. MAYER bestreitet diese Gefahr, allein sie liegt im Protestantismus sehr nahe, da nicht der allein zur Einflößung sakramentaler Kräfte befähigte Klerus, sondern der Glaube und damit der Gedanke sein Einheitsband bildet. Die französische protestantische Kirche scheint in hoher Gefahr der Spaltung, und in Deutschland ist schon der Weg der neu verselbständigten Kirche begleitet gewesen von allerhand Abspaltungen vom Altluthertum bis zu den Sekten. Die Sekten und die Gemeinschaftsbewegung würden sich dann noch vielmehr geltend machen, siehe GELSHORN, Moderne Gemeinschaftsbewegung, Christliche Welt 1905, Nr. 36 - 38.
    34) E. FÖRSTER, Weshalb wir in der Kirche bleiben, 1905 und dazu "Über die Aufnahmen meiner Schrift: Weshalb usw.", Christliche Welt 1905, Nr. 37, CH. SCHREMPF "Über die Frage des Austrittes aus der Kirche", 1906, Nr. 34.
    35) M. von NATHUSIUS, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, Leipzig 1904. Die Staatsabhängigkeit der protestantischen Kirche ist übrigens doch zum guten Teil Abhängigkeit von den konservatien Parteien, und deren Herrschaft in der Kirche beruth auf der kirchlichen Indifferenz und Teilnahmslosigkeit der Liberalen. Die Christlich-Sozialen STÖCKERscher Richtung sind doch wesentlich von den Konservativen fallen gelassen worden, währen die NAUMANNscher Richtung aus inneren Gründen die Sozialpolitik von der nicht wesentlich politisch veranlagten Kirche getrennt haben und für die Kirche bloß die Freiheit der geistigen Bewegung fordern. Siehe NAUMANN "Briefe über Religion", 1904 und "Das Recht einer freien Theologie in der Kirche", Christliche Welt 1905, Nr. 26. Die katholische Sozialpolitik dagegen beruth nicht bloß auf der größeren Selbständigkeit der katholischen Kirche, sondern vor allem auf dem absoluten, auch das Weltleben größtenteils direkt umfassenden katholischen Kulturgedanken.
    36) Denkschrift über den Entwurf eines Reichsgesetzes betreffende die Freiheit der Religionsausübung, Seite 25, etwas milder OTTO MAYER "Zum Toleranzantrag des Zentrums", Christliche Welt 1905, Nr. 41
    37) Aussicht hat eine Trennung nur beim Fortschreiten dieser inneren Vertiefung des Katholizismus, vermöge deren er sich selbst vom Prinzip der Gewaltherrschaft auf das Prinzip der rein geistigen Herrschaft zurückzieht. Daß derartige Bewegungen im ganzen heutigen Katholizismus als Reaktion gegen die hierarchische Zentralisation und Versteinerung und gegen die Beherrschung der Volksmassen durch krasse Devotionen und Superstitionen überall und in sehr verschiedener Richtung am Werk sind, kann niemand verkennen. Hier haben wir die von HECKER, einem konvertierten Protestanten, ausgehende amerikanistische Bewegung, die in der Tat einen neuen Katholizismus demokratischer, toleranter und aktiv-weltfreundlicher Art schafft; dann die von Kardinal NEWMAN, gleichfalls einem Konvertiten, ausgehende Bewegung eines verinnerlichten, mystischen und die historische Kritik und Entwicklungsidee aufnehmenden Katholizismus, die in Tyrrei und Loisy gipfelt. P. SABATIER besitzt tausende von Briefen, in denen der französische Klerus ihm die Zustimmung zu diesen Ideen ausspricht und begründet darauf die Hoffnung eines neuen Katholizismus auch in Frankreich. In Deutschland ist der Katholizismus des Zentrums und des Staatslexikons keineswegs identisch mit dem offiziell römischen, wenn auch hier die Bewegung vorläufig am schwächsten ist. In Italien haben, in letzter Linie von ROSMINI ausgehen, BONOMELLI, die christlichen Demokraten und FOGAZZARO die neuen Ideen höchst eindrucksvoll verkündet. Siehe den hochinteressanten Roman des letzteren "Der Heilige", außerdem LABANCA "Die Zukunft des Papsttums", deutsch 1906, und die Artikel der Christlichen Welt 1905 über die italienische Lage von M. SELL Nr. 22, 24, 26, 29, 30, 31 und 33. In Polen nimmt diese Bestrebungen der Philosoph ZDZIECHOWSKI auf, siehe "Pestis perniciosissima, ein Beitrag zur Charakteristik der modernen Strömungen im Katholizismus", Wien 1905. ich stehe zum Teil mit den Führern dieser Bewegungen in persönlicher Beziehung und habe die größte Hochachtung vor ihrem wissenschaftlichen und religiösen Charakter, erhalte auch zahlreiche Schriften, die ich hier nicht alle anführen kann. Hiervon allein ist eine Heilung zu erwarten, und die gebildet Welt sollte diesen Bewegungen mit Verständnis und Sympathie entgegenkommen. Ohne das Durchdringen eines solchen Geistes würde jede Trennung von der katholischen Kirche nur mit Hilfe eines Knebelungsgesetzes möglich sein,, das kein Mensch wünschen kann.
    38)
    39) Die herrliche Schrift von E. SULZE, Die Reform der evangelischen Landeskirchen nach den Grundsätzen des neueren Protestantismus, 1906. Trotz aller landeskirchlichen Gesinnung enthält die Schrift zahllose freikirchliche Elemente. Solche an sich sehr wünschenswerte Gestaltung und Bearbeitung der Landeskirche kann ich mir nur als Vorbereitung des Übergangs zur Freikirche denken.
    40) Zahlreiche Artikel der Christlichen Welt, besonders HACKENSCHMIDT, Ein Wort zum Frieden in elfter Stund, 1905, Nr. 40; RADE, Eine neue Religion, Nr. 5, auch die unter 34 genannten Artikel.
    41) BURGGRAF, Was nun?, 1906, auf dessen Seite ich mich meinerseits unbedenklich stelle.
    42) NAUMANN, TEWS, SCHIELE.
    43) Die Trennung nimmt in sichere Aussicht auch O. MAYER, Protestantische Realenzyklopädie, und zwar mit sehr interessanten Besonderheiten. Er meint, daß die Trennung gar nicht gleich zum bloßen Vereinsrecht zu greifen braucht, sondern die Kirchen als Selbstverwaltungskörper mit staatlicher Bewilligung des Besteuerungsrechts nach Analogie der Kommunien und anderer Selbstverwaltungen konstruieren könne. Damit sei der Weltlichkeit des Staates und der Selbständigkeit des religiösen Interesse gleich gedient und doch zugleich die besondere Anstaltsbedeutung der Kirchen gewahrt. Die Folgen einer solchen Gestaltung für das Schulproblem sind leider nicht angedeutet. - Zur Irrationalität des Verhältnisses von Staat und Kirche siehe meinen Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern 1895 "Religion und Kirch". - Bemerkenswerte Zeichnungen der geistig-ethisch-religiösen Lage siehe bei EUCKEN "Der innere Mensch am Ausgang des 19. Jahrhunderts", Deutsche Rundschau 1897, J. GOLDSTEIN "Untersuchungen zum Kulturproblem der Gegenwart" 1899, W. FÖRSTER "Jugendlehre" 1906, HELLPACH "Nervenleben und Weltanschauung" in "Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens" XLI 1906, WEINEL "Jesus im 19. Jahrhundert", 1907.
    44) Mein Aufsatz "Atheistische Ethik", Preußische Jahrbücher 1896. Im übrigen sollen die Verdienste der "Gesellschaft für ethische Kultur" nicht unterschätzt werden. Eine Erzeugnis wie FÖRSTERs "Jugendlehre" ist eine große Bereicherung, wobei mit Freuden zu konstatieren ist, daß FÖRSTER die Unterbauung und die Abzielung der Ethik auf religiöse Gedanken voll anerkennt. Er gibt nur den Verhältnissen nach, die eben vielfach religionslose Ethik verlangen und ist der Meinung, daß eine solche immerhin besser ist als gar keine, worin er gewiß Recht hat; aber wobei ich mich nicht beruhigen kann. Siehe auch NATORP und SCHIELE, Christliche Welt 1906, Nr. 4.
    45) SCHIAN, Ein Dokument zur religiösen Zeitgeschichte, Christliche Welt 1905, Nr. 41 und SCHIELE, Religion und Schule.
    46) Ebenso PAULSENs Zukunftsprogramm "Deutsches Bildungswesen", Seite 174f, siehe auch den Aufsatz von REIN "Religion und Schule" in "Beiträge zur Weiterentwicklung usw.", dem ich durchaus zustimme; REIN verweist auf eine Ergänzung solcher Schulen durch Privatschulen, wonach dann die Entscheidung bei den Eltern steht. Auch W. FÖRSTER scheint eine solche Schule wenigstens als Ideal ins Auge zu fassen, "Jugendlehre", 104f. SCHIELEs (Religion und Schule) Idee ist ebenfalls ein staatlicher Religionsunterricht, der von der Pädagogik und nicht von der Kirche abhängt; warum er ihn noch konfessionell nennt, ist nicht abzusehen. Für besonders schwierige Fälle, wie etwa bereits heute die polnischen Schulwirren, scheint allerdings die religiöse neutrale Schule mit Überlassung alles Religionsunterrichts an die Kirche der einzig mögliche Ausweg.
    47) Siehe meinen Aufsatz zum damaligen MOMMSEN-Protest "Voraussetzungslose Wissenschaft", Christliche Welt 1901, Nr. 50 und MEINE, Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte", 1901, Vorrede. Damit wende ich mich auch gegen den Vorschlag von de LAGARDEs "Deutschen Schriften", in den theologischen Fakultäten durch die Geschichte aller Religionen die religiöse Erneuerung der Zukunft vorzubereiten. Die eigentliche Religionsgeschichte ist an die Sprachwissenschaft gebunden und bleibt Sache der Philologen der einzelnen Sprachgebiete, soweit sie dafür Interesse und Verständnis haben. Von ihnen lernt die Religionsphilosophie ihr konkretes Material, und mit ihrer Verarbeitung wirkt sie auf jene zurück, zu welchen die christlischen Theologen nur als Historiker der Religion Israels und des Christentums gehören. Die theologische Fakultät als solche aber dient aufgrund der Religionsphilosophie der Gestaltung normativer Religionsideen und schöpft sie aus der religionsphilosophisch begründeten Geltung der christlichen Grundideen; ohne das hätte sie keinen Lebenszweck.
    48) Diese Sätze scheinen zu erinnern an das einst viel genannte Buchvon BERNOULLI "Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode", 1897, das der Verfasser inzwischen übrigens vermutlich zugunsten weit radikalerer Thesen preisgegeben haben wird, und an OVERBECKs "Christlichkeit der heutigen Theologie", 1873, von der BERNOULLI ausging und in deren zweiter Auflage 1902 OVERBECK den positiv-religiösen Schein der ersten selbst zerstört hat. Allein sie sind von mir ganz anders gemeint, da ich die wissenschaftliche Theologie eben nicht wie beide in religiöse Skepsis und unbegrenzten Historismus auflöse, sondern überzeugt bin, von der prinzipiellen Religionstheorie einen Weg zur Geschichte zu finden, der uns im Christentum die höchste Offenbarung religiöser Kräfte erkennen läßt. Siehe meine Anzeige BERNOULLIs im Göttingische Gelehrten Anzeiger, 1898 und OVERBECKs in "Deutsche Literaturzeitung" 1903. Im übrigen allerdings bin ich der Meinung, daß in kirchlichen Dingen man eben auch Rücksicht nehmen muß, Anschluß suchen und Anstoß vermeiden soll. Es kann hier nicht jeder mit dem Kopf durch die Wand, und in der Freikirche wird Vorsicht und Pietät erst recht nötig sein, wie O. MAYER, Protestantische Realenzyklopädie, mit Recht hervorhebt.